Gittersee - Charlotte Gneuß - E-Book
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Gittersee E-Book

Charlotte Gneuß

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Beschreibung

1976, im Dresdner Vorort Gittersee: Karin ist 16, hütet ihre kleine Schwester und hilft der renitenten Großmutter im Haushalt, die ihrer Zeit als Blitzmädel hinterhertrauert. Karins Vater verzwei­felt an der Reparatur seines Škodas wie an der des Familienlebens, und ihre Mutter würde am liebsten ein anderes Leben führen. Aufgehoben fühlt sich Karin bei ihrer Freundin Marie, dem einzigen Mädchen in der Klasse, das später nicht etwas machen, sondern etwas werden will: die erste Frau auf dem Mond. Und Karin ist verliebt: in ihren Freund Paul, der gerne Künstler wäre, aber im Schacht bei der Wismut arbeitet. Als Paul zu einem Ausflug aufbricht und nicht mehr zurückkommt, stehen eines Nachts zwei Uniformierte vor der Tür, und Karins Welt gerät aus den Fugen.  In diesem eindringlichen Debütroman erzählt Charlotte Gneuß von einer Welt, die es nicht mehr gibt und von der Frage, ob Unschuld möglich ist. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023

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Seitenzahl: 231

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Charlotte Gneuß

Gittersee

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Gittersee, 1976, Karin ist 16. Sie hütet ihre kleine Schwester, hilft der Großmutter im Haushalt, tröstet den Vater, versucht, die Mutter zu ersetzen und schaut stundenlang fern mit ihrer Freundin Marie. Als Karins Freund zu einem Ausflug aufbricht und nicht mehr zurückkommt, stehen in der Nacht zwei Uniformierte vor der Tür und ihre Welt gerät aus den Fugen.

 

In diesem eindringlichen Debütroman bleibt kein Stein mehr auf dem anderen, alles verschiebt sich, auch die Moral. Unverwechselbar und vielschichtig erzählt Charlotte Gneuß von einer Welt, die es nicht mehr gibt und von der Frage, ob Unschuld möglich ist.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Charlotte Gneuß wurde in Ludwigsburg geboren, nachdem ihre Eltern die DDR verlassen hatten. Sie studierte Soziale Arbeit in Dresden und arbeitete in diesem Beruf, bevor sie literarisches Schreiben in Leipzig und szenisches Schreiben in Berlin zu studieren begann. Sie veröffentlicht in Literaturmagazinen und Zeitschriften, ist Gastautorin bei ZEIT-Online und war mit ihrem Romanprojekt zur Schreibwerkstatt des Herrenhauses Edenkoben, des Brecht Hauses und der Kölner Schmiede geladen. Sie war mehrfach für den Preis der jungen Dramatik nominiert, ist Gewinnerin des Leonhard-Frank-Stipendiums und Herausgeberin der Anthologie Glückwunsch, die im Frühjahr 2022 bei Hanser Berlin erschien.

Inhalt

[Widmung]

[Motto]

Es ist früh [...]

I

I

Ich lehnte das [...]

Überleg es dir [...]

Draußen war es [...]

Um vier kam [...]

Rühle wohnte hinter [...]

Ich kam zu [...]

II

Die Kartoffelschalen ringelten [...]

Auf dem Bett [...]

Oma stand am [...]

III

Beim nächsten großen [...]

IV

V

In diesem Moment [...]

Am Sonntag rief [...]

Am darauffolgenden Dienstag [...]

VI

Der Hausmeister wohnte [...]

VII

In den Minuten [...]

Einmal fragte ich [...]

Kommst du am [...]

VIII

An der Fetthenne [...]

Und dann kamen [...]

II

I

II

In den letzten [...]

III

Marie war schrecklich [...]

IV

Und dann kam [...]

Als ich übers [...]

An der Schläfe, [...]

Später spielten die [...]

V

In der Schule [...]

VI

VII

VIII

IX

III

I

Die Nacht schlich [...]

II

III

IV

Wie besprochen, wartete [...]

V

[Danksagung]

Für Hannelore

»Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend steh’n wie vor dem Eingang zur Hölle.«

Franz Kafka an Oskar Pollak, Prag, 8. November 1903

Es ist früh am Tag und spät im Jahr. Rühle steht still. Vor seinen Augen glänzt ein Draht, der straff zwischen den Buchen gespannt ist. Zu seinen Füßen ragt eine Hand aus einem Mantelärmel. Die Hand ist blass und groß. Rühle stößt mit der Stiefelspitze dagegen, die Hand bewegt sich kaum. Der Körper, der zur Hand gehört, wird von einem Motorrad bedeckt. Das Motorrad strahlt gelbes Licht über Mantel und Hand und Schal. Aus dem Schal sickert Blut. Das Blut färbt den Asphalt schwarz. Es dauert, bis Rühle die Knoten gelöst hat, den Draht wickeln und in seine Tasche stecken kann. Als er sich dreht, knirschen seine Sohlen auf dem gefrorenen Boden. Erschrocken sieht er sich um. Doch da ist nur eine Amsel, die jetzt zwitschert, eine Taube, die jetzt gurrt. Das Herz pocht Rühle in den Schläfen. Am Wegesrand liegt dünn der Frost. Darin liegt ein schwarzes Knäuel, wie ein zu Boden gefallener Spatz. Rühle hebt es auf und hat einen Handschuh in der Hand. Gut gegerbtes, weiches Leder.

I

I

Wir waren sechzehn. Jungs nur zwei. Thorsten und David. Heute bitte kein Gezicke, sagte die Betzler und klappte die Tafel auf. Wir säen und ernten für das sozialistische Wohl, stand dort in ordentlicher Schreibschrift. Die Betzler richtete ihre Dauerwelle und sagte, heute wollen wir uns mit der Aussaat von Weißkohl beschäftigen. Anna meldete sich, kann ich mal aufs Klo. Babsi sagte, die schon wieder. Die hat doch Geheimnisse auf dem Klo vergraben. Anna drehte sich, nee, meine Tage. Will keiner wissen, rief Kerstin, doch die Tür war schon zugefallen. Ruhe jetzt. Die Betzler klopfte mit Kreide gegen die Tafel. In welchen Gerichten verwendet man Weißkohl. Eintopf, Auflauf, Tote Oma, antwortete Marlene.

Würdest du dich bitte melden, fragte die Betzler. Marie schrieb in mein Heft: Wie nervig alle sind. Ich schrieb darunter: Du erst. Lass mein Heft in Ruhe. Draußen lief eine Katze über den aufgerissenen Beton. Marie malte einen Strich: Lass mein Heft in Ruhe. Dann beugte sie sich zu mir hinüber und flüsterte, wie läuft es mit Paul.

 

Als Paul am Freitag mit seiner Schwalbe in den Hof geknattert war, hat Oma schon die Augen verdreht. Ich bin schnell hochgerannt, um nach der Kleinen zu schauen, aber die schlief noch feste. Also hab ich eilig die Lippen rotgemalt, die Haare durchgewuschelt, das Kleid glattgestrichen und bin runtergerannt. Paul hatte die Schwalbe mittlerweile ausgeschaltet und stand breitbeinig an den Sattel gelehnt. Lust auf ein Abenteuer, hat er gefragt und gezwinkert.

Klar hatte ich Lust, aber die Kleine könnte jede Minute aufwachen, und dazu war heute Waschtag. Komm schon. Er wollte zum Sommersonnwendfest zu den Tschechen. Mit Rühle. Bei denen war im Betrieb eine Maschine ausgefallen, und bis die Ersatzteile hier sind, sagte Paul, sind die Russen tot. Natürlich wollte ich mitfahren, aber die Kleine, die Wäsche.

Entweder jetzt oder nie. Pauls Finger spielten mit der Bremse Klickklack. Ich wär natürlich am liebsten sofort auf und davon, doch ich sagte, nee, nee, so schnell geht das nicht, und ohne Muttis Erlaubnis, glaubst du ja selbst nicht.

Ja, dann frag die doch.

Die ist nicht da.

Dann fragen wir halt deinen Vati, der sagt doch eh ja, meinte Paul, startete die Maschine, und schon waren wir mit hundertachtzig auf der langen Straße, das ganze Rapsgelb nur so am Vorbeizischen, ich umarmte Paul von hinten, spürte seinen Rücken mit den Brüsten, lehnte mich an seine Schulter, und schon waren wir in Kleinnaundorf, gleich die erste links, in der Zossener. Vaters Büro war im dritten Stock, und wie wir da standen, war mir plötzlich nicht mehr ganz wohl.

Nu mach schon, sagte Paul, können hier ja nicht ewig rumstehen. Er wollte noch Sachen packen und mich dann gegen halb vier wieder abholen. Und wenn es später wird, dann komm einfach direkt um drei viertel sechs zum Waldplatz, sagte Paul und wollte mich streicheln, doch ich schüttelte den Kopf und seine Finger fort. Ach komm, mit deinem Alten kann man doch reden. Denkste, rief ich, aber da war er schon weg.

 

Ich sah nach oben, ob vielleicht das Fenster offen stand und Vater schon rausschaute. Was sollte ich sagen. Du, Vati, ich fahr jetzt mit zwei Jungs zum Sonnwendfest, die Wäsche macht sich von allein, und die Kleine hat über Mittag kochen gelernt. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Montag bin ich zurück. Natürlich kein Fenster offen. Ich kickte einen Zigarettenstummel vom Bordstein, setzte mich auf die unterste Stufe, legte die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf auf die Unterarme. Schließlich pulte ich Dreck unterm Zehennagel hervor. Dann wieder sah ich zum obersten Fenster. Ob vielleicht der Sekretär Mittagspause hatte, geradewegs aus der Tür spaziert kam, mich sah und sagte, Mensch, Kind, dein Vati arbeitet, mach dich nach Hause. Doch die Fenster geschlossen, die Türen zugezogen. Unsinn. Ich war ja kein Kind mehr, aber mit zwei Jungs zu den Tschechen würd ich meinem Mädel auch nicht erlauben. Auf der Straße weit und breit niemand. Die Kleine würde bald aufwachen, und mit Oma konnte man die nicht lang allein lassen. Ich kletterte auf eine Vorgartenmauer und sah über eine Glasmispelhecke zur Kirchturmuhr. Halb drei vorbei. Bis Paul wiederkommen wollte, war es noch eine Stunde hin, und ob er wiederkommen würde, war längst nicht gesagt. Da könnt ich auch gleich bis nach Hause laufen, fand ich und sprang von der Mauer.

 

Kurz nach der Ortseinfahrt nahm mich einer mit. Aus seinen Ohren wuchsen dicke graue Haare, und als er lächelte und mich eine flotte Biene nannte, konnte ich seine Goldzähne zählen. Vier. Das ist wirklich toll, dass Sie mich mitnehmen, sagte ich, ich wohn gleich im Nachbardorf, also nur ’ne kurze Strecke. Er lehnte sich aufs Lenkrad und fragte nach meinem Namen, nach meinem Alter, nach meinen Geschwistern und nach meinen Eltern. Ob die wüssten, dass ich mich hier allein auf der Landstraße rumtreibe.

Heiße Karin, aber mein Freund nennt mich Komma, ich bin sechzehn, habe eine Schwester und zwei Eltern, und wo ich bin, wissen die natürlich nicht, antwortete ich. Aber dass ich mich allein auf der Landstraße rumtreibe, das würde ich nun auch nicht behaupten, fügte ich nach kurzem Nachdenken hinzu. Er lächelte, soso. Fünf. Es waren fünf Goldzähne. Draußen das ewige Rapsfeld. Wohnen Sie hier in der Gegend, fragte ich. Das wüsstest du wohl gern, sagte er, soll ich dir mal mein Zuhause zeigen. Gern, antwortete ich, nur heute ist’s schlecht, ich hab wirklich noch ’ne Menge zu tun. Was haste denn vor, fragte er und lächelte schon wieder. Na, Sie sind mir ja ein Neugierskarle, jetzt lassen Sie mich schon raus hier, sagte ich. Er hielt, und ich öffnete die Beifahrertür mit einem Ruck. Gerne wieder, Mademoiselle, sagte er, hupte und fuhr davon.

 

Oma war stinksauer. Was mir einfiele. Ob ich verrückt geworden sei. Was der Lümmel gewollt habe. Dass ich doch nicht einfach mit jedem Dahergelaufenen mitfahren könne. Ich nahm ihr die Kleine ab, die durchgehend plärrte, und erklärte, dass Paul kein Dahergelaufener sei. Was sie eigentlich glaube. Als ob ich mit jedem Dahergelaufenen mitfahren würde. Dass ich nur kurz weg gewesen sei, dass sie das jetzt bitte nicht an die große Glocke zu hängen brauche. Bis hinten in den Hof konnte ich sie brüllen hören.

Alles gut, alles gut, flüsterte ich der Kleinen ins Ohr und gab ihr einen Kuss auf das weiche, dünne Haar. Oma meint das nicht so. Sie ist nur sauer, weil sie den Krieg verloren hat. Ich setzte die Kleine auf den Boden. Sofort klammerte sie sich an mein Bein. Kleines Goldgefunkel, ich muss jetzt Wäsche machen, und da kann ich dich nicht die ganze Zeit auf dem Arm tragen, verstehst du das nicht.

Die Kleine verstand es nicht. Tränen hingen ihr an den Wimpern. Was Mutti auch noch mal werfen musste. Ich rüttelte an einem der unteren Äste vom Nussbaum. Die Kleine starrte wie blöde auf die Wackelei und wurde still. Siehst du, sagte ich, öffnete die Maschine, klatschte die Wäsche in den Zinkbottich und ging mit zwei Eimern ins Haus.

 

Als ich gerade mit der Schleuderkurbel fertig war, hörte ich sie am Tor jaulen. Dass ich wieder mit diesem Jungen. Eine Schande wär das. Dass man mir mal die Meinung. Diese Jugend heutzu. Das Tor fiel donnernd ins Schloss. Kurz darauf war der Vater im Hinterhof. Die Kleine strahlte. Er nahm sie hoch, warf sie in die Luft und sagte zu mir, Mutti sagt, dein Paul war wieder da. Ich nickte und nahm ein Unterhemd aus der Trommel. Dieser Paul, Vater lachte, verführt meine Tochter und treibt meine Mutter in den Wahnsinn. Was habt ihr denn gemacht.

Wir sind nur kurz herumgefahren.

Nur kurz herumgefahren, fragte Vater.

Nur kurz herumgefahren.

Und werdet ihr wieder herumfahren.

Ich zuckte mit den Schultern, vielleicht.

Also, wenn ihr vorhabt, noch öfter herumzufahren, dann bitte fragt mich davor, sonst kann die ganze Situation ziemlich verfahren werden.

Die Kleine quengelte, Vater klopfte ihr zur Beruhigung auf den Po. Dann sah er mich sehr ernst an und sagte, versprich mir bitte, dass du ehrlich bist.

Ich versprach es.

 

Drei viertel fünf. Noch eine Stunde. Warum hatte ich Vater nichts gesagt. Ich legte die Kleine auf den Wickeltisch und wischte die Kacke vom Hintern, während ich überlegte, wie ich um drei viertel sechs am Waldplatz sein könnte. Vater doch alles sagen. Dafür war es zu spät. Drei Tage Tschechei. Das würde der nie erlauben. Und wenn doch. Dann würde es Mutti verbieten.

Fünf Uhr. Vater lag in der Einfahrt unter dem Škoda, nur die Füße guckten hervor. Daneben saß Oma mit heruntergezogenen Mundwinkeln auf einem Hocker, vor ihr der Werkzeugkasten. Wenn Vater Schraubenschlüssel rief, reichte sie ihm den Schraubenschlüssel, wenn er Kolben rief, reichte sie ihm den Kolben, wenn er drehen rief, ging sie zum Lenkrad und drehte. Verdammt. Vater fing mit der Flucherei an. Keine Chance, ihn zu fragen. Ich nahm die Kleine an den Händen, sie stellte sich auf meine Füße, so gingen wir im Garten auf und ab. Sie liebte das Spiel, ich hoffte, dass Mutti bald käme.

Viertel sechs. Erst ihr Geklacker auf dem Asphalt, dann das quietschende Tor, schließlich die quietschende Tür. Die Kleine begann zu schreien. Was ist nur wieder, sagte Mutter, hat sie Blähungen, Fieber, Durchfall. Ich hob die Schultern. Nimmst du sie mir ab. Kann ich bitte erst mal ankommen, sagte Mutter und ging an mir vorbei hinauf ins Schlafzimmer.

Halb sechs. Mutter auf dem Sofa. Ich mit der Kleinen auf dem Teppich. Sie fuhr mir mit einem Holzklotz über das Bein und murmelte, brummbrumm.

Mutti, nimmst du mir bitte mal die Kleine ab.

Wieso, ihr spielt doch so schön.

Mutti, dein Ernst.

Dann gib halt.

Ich übergab ihr die Kleine, rannte nach oben, Lippenstift, blaues Kleid, Haare auf, runter, raus. Ich wollte früh da sein, früher als Rühle. Draußen schüttelte ich Vaters linken Fuß und rief, bin zum Abendessen wieder da.

Wo willst du denn hin.

Ich lehnte das Fahrrad gegen eine Birke und schlich mich durch das Gestrüpp nach vorn. Paul kniete auf der Lichtung und fummelte am hinteren Reifen seiner Schwalbe herum. Das Licht fiel ihm in den Nacken. Er trug seine besten Schlaghosen, ein helles Hemd und neue Sandalen, er war unfassbar schön. Ich wollte mich anschleichen, ihm von hinten die Hände über die Augen legen. Er würde lachen, sich umdrehen und mich küssen. Ich schlich mich also an, doch war ich nicht leise genug, knackte ein Ast oder raschelte Laub, jedenfalls zuckte Paul, drehte sich und fragte, was machst du denn hier.

Weil die Sonne ihn blendete, legte er die Hand an die Stirn wie ein Käppi. So war sein Gesicht schattig, ich konnte seinen Blick nicht erkennen, rannte auf ihn zu und rief, wir waren doch verabredet. Leise, zischte er, und da sah ich es schon. Zwischen Mantel und Schlauch steckte Geld. Bestimmt sechshundert Mark. Paul, sagte ich. Er hielt den Finger an den Mund. Ohne ein Wort zu sagen, klemmte er den Mantel zurück über das Geld und die Felge.

Woher hast du das Geld.

Gespart.

Was willst du mit dem Geld.

Kletterzeug kaufen.

Aber man darf höchstens hundert mitnehmen da rüber.

Ich weiß, deshalb bitte: kein Wort.

Bevor er den Reifen prüfte, sah er sich um. Durch die Stille das Pfeifen eines Zuges, rhythmisches Poltern der Räder. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Paul den Reifen so weit hatte. Schließlich fragte er, wo mein Gepäck sei.

Ich darf nicht mit.

Was.

Erlaubt Vati nicht.

Hast du ihm gesagt, dass du Montag zurück bist.

Klar.

Ich sprach laut und deutlich, um einen glaubwürdigen Eindruck zu erwecken. Psst, machte Paul. Du, flüsterte ich, ist doch nicht schlimm, wir fahren doch nächsten Samstag zusammen klettern, wir machen die Barbarine und –

Und wenn du trotzdem mitkommst, unterbrach mich Paul.

Was soll ich dann Mutti sagen.

Ist das so wichtig.

Hallo.

Eine Fliege landete auf Pauls Unterarm, er strich sie nicht fort. Er sah zum Boden, wie in die weiteste Ferne. Dann stand er auf und klopfte sich den Sand vom Knie. Wofür brauchst du das alles, fragte ich und zeigte auf seine Taschen. Für Klettersachen, Essen, Zeug. Er hob die Schultern. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Händen. Er flüsterte, bitte kein Wort wegen dem Geld. Bitte zu keinem ein Wort, verstanden. Ich nickte, und er nickte auch. Und du darfst auch nie vergessen, dass du meine kleine Komma bist und dass ich dich über alles liebe, flüsterte er und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Dann meinte er, dass Rühle bald käme. Ich lachte und sagte, bin ja schon weg, nahm sein Gesicht in beide Hände, küsste ihn auf den Mund und dachte, was ist er schön.

 

Beim Runterradeln kamen mir jede Menge Leute entgegen. Als Erstes traf ich den Neuen. Er stand an sein Motorrad gelehnt und rauchte. ’n Abend, Herr Wickwalz, rief ich und winkte. Danach traf ich Rühle. Was ist, kommst du nicht mit. Zu kurzfristig, rief ich und rief, bis Montag. Schließlich traf ich Rita, sie hatte Punkte im Gesicht vom Straßehochkeuchen. Ich tat, als hätte ich sie nicht gesehen, und sang ein halbes Lied. Zu Hause bemühte ich mich, das Fahrrad leise zu parken, mich an Oma und Vater vorbei ins Haus zu schleichen, doch in der Einfahrt war keiner, sie waren wohl schon mit der Reparatur fertig. Erst im Flur hörte ich sie streiten. Das war der Freitag.

 

Škoda reparieren, Kleine bespaßen. Das war der Samstag, und auf den Škoda hatten mittlerweile alle eine Scheißwut.

In der Nacht träumte ich. Ich stand in einem großen Stadion, umher gingen Kurzstreckenläuferinnen und trainierten für den Kampf. Sie waren groß wie Riesen, stellten sich auf die Startlinie und sagten zu mir, los, probier es doch auch. Ich ging wie sie in die Startposition, legte das rechte Knie auf den Boden und die Finger auf den roten Sand. Und wie der Ton einer Trillerpfeife durch das Stadion ging, saß Mutter am Tisch und spuckte ihre Zähne in die Suppe. Da hörte ich es schreien, wie am Spieß. Sofort saß ich senkrecht. Die Kleine schrie, die Klingel läutete, jemand polterte die Treppe runter. Ich nahm die Kleine auf den Arm, sagte beruhigende Worte und ging mit ihr zum Fenster. Unten lief Vater im Bademantel über den Hof, er öffnete das Tor. Ein schicker Wagen stand in der Einfahrt, Vater musste sich die Hand vors Gesicht halten, damit ihn der Autoscheinwerfer nicht blendete. Zwei Uniformierte stiegen aus. Der eine war sehr groß, und der andere, das war der Neue. Jetzt kam auch Mutter im weißen Nachtkleid. Eine Weile gestikulierten sie alle wild, dann standen sie plötzlich ruhig, für einen Augenblick standen sie alle ganz still, wie eingefroren standen sie. Schließlich wandten sie sich dem Haus zu.

 

Karin, kommst du mal bitte. Vaters Stimme, scharf.

Alles gut, flüsterte ich der Kleinen zu, alles gut. Ich legte sie vorsichtig in ihr Bettchen. Dann stieg ich die Stufen hinunter. Die Herren standen am Treppenabsatz und sahen mich an. Und wie sie mich ansahen. Und still war es, so still. Und nur die Uhr, ticktack.

Vater öffnete die Stubentür, möchten Sie Tee, Kaffee.

Seine Mundwinkel zuckten. Auf dem runden Esstisch ein Bier, ein Salzstreuer, zwei Gläser. Vater räumte es eilig weg. Er mied meinen Blick, setz dich.

Mein Name ist Hamm, erklärte der große Uniformierte, das ist mein Kollege Herr Wickwalz. Wir sind hier, um eine Angelegenheit zu klären, und wollten fragen, ob du uns vielleicht dabei helfen kannst.

Er fuhr sich über den Schnauzbart. Du kennst nicht zufällig einen Paul Forster.

Ich sah zu Vater, Vater sah zu Boden.

Ob du einen Paul Forster kennst, fragte Hamm.

Sehen Sie, sie weiß es nicht, sagte Vater zu Wickwalz.

Ich stelle hier die Fragen, antwortete Hamm. Oben begann die Kleine zu schreien, Mutter sprang auf und schlug mit der Tür. Du kannst mit uns über alles reden, sagte Wickwalz. Es war das erste Mal, dass ich seine Stimme hörte. Sie war tief und warm. Die Brotkrumen vom Abendessen lagen noch auf dem Tisch. Traust du dich das nicht vor deinem Vati zu sagen, fragte Hamm. Er legte Nachsicht in die Stimme und die Hand auf Vaters Schulter. Ich will mich ja nicht in Ihre Angelegenheiten mischen, aber Paul nimmt Ihre Tochter täglich mit in den Wald. Wollen wir nur hoffen, dass da nicht bald –

Er zwinkerte Vater zu wie einem Freund. Ich ordnete die Brotkrumen auf dem Tisch der Größe nach nebeneinander. Karin, bitte. Vater sah mich an wie ein Hund.

Hamm lehnte sich zurück. Er strahlte eine Ruhe aus, als ob er ewig so sitzen würde. Dann schlug er plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch und brachte alles durcheinander. Wenn das so ist, muss ich sie bitten, mitzukommen, sagte er. Sie verstehen das doch sicher. Nein, sagte Vater. Nein, das verstehe ich nicht. Selbst wenn meine Tochter, selbst wenn meine Tochter mit Paul. Was ist denn vorgefallen. Und erst da sagte Wickwalz, Republikflucht.

 

Der Weg zur Polizeistation führte am Rapsfeld vorbei. Nebel über den Tälern, Tau auf den Gräsern, die Welt ganz unschuldig und leer. Ich hatte nur einen Mantel überziehen können und fror. Vater war außer sich gewesen, hatte gefragt, was hat meine Tochter damit zu tun, was hat meine Tochter damit zu tun, was hat meine Tochter. Lassen Sie mich doch bitte meine Arbeit machen, hatte Hamm ihn gebeten. Doch Vater war in seinem gestreiften Bademantel mit zum Auto gelaufen und hatte laut, viel zu laut gerufen, was hat meine Tochter, was, und überhaupt, warum sprechen Sie nicht mit den Eltern von diesem Paul. Da hatte Hamm ihm wieder die Hand auf die Schulter gelegt, bei denen waren wir schon. Wir nehmen Ihre Tochter jetzt nur zur Klärung auf die Dienststelle mit. Das geht alles mit rechten Dingen zu.

Ich wischte mir den Schlafsand aus dem Augenwinkel. Der Schlafsand klebte am Zeigefinger. Beim Wegfahren hatte Oma das Fenster geöffnet und mir nachgesehen. Von der Kleinen hatte ich nichts mehr gehört. Vielleicht war sie direkt wieder eingeschlafen. Diese Zeit war ihre Tiefschlafphase, meistens erwachte sie erst gegen fünf, und dann musste man ihr liebe Dinge ins Ohr flüstern, die sie beruhigten. Im Auto wurde es endlich wärmer. Wir waren den Hang hinuntergeschlängelt, hatten den Hauptbahnhof passiert, polterten jetzt über Pflastersteine. Wickwalz sprach leise mit Hamm und schaltete das Radio ein. Eine Symphonie oder jedenfalls was mit Geigen. Draußen gingen die Straßenlaternen an und warfen fahles Licht. Wir erreichten die Augustusbrücke im Morgengrauen. Die Elbe schwemmte die Wiesen und trieb einen Stamm vor sich her.

 

Um aus dem Fenster sehen zu können, hätte ich mich auf einen Tisch stellen müssen. Es gab keinen Tisch. Es gab keinen Stuhl. Es gab ein Wasserrohr, das über der Tür angebracht war und durch das manchmal Wasser floss und aus dem dann ein kleiner Tropfen fiel, blob. Sonst kaum ein Laut. Manchmal meinte ich links von mir Schritte zu hören, vielleicht eine Treppe. Manchmal klackerte es in der Stahltür, da war ein Guckloch. Nur Routinefragen, hatte Wickwalz gesagt. Er hatte mir aufmunternd zugelächelt. Ich zog den dünnen Mantel über die Knie. Wenn es wenigstens eine Decke gegeben hätte, ein Kissen.

Überleg es dir gut. Hamm drehte sich zu mir um. Wickwalz beobachtete mich durch den Rückspiegel. Ich sah zum Fenster hinaus. Die Sonne stand tief, die Giebel der Häuser warfen weite Schatten. Während der Rückfahrt hatten wir geschwiegen und klassische Musik gehört. Jetzt standen wir auf der Seitenstraße hinter unserem Haus. Wickwalz zündete sich eine Zigarette an und atmete Rauch in die Luft. Nicht einmal ein Huhn lief über die Straße. Man muss sich früh entscheiden, auf welcher Seite man steht, sagte Hamm. Das wäre doch schade, wenn man am Ende etwas bereut. Das verstehst du doch, oder. Er sagte, sieh mich an, sag ja. Ich sah ihn an und sagte, ja. Er lächelte, er strich sich das Haar von der Stirn, er sagte, wir melden uns, bis bald.

Sobald ich die Tür zuschlug, fuhren sie davon. Die Reifen quietschten, Sand stob nach oben und verdreckte die Luft. Oma sah mich als Erste. Sie saß auf dem Hocker vor dem Haus und beschriftete Hühnereier. Sie sagte, ab ins Haus, muss ja nicht die ganze Nachbarschaft mitkriegen.

Ich ging ins Haus. Mutter kam mir entgegen. Was mir eigentlich einfiele. Wer dieser Paul sei. Wieso ich ihr nie davon erzählt habe. Die Eltern belügen. Sich von Fremden bumsen lassen. Ob das die neuen Sitten seien. Von ihrer Stimme wurde die Kleine wach und schrie.

Ich rannte an ihr vorbei, die Treppen hinauf und schloss mich im Zimmer ein. Sie rannte hinterher und rüttelte an der Tür. Karin, so geht das nicht, ich bin doch deine Mutter.

Das Bett lag, wie ich es verlassen hatte. Das kam mir merkwürdig vor. Ich strich das Laken glatt, legte mich längs darauf und zog das Kissen über den Kopf. Mutti hörte mit der Klopferei auf und begann zu schluchzen. Ich legte die Finger an die Wangen. Ich hörte das Knistern der Federn im Kissen. Überleg es dir gut. Wickwalz beobachtete mich durch den Rückspiegel. Schnell schob ich das Kissen zur Seite. Ich sah zur Decke. Die Decke war weiß.

 

Ich öffnete erst, als Vater klopfte, möchtest du Tee. Er hatte eine Kanne und zwei Tassen. Ich setzte mich aufs Bett und wickelte mich in die Decke ein. Ist der mit Zucker, fragte ich. Natürlich, antwortete er, goss Tee in die Tassen, setzte sich neben mich und sagte, Karin, es gibt für alles eine Lösung. Es ist nur wichtig, die Wahrheit zu sagen, egal, was man macht. Er wollte den Arm um meine Schultern legen und sagen, alles gut, mein Mädchen, alles gut. Ich aber schlug seinen Arm fort und schrie, lass mich, geh weg.

Draußen war es dunkel geworden, Himmel und Erde waren eins, Schatten fielen vom Tisch auf die Dielen, der Nussbaum schlug gegen die Fenster, ich erwachte, lag keuchend, schlief wieder. Ich träumte mich in einen Festumzug, Frauen hielten Blumen und Kinder an den Händen, dazu Marschmusik und Tanz. Sie gingen unter einer steinernen Brücke hindurch, Pferdehufe näherten sich, und kaum kamen die stolzen Tiere um die Ecke geklackert, rutschten sie auf dem gefrorenen Pflaster aus und fielen auf den Rücken, als ich von einem Klopfen erwachte.

Ich kann dein Schloss aufschweißen, sagte Oma.

Kannst du gar nicht, rief ich.

Kann ich wohl, sagte Oma.

Aber das gehört sich nicht, rief ich.

Was sich gehört und was sich nicht gehört, lass ich mir von keiner Göre erzählen, sagte Oma und fummelte am Schloss rum. Da machte ich auf. Ich will dir mal eins sagen, sagte Oma und fuhr sich über den Mund. Dein Vati hat dir für heute schulfrei erlaubt, also bleibst du mit mir zu Hause, aber ich sag dir: Hausarrest, du gehst mir nicht vor die Tür. Was auch immer passiert ist, Nichtstun macht es nur schlimmer. In zwanzig Minuten möchte ich dich angezogen unten haben, und dann machst du den Abwasch und kümmerst dich um deine Schwester, verstanden.

 

Hoppe, hoppe, Reiter, wenn er fällt, dann schreit er, fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben, die Kleine lachte, fällt er in den Sumpf, die Kleine kreischte, macht der Reiter, die Kleine bekam Schluckauf vom Glucksen und schrie. Den halben Tag spielte ich so mit ihr. Ich warf sie in die Luft, fing sie auf, nannte sie meinen Rabenschwanz, meinen Kakadu, mein Goldgefunkel, meine Hasenpfote. Sie leckte sich Rotz von der Lippe. Zu Mittag legte ich sie mir auf den Bauch wie eine Wärmflasche. Du weißt von gar nichts, sagte ich und streichelte ihr dünnes helles Haar, von gar nichts weißt du. Sie sah mich ernst an. In diesem Moment ging draußen eine Hupe. Ich legte die Kleine zur Seite, rannte zum Fenster, sah hinaus. Die ganze Straße leer.