Gilgamesch - Guido Bachmann - E-Book

Gilgamesch E-Book

Guido Bachmann

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Beschreibung

Auf dem Hintergrund des altbabylonischen Mythos "Gilgamesch" erzählt Guido Bachmann die Geschichte des künstlerisch begabten homosexuellen Gymnasiasten Robert, der der spiessigen Enge in Elternhaus und Schule zu entfliehen versucht. Der Tod des Geliebten und Freundes Christian wirft ihn völlig aus der Bahn, durch sein Schicksal findet der sensible Aussenseiter aber zu seiner Bestimmung, mithin zu sich selbst.

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Seitenzahl: 304

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Der Autor Guido Bachmann, geboren 1940 in Luzern. Studium der Musikgeschichte und Theaterwissenschaft in Bern. Lebte bis zu seinem Tod 2003 als freier Schriftsteller und Schauspieler in St. Gallen. Sein literarisches Werk, für das er mehrfach ausgezeichnet wurde, umfasst zahlreiche Romane und Novellen.

E-Book-Ausgabe 2015 Copyright © 1977 by Lenos Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich Coverfoto: Raoul Findeisen  www.lenos.ch   ISBN 978 3 85787 928 9

Für meinen Freund Alfred Arm

I

Der kleine graue Mann stach den Knaben mit einer Sicherheitsnadel in die Brust. Roland stöhnte leise. Erwachend setzte er sich auf und betastete mit schweissnassen Fingern die schmerzende Stelle. Der nackte Körper glänzte. Roland lauschte dem aufdringlichen Sirren der Mücke: Glasharfenton, hoher und gläserner Ton. Die Schmerzen in Rolands Brust wichen; und der kleine graue Mann, aufgestiegen aus dem Dunkel wilder Träume, sank in den See des Vergessens.

Roland sprang aus dem weichen Bett und schlüpfte in die rote Badehose. Zögernd trat er vor das Fenster und presste die heissen Hände an den Leib. Die Hitze stank faulig im steinernen Hof. Als der Vater im anderen Zimmer hustete, beugte sich Roland, nachdem er den Sims bestiegen, kniend aus dem Fenster. Er umklammerte mit beiden Händen das rostige Rohr der Dachtraufrinne und kletterte lautlos hinunter, wobei er die nackten Zehenballen gegen die graue, verwitterte und mit spitzigen Steinchen durchsetzte Hausmauer stemmte. Das Herz schlug bis in den sandtrockenen Mund. Rolands Gewicht hing an den Armen: er kostete wollüstig das kitzelnde Gefühl in der Bauchhöhle aus.

Leise drang er durchs Fenster des Erdgeschosses in das mondhelle Zimmer seines Freundes ein. Christians Körper zeichnete sich unter dem weissen Leintuch ab. Behutsam trat Roland näher. Er berührte Christians Schulter. Der Freund öffnete die Augen. Roland sah die schwarzen Härchen in den Achselhöhlen, als Christian die Hände hinter dem Kopf verschränkte.

„Gehen wir baden, Christian?“

„Mitten in der Nacht?“

„Ja.“

Sie verliessen das Zimmer. Neben der hohen Harassenbeige im schmutzigen Hof, wo es nach faulen Bananen roch, standen die Freunde eng beisammen.

Vier Füsse tanzten über warmen Asphalt. Steinern ragte der Turm des gewaltigen Domes in nächtliches Dunkel. Vorm eisernen Tor blieben sie heftig atmend stehen. Oben, in der Wölbung des Portals: das Jüngste Gericht aus Stein gehauen. Ein wuchtig wirrer Haufe nackter Leiber: verzückt jene zur Rechten, verdammt die anderen links.

Die hölzerne Treppe führte zum flaschengrünen Fluss hinunter. Die Knaben standen am Ufer. Roland kniete nieder und flüsterte: „Der Boden ist weich.“

„Ein Bett ist weicher.“

„Ein Bett ist gefährlich.“

Christian verschwand im Wasser. Roland holte ihn schwimmend ein. Sie spielten miteinander und näherten sich dem Stauwehr. Das Brausen des Wasserfalles übertönte ihr Keuchen und Gurgeln, als sie die Badehosen tauschten.

Wieder an Land, gingen sie eilig und beschämt flussaufwärts. Roland blieb stehen und fragte: „Sind wir zu alt dazu?“ Christian gab keine Antwort. Das Rauschen des Wasserfalles war nicht mehr hörbar, als Christian sagte: „Jener Baum ist älter als wir.“ Roland berührte das Holz.

Später stiegen sie die hölzerne Treppe hinauf. Vor dem grauen Haus trennten sie sich schweigend. Roland kletterte am rostigen Abflussrohr entlang nach oben. Langsam zog er die blaue, nasse Badehose Christians aus. Er spürte das Stechen in den Lungen und musste husten. Vor dem Bett kniete er nieder; und der Traum stieg aus dem Vergessen empor: kleiner Mann und grauer.

Ein tiefer Schlaf führte ihn zu uralten Wünschen.

Als Roland am Morgen im Treppenhaus, wo es nach Kohl und Urin stank, Christian traf, fragte er leise und verschwörerisch: „Willst du immer noch mit mir fliehen?“

Christian nickte zaghaft und schluckte leer. Seine Augen waren umschattet. Roland presste die Lippen aufeinander. Im Hof sagte er: „Heute ist der siebente Juli. Ein guter Tag.“ Er gab der hohen, schiefen Harassenbeige einen heftigen Tritt.

Christian fragte: „Hast du den Nachschlüssel?“

„Ja.“

„Man wird uns erwischen!“

„Unmöglich. Wenn man den Diebstahl entdeckt, wälze ich den Verdacht auf dich; denn weil du heute morgen in der Schule fehlst, wird man mich auf keinen Fall durchsuchen.“

„Meinst du?“

„Ich bin sicher! Also – du wartest im Dom auf mich!“

Roland eilte ohne Christian ins Gymnasium. Im Klassenzimmer stand er keuchend vor dem grünen Schrank. Weisse, lange Finger umkrampften den vorne rechtwinklig gebogenen Draht. Es knirschte, als der einsame Dieb seinen Dietrich ins Schlüsselloch steckte und langsam drehte. Die Angst wurde zum Kitzel. Das Zittern war Ausdruck vollkommener Konzentration.

Die grüne Gitterkasse lag im zweiten Fach. Roland stopfte die blauen Noten in seine Hosentasche.

Drei Hunderternoten.

Im Korridor knallten Schritte. Roland vermochte noch abzuschliessen und sein Pult zu erreichen. Als Sutter eintrat, sass Roland übers Heft gebeugt und löste eine algebraische Aufgabe. Er sah flüchtig und mit abwesend gleichgültigem Gesicht auf.

In der Toilette, wo er sich einschloss, versteckte Roland die drei Hunderternoten zwischen seiner Haut und Christians blauer Badehose. Das kühle Papiergeld liebkoste sein Geschlecht, eine angenehme Empfindung. Seine Knie zitterten. Erregung pochte im Glied.

Der lederne Heiland erteilte Latein. Er liess den zu spät eintretenden Roland aus dem Tacitus übersetzen. Roland sprach undeutlich; denn der lederne Heiland war schwerhörig. Er gab sich zufrieden und humpelte zur Wandtafel. „Des Menschen Zierde ist das Bein, nur darf es nicht gebrochen sein“, schrie der lederne Heiland, der nicht nur an Schwerhörigkeit litt, sondern auch ein steifes Bein nachschleppte. Deswegen wiesen seine Lateinschüler überdurchschnittliche Noten auf. Der ideale Lehrer wünschte gute Besserung und hinkte in ein anderes Klassenzimmer.

Die nächste Lektion wurde durch Stift getrübt. „Bonjour messieurs, asseyez-vous!“ Man las Voltaire-Briefe. Stift durchmass das Klassenzimmer mit Riesenschritten. Sein viriler Adamsapfel stach aus dem dünnen Halse. Dr.Dürr machte seine berühmten Glotzaugen und presste die Faust ans Herz, wobei er den Daumen gegen die Klasse richtete.

Nach zehn Minuten klirrte Stiftens riesiger Schlüsselbund. Roland atmete kaum. Erst als der Stift kreischte, fuhren die Schüler in die Höhe. Stiftens Adamsapfel tanzte auf und ab. Die Krawatte bewegte sich rhythmisch.

„Diebe, voleurs! Tricheurs!“

Die kleine Unterlippe flatterte. Der Spitzbauch erbebte. Stiftens verwaschenes Knabengesicht unter schütterem grauem Haar wurde fahl. Dr.Dürr starrte in die grüne, leere Gitterkasse.

Zwanzig Uhren tickten.

Der knochige Sutter meldete die Absenz Christians. Stift stiess den Atem durch die Stupsnase. Er war befriedigt; denn er konnte Christian, der das Gymnasium seit Dienstag nach Ostern besuchte, nicht ausstehen, weil Roland und Christian Freunde geworden, ja, wie das Gerücht flüsterte, sogar Blutsbrüder – wie verworfen –, was die zwei gleichbeschaffenen Narben unter den linken Brustwarzen zu beweisen schienen.

Als man aber am Nachmittag auch Roland Steinmann vermisste, richtete sich der Verdacht so sehr gegen die beiden fehlenden Schüler, dass Stift einen Hausbesuch unternahm, wozu er sich mit Hilfe seines fischgrätigen, soliden Sonntagsanzuges drohend zurechtgeputzt hatte.

Er läutete beim Redakteur Steinmann. Eine Frau öffnete. Sie blickte dem dürren Herrn ängstlich ins Gesicht. Stift säuselte, dass er Frau Steinmann oder Herrn Steinmann in Angelegenheit des Sohnes Roland zu sprechen wünsche, bitteschön. Sie sei Frau Steinmann, sagte die Mutter. Stift liess die kleine Unterlippe hängen. Der betrunkene Mann näherte sich torkelnd.

Stift näselte ängstlich: „Ihr Gatte?“

„Wir kaufen nichts“, brüllte August Steinmann. Seine Glatze war gerötet. Die Trinkeraugen hinter den Brillengläsern tränten.

„Bitteschön, ich bin Klassenlehrer!“

„Oho!“ Herr Steinmann rülpste. Er stand wankend vor dem Stift und berührte dessen Schulter. Hieronymus Dürr wich zurück. Steinmann wurde wütend und schrie lallend: „Klassenlehrer werden abgeschossen!“

„August!“

„Ich befehle Rückzug – Abmarsch! Hopp!“

Stiftens flüchtende Schritte dröhnten im übelriechenden Treppenhaus. Frau Steinmann schrie abermals: „August!“ Im Erdgeschoss stand eine Frau vor der Tür. „Ich bin Christians Mutter“, flüsterte sie.

„Gestatten, Dürr, Gymnasiallehrer!“ Schweisströpfchen glitzerten auf der Stirne, Denkerstirne, wie er glaubte. Er brachte mit unsicherer Stimme seinen auswendiggelernten Satz vor: „Ich möchte festgestellt haben, dass ich in Mission des Klassenlehrers bei Ihnen vorspreche und des weiteren, was den Sachverhalt betrifft, ich mich Ihnen leider mitzuteilen gezwungen sehe, dass von Ihrem Sohne, der in eine, wollen wir sagen: abstruse Angelegenheit verwickelt wurde, noch keine Nachrichten eingetroffen sind, beziehungsweise man keine Ermittlungen des Sohnes –“

„Wollen Sie eintreten?“

„– des Sohnes“

„Bitte sehr!“

„– des Sohnes“

„Nehmen Sie Platz!“

,,– des Sohnes hatte machen können, bitteschön, dankeschön.“

„Kirsch?“

„Ich enthalte mich des Alkohols.“

„Zigarette?“

„Nur am Sonntag nach dem Mittagessen.“

Sie sahen sich an. Stift bemerkte die flackernden Augen der Frau und nagte an der kleinen Unterlippe. Auch diese Mutter schien verängstigt, was den Klassenlehrer befriedigte.

„Eine polizeiliche Untersuchung ist im Gange. Ich will hier nur das – das äh Milieu studieren.“

„Es ist mir peinlich, Herr –“

,,Doktor!“

„Doktor?“

„Dürr!“

„Dürr. Herr Doktor –“

„Dürr!“

„Dürr – wirklich, Doktor, peinlich, dass Christian und dieser – dieser Steinmann uns –“

„Dreihundert Franken!“

„– uns Ungelegenheiten bereiten.“

„Dreihundert Franken! Bitteschön! Dreihundert Franken. In das Komplott ist zweifelsohne auch Ihr Sohn verwickelt.“

„Doktor – Herr Doktor – also ich sage Ihnen: Dieser Steinmann ist schuld! Wirklich!“

„Die Verhältnisse bei Steinmann scheinen mir betrüblich, betrüblich.“

„Herr Steinmann trinkt.“

„Bitteschön, ich enthalte mich des Alkohols. Sekretär des Blauen Kreuzes“, Verbeugung. Die braunglänzende Uhr tickte hinkend.

„Frau Steinmann geht putzen.“

„Aha! Ich nehme das zur Kenntnis.“

„Sehen sie, Herr Doktor, seit mein Mann gestorben ist, habe ich nur noch Christian.“ Ihre Augen wurden plötzlich glasig. Nach einer unruhigen Gebärde fuhr sie fort: „Und jetzt das! Daran ist dieser Bengel schuld, dieser Steinmann. In den drei Monaten, seit wir hier wohnen, hat sich Christian verändert. Immer steckt er bei diesem Steinmann. Sie haben selber gesehen, wie diese Verhältnisse sind. Der alte Steinmann ist ja gar nicht mehr Redakteur!“ Sie flüsterte erregt: „Gestern nacht gingen sie baden!“

Der Stift machte Glotzaugen. Er sagte gepresst: „Der Gefahren sind viele!“ Und er schrieb etwas in sein rotes Notizbuch. Mitternachtsbad am siebenten Juli. Aha – verworfen – verworfen – nicht auszudenken – unsittlich.

„Herr Doktor!“

Stift zog den Spitzbauch ein, die folgende Bitte witternd.

„Wenn Christian wieder zurückkommt – wird er dann aus dem Gymnasium –“

„Ich werde alles tun, um Ihnen Unannehmlichkeiten zu ersparen. Bin ich doch überzeugt, dass Christian unter dem schlechten Einfluss eines Alkoholikerkindes steht. Es wird sich herausstellen, wer das Geld gestohlen hat! Monströs, monströs!“

Stift stand auf und näselte: „Erbmasse, Sie gestatten.“ Er entfernte sich hastig und bemerkte Roland nicht, der durch den Seiteneingang des Domes schlüpfte.

Christian lehnte an einer Säule.

Roland zog den Freund in einen Beichtstuhl. Hinter dem grünen Vorhang verborgen warteten sie.

Später sassen sie im Zug, der zur Stadt am See fuhr. Auf zwei Schienen einer unbestimmten Hoffnung entgegen. Ihre Schwüre verliehen neue Kraft. So drangen die Freunde in ihr Abenteuer ein und verloren die Scheu.

Im Dunkel eines Tunnels sagte Roland: „Ich ertrug es nicht mehr: O dieses graue Haus! Ich werde nie zurückkehren.“

„Wie willst du nun Musiker werden?“ fragte Christian.

„Musiker? Ich bin Musiker; aber seit Jahren musste ich ein Tuch zwischen Hämmer und Saiten meines braunen Klaviers hängen, damit die Mieter nicht gestört werden.“

„Wolltest du deshalb fliehen?“

„Mein Vater trinkt.“

Christian bat um Rolands Geschichte. Roland erzählte von den Knabenjahren im grauen Haus mit der roten Tür; von jenen Jahren, als er Chorbub gewesen; von Vikar Benoit, der die Chorbuben dirigierte; oder von Kovacewskj, der im riesigen Estrich des grauen Hauses gewohnt hatte.

„Kovacewskj, musst du wissen, war ein Sonderling, ein verkrachter Mensch. Er arbeitete nie. Er besass Hunderte von seltsamen Büchern, die ich las. Ausser ihm wohnte eine Frau Diethelm im Estrich. Sie vertrank ihre Rente und starb, berauscht vom roten Wein, in meinen Armen, als ich zehn Jahre alt war. Ich rief Kovacewskj, der herbeieilte. Schnell nahm er Frau Diethelms Silber, aus dessen Erlös er mir anderntags das braune Klavier kaufte. Übrigens: Mein schwarzer Rabe Wladimir gehörte Frau Diethelm. Ich bekam also ein Klavier und den hinkenden Raben Wladimir. Während jeder freien Stunde hielt ich mich bei Kovacewskj auf und lernte von ihm das Klavierspiel. Als ich vierzehn war, konnte ich besser spielen als er. Durch meinen Singlehrer erhielt ich ein Stipendium, das mir ermöglichte, bei Ivar Kissling Stunden zu nehmen. Kissling ist mein Meister. Er ist klein, hat eine gewaltige weisse Künstlermähne und ein gelbes Gesicht, weil er an Malaria leidet. Kissling ist ein berühmter Musiker. Und er weiss nicht, dass ich durchgebrannt bin. Vielleicht wird mich Kissling verstossen deswegen.“

„Lebt Kovacewskj noch?“

„Ich weiss es nicht. Bevor er verschwand, sagte er mir, ich würde das Entscheidende erfahren.“

Der Zug fuhr durch die Dunkelheit. Christian war sehr bleich geworden. Roland fragte ihn: „Bereust du die Flucht mit mir? Warum bist du so still? Etwas quält dich.“

„Nein, ich bereue die Flucht nicht. Aber es ist etwas geschehen. Etwas Furchtbares. Letzte Nacht, als ich in mein Zimmer zurückkehrte, stand meine Mutter vor mir. Sie war nackt. Roland, meine Mutter ist wahnsinnig.“ Er weinte lautlos.

Die Bremsen des Zuges knirschten. Roland und Christian sassen alleine im Abteil. Roland senkte den Kopf. Er schwieg, bis sich Christian beruhigt hatte. Dann fragte er: „Und nachher?“

Christian presste seine Fäuste gegen die Schläfen. „Sie ging rückwärts aus dem Zimmer; aber ich sah sie deutlich. Sie hasst dich. Sie hasst dich!“ Er wiegte den Oberkörper hin und her und schluchzte heiser und laut. Er stand auf, beugte sich aus dem Fenster, musste erbrechen. Mit dem Taschentuch wischte ihm Roland den kalten Schweiss von der Stirne. Christian war weiss im Gesicht.

Der Zug fuhr langsam in den Hauptbahnhof ein. Unentschlossen gingen Roland und Christian über die Brücke.

Der Engel verhüllte sein strahlendes Haupt. Die blutende Stadt stürzte ein; die Strassen bäumten sich auf und barsten im Scheitelbogen.

Der Portier zerbiss krachend ein grünes Bonbon und überreichte Roland, der gesagt hatte, sie seien Brüder und hiessen Peter und Paul König, den Zimmerschlüssel, der an einer roten Kugel befestigt war. Nur das Alter, das Roland in den Anmeldeblock eintrug, entsprach der Wahrheit: Christian fünfzehn Jahre und sieben Monate alt; Roland sechzehn Jahre und fünf Monate alt.

Im Zimmer standen sich die Freunde gegenüber. Keiner fand den Mut zu beginnen, bis Christian endlich jene Worte der vergangenen Nacht wiederholte: „Ein Bett ist weicher.“

Roland ging langsam auf die Veranda und sah den See und sah tausend Lichter darin. Er hörte, was Christian hinter ihm tat. Rolands Finger umklammerten das kühle Eisengeländer. Der frische Wind liess ihn frösteln. Die Nacht war mondhell. Jetzt spürte er die zwei noch zwischen Lenden und blauer Badehose verbliebenen Hunderternoten. Es wurde Roland elend vor Lust und Grauen; und er sagte deutlich: „Christian! Wir wollen es oft tun. Alles ist erlaubt, wenn man sich liebt, alles.“ Roland drehte sich langsam um.

Christian stand nackt auf dem Bett, andächtig, eine schlanke und weisse Gestalt. Roland sog den Anblick mit zitterndem Atem ein. Er gab sich dem Unausweichlichen preis.

II

Als vier Jünglinge von der Heilsarmee im Ratskeller ein Lied sangen, kamen die Herren Jugendanwalt Dr.Leibundgut, Verleger Sollich, Rektor Dr.Neuhaus und Baudirektor Wühler bei Châteauneuf-du-Pape und Kartenspiel so recht vaterländisch in Schwung, politisierten, schöngeistelten, fachsimpelten, stürzten in Themenlöcher: Fischereipatent, Jugendkriminalität, Milchpreiserhöhung, Bahnhofneubau, Parlament, Pariser Bordelle, Militär, soziale Fürsorge, Sittlichkeitsverbrechen und begannen allmählich jenen Gesprächsstoff zu kauen, der ihnen offenbar allen auf den weinfeuchten Zungen lag.

Jugendanwalt Dr.Leberecht Leibundgut schlürfte den süffigen Wein, sog an der dicken Zigarre, rülpste vornehm durch die violette Nase, wobei er seinen weissen, fleischigen Handrücken vor die wulstigen Lippen hielt, und begann: „Pardong. Sehen Sie, meine Herren, guten Abend, Herr Fürsprech, guten Abend, Frau Fürsprech, da ist der Fall von – danke gut! Und Ihnen? Ebenfalls ausgezeichnet bei diesen Zeiten, hahahaha, was ist Trumpf? Herz? Sehr seltsam, ach so, ja, da ist der Fall von, pardong, die Fleischpastete, der Fall von Weinmann oder Steinmann, eher Steinmann! Wie kam ich auf Weinmann? Also, Moment: Steinmann! Natürlich, Roland Steinmann, danke bestens, ich rauche zwar lieber diese Zigarre, aber zur Abwechslung eine Dann, eine Dann, eine Dann und Wann, Moment! Sie spielen, Herr Doktor! Bock und Bock und nochmals Bock! Danke sehr. Donnerwetter, diese drallen Beine bis zum Boden, was?! Sie rauchen nicht? Das sollten Sie aber, das fördert die Verdauung. Verdauung, jawohl! Die Verdauung. Ach so, Zigaretten? Sehr schädlich. Sehr schädlich. Pardong. Also, meine Herren, um, mein lieber Wühler, du spielst ja keinen Trumpf aus! Um auf diesen Steinmann zu sprechen zu kommen, scheint mein Urteil zu seinem ganz persönlichen Schutz zu sein. Roland Steinmanns Vater ist Alkoholiker. Prost, Max. Wollte sagen: es schien mir ein Milieuwechsel in eine Beobachtungsstation, Bock und Bock und nochmals Bock, angebracht zu sein, wie gesagt, wollte ich sagen: milde mein Urteil, wohlwollend, aber gepaart mit Strenge, denn dort kommt er auf andere Gedanken, und er ist entzogen, pardong, dem schlechten Einfluss seines Vaters, Moment! So spiele ich nicht weiter. Pardong. Ich sollte tatsächlich ein Vichy-Wasser haben, die Fleischpastete. Ich sage immer zu meiner Frau, aber selbstverständlich, lieber Max, glänzende Idee, sage ich also, wollte ich sagen, zu meiner Frau sage ich immer, jawohl Fräulein, Vichy-Wasser, sage ich zu meiner Frau: die Jugend muss man hegen und pflegen. Das ist wie ein Misthaufen. Guter Dünger, gute Erde. Ein Urteil, gerecht wie das Jüngste Gericht – bei Gericht fällt mir ein, dass die Fleischpastete irgendwie, also sozusagen, ja, nicht wahr, ich meine nur so – was habe ich jetzt gesagt?“

„Vichy-Wasser“, grölte Wühler und kippte seinen siebenten Genever.

„Nein – also – pardong. Die Pleischfastete. Hallo, Fräulein! Gerecht wie das Jüngste Gericht! Milde! Strenge! Vichy-Wasser! He! Fräulein! Vichy-Wasser! Mit milder Strenge erwogen, das ist der goldene Mittelweg, sage ich immer zu meiner Frau. Diese Zigarre zieht verteufelt schlecht. Übrigens – ganz vertraulich –“ Leberecht Leibundgut schnalzte mit der Zunge: „Kennen Sie, meine Herren, Maria Pedroni? Das ist so eine, sage ich Ihnen. Soooooo eine.“ Er zeigte es und flüsterte: „Maria Pedroni wohnt neben der Blauen Laterne im krummen Gässchen, aber das nur nebenbei. Moment! Wer spielt eigentlich aus? Ich sage immer zu meiner Frau –“

„Sehr gut“, brüllte Wühler und stocherte mit einem zerkauten Streichholz in den faulen Zähnen, „ich sage auch immer zu meiner Frau –“

„Wie ist das“, mahnte der Rektor des Städtischen Gymnasiums, „jassen wir, oder jassen wir nicht?“

„Wir jassen“, flüsterte der Verleger Sollich.

„Wir jassen nicht“, schrie Wühler und zitterte mit seinem Schnurrbart. Der Rex schmiss schlechte Karten auf den Tisch. Sollich tätschelte vergnügt und schadenfroh den grünen Jassteppich.

Ein Herr mit kleiner Unterlippe und riesigem Adamsapfel trat zum Tisch. Das verwaschene Knabengesicht unter schütterem Haar war gerötet.

„Darf ich vorstellen“, sagte der Rektor, „Herr Doktor Dürr, Gymnasiallehrer. “

„Gestattet, bitteschön?“

„Angenehm.“

„Freut mich, Herr Spühler.“

„Wühler.“

„Ach so.“

„Baudirektor zwo.“

„Nein danke, ich rauche nicht. Nur am Sonntag nach dem Mittagessen.“

„Das sollten Sie aber. Das hält in Form. Das fördert die Verdauung.“

,,Meinen Sie? Ach mein Stuhlgang. Ich sehe, Sie trinken Vichy-Wasser?“

„Fleischpastete.“

„Mir auch ein Vichy-Wasser, Fräulein. Aber, bitteschön, temperiert, bitteschön, dankeschön. Fleischpastete?“

„Fleischpastete. Es ist etwas Ungeheuerliches mit diesen Fleischpasteten. Also ich sage Ihnen: Fleischpasteten! Fleischpasteten, also das ist die reinste Wissenschaft mit diesen Fleischpasteten, pardong.“

Der Rektor sagte: „Wir unterhielten uns eben über Roland Steinmann.“

Stift schien das zu freuen; er rieb die Hände aneinander, presste die Faust ans Herz und zielte mit dem Daumen gegen die Tafelrunde. „Bitteschön, Steinmanns Ausschluss aus dem Gymnasium, scheint mir, um meine Darlegungen hier noch einmal zu wiederholen, wegen der Trunksucht seines Vaters sehr angebracht zu sein. Ich bin, Herr Jugendanwalt, sehr erleichtert, dass Sie wesentlich dazu beigetragen haben, diesen, ich möchte sagen: Fremdkörper in meiner Klasse, der, unter anderem, durch seine Indifferenz und Indolenz infizierend gewirkt hatte auf seine Mitschüler, namentlich auf Christian, glücklicherweise und zum Wohle aller in diese Beobachtungsstation, ähäm – Knabenerziehungsheim –“

„Beobachtungsstation, bitte zu unterscheiden!“

„– bitteschön: in diese Beobachtungsstation –“

„Beobachtungsstation.“

„Beobachtungsstation einzuweisen.“

Verleger Sollich flüsterte: „Ist dieser Steinmann ein Verbrecher?“

„Gewissermassen“, säuselte Hieronymus Dürr.

Jugendanwalt Leibundgut sagte: „Die Jugendanwaltschaft ist ein Refugium. Und die Psyche, meine Herren, während der Pubertät“, alle lauschten, „ist labil. Pardong. Darum gilt es, solche unilateralen, puerilen Individuen, wie etwa diesen Steinmann, auf eine gute Bahn zu lenken.“

Wühler sagte: „Bravo“, und er roch nach Alkohol. Stift kriegte den Geruch in die Nase, rückte entsetzt beiseite und biss, infolge eines blossliegenden Zahnnervs, einen kleinen Schluck temperierten Vichy-Wassers ab. Er näselte: „Um bei diesem Kolloquium zu bleiben, möchte ich Herrn Doktor Leibundgut, bitteschön, entgegenhalten, dass Steinmann keineswegs pueril ist.“

„Pueril“, flüsterte Sollich.

„Wie bitte?“ fragte Leibundgut.

Wühler schrie nach dem achten Genever. „Bei meiner Exploration bezüglich, bitteschön, der Beschaffenheit des Charakters dieses Steinmann, scheint es mir indefinibel, dass Sie, Herr Jugendanwalt, vorhin gesagt haben, Steinmann sei pueril, nein, bitteschön, je m’excuse, er ist unheimlich erwachsen, ich möchte sagen, er sei ein Defraudant, ein, gelinde gesagt, ausgekochter sogar.“

„Aber er wurde in eine Beobachtungsstation abgeschoben, pueril hin, pueril her“, brüllte Leberecht Leibundgut.

„Nein“, kreischte Hieronymus Dürr, Französischlehrer, der an sporadischer Gelbsucht, Diabetes mellitus, Prostatitis, faulen Zähnen, unregelmässiger Verdauung, angegriffenen Lungen und leichtem Basedow litt.

„Pueril“, flüsterte Sollich.

„Nein, nicht pueril!“

„Doch, pueril!“

Stiftens Adamsapfel tanzte. Er machte seine Glotzaugen.

„Wir betreiben“, sagte der Rektor besänftigend, „am Donnerstagabend üblicherweise keine Kontroversen, sondern jassen!“

„Pueril“, flüsterte Sollich.

„Also – jassen wir, oder jassen wir nicht?“ fragte der Rektor streng.

Wühler kippte seinen achten Genever, und der Jugendanwalt warf die kalte Zigarette erbost in den Aschenbecher.

„Also“, wiederholte der Rektor etwas lauter: „Jassen wir, oder jassen wir nicht?“

Leibundgut versuchte beschwichtigend Stiftens Loch in der Stimmung zu stopfen: „Nicht wahr, Herr Doktor, dieser Christian stand unter dem schlechten Einfluss Steinmanns?“

„Zweifelsohne.“

„Pardong. Das habe ich mir doch gleich gedacht. Da täusche ich mich nie! Also, meine Herren, um – auf Wiedersehen, Herr Fürsprech, auf Wiedersehen, Frau Fürsprech – um auf diesen Steinmann, also ganz im Vertrauen: man fand die beiden in einem Bett des Hotels du Pont, nehmen Sie gar keinen Wein, Herr Doktor? Das sollten Sie aber! Das fördert die Verdauung!“

„Bitteschön: Prinzipien!“

„Pueril“, flüsterte Sollich, und Wühler schnarchte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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