Gläubig. Depressiv. Gehalten. - Ryan Casey Waller - E-Book

Gläubig. Depressiv. Gehalten. E-Book

Ryan Casey Waller

0,0

Beschreibung

Ryan Casey Waller, Pastor und Therapeut, weiß aus eigener Erfahrung, welche innere Zerreißprobe es ist, mit der psychischen Gesundheit zu ringen und gleichzeitig zu versuchen, den eigenen Glauben aufrechtzuerhalten. Es kann ein entmutigender, einsamer Kampf sein. Das muss es aber nicht. Denn es gibt Menschen, Mittel und Wege, die helfen können. Der Autor macht deutlich, dass Depressionen und ein lebendiger christlicher Glaube sehr wohl koexistieren können und dass psychische Erkrankungen kein Symptom von geistlichem Versagen sind. Er kombiniert theologische Aspekte mit klinischen und therapeutischen Einblicken und seinen persönlichen Erfahrungen. Dabei zeigt er konkrete Hilfsmöglichkeiten auf. Dieser fundierte Ratgeber motiviert, den Schritt nach vorne zu wagen und sich auch in dunklen Zeiten gehalten zu wissen. Sehr viele Menschen haben psychische Probleme. Das liegt nicht daran, dass sie Versager wären oder wertlos oder falsch. Es ist einfach so, dass sie aufgrund eines chemischen Ungleichgewichts in ihrem Hirn oder wegen eines Traumas in ihrer Kindheit oder aufgrund einer Unzahl anderer psychischer Faktoren oder Umweltfaktoren psychisch erkranken. Sie sind nicht allein. Das zu verstehen und zu glauben ist der erste Schritt auf dem Weg zu psychischer Gesundheit. Ryan Casey Waller

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 295

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über den Autor

Ryan Casey Waller ist Pastor, Autor, Therapeut und Sprecher, er ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit seiner Familie in Texas. Aufgrund seines eigenen langen Leidenswegs mit wiederkehrenden Depressionen kennt er das Leiden psychisch kranker Menschen selbst nur zu gut – und weiß, welche große Herausforderung, aber auch welche Chance der christliche Glaube in diesen Krisenzeiten beinhalten kann.

Für Caroline, Ford und Charles. Alles, was ich tue, verdanke ich euch. Bis auf meine Fehler. Die gehen auf mein Konto.

INHALT

Hinweis des Autors

Einleitung

1: SIE SIND NICHT ALLEIN

2: WAS IST PSYCHISCHE GESUNDHEIT?

3: WAS IST EINE PSYCHISCHE ERKRANKUNG?

4: WARUM LÄSST GOTT PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN ZU?

5: DIES IST KEINE ÜBUNG

6: LEBEN IM ÜBERFLUSS FÜR ALLE

7: EINE EPIDEMIE

8: DAS PROBLEM DES SUIZIDS

9: WER SIND WIR?

10: GESPRÄCHSTHERAPIE

11: MEDIKAMENTE

12: MENSCHEN

13: AUF ALLEN EBENEN

Schlussbemerkungen

Ein abschließender Gedanke für Christen, die nicht unter psychischen Störungen leiden

Psychische Erkrankungen – ein kurzer geschichtlicher Überblick

Ein Leitfaden zu Depressionen und Angstzuständen

Häufige Hinweise auf Selbstmordgedanken

Danksagung

Anmerkungen

HINWEIS DES AUTORS

Der Autor ist zwar Psychotherapeut, aber die Informationen in diesem Buch lassen sich nicht automatisch auf jeden individuellen Fall übertragen. Falls Sie unter Depressionen leiden oder in einer Krise stecken, suchen Sie bitte einen Arzt auf, der Ihre konkreten Probleme behandeln kann. Falls Sie glauben, dass Sie unmittelbar gefährdet sind, rufen Sie bitte die Notrufnummer an.

Die Berichte in diesem Buch geben tatsächliche Erfahrungen wieder, aber die Namen und andere Fakten, die zur persönlichen Identifizierung beitragen könnten, wurden verändert, um die Privatsphäre der Betroffenen zu wahren.

EINLEITUNG

Sie haben ein Buch zu einem Thema gekauft, über das wir nur ungern sprechen. Beeindruckend! Ich bin stolz auf Sie. Ich bin Ihnen aber auch dankbar, da ich durch Ihren Kauf Geld verdiene. Vielen Dank. Ich schätze, ich werde weiterhin jeden Tag den teuren Kaffee bei Starbucks kaufen, obwohl es meiner Frau lieber wäre, wenn ich meinen Kaffee zu Hause trinken würde.

Aber im Ernst: Sie haben sich für dieses Buch entschieden und ich frage mich natürlich, warum. Auf Netflix oder Disney+ läuft bestimmt gerade irgendeine spannende Serie. Schließlich leben wir im goldenen Zeitalter des Fernsehens und der Streamingdienste. Trotzdem sitzen Sie nicht vor dem Bildschirm. Sie haben beschlossen, Ihre Aufmerksamkeit meinem Buch zu widmen, und das macht mich wirklich neugierig. Was geht in Ihnen vor und was passiert um Sie herum?

Vielleicht sind Sie wegen eines Stressfaktors in Ihrem Leben, etwa einer Scheidung oder dem Verlust des Arbeitsplatzes, traurig und wollen wissen, ob Ihr Stimmungstief „normal“ ist oder auf eine Depression hinweisen könnte. Diese Frage stellen sich viele Menschen.

Vielleicht graut Ihnen morgens beim Aufwachen vor dem neuen Tag und Sie wollen wissen, ob das nur daran liegt, dass Ihnen Ihre Arbeit keinen Spaß macht, oder ob in Ihrer Psyche etwas Ungesundes abläuft.

Vielleicht beobachten Sie, dass Sie in den letzten Monaten mehr Alkohol trinken als früher. Jetzt wollen Sie Ihren Alkoholkonsum zurückschrauben und überlegen, wie Sie dabei am besten vorgehen sollten. Oder vielleicht haben Sie schon versucht, weniger zu trinken, hatten aber nicht den erhofften Erfolg, und jetzt können Sie nicht mehr aufhören, diese Onlinetests zu machen, die Ihnen angeblich verraten, ob Sie Alkoholiker sind (habe ich auch gemacht). Sie fragen sich: Sind diese Tests zuverlässig? Und wenn ja, heißt das, dass Sie zu einer Gruppe der Anonymen Alkoholiker gehen sollten, wo man abgestandenen Kaffee trinkt und Fremden seine Seele entblößt? Heißt das auch, dass Sie für den Rest Ihres Lebens keinen Alkohol mehr anrühren dürfen? Das sind sehr viele Fragen auf einmal.

Vielleicht hat Ihr Ehepartner oder Ihr Kind psychische Probleme und Sie sind mit dem, was Ihr Angehöriger durchmacht, überfordert. Sie wollen helfen, Sie wollen ihn verstehen, aber Sie sind einfach nicht sicher, was Sie tun sollen oder woher Sie vertrauenswürdige Informationen bekommen.

Vielleicht gehören Sie auch zu den vielen, vielen Christen, die psychisch oder körperlich leiden, sich aber zu sehr schämen, um darüber zu sprechen. Sie wissen, dass Sie Hilfe brauchen, wollen das aber nicht zugeben, weil Sie meinen, damit würden Sie Gott verraten oder eingestehen, dass Ihr Glaube an ihn nicht stark genug ist. Ich kenne viele Christen, denen es so geht. Ich war früher selbst einer von ihnen.

Ich weiß nicht, was Sie genau durchmachen. Ich weiß nur, dass ich wirklich stolz auf Sie bin, weil Sie dieses Buch aufgeschlagen haben, denn psychische Gesundheit und psychische Erkrankungen sind vielfach immer noch geistliches und medizinisches Neuland. Es gibt so vieles, das wir nicht wissen. Das müssen wir ehrlich zugeben. Aber es gibt auch vieles, das wir wissen, und es ist lebenswichtig, dieses Wissen weiterzugeben.

Wenn Sie also dieses Buch lesen, weil Sie Heilung suchen, bete ich, dass Sie sie finden. Wenn Sie es lesen, um jemandem zu helfen, der leidet, wünsche ich Ihnen alles Gute auf diesem Weg. Und falls Sie es lesen, um einfach mehr zu erfahren, damit Sie Leidenden besser beistehen können, freue ich mich über Ihr Interesse und Ihre Bemühungen.

Apropos Bemühungen, gehen wir an die Arbeit!

Die Sonne geht auf und mit ihr kommen die Erinnerungen an das, was gestern Abend passiert ist. Das Cortisol in deinem Hirn führt dir ein ungeschöntes Bild vor Augen. Deine Erinnerungen quälen dich und zwingen dich, die Geschehnisse noch einmal neu zu durchleben. Die gestrigen Ereignisse sind verschwommen, aber unter deiner Bettdecke kannst du die Teile zusammenfügen.

Du hast im angetrunkenen Zustand deine Predigt beendet und gehst auf wackeligen Beinen zum Altar zurück, um die Gemeinde beim Glaubensbekenntnis anzuleiten, als aus dem Nichts ein anderer Pastor auftaucht und deinen Platz einnimmt. Er flüstert dir etwas ins Ohr. Kurz darauf wirst du in einem Hinterzimmer, wo die Gemeinde dich nicht sehen kann, von deinen Freunden befragt – von Menschen, die dich lieben und denen du nicht gleichgültig bist. Menschen, die du ebenfalls liebst. Sie wollen wissen, ob du krank bist. Sie machen sich Sorgen, dass du vielleicht einen Schlaganfall haben könntest. Du hast bei der Predigt gelallt. An einer Stelle wärst du beinahe gestürzt und musstest dich festhalten, um nicht zu Boden zu fallen. Sie fragen dich, was los ist. Sollen sie einen Arzt rufen?

Gott segne diese Heiligen! Sie verurteilen dich nicht.

Ihr steht zu dritt in dem kleinen Raum. Der Freund, der dich am besten kennt, spricht die Frage aus, die sicher allen durch den Kopf geht, die aber bis zu diesem Moment keiner laut aussprechen wollte.

„Hast du getrunken?“

Schweigen. Dieses Schweigen sagt alles. Du bist schuldig. Du hast in den letzten Monaten mehr getrunken, als du solltest. Deine Frau hat dich darauf angesprochen. Sie will, dass du weniger trinkst, dass du vielleicht überhaupt keinen Alkohol mehr anrührst. Sie hat vorgeschlagen, dass du einen bestimmten Freund anrufen könntest, der seit über zehn Jahren trocken ist, aber dazu bist du nicht bereit.

Jedes Mal wenn du einem Alkoholiker begegnest, fragst du dich im Stillen, ob du auch einer bist. Du hast im DSM-5* nachgelesen, ob die Kriterien für Drogen- oder Medikamentenmissbrauch auf dich zutreffen. Die Sucht wird in schwach, gemäßigt und schwer eingeteilt, je nachdem wie ehrlich du zu dir selbst bist. An manchen Tagen weißt du die Antwort ganz genau. An anderen Tagen willst du die Fakten nicht wahrhaben. Wenigstens bis jetzt nicht.

„Hast du getrunken?“

Sie müssen es an deinem Atem riechen. Mit den Fragen, ob du krank bist oder einen Schlaganfall haben könntest, erlauben sie dir nur, deine Würde zu wahren. Sie wollen dich nicht anklagen. Du bist ihr Leiter. Sie hoffen inständig, dass du in diesem Moment deiner Leitungsaufgabe gerecht wirst und dich selbst überführst.

Immer noch.

Du verhältst dich wie Petrus und leugnest. Du versuchst, dich zu verteidigen. Du wirst lauter, während die Gemeinde in der Kirche die uralten Worte des Glaubensbekenntnisses spricht.

Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten, und die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche. Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden. Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt. Amen.1

Dann beginnt die Gemeinde mit den Fürbitten, die du leiten solltest. Dir kommt nie der Gedanke, dass sie vielleicht hören könnten, wie ihr Pastor seinen Freunden vorwirft, sie würden aus einer Mücke einen Elefanten machen. Tief in deinem Inneren weißt du, dass diese Freunde nur dein Bestes wollen. Keiner von ihnen sieht dich mit Verachtung an. Nur mit Liebe. Und Verwirrung.

Jemand bietet freundlich an, dich nach Hause zu fahren, aber du lehnst dieses Angebot ab, weil du glaubst, du könntest in die Kirche zurückkehren und deine Arbeit machen. Du kannst den Gottesdienst wieder leiten, sagst du. Deine Freunde reagieren viel zu übertrieben. Sie sollten diesen Moment einfach vergessen. Das ist alles nur ein lächerliches Missverständnis.

Gott sei Dank lassen sich deine Freunde nicht von ihrem Standpunkt abbringen. Sie haben schon darüber gesprochen. Eine Entscheidung wurde bereits getroffen. Du hast nicht mehr die Leitung. Die Verantwortung wurde jemand anderem übertragen. Du bist betrunken in den Gottesdienst gekommen, und diese Männer lassen nicht zu, dass du den Gottesdienst noch mehr entweihst.

Du brichst das Gespräch ab und stürmst aus der Kirche. Ein lieber Bruder folgt dir und will dich nach Hause fahren. Doch du beschließt, dich betrunken ans Steuer zu setzen, obwohl du in diesem Moment beim Abendmahl den geweihten Wein nippen und das geweihte Brot essen solltest.

* Psychiatrisches Klassifikationssystem in den USA. Wörtlich übersetzt: Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen.

1: SIE SIND NICHT ALLEIN

Wenn psychische Störungen ans Licht kommen, ist das oft überraschend – für alle Beteiligten. Manchmal ist es ein Freund, ein Angehöriger oder jemand, den Sie respektieren und aus der Ferne bewundern. Sie hätten sich nie vorstellen können, dass er solche Probleme hat, doch dann passiert etwas. Manchmal, wie in meinem Fall, sind Sie es selbst.

Nach jenem katastrophalen Sonntag konnte ich es nicht mehr leugnen. Als ich eine Nacht darüber geschlafen hatte und mit nüchternem Kopf Revue passieren ließ, was passiert war, war ich entsetzt.

Ich kann unmöglich betrunken in den Gottesdienst gegangen sein.

Das kann einfach nicht passiert sein.

Das kann unmöglich passiert sein!

Aber, meine lieben Schwestern und Brüder, es ist passiert.

Das Verrückteste dabei ist: Wenn mich am Nachmittag vor jenem Abendgottesdienst jemand gefragt hätte, wie es mir geht, hätte ich geantwortet, dass es mir gut gehe. Und ich hätte das sogar geglaubt. Alles in Ordnung, danke. Ich bin nur ein ganz normaler Mann, der versucht, den Sonntag zu überstehen. Ich kümmere mich um meine Familie und diene dem Reich Gottes. Manchmal brauche ich einfach ein Glas am Nachmittag und eine Schlaftablette für einen Powernap. Was sollte daran falsch sein?

In Wirklichkeit war ich geistlich tot, ausgebrannt, depressiv und ich trank viel zu viel. Aber ich musste meine Arbeit machen, deshalb hatte ich keine Zeit, um mich ehrlich mit meiner psychischen Verfassung auseinanderzusetzen. Das ist kein Witz; ich hatte wirklich keine Ahnung, dass mir meine Welt bald um die Ohren fliegen würde.

Das ist das Fatale bei psychischen Störungen. Sie merken erst, dass Sie darunter leiden, wenn die Krankheit schon das Ruder übernommen hat und versucht, Ihr Leben zu zerstören. Das passiert meistens, weil es uns so schwerfällt, uns ehrlich einzugestehen, was in unserem Herz und in unserem Kopf vor sich geht. Deshalb werden psychische Störungen oft erst diagnostiziert, wenn, nun ja, wenn es einfach nicht mehr anders geht, weil wirklich sonderbare Dinge passieren.

Beim Gedanken, Ihrem Kind ein Brot für die Schule zu schmieren, brechen Sie weinend auf dem Küchenboden zusammen. Haben Sie so etwas nicht immer mit links gemacht? Der Wecker kündigt einen neuen Tag an. Eine lähmende Angst packt Sie. Sind Sie früher nicht begeistert aus dem Bett gesprungen? Sie lesen Ihre Mails, um zu sehen, was erledigt werden muss. Statt die Punkte abzuarbeiten, sitzen Sie wie gelähmt da und starren die To-do-Liste an, als wäre sie ein Folterinstrument, das Ihren Verstand quält und Ihnen jede Kompetenz und allen Frieden raubt. Ein Freund kritisiert eine Entscheidung, die Sie getroffen haben, und plötzlich meldet sich der innere Kritiker, der Sie früher nur gelegentlich verurteilt hat, rund um die Uhr und redet Ihnen ständig ein, Sie wären wertlos und dumm. Wenn solche Erlebnisse regelmäßig in unserem Leben auftauchen, verdrängen wir sie entweder mit Drogen und Alkohol oder wir gestehen uns ehrlich ein, dass etwas nicht stimmt.

Aber bis dahin tun die meisten so, als wären sie nicht depressiv – eine perfekte Strategie, um sicherzustellen, dass wir morgen immer noch depressiv sind. Andere gehen übertrieben geistlich an die Situation heran, und das ist auch nicht hilfreich. Zu beten, dass Ihre chronische Angst verschwindet (was ich ohne Scheu tue), ist keine ausreichende Heilungsstrategie. Besonders dann nicht, wenn wir nicht zugeben können, dass wir überhaupt an Angstzuständen und Depressionen leiden.

Mir ist bewusst, dass das ein schwerer Weg ist. Es ist schwerer, über unsere psychische Gesundheit zu sprechen, als über andere gesundheitliche Bereiche, besonders für Christen. Ich persönlich weigerte mich zehn Jahre lang, zu einem Therapeuten zu gehen, bis ich schließlich zusammenbrach und gestand, dass ich psychiatrische Hilfe brauche. Ich war überzeugt, dass ich meine Angst loswerden könnte, wenn ich nur intensiv genug betete, lange genug in der Bibel las und anderen Menschen aufrichtig diente. Aber ich habe ein Geheimnis erkannt, das uns die Kraft gibt, die wir brauchen, um uns mit der nötigen Ehrlichkeit auf ein solches Gespräch einzulassen.

Soll ich Ihnen dieses Geheimnis verraten?

Sie.

Ich.

Wir alle.

Stecken gemeinsam in dieser Sache.

Und gemeinsam können wir sie überwinden.

Ich spreche nicht wie Mose vom Berggipfel, sondern wie ein Israelit, der unten im Tal ist. Ich bin zwar ausgebildeter Psychotherapeut, aber in erster Linie bin ich ein Mitpatient, der weiß, wie schmerzhaft und schwierig der Kampf mit psychischen Störungen sein kann.

Wenn Sie dieses Buch lesen, weil Sie unter psychischen Problemen leiden, möchte ich Ihnen sagen, dass Sie nicht allein sind, selbst wenn es Ihnen vielleicht so vorkommt. Sie haben vielleicht das Gefühl, dass es noch nie einem Menschen so schlecht ging wie Ihnen in diesem Moment. Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass dies einige der Lieblingslügen der Depression sind. Wenn Sie diesen Lügen glauben, wird der Heilungsweg noch schwerer.

Erst vor wenigen Wochen fühlte ich mich richtig niedergeschlagen. Es war der dritte Montag im Monat, der Tag, an dem sich immer unsere Selbsthilfegruppe für Anwälte, die unter Depressionen leiden, trifft. (Ja, ich war früher Anwalt. Vielleicht ist das mein Problem?) Aber die Depressionen taten alles, um mich davon abzuhalten, zu diesem Treffen zu gehen. Ich wollte mich am liebsten nur ins Bett legen und redete mir ein, mich nicht zu wehren würde helfen, meinen Zustand zu verbessern. Sehen Sie, wie schlau die Depressionen sind? Wenn Sie es zulassen, überredet diese Krankheit Sie, genau das Gegenteil von dem zu tun, was gut für Sie ist. Ähnlich wie das Internet.

Ich sagte zu Caroline, meiner Frau: „Ich glaube nicht, dass ich heute Abend zu dem Treffen gehe.“

„Warum nicht?“, fragte sie.

„Mir ist nicht danach.“

„Okay“, antwortete sie. „Was hältst du davon, wenn wir erst einmal zu Abend essen und du vielleicht ein wenig später gehst?“

„Okay“, nickte ich und spürte eine sofortige Erleichterung bei dem Gedanken, mich am Abend nicht besser zu fühlen.

Wie gesagt, die Depressionen sind hinterhältig und schlau.

Es gab Abendessen. Als wir gegessen hatten, sagte Caroline: „Wie fühlst du dich jetzt? Willst du gehen?“

„Nein“, erwiderte ich. „Ich will bei dir und den Jungs zu Hause bleiben.“

„Du warst in letzter Zeit oft zu Hause. Unseretwegen brauchst du auf das Treffen nicht zu verzichten. Wir kommen klar. Ehrlich.“

Ich wusste, dass sie recht hatte. In meiner Zeit als Pastor (ich war früher auch Pastor. Vielleicht ist das mein Problem?) war ich selten zum Abendessen zu Hause. Seit ich Autor und Therapeut bin, bin ich abends fast immer zu Hause. Die Depressionen mögen zwar schlau sein, aber meine Frau ist schlauer. Caroline wusste, dass ich keinen anderen Grund hatte, nicht zu diesem Treffen zu gehen, als dass ich einfach nicht hingehen wollte, was im Grunde absolut kein Grund ist, sondern Depressionen, die sich als Entschuldigung tarnen.

„Ja“, sagte ich, „aber morgen Abend bin ich auch fort, weil ich mit Terry zu dieser Veranstaltung gehe. Deshalb bleibe ich heute Abend lieber zu Hause.“

„Tu, was für dich das Beste ist. Aber der heutige Abend wird ein Kinderspiel.“ Sie warf einen Blick auf unsere zwei Söhne, Ford und Charles (sechs und vier Jahre alt), die ihre Teller schon fast leer gegessen hatten. „Charles hat schon gebadet, und Ford braucht keine Hilfe beim Duschen. Sie schlüpfen in ihr Bettelein …“

„… und schlafen zickezacke ein“, beendete Ford ihren Satz.

Charles lachte über seinen älteren Bruder und ich gab nach, da Kinder einfach Wunder wirken können.

Als ich auf dem Parkplatz vor dem Hotel ankam, in dem das Treffen stattfand, blieb ich ungefähr eine Viertelstunde im Auto sitzen. Inzwischen war ich wirklich sehr spät dran. Was alles noch schlimmer machte, war, dass der Redner an diesem Abend ein guter Freund war, und ich wusste, dass er mir am Tisch ganz vorne im Raum einen Platz frei hielt. Trotzdem saß ich einfach da und fühlte mich schrecklich.

Ich sollte noch erwähnen, dass ich, wenn ich mich gut fühle, sehr viel Wert auf Pünktlichkeit lege, weil ich es für wichtig halte, die Zeit anderer Menschen zu respektieren. Ich verabscheue es, zu spät zu kommen. Aber die Depressionen sind nicht nur schlau, sie sind auch unglaublich mächtig. Sie können uns dazu bringen, unsere festen Wertvorstellungen über Bord zu werfen und Dinge zu tun, die wir sonst nie machen würden. Sie können uns aber auch davon abhalten, die Dinge zu tun, die uns wichtig sind.

Schließlich zog ich mein Smartphone aus der Tasche, um meine Gefühle auszudrücken. Es gibt mehr und mehr Belege dafür, dass es bei Depressionen sehr heilsam ist, wenn wir einige Minuten am Tag ungestört aufschreiben, wie wir uns fühlen. Ich beschloss, es zu versuchen, und schrieb Folgendes in mein Smartphone:

Die Depressionen haben so viele Formen.

Heute war es bei mir so:

Ich fühlte mich den ganzen Tag als Versager. Eine Endlosschleife lief in meinem Kopf ab, die mir einredete, dass ich an allen in meinem Leben, die mich lieben, versagt habe. Meine Gedanken konzentrierten sich hauptsächlich auf meine Frau und auf meine Kinder, die einen Vater verdienen, der kein Versager ist. Sie verdienen einen Vater, der liebevoll, finanziell erfolgreich und fröhlich ist und bei anderen gut ankommt. Aber stattdessen haben sie mich. Jemanden, der nichts von alledem ist. Ich bin ein Versager. Das sagen mir meine Depressionen und so fühle ich mich. Die Fakten und die Realität bedeuten nichts. Ich weiß (ich denke), dass das alles nicht stimmt, aber obwohl ich das weiß, ändert das absolut nichts an meinen Gefühlen. Die einzige Wahrheit, die zählt, ist die, die in meinem Kopf lebt.

Mein Gefühl, ein Versager zu sein, hat es mir heute auch fast unmöglich gemacht, klar zu denken. Ich hatte große Mühe, auch nur ein paar Wörter zu schreiben. Wörter, die wahrscheinlich nicht passen und niemandem weiterhelfen.

DazukommteineerdrückendeLangeweile,diemeinInteresseanThemen,vondenenichweiß,dasssiemirwichtigsind,verdrängthat.Ichwarheutejoggen(fasteinWunder)undhabemirdabeieinHörbuchangehört,dasmichseitWochenfesselt.Aberheutemussteichmichzwingen,überhauptzuzuhören.MeinVerstandsagtmir,dassmichinteressiert,wasderAutorsagt.Mirgefälltauch,dassdasBuchgutgeschriebenist.Undichweiß,dassichwissenwill,wiedieGeschichteweitergeht.TrotzdemistesmirheuteegalundichhabedasGefühl,dassmichdiesesBuchoderirgendetwas anderes, das mich früher interessiert hat, nie wieder fesseln wird.

Das sind Depressionen.

Und das ist schwer.

In dieser psychischen Verfassung steckte ich mein Handy ein, stieg aus dem Auto und ging zu dem Treffen, fest überzeugt, dass die nächste Stunde nichts weiter als ein verkrampfter Ritt durch meine gequälte Psyche werden würde. Das einzig Gute war, dass das Treffen logischerweise nicht mehr allzu lange dauern würde, da ich inzwischen hoffnungslos zu spät kam. Trotzdem verschwand ich auf dem Weg zum Veranstaltungsraum vorsichtshalber noch einmal auf der Herrentoilette. Schließlich betrat ich irgendwann den Raum und begab mich mit gesenktem Kopf zu meinem reservierten Platz ganz vorne.

Bei dem Treffen passierte nichts Außergewöhnliches. Einige erzählten ihre Geschichte. Mein Freund, ein Psychiater, hielt seinen Vortrag, und er war großartig. Ein anderer Freund, der bis vor Kurzem noch suizidgefährdet und deshalb stationär in einer Klinik gewesen war, umarmte mich herzlich und schien sich ehrlich zu freuen, am Leben zu sein. In dieser Gruppe ist das keine Kleinigkeit. Das war wirklich großartig.

Nach dem Treffen fuhr ich nach Hause. Ich war nicht plötzlich geheilt oder so etwas, aber ich muss doch zugeben, dass ich mich danach deutlich besser fühlte als vorher. Das Grauen dieses Tages war auf fast wundersame Weise von mir genommen worden. Als ich zu meinem Auto ging, fühlte ich mich leicht und freute mich darauf, nach Hause zu fahren, meine Frau zu küssen und meine Kinder zu umarmen, die inzwischen friedlich in ihren Betten schlummerten. Mir kam der Gedanke, mir eine Fernsehsendung anzusehen, und ich spürte einen Anflug von Interesse. Das fühlte sich richtig gut an. Vielleicht würde das Leben doch wieder Spaß machen.

Vielleicht.

Was hatte sich verändert? Wie konnte ich in einer so schlechten Verfassung zu dem Treffen gehen und kaum eine Stunde später mit neuer Hoffnung und neuer Energie nach Hause fahren?

Es ist eigentlich ganz einfach. Bei dem Treffen wurde ich an die vielleicht wichtigste Wahrheit erinnert, an der wir festhalten sollten, wenn wir an psychischen Störungen leiden:

Ich bin nicht allein.

Sie sind nicht allein.

Das zu verstehen und zu glauben ist der erste Schritt auf dem Weg zu psychischer Gesundheit.

Verschiedene Formen und Ausprägungen

Sehr viele Menschen haben psychische Probleme. Das liegt nicht daran, dass wir Versager wären oder wertlos oder schlecht wären, wie uns unser Kopf oft einreden will. Es ist einfach so, dass wir aufgrund eines chemischen Ungleichgewichts in unserem Hirn oder wegen eines Traumas in unserer Kindheit oder aufgrund einer Unzahl anderer psychischer Faktoren oder Umweltfaktoren psychisch erkranken.

Einige kämpfen mit psychischen Störungen, wie andere mit ihrem Cholesterinspiegel kämpfen. Es besteht kein Grund, sich dafür zu schämen. Es ist einfach eine Tatsache, die sehr ernst genommen werden sollte. Ganz einfach. Das Schwierige an psychischen Störungen ist jedoch, dass sie wie die meisten komplizierten menschlichen Phänomene unter vielen Namen auftreten und sich auf unterschiedliche Weise äußern. Anders ausgedrückt: Psychische Störungen sehen bei jedem Menschen anders aus.

Einige haben Mühe, morgens aus dem Bett zu kommen. Andere gehen tagelang nicht ins Bett und meiden den Schlaf wie die Pest, wenn sie in einer manischen Phase sind. Einige essen zu viel, während andere überhaupt keinen Appetit haben. Einige bezeichnen diesen Zustand als Depressionen, andere sprechen eher von Angststörungen oder Manie. Bei einigen verändert sich ihr Verhältnis zum Essen, dann spricht man von Bulimie oder Magersucht. Andere merken es an ihrem Alkohol- oder Medikamentenkonsum und sprechen von einer Sucht.

Das Krankheitsbild verändert seine Form und zeigt sich auf so viele unterschiedliche Arten, dass die Fachwelt mit der Einteilung in Kategorien kaum nachkommt. Das aktuelle Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen), der Leitfaden, nach dem in den USA Diagnosen erstellt werden, wurde seit der Erstausgabe 1952 bereits fünfmal überarbeitet. Die neueste Ausgabe enthält 265 verschiedene Diagnosen.

Die erste Ausgabe hatte ungefähr 25.

Und Sie sollten eines bedenken: Die 265 diagnostizierten psychischen Störungen können jeden treffen. Sie nehmen keine Rücksicht darauf, was für einen Beruf Sie haben und ob Sie überhaupt eine Arbeit haben. Sie fragen nicht nach Ihrem Familiennamen oder dem Ruf Ihrer Alma Mater. Sie lassen sich weder durch Geld, Talent oder Schönheitsoperationen aufhalten. Sie machen auch keine Ausnahmen bei aktivem kirchlichem Engagement, bestimmten ethnischen Gruppen oder ehrenamtlicher Mitarbeit bei sozialen Projekten. Psychische Störungen können jeden Menschen auf der Erde treffen.

Das ist erschreckend, keine Frage. Man kann diese Realität jedoch auch von einer anderen Seite her sehen. Das DSM nimmt nicht deshalb immer größere Ausmaße an, weil sich Psychiater gelangweilt hätten und nichts anderes zu tun gehabt hätten. Es wurde immer umfangreicher, weil Menschen krank waren und diese Ärzte und Psychologen ihr Leiden ernst genug nahmen, um es zu studieren und zu versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Das sagt mir zweierlei: Erstens, kluge Menschen haben sich mit diesen Problemen befasst. Ich finde es gut, wenn intelligente Menschen an Themen arbeiten, die mir wichtig sind. Zweitens ist das ein weiteres Argument, um der Lüge zu widersprechen, die mir mein Kopf einreden möchte: dass ich der Einzige wäre, der diese Probleme hat. Wenn das stimmen würde, wäre das DSM nicht mehrere Hundert Seiten dick. Dann bestünde es aus einer einzigen Seite, auf der nur mein Name stünde. Dafür sollten Sie Gott danken, denn wenn ich nicht allein bin, heißt das, dass Sie es auch nicht sind.

Wir müssen das an die große Glocke hängen und überall bekannt machen, denn wenn wir das nicht tun, schreit uns die psychische Störung tagsüber an und flüstert uns nachts zu, dass kein anderer Mensch auf diesem Planeten so wertlos wäre wie wir und dass kein anderer Mensch je das durchgemacht hätte, was wir im Moment erleben. Die Stimme ist laut und überzeugend, aber diese Stimme spricht trotzdem nicht die Wahrheit. Sprechen Sie mir nach: Wir sind nicht allein, wir waren nie allein und wir werden nie allein sein.

Entscheiden Sie sich zu glauben

Jamie Tworkowski ist Gründer von To Write Love on Her Arms (TWLOHA), einer Organisation, die sich darum bemüht, psychische Störungen aus der unerwünschten Schublade herauszuholen und Menschen, die darunter leiden, die nötige Hilfe zukommen zu lassen. In seinem Buch If You Feel Too Much schreibt er:

Sie sind damit nicht allein. Wenn gestern ein schwerer Tag war, waren Sie nicht der Einzige, der das so empfunden hat. Vielleicht gibt es Dinge, die Sie sagen sollten. Vielleicht gibt es einen Brief, den Sie schreiben sollten, eine E-Mail, die Sie abschicken sollten. Vielleicht dauert es lange und heute sollten Sie nur einen Freund anrufen und anfangen, ehrlich zu sein. Vielleicht ist es wirklich schwer oder es ist einfach zu schmerzhaft … Vielleicht ist es Zeit, sich Hilfe zu suchen. Hilfe ist real. Hoffnung ist real. Ja, es ist möglich. Sie sind nicht allein.

AberderGedanke,dassSienichtalleinsind,hilftIhnennichtviel,wennesnurbeidemGedankenbleibt.Wirmüssenetwasdarausmachen.Esist,wiewennSiekeinGeldhabenunddanngibtIhnenjemandeinenScheck.SiemüssendenScheckzurBankbringen.Siemüssenetwasdamitmachen.VielleichtistdasbeiderHoffnungauchso.VielleichtistdasauchbeiderGemeinschaftso.VielleichtsindBeziehungenso.Wirmüssenunsbewusstdafürentscheiden.Wirmüssensagen,dassdieseDingerealundmöglichundwichtigsind.Einigesmüssenwirlautaussprechen.Wirmüssenunsentscheidenzuglauben,dassunsereGeschichtewichtigistunddassdieGeschichtenderMenschen,diewirlieben,wichtigsind.2

Wir müssen uns dafür entscheiden zu glauben. Das gefällt mir. Als Gott unsere Welt geschaffen hat, hat er nur bei einer einzigen Sache gesagt, dass sie nicht gut ist: dass der Mensch allein sei.

Das ist es! Der Himmel ist gut. Das Meer ist gut. Gott erklärte sogar die ekligen kleinen Tierchen, die überall herumkrabbeln, für gut. Aber uns Menschen nicht. Nein. Damit wir gut wurden, brauchten wir noch etwas. Und nicht einfach irgendetwas, wir brauchten einen anderen Menschen. Menschen kommen im Leben besser zurecht, wenn sie eine Beziehung zueinander haben.

1760 schrieb ein spanischer Bischof seinen Vorgesetzten in Rom, dass einige Kinder, die in Waisenhäusern lebten, starben, obwohl sie zu essen und ein Dach über dem Kopf hatten. Trotzdem schienen die Kinder „vor Traurigkeit zu sterben“.3 Machen wir einen Sprung in die US-amerikanischen Krankenhäuser der 1930er- und 40er-Jahre, stellen wir fest, dass sich das gleiche Phänomen wiederholt hat. Kinder, die eigentlich hätten überleben müssen, starben. Als Psychiater versuchten, dieses Rätsel zu lösen, erkannten sie, dass die Kinder, die starben, offenbar keine Beziehung zu anderen aufbauen konnten. Ein kluger Mann namens John Bowlby, der in dieser Zeit als Kinderarzt und Psychiater wirkte, erkannte, dass diese Kinder nicht nur Essen, Wasser und ein Dach über dem Kopf brauchten, sondern echte Beziehungen zu Menschen, die ihre emotionalen Bedürfnisse befriedigen konnten. Der Rest ist Geschichte. Bowlbys Bindungstheorie gehört nach wie vor zu den wichtigsten wissenschaftlichen Erkenntnissen aller Zeiten.

Ein kleiner hebräischer Stamm in der Antike kannte die Bindungstheorie schon lange vor Bowlby, wie wir auf den ersten Seiten der Bibel sehen können: Wir Menschen wurden nicht dazu geschaffen, allein auf dieser Welt zu sein, sondern in der Gemeinschaft mit anderen. Wir sind von Natur aus Gemeinschaftswesen. Wie das alte afrikanische Sprichwort sagt: Wenn ihr schnell gehen wollt, geht allein. Wenn ihr weit gehen wollt, geht zusammen.

Wenn Sie immer noch nicht ganz überzeugt sind, fragen Sie jemanden aus der Generation Z (Geburtsjahrgänge 1997 bis ungefähr 20124 laut dem Pew Research Center), die von sich sagen, dass sie die einsamste Generation in den USA sind. Es überrascht nicht, dass sie auch am stärksten unter Stress leiden.5

Ich habe beschlossen, Ihnen am Anfang dieses Buches ehrlich von meinen eigenen psychischen Problemen zu erzählen. Ein Teil von mir wollte dieses Buch schreiben, ohne Sie an die schmerzlichsten Momente meines Lebens heranzulassen. Als examinierter Psychotherapeut und ordinierter Pastor könnte ich aufgrund meines Studiums und meiner Berufserfahrung problemlos über psychische Störungen und Spiritualität schreiben, ohne meine Seele offenzulegen. Aber das erschien mir unehrlich und offen gesagt auch nicht besonders hilfreich. Denn ich mag zwar einige Erfahrung auf diesem Gebiet haben, aber trotzdem bin ich ebenfalls ein Patient. Alles, was Sie in diesem Buch lesen, hat jemand geschrieben, der diese Tiefen nicht nur studiert, sondern die dunklen Schatten selbst erlebt hat. Auch wenn ich mich dabei nicht ganz wohlfühle und ich mich dadurch verwundbar mache, betrachte ich es als hilfreich für Sie und gleichzeitig als nötigen Schritt für meine eigene Heilung, Ihnen offen von meinen persönlichen Erfahrungen zu erzählen. Denn ich habe mich bewusst entschieden zu glauben, dass Sie und ich in diesem Kampf nicht allein sind; und das ist meine Art, meine Überzeugung, dass wir gemeinsam besser dran sind, in die Tat umzusetzen.

Um diese Wahrheit zu erkennen, um die Lügen zu bekämpfen und zu vertrauen, dass nach Ihrem jetzigen Leiden etwas Gutes und Schönes und Heilendes und Segensreiches kommen wird, müssen Sie sich entscheiden, das für sich selbst anzunehmen. Das ist sehr wichtig. Hören Sie mir also gut zu. Wenn ich Ihnen sage, dass es wahr ist, hilft Ihnen das kaum. Sie müssen es auch glauben.

Vielleicht bedeutet die Entscheidung, das zu glauben, für Sie konkret, dass Sie sich einem Freund anvertrauen und ihm erzählen, wie schlecht es Ihnen geht. Vielleicht bedeutet es, dass Sie in Ihrem Gebetsleben ehrlich werden und Gott so inständig um sein Erbarmen und seinen Frieden bitten, wie Sie noch nie für etwas gebetet haben. Vielleicht bedeutet es, dass Sie zum Telefon greifen und sich einen Termin bei einem Therapeuten geben lassen. Vielleicht bedeutet es, dass Sie endlich die Tabletten schlucken, die Ihnen der Arzt verschrieben hat. Wie auch immer es bei Ihnen persönlich konkret aussieht, liegt der Schlüssel darin, sich langsam, aber bewusst auf diese Wahrheit einzulassen und sie immer mehr als Wahrheit anzunehmen. Einen anderen Weg gibt es nicht.

Vielleicht ist es das Schwerste, was Sie je getan haben. Ich bitte Sie, es trotzdem zu tun.

Morgen kann es anders sein als heute

Ich verstehe, wenn Sie mir in dieser frühen Phase unseres gemeinsamen Weges nicht glauben, dass es besser werden kann. Als meine Depressionen am schlimmsten waren, hat mich meine Mutter, die diese Krankheit auch jahrelang mutig bekämpft hat, aufgefordert, ihr in die Augen zu sehen. Dann hat sie mir versprochen: „Du wirst dich nicht immer so schlecht fühlen wie heute. Die Dinge werden sich ändern. Du wirst dich besser fühlen. Morgen kann es ganz anders sein als heute.“ In diesem Moment wollte ich ihr unbedingt glauben. Wenn sie sich geirrt hätte, hätte ich mir keine Zukunft vorstellen können. Wenn jeder Tag genauso schlimm werden würde wie jener Tag und die Tage vorher, hätte ich nicht weitermachen können.

Wie sollte ich leben, wenn ich vor Angst nicht aufhören konnte zu zittern? Wie sollte ich mich um meine Kinder kümmern, wenn mir der Gedanke, dass meine Frau in den Supermarkt fährt und mich mit den Kindern allein lässt, Schweißausbrüche auf die Stirn trieb? Wie sollte ich irgendetwas genießen, wenn ich nachts nicht schlafen konnte?

Ich hatte keine Antwort auf diese Fragen. Das hieß, dass etwas geschehen musste. Ich konnte mich entweder entscheiden, meiner Mutter zu glauben und auf ein besseres Morgen zu hoffen, oder mich dem Schmerz dieses Tages hingeben und aufgeben.

Dank Gottes Gnade entschied ich mich, meiner Mutter zu glauben.

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich will, dass Sie ihr auch glauben. Machen Sie sich immer wieder bewusst, dass Sie nicht allein sind, und suchen Sie Hilfe. Das ist der erste Schritt. Vergessen Sie nicht: Um Hilfe zu bitten ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke.

Psychische Störungen: Wahr oder falsch?

Jährlich leidet jeder vierte US-Amerikaner an einer psychischen Störung.In den USA herrscht eine extreme Knappheit an Psychiatern.Ungefähr zwanzig US-amerikanische Kriegsveteranen sterben jeden Tag durch Selbstmord; das macht 14 Prozent aller Selbstmorde aus, obwohl diese Personengruppe nur 8 Prozent der Bevölkerung darstellt.Bei Menschen zwischen 10 und 34 Jahren ist Selbstmord die zweithäufigste Todesursache.Bis 2030 werden die jährlichen Kosten für psychische Störungen auf 16 Billionen Dollar geschätzt, mehr als für Diabetes und Krebs zusammen.Über 70 000 US-Amerikaner starben 2017 an einer Überdosis, weil sie Drogen genommen oder Medikamente missbraucht hatten.2013 gab jeder sechste erwachsene US-Amerikaner an, Psychopharmaka zu nehmen.23 Prozent der Pastoren in den USA leiden unter verschiedenen psychischen Störungen.Die Selbstmorde und Selbstmordversuche in den USA im Jahr 2013 kosteten das Land 58,4 Millionen Dollar, obwohl Fachleute die tatsächlichen Kosten aufgrund der Dunkelziffer eher auf 90 Millionen Dollar schätzen.Die Wahrscheinlichkeit, dass Männer durch Selbstmord sterben, liegt ungefähr viermal so hoch wie bei Frauen.Nur 41 Prozent der US-Amerikaner, die 2018 an einer psychischen Störung litten, bekamen professionelle Hilfe.

Wahr.6

Alles.

Das schmerzt.

Ich weiß.

2: WAS IST PSYCHISCHE GESUNDHEIT?

Bevor wir auf Heilungsmöglichkeiten eingehen, sollten wir erst einmal betrachten, was unter psychischer Gesundheit und Krankheit zu verstehen ist. Die Begriffe psychische Gesundheit und psychische Krankheit sind oft austauschbar, was gleichzeitig verwirrend und hilfreich ist. Es ist verwirrend, weil es fast illusorisch ist, eine klare Grenze zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit zu ziehen, da die Übergänge fließend sind. Denn wer kann von sich behaupten, psychisch oder körperlich völlig gesund zu sein? Ist die Balance nicht immer im Fluss? Bei mir ist das definitiv der Fall und kommt ganz auf den Tag an.

Die Unterscheidung ist jedoch hilfreich, da es offensichtlich einen Unterschied gibt zwischen Menschen, die an einer ernsten psychischen Erkrankung wie Schizophrenie leiden, und Menschen, die nicht daran leiden. Deshalb lohnt es sich, die zwei Definitionen zu kennen, auch wenn sie im täglichen Sprachgebrauch manchmal austauschbar verwendet werden. Betrachten wir zuerst die psychische Gesundheit.

Psychische Gesundheit – Definition

Laut dem Amerikanischen Psychologenverband (APA