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Stell dich nicht so an. Ignoriere sie einfach. Du bist doch selbst schuld, wenn du immer gleich heulst. Klärt das unter euch. Ihr seid alt genug. Du musst auch mal lernen, Spaß zu verstehen. Auf Hilfe kann Sam in der Schule nicht hoffen. Schließlich ist er an seiner Situation schuld. Was ihm bleibt, um nicht ganz zu zerbrechen, ist Musik. Musik fragt nicht und sie bringt manchmal auch Menschen zusammen.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhaltsverzeichnis
Leben zwischen den Akkorden
Impressum
Der Tag ist doch für den Arsch.
Linus atmete gegen den Druck auf seiner Brust an. Sein Herz hämmerte, als würde es sich gegen die zunehmende Last auf seinen Rippen stemmen, um nicht zerquetscht zu werden. Mit beiden Händen klammerte er sich an die Gurte seines Rucksacks. Es gab ihm Halt und seine Arme waren die Mauern, die ihn bei Berührungen mit anderen Schülern schützen. Die Menge an Menschen um ihn herum erdrückte ihn.
Ich muss hier raus.
Sein Sichtfeld verschwamm. Nur in der Mitte blieb ein scharfer Fleck. Linus nahm den Tunnelblick in Kauf, an dessen Ende er die rettende Flügeltür nach draußen sah. Es half ihm, einen Teil der Enge auszublenden.
Dafür wurden die Stimmen der Schüler lauter. Sie hallten an den Wänden der Schuleingangshalle wider, überlagerten sich wie Wellen, die über Linus hereinbrachen, und halfen der Panik, ihn noch weiter in die Dunkelheit zu ziehen. Er wollte sich die Ohren zuhalten und zwang sich, diesem Drang nicht nachzukommen. Selbst wenn er sich den Gehörgang komplett verschloss, die lauten Stimmen würden bleiben. Sie hatten sich längst in seinen Kopf gefressen.
Linus erreichte die Doppeltür und stieß einen Teil davon auf. Kalte Luft schlug ihm entgegen. Er stützte sich an einer Säule des Vordaches ab. Die Tür schloss sich hinter ihm.
Ruhe.
Endlich.
Die Stimmen kamen nur noch gedämpft bei ihm an und wurden übertönt vom Heulen des Windes. Der Regen prasselte in großen Tropfen auf das Blätterdach des Baumes vor dem Eingang.
Linus atmete tief ein. Die Panik gab ihm keine Chance, die Luft durch die Nase einzuatmen. Zu gierig verlangte sein Körper nach Sauerstoff und so sog er ihn durch den Mund ein.
Ich kann tief atmen, es ist nur die Panikattacke, die mir etwas anderes sagt. Organisch ist alles in Ordnung.
Logik. Mit dem Verstand gegen die Panik ankämpfen. Vor wenigen Monaten wäre dies noch undenkbar gewesen. Jetzt war es ein Teil seiner Realität. Ein Kampf gegen dieses verdammte Schattenmonster, das seine Seele mit eisiger Hand umschloss.
Der Druck auf seiner Brust baute sich ab, dafür brannten seine Lungen durch die kalte Luft. Er legte eine Hand auf sein Herz, obwohl er die Pulswelle vom kleinen Zeh bis zum Scheitel spürte.
Er lehnte die Stirn an den kühlen Beton. Sein Blick fiel auf seine Turnschuhe. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich ihre Sohle vom Rest löste. Dann musste er in die Innenstadt. Einen Ort, den er nicht gerne aufsuchte. Zu viele Menschen. Zu groß war die Enge.
Vielleicht konnte er den unliebsamen Weg mit einem Friseurbesuch verbinden? Den schob er schon seit Monaten vor sich her. Seine Mutter lag ihm deswegen in den Ohren. Wenn seine Haare noch länger wüchsen, hielte man ihn bald für ein Mädchen. Linus konnte mit Worten nicht ausdrücken, wie scheißegal ihm das war. Der einzige Grund, über einen Friseurbesuch nachzudenken, war die anschließende Ruhe, die er vor seiner Mutter hatte. Aber dann fand sie das Nächste, was sie störte, davon gab es genug.
Es klingelte. Linus drehte sich zur Tür und die Beklemmung kehrte mit voller Kraft zurück.
Es ist genug heute.
Mit dem Eingeständnis befeuerte er das Monster. Es öffnete alle Schubladen mit den Vorwürfen, die man ihm ohnehin schon jeden Tag an den Kopf warf und gegen die er so lange nicht imstande gewesen war, sich zu wehren.
Es ist in Ordnung. Ich habe viel geschafft in dieser Woche und es ist jetzt in Ordnung, wenn ich mich selbst schütze. Ich habe meine Grenzen ausgereizt.
Die Stimmen wurden nicht leiser und sie waren ihm gegenüber so unfair. Sie raubten ihm die Kraft, die er brauchte, um gegen die Depression zu kämpfen. Diejenigen, die diese Vorwürfe aussprachen, störte das nicht.
Er war faul.
Er wollte nicht.
Das hatte ihm auch der Arzt vor vier Jahren gesagt, zu dem man ihn geschleppt hatte. Damals war er gerade 12 geworden und es sei nur die Pubertät, die diese Veränderung in ihm hervorgerufen hätte. Ein gewaltiger Irrtum, der ihm bis heute den Kampf noch schwerer machte.
In der Pausenhalle waren nur vereinzelte Grüppchen zurückgeblieben. Linus machte sich auf den Weg zum Lehrerzimmer. Hoffentlich ist sie noch da.
Vorbei an den Naturwissenschaftsräumen und am Treppenhaus. Sein Ziel am Ende der Pausenhalle hatte er schon fest im Blick. Jetzt bloß nicht ablenken lassen.
»Linus!«
Er drehte sich um. Seine Klassenlehrerin stand an der Treppe. Er war so fixiert auf sein Ziel gewesen, dass er an ihr vorbeigelaufen war. Jetzt kam sie auf ihn zu.
»Ich …«, begann er und verstummte.
Es war nicht mehr viel, bis dieser Tag vorbei war. Vier Stunden. Viermal fünfundvierzig Minuten. Konnte er das denn wirklich nicht mehr schaffen? Würde er nicht stolz sein, wenn er das jetzt durchzog, auch mit dem Wissen, dass es ihm schadete?
»Geh ruhig nach Hause. Ich habe dir bei deinem Referat angesehen, wie schwer es dir gefallen ist.« Ihr verständnisvolles Lächeln hüllte seine Seele mit einer warmen Decke ein und gab ihr eine Tasse heiße Schokolade. »Es hat mir gut gefallen, was du ausgearbeitet und wie du es vorgetragen hast. Du kannst zufrieden mit dir sein.«
Zufrieden …
Die junge Lehrerin bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. »Du hast viel geschafft, seit du wieder zurück bist. Nimm den Druck raus. Dieses Schuljahr geht es nicht um Noten oder Fehltage. Es geht nur darum, dass du Taktiken findest, wie du deinen Alltag bewältigst und das machst du gut.«
Warum wusste seine Lehrerin immer so genau, was er in diesem Moment an Worten brauchte? Bereits vor seinem kompletten Zusammenbruch hatte sie ihn mehrfach darauf angesprochen, ob etwas nicht stimmte. Nach der Klinik hatte sie sofort das Gespräch gesucht und ihm die freiwillige Wiederholung der Klasse vorgeschlagen, damit er Zeit bekam.
»Ich versuche es, nur wäre es heute nicht mehr viel gewesen.« Er sah an ihr vorbei zur Wand.
Sie zuckte mit den Schultern. »Letzte Woche waren es vier Tage, jetzt ein halber Tag mehr. Das ist ein Fortschritt und dein Kampf ist ein Marathon, kein Sprint.«
»Danke.« Ein paar Steine fielen von dem Berg auf seinen Schultern ab.
»Gerne und jetzt geh. Wir sehen uns am Montag.«
Er verließ das Gebäude. Der Regen schlug ihm ins Gesicht, seine Turnschuhe weichten in der ersten Pfütze auf dem Schulhof durch und das Wasser zog sich am Stoff seiner Hose hoch.