Glantz und Gloria - Henning Ahrens - E-Book

Glantz und Gloria E-Book

Henning Ahrens

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Beschreibung

Ein wilder Reigen, ein irrwitziger Traum, eine deutsche Geschichte. Rock Oldekop kehrt nach Glantz im Düster, in seine alte Heimat zurück, um herauszufinden, was sich wirklich zugetragen hat, damals, in der Nacht, als seine Eltern bei einem Brand umkamen. Tiefer und tiefer gerät er in einen wahnwitzigen rasenden Albtraum. Fürchterlich und barbarisch geht es zu in diesem fiktiven Mittelgebirge. Radikal phantastisch, mit einer zärtlichen Absolutheit und virtuosen Wucht erzählt Henning Ahrens von der Suche nach der Herkunft, einer Identität, einer Lebensgeschichte.

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Seitenzahl: 160

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Henning Ahrens

Glantz und Gloria

Ein Trip Mit Illustrationen des Autors

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoVorspann12345678910111213141516171819

Dunkel war’s, der Mond schien helle,

Schnee lag auf der grünen Flur,

als ein Wagen blitzeschnelle

langsam um die Ecke fuhr.

 

Kinderreim

 

Das ist schön bei uns Deutschen; keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.

 

Heinrich Heine, Die Harzreise

Mein Name ist Rock Oldekop, und ich nehme keine Drogen, und diese Story ist so falsch wie eine Lüge wahr ist, und sollten Sie wider Erwarten ein Fan von Strandkorbprosa sein, dann rate ich freundlichst zu einem Thriller, der Ihnen die Katastrophe à la mode serviert und den Sie obendrein in Ihrer Roggenkohlküche konsumieren können, während sie den Tofu mit Ihrem Kenyo von Meister Hirokazu in hauchdünne Scheiben schneiden, denn wie gesagt: Mein Name ist Rock Oldekop. Ich kotze Rauch. Und rotze Feuer. Und dies. Ist eine Story. Wie man sie seinen Enkeln. Im Schein. Des brennenden Wohnzimmers erzählt.

1

Damals war ich fünfundvierzig, denn fünf plus vier ist neun und neun durch drei ist drei. Ich radelte durch den Düster, eines der Mittelgebirge, in deren Klüften die Teutschen ihre Seele begraben haben, und ja! – der Himmel war grün wie Eichenlaub, der Mond eine Quitte mit rosigem Hof, die Venus ein Omen in Gold. Gegenwind kam auf, und ich trat in die Pedale. Mein Ziel hieß Glantz, ein Weiler, an die Hänge geschmiegt wie ein Baby an die Mutterbrust.

Wenn ich geahnt hätte, was bevorstand, wäre ich umgekehrt.

(Hätte ich geahnt, was bevorstand, dann wäre ich noch schneller gefahren.)

Der Wald flüsterte wie mit tausend Mädchenzungen.

Die Welt schaltete auf Sturm.

Tanz der Fichten, sie warfen sich zu Boden, rissen sich hoch und schüttelten die Zottelmähnen. Eine luftige Hand schob mich über die Kämme, mitten durch das Gestöber der Blätter, bergauf und bergab, und wie die Alten sangen: Durch Kluft und Klamm, das ganze Programm.

 

Wie ich später erfuhr, trug sich in Glantz währenddessen Folgendes zu:

Carl Balthasar Koraschke, auch bekannt als Nr. 4, humpelte, auf einen Säbel gestützt, den sein Vater als Dragonerhauptmann im Ersten Weltkrieg geschwungen hatte, zu einem Fenster im Salon seiner Villa und schob die Vorhänge auseinander. Durch den Spalt sah er die Glantzer Parade, ein Platz hart am westlichen Rand des Talkessels, in dem der Weiler lag; den Turm der romanischen Kirche; den Halt an der Stelle, wo der Bus niemals hielt; und im Schein des smaragdgrünen, am rubinroten Himmel stehenden Mondes erblickte er den bläulich flackernden Reigen der Irrlichter. Er dachte an den Tag, als man die Bibliotheken seines seligen Vaters und des Pfarrers geplündert und die Bücher unter Hohngejohle auf der Parade verbrannt hatte, während er voller Angst an genau dieser Stelle gestanden und die Finger so fest auf die Fensterbank gepresst hatte, dass sie noch Stunden später wie taub gewesen waren. Er schaute zum Rand des Platzes.

In den Schatten lauerte die greise Henny Mellkotsch.

Seine Hand begann zu zittern, eine Regung, die sich durch den Vorhang bis zur Gardinenstange fortsetzte, von der eine Staubflocke glitt und auf seinem Kopf zwischen den letzten Haaren landete, die ihm nach zweiundneunzig Lebensjahren noch geblieben waren. Ein Wind rauschte durch das Laub der Kastanienbäume, die vor seiner Villa standen; sie rissen Äste und Zweige hoch und riefen: Wir ergeben uns!

Er schloss die Finger um den Säbelgriff, zog den Vorhang zu und verließ den Salon, eine Faust schüttelnd, als wollte er den Kunstwerken drohen, die er im Laufe seines Lebens gesammelt hatte, mochten sie nun von Götz oder Baumeister, von Baselitz, Polke oder Kiefer stammen.

Dann löschte er das Licht.

 

Unterdessen, was ich allerdings noch viel später erfuhr, geschah dieses:

Gloria Mayer glitt im ICE dahin. Sie hatte ein Ziel, das sie mit dem Smartphone googelte. Ein Treffer. Auszug aus einem Buch Heinz Postillons, Der unbekannte Düster. Führer über Berg und Tal. Sie scrollte weiter, während ihr Sitznachbar hektisch in die Tasten hackte. Aus einem Winkel ihres makellos geschminkten Auges konnte sie sehen, dass er auf dem Bildschirm um sich schoss. Als er ihren Blick bemerkte, schenkte er ihr ein markiges Lächeln. Gloria verzog den Mund, aber das betonte nur ihre Grübchen, was ihren Nachbarn so verwirrte, dass er Sekunden später tot war. Sie las:

Mitten im Düster erstreckt sich das Feuerbergtal, benannt nach einer Erhebung, die von 1590 bis 1630 mehrfach Schauplatz von Hexenverbrennungen war. Der Weiler Glantz, im Westen des Tals in einem Vulkankegel aus dem Miozän gelegen (»Glantzer Kessel«), blickt auf eine lange Geschichte zurück. Hügelgräber auf dem Westhang zeugen von frühester Besiedlung, Reste von Erdwällen von einer Hügelfestung aus der späten Bronzezeit. Am Odinsthron, einem Findling, der an die Gefallenen beider Weltkriege erinnert, versammelte der heidnische Gottvater laut einer Legende die Wilde Jagd. In Kriegszeiten diente der Glantzer Kessel regelmäßig als Fluchtburg. Die Grafen von der Saxenlohe ließen den Eingang im 15. Jh. befestigen; 1637 wurden die Wälle von den Schweden unter Johan Banér geschleift. 1854 begann für Glantz eine Blütezeit: Der aus Ostpreußen stammende Carl Balthasar Koraschke (1821–1903) erwarb von Anton August von der Saxenlohe die Holzrechte für den Düster und gründete die Glantzer Sägewerke. Die Erfolgsgeschichte des Unternehmens endete 1929, als C.B. Koraschke III. (1882–1929) in Konkurs ging. In der Folge sank die Einwohnerzahl auf 343 Seelen (Stand 1987). Sehenswert sind die großbürgerlich anmutenden Häuser aus dem 19. Jh. und den 1920ern, die romanische Kirche, in der ein vergoldeter Zeh des Heiligen Hilbertus (im frühen 8. Jh. von Heiden im Düster erdrosselt) aufbewahrt wird, sowie die von dem Landwirt Erhard Baggi im Jahre 1931 begründete Orchideenzucht, die bis heute Bestand hat.

Gloria warf die flachsblonden Locken zurück und sah aus dem Fenster. Es rahmte flaches Land, einen rosa Himmel, den hellblauen Mond. Sie war noch lange nicht am Ziel. Zur Entspannung schloss sie die Augen und dachte an die Maniküre durch Li-Tai-Tai. Sie seufzte entzückt.

Ihr Sitznachbar starb ein zweites Mal.

 

Die Hand des Windes schob mich durch den Düster, auf und ab, in Richtung Glantz.

Was ich dort verloren hatte?

Meinen Teddybär. Die Eltern. Ein gelbes Dreirad.

Zunächst aber dies: Ich raste auf dem Fahrrad dahin, umtost von Laub, die Bäume auf beiden Seiten ein auf und nieder wogender Rausch in Rot, und dann – freie Sicht zu meiner Rechten. Totale auf ein Tal, in dem sich die Schwarte durch Flussauen wand; wie zeitgerafft vorbeihuschendes Weiß von Stallanlagen und Silos; ein Hauch von Schweinegülle; ein Nasenkribbeln.

Huuuiiiii! Ich schoss in den rhododendrongrünen Himmel.

Auf dem Scheitelpunkt der Steigung wäre ich fast gestürzt, fing mich aber, packte den Lenker, denn das Gefälle war mörderisch, und schloss die Augen.

Ich fuhr blind.

Aber was heißt das schon? Was mich betraf, so hatte ich die Welt trotzdem vor Augen. Während ich bergab sauste, sah ich Flammen über den Dächern von Glantz, ich sah sie durch das Fenster im Kinderzimmer einer Sandkastenfreundin, bei der ich zum ersten Mal übernachten durfte. Suse, es brennt, sagte ich. Ihre Mutter schaute ins Zimmer und schloss uns vorsichtshalber ein, die Sirene vor dem Kolonialwarenladen der Doggarts rief die Feuerwehren aus Lethmar und Saxlo herbei. Wir mussten ins Bett, und tags darauf stank alles nach Rauch.

Damals war ich fünf …

 

… sechs, sieben, acht, neun, zehn – Augen auf! Links-rechts-links-rechts. Eine letzte scharfe Kurve, dann die Schussfahrt ins Feuerbergtal. Der Wind entzog mir die Hand, und ich rollte aus. Die Bäume schwiegen, als ich die Füße auf den Boden setzte. Ein Ortsschild, mit Fastfood-Müll verziert, von Kugeln durchsiebt.

GLANTZ IM DÜSTER

Auffliegende Hänge im Süden und Norden; Wiesen, die in die Wälder streunten; die Mühle auf der Kuppe des Feuerbergs; die Pappelallee, die zu den Steilhängen des Glantzer Kessels führte, von der Dichterin Caro von der Saxenlohe vor gut hundert Jahren als »Vulva zwischen den Schenkeln der Berge« besungen, was die Mitglieder des örtlichen Kriegervereins dazu veranlasst hatte, die Zündnadelgewehre aus dem Schrank zu holen. O ja, hier hauste die Heimat. Mein Herz schlug bis zum Hals. Eine Träne ließ sich nicht vermeiden, sie fiel im Mondschein auf den Weg zur Mühle, ein herrlich krautiger Weg. Sollten Sie je ein Altarbild aus dem 15. Jahrhundert betrachtet haben, dann werden Sie wissen, was ich meine. Fromm erstrahlt die Mutter Gottes, aber die wahren Helden sind im Vordergrund zu sehen: Löwenzahn, Huflattich, Wegerich, Hirtentäschelkraut. Genauso hier, nur dass mir die Erinnerung weismachen wollte, die Mühle wäre ein Wrack. Ein Irrtum, und wie als Bestätigung stand da ein Schild:

ACHTUNG! NOCH12 SCHRITTE BIS ZUR WIRKLICHKEIT. 

Ich legte sie zurück.

Während ich im Halbdunkel das Namensschild zu entziffern versuchte, knarrten die Mühlenflügel. Ich klopfte kurzerhand an die Tür.

Er öffnete.

 

Hätte ich sie an meiner Seite, dann wäre ich gegen alles gefeit. Ebenso, wenn das Heil in Küssen läge oder Sex die Rettung wäre. Doch – ein Wort, das Träume zerstieben lässt – dem ist nicht so. Ich schloss die Tür, denn draußen tobte der Sturm, und trat im Flur den Schnee von den Stiefeln. Rief ihren Namen, ohne eine Antwort zu erhalten, und machte mich auf die Suche. Wie so oft, und Sie werden bald merken: Ort ist nicht gleich Ort, und sie ist nicht gleich sie, und nichts ist, wie es scheint. Doch – ein Wort, das Tatsachen trotzt – mein Haus ist fest gebaut, und ich schaute in alle Zimmer, bis ich ihre Spur fand: Tropfen im Flur.

Rucke-di-guh, rucke-di-guh, Blut ist im Schuh.

2

An dem Abend meiner Ankunft in Glantz war Landauer noch ein unbeschriebenes Blatt, und obgleich ich inzwischen mehr über ihn weiß, bleibt er ein Rätsel, kommt mir im Rückblick ebenso riesenhaft vor wie seine Mühle auf dem Feuerberg, eine Stätte, auf der als Hexen diffamierte Frauen den Flammentod starben, denn wenn der Mob nach Blut schreit, bekommt er Blut, das ist ein Gesetz, das über das Ende der Welt hinaus Bestand haben wird.

Doch zurück zur Tür – ich klopfte, und er öffnete, ein stämmiger Mittsechziger, der mir ein Geldbündel reichte. »Die Nachnahme«, sagte er und spähte in die Dämmerung. »Wo ist dein Lieferwagen?«

Die Windmühle war in bestem Zustand und außerdem so hoch, dass die Haube nach den Sternen zu greifen schien. Galerie, Feldsteinsockel, Verputz und Flügel – alles wie neu. Ich sagte: »Ich bin mit dem Fahrrad gekommen.«

Er nickte anerkennend. »Und das Paket?«

»Ich bringe kein Paket.«

»Ah!«

Vielleicht hätte ich mir manches erspart, wenn ich dieses »Ah!« korrekt gedeutet hätte, aber ich nahm es einfach hin. Es sollte noch etwas dauern, bis ich diesen Ausruf ein zweites Mal hörte, und wenn ich an das zweite Mal denke … ah!

So sagte ich nur: »Ich will nach Glantz.«

»Um diese Uhrzeit? Auf keinen Fall.« Landauer ging in die Mühle.

Ich verharrte vor der Tür. Sie stand offen. Ich lehnte das Fahrrad gegen den Feldsteinsockel und folgte Landauer hinein.

»Wozu das Schild?«

 

Wo ich dies schreibe? Wenn ich das wüsste. Der Schreibtisch aus Treibholz steht vor einem Fenster mit Blick auf Strand und Meer, aber ich bin nicht daheim, und wenn ich aufblicke, zaubert das Glitzern der Wellen einen Käfig aus Gold an den Himmel. Darin knurrt ein Panther, schwarzbraun wie die Haselnuss, und was sein Blick erfasst, stirbt, bevor es das Herz erreicht. Glücklich ist, wer vergisst, aber ich erinnere mich: An Vaganten, die durch das Land zogen, um den Tod zu säen; an den Lockruf des Hasses, dieses Bastards von Gier, Neid und Angst. Koraschke konnte ein Lied davon singen, ich dagegen musste Lehrgeld zahlen, und dennoch – und deshalb – frage ich: Warum ist sie nicht an meiner Seite?

 

»Dazu später mehr.«

Im sechseckigen Erdgeschoss der Windmühle verströmte eine Salzkristalllampe Uteruslicht. Die Buddhastatue auf der hellblau lasierten Kommode lächelte Räucherstäbchen an, die sich in einem mit Sand gefüllten Einmachglas kreuzten.

Landauer stellte sich vor. »Und du heißt …?«

»Rock Oldekop. Gehört die Mühle Ihnen?«

»Was denn sonst? Ist ein Galerieholländer. Eigenhändig saniert und ausgebaut. Die Flügel betreiben einen Generator.«

»Sie erzeugen Ihren Strom selbst?«

»Ich baue auch Obst und Gemüse an.«

»Stammen Sie aus Glantz?« Mein Blick fiel auf den präparierten Kopf eines Hechtes, der neben einem Kalachakra-Mandala über der Spüle hing.

Sein Blick wurde scheel. »Nein, aus Köln.«

»Ich habe bis zu meinem sechsten Lebensjahr in Glantz gelebt.«

»Gratuliere. Herrliches Fleckchen. Schönster Ort auf Erden.« Er wandte sich ab, um Tee aufzugießen. »Sagenhaft intelligente, tolerante, herzliche Leute. Ich kann mein Glück nach fünfzehn Jahren immer noch nicht fassen.« Er schenkte mir ein. »Und nun …« – er setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch – »… lese ich aus deiner Hand.« Er studierte die Linien meiner Rechten, was mir Gelegenheit gab, ihn genauer zu betrachten: Augen, die Lachfalten ausstreuten; Lippen, beidseitig von Riefen gebändigt; eine Stirnfalte wie ein Trennstrich zwischen den Gehirnhälften; eine Glatze, umkränzt von sattbraunen Haaren.

»Gefärbt«, murmelte Landauer, ohne aufzusehen. »Ich bin eitel. Liegt an den Frauen.« Er schüttelte ein Foto aus dem Ärmel: Eine lateinamerikanische Schönheit, die eine Zierde für jeden Pirelli-Kalender gewesen wäre. »Evita aus Nicaragua«, sagte er, »meine kleine Kaffeebohne.« War das ein wehmütiges Lächeln? Er las in meiner Handfläche, er las und las. Der Tee erkaltete, ich wurde ungeduldig.

»Sieh an!«, rief er nach acht Schlägen einer Standuhr.

 

Sonderbar, dass sich Menschen, die mir am Herzen lagen, so oft in Luft auflösten oder, wie Landauer, vom Erdboden verschluckt wurden. Deshalb sah ich mich am Ende gezwungen, die Suche allein fortzusetzen, wenn auch voller Unbehagen, denn anstelle von Leben gab es in Glantz nur Leere – ich war schon froh, wenn ich eine Schwalbe oder Mücke sah.

Eines späten Nachmittags, ich durchkämmte zum x-ten Mal die Hinterhöfe, begegnete ich jener Person, die ich bis dahin immer nur flüchtig gesehen und wegen ihrer Zartheit und des weißen Kleides obendrein für eine Erscheinung gehalten hatte. Sie saß rittlings auf der Mauer einer Miste und erklärte: »Auch Tore, die mit Balken und Riegeln verrammelt sind, tun sich schließlich auf. Sesam öffne dich! Simsalabim! Oh, du schöne Welt der Schufte und der Scharlatane, wie herrlich ist dein Hokuspokus – dreimal ins Horn gestoßen, und die Wälle stürzen ein, und was einmal war, ist nimmermehr.« Sie sprang mit glockenhellem Lachen von der Mauer, fiel mir um den Hals, als wäre ich ihr Liebster, und flüsterte: »Morgen wollen wir Hochzeit halten.« Atemlose Küsse später eilte jemand auf den Hinterhof und rief: »Verboten! Verboten!«

Oder gaukelt mir die Erinnerung etwas vor?

Halten wir fest, dass diese Frau nicht jene war, die ich gesucht hatte, aber da sich bekanntlich alles wandelt, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf.

 

Er tischte mir ein tolles Leben auf, dieser August Landauer. Im Schein der Salzkristalllampe, unter den Augen Buddhas und des Hechtes. »Im Herzen bist du ein Freibeuter«, sagte er, den Blick auf meine Hand geheftet, »aber du hast dich selbst an die Kette gelegt. Sie bindet dich an einen Brand. Blutsverwandte starben. Du warst noch klein, als eine Odyssee für dich begann. Du hast an vielen Orten gelebt. Es gab ein Weibsbild mit finsterer Seele, sie stieß dir ein Messer zwischen die Rippen. Du hast Zuflucht auf einer fernen Insel gesucht. Seit deiner Rückkehr bist du auf der Suche. Dein Beruf …« Er hob den Kopf und sah mich an. »Wer weiß. Aber du durchtrennst die Kette. Und dich erwartet eine … oh!« Er lachte. »Abenteuer stehen dir bevor, Rock Oldekop. Und darauf …« – er stellte eine Flasche auf den Tisch – »… stoßen wir jetzt an.«

Meine Wangen glühten, meine Lippen zucken. Fühlte ich mich ertappt? »Das ist nicht mein Leben«, sagte ich.

»Nein.« Landauer schenkte ein. »Aber das wird dein Leben sein. Und was das Schild betrifft: Die Wirklichkeit ist eine Mauer. Die meisten nehmen sie erst wahr, wenn sie sich eine blutige Nase holen. Daher die Warnung.«

Der Kräuterschnaps brannte in der Kehle; Busenfreund stand auf dem Etikett. »Lokale Spezialität«, sagte Landauer und schenkte nach. Rief: »Kreuzhimmeltausenddonnerwär, uns olle König mot weer her!« Er streckte mir eine Handfläche hin. »Siehst du diese Linie? Der ›olle König‹, das bin ich, und mein Schicksal …« Er schwenkte unbestimmt die Hand.

Wir leerten die Flasche Busenfreund bis auf den letzten Tropfen.

 

Ich übernachtete in der dritten oder vierten der acht oder neun Etagen, die sich zwischen unten und oben schoben. Der Futon war hart, und vielleicht schlief ich deshalb so schlecht. Dazu die Geräusche: Zuerst das Röcheln eines ersterbenden Fernsehers, dann Backfischgekicher, gefolgt vom Jubel schnäppchenfündiger Shoppingjunkies – ich wälzte mich hin, ich wälzte mich her, ich probierte es wie Pippi Langstrumpf verkehrt herum mit dem Kopf unter dem Plumeau, alles vergeblich. Oder träumte ich? Meine wachen Gedanken kreisten um Kreta, denn dort hatte ich gelebt, bis die Ersparnisse aus meiner Zeit als Buchillustrator aufgebraucht gewesen waren.

Landauer hatte ins Schwarze getroffen: Ich hatte mich auf eine Insel verkrümelt, und meine Ahnen waren Asche. Was hatte ich hier zu suchen?

Die Vergangenheit war Wurzelgemüse.

Ich rollte mich auf den Bauch.

Dann ein Rauschen wie das einer Welle, die sich an einem Strand brach. Ein Hauch von Rauch und flackernder Feuerschein auf der Scheibe. Ich warf das Plumeau ab. Drei Schritte später stand ich am Fenster. Der Wind hatte wieder aufgefrischt; eine viehische Brise stieg mir in die Nase. Unten sah ich meinen Gastgeber, er stand mit einer Bockflinte unter dem Arm auf der Galerie und qualmte eine Zigarette, den Blick auf das Vorfeld der Mühle gerichtet. Dort hatten sich Fackelträger versammelt: Typen mit Crewcut und Backpfeifengesicht, Frauen mit Botero-Figur und buntschillernder Frisur. Sie grölten:

»Es weht ein Wind von Osten her,

wo tote Helden schlummern;

er bringt uns echtes Combat-Flair,

dazu Kanonenwummern.

Der Ruhm, die Ehre und das Blut,

das zählt für unsereinen,

der Boden und das Hab und Gut:

Wir sind mit uns im Reinen.«

So ging es Strophe um Strophe weiter, wobei sie ruckten und zuckten wie einst Michael Jackson. Im Hintergrund stand eine Limousine mit Kettengliedern auf dem Kühlergrill. Im Schein des wickblauen Abblendlichts krähte der Unisex-Gesangverein zum letzten Mal den Refrain:

»Scheiß auf die Kunst,

kotz auf Kultur!

Oh, Pest und Ruhr,

oh, Feuersbrunst!«

Danach Stille. Fackeln flackerten, Funken stoben. Die Limousine setzte im Bogen zurück. Bremslichter flammten auf. Der Fahrer stieß eine Faust aus dem Fenster und schrie etwas, das ich nicht verstand, dann brauste er davon.

»GEH HEIA!«, grölten Tussen und Typen, warfen die Fackeln weg und verschwanden im Dunkel, das sie ausgespien hatte. Irre ich mich oder feuerte Landauer einen Schuss über ihre Köpfe ab? Er brüllte jedenfalls: »Typisch! Ihren Müll lassen sie liegen, diese Goldkehlchen!« Der Wind frischte auf, die Mühlenflügel begannen sich zu drehen, der Generator sprang an.

Sein Brummen wiegte mich in den Schlaf.

3