Gleich, später, morgen - Thomas Pfenninger - E-Book

Gleich, später, morgen E-Book

Thomas Pfenninger

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Beschreibung

Täglich fährt der Briefträger seine Route durch ein Zürcher Viertel. Ein Viertel mit einer Wohnsiedlung wie man sie an vielen Orten auf dieser Welt findet. Diese Tour fährt er bei Sonnenschein, Schnee oder Regen. Er versucht tagein, tagaus ein guter Briefträger zu sein. Und ein guter Mensch, der sich um seine Mitmenschen sorgt. In seiner Funktion als Überbringer guter und schlechter Nachrichten wird er zum Geheimnishüter, dessen Mitgefühl dazu führt, dass er den Menschen in der Siedlung helfen möchte. Dabei will er zuerst eigentlich nur Lauriane näher kommen. Er sieht sie täglich auf seiner Zustelltour, aber leider nie ausserhalb ihres Fensterrahmens. Je mehr der Briefträger Anteil an den Sorgen der Menschen aus dem Viertel nimmt, desto mehr werden sie zu seinen eigenen. So verstrickt er sich immer tiefer in die Geschichten der einzelnen Bewohner:innen, und als er merkt, dass ihm alles über den Kopf wächst, ist es schon zu spät, als dass es einen einfachen Ausweg für ihn gäbe.

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Seitenzahl: 279

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1. Auflage

© 2021 Kommode Verlag, Zürich

Alle Rechte vorbehalten.

Text: Thomas Pfenninger

Lektorat: Matthias Jügler

Korrektorat: Gertrud Germann, Zürich

Gestaltung und Satz: Anneka Beatty

Druck: Beltz Grafische Betriebe

eISBN 978-3-905574-01-2

Kommode Verlag GmbH, Zürich

www.kommode-verlag.ch

Thomas Pfenninger

Gleich, später, morgen

Für alle, die es gut gemeint haben.

Inhalt

DAS PARADIES

FUSSBALL IST FÜR SCHWÄCHLINGE

MAN MACHT ES WIE DIE ANDEREN

EIN BRIEF AUS KANADA

DER KIRSCHBAUM UND DIE TRAUERKARTE

JOZO GRÜNDET EIN HILFSWERK

DAISY

DAS OZONLOCH

EINKAUFEN GEHEN

MANCHMAL TUT MAN DINGE, OHNE ZU WISSEN, WESHALB

SARAHS BRIEF

DIE UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG

NICHTS BLEIBT EWIG UNERKANNT

SCHWEIZER GEHT DER SACHE AUF DEN GRUND

FÉLIX

MAN SOLL NICHT DENKEN, MAN SEI FÜR ALLES VERANTWORTLICH

WIN-WIN

KÖRPERFUNKTIONEN

KAUFRAUSCH UND GELDPROBLEME

EIN EWIGER MOMENT IM PFLEGEHEIM

REGENTAGE UND VERBOGENE DRUCKKNÖPFE

LAURIANES VEREHRER

MAN STOLPERT, BEVOR MAN FÄLLT

DAS KARTENHAUS FÄLLT ZUSAMMEN

ONKEL FERENC

NACHTGEDANKEN

KEINE AUSREDEN MEHR

VEHEMENT

IMMER DREHT SICH ALLES UM DAVE

DIE HOFFNUNG STIRBT NACH MIR

Über den Autor

Il senso ultimo a cui rimandano tutti racconti ha due facce: la continuità della vita, l’inevitabilità della morte.

— Italo Calvino

DAS PARADIES

Im Südwesten von Zürich durchkreuzten der Jakob-Peter-Weg und die Pappelstraße eine kleine, idyllische Parzelle des Paradieses.

Damals wie heute verhält es sich mit dem Paradies aber so: Es ist ein zerbrechliches Ding. Einmal nicht aufpassen genügt, und aus dem herrlichsten Paradies wird ein Erdbeerbeet im Spätfrost, ein gemähter Rasen vor einer Sichtschutzhecke oder, noch schlimmer, ein Buchsbaum mit Pilzbefall. Jeder weiß das hier, von Kindsbeinen an.

Aber zurück zur Paradiesparzelle, durchschnitten vom Jakob-Peter-Weg und der Pappelstraße: Dort standen seit 1925 Häuser mit gelbem Putz, dunkelgrünen Fensterläden und rostrot verbleichten Ziegeldächern. Jedes Haus besaß ein bescheidenes Mäuerchen aus weichgewaschenen Steinen und ein schmales Streifchen Garten, nicht mehr als ein Platzhalter zwischen Fassade und Sträßchen.

Zusammen mit den Häusern des Margarethenwegs bildeten sie eine Ansammlung von etwas mehr als fünfzig Häusern. Sie waren von Montag bis Freitag die letzte Siedlung, in die der Briefträger seine Post ausliefern durfte.

War es trocken, konnte man die Uhr nach ihm stellen. Um punkt halb elf streckte er in der Steigung der Friesenbergstraße seinen rechten Arm aus und signalisierte so, dass er in die Pappelstraße abbiegen würde. Wenn es nass war, konnte es schon mal elf Uhr werden, bis er ins Viertel einbog. Bei Regen läpperte sich diese Verzögerung einfach zusammen. Das versteht nur, wer die Arbeit eines Briefträgers kennt. Man muss schließlich dafür sorgen, dass die Post trocken bleibt. Das kostet Zeit.

Vom Bahnübergang bis zur Pappelstraße führte die Friesenbergstraße zweihundert Meter am alten jüdischen Friedhof entlang. Eigentlich, dachte der Briefträger oft, war es schade, dass der Friedhof keine Briefkästen für seine Bewohner hatte. Warum sollte man aufhören, jemandem Briefe zu schreiben, nur weil er gestorben ist? Die Backsteinmauer des Friedhofs war mit Efeu überwachsen. Dahinter ragten einzelne Bäume empor. Sie schienen mächtig und alt, waren aber irgendwann zu einem abrupten Wachstumsstopp gekommen. Die Bäume wirkten wie Baumkronen mit einem Rock aus Mauer.

Der Briefträger bog also ab, fuhr jeden Tag exakt die gleiche Route. Jedes Mal nahm der Briefträger die Kurve so eng, dass ihm fast der Anhänger kippte und die wichtigen und unwichtigen Briefe, Prospekte und Kataloge über den Asphalt verteilte wie viel zu große, eckige Konfetti. Er fuhr sein Mofa, als wäre es ein Schlachtross, mit dampfender Mähne und geblähten Nüstern, und der Anhänger mit den Briefen war sein römischer Streitwagen. Er bog in vollem Karacho ins Kolosseum ein, das man hier nur das Quartier nannte.

Die gelben Häuser im Friesenberg, das war seine Arena, und die Bewohner waren sein Publikum. In einer der Logen auf der Tribüne saß Lauriane Steinbrecher, der er in Gedanken und in seinen Träumen zuwinkte.

Der Anhänger machte ein dumpfes Geräusch, als er über die Schwelle der Einfahrt zur Pappelstraße fuhr. Helm ab, Blick in die Logen. Sie waren immer nur spiegelnde Fensterflächen. Niemand jubelte ihm zu. Nicht an der Pappelstraße 2, 4 oder 6. Und auch nicht direkt gegenüber, am Jakob-Peter-Weg 1. Niemand himmelte ihn an. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, und Lauriane wohnte erst ein paar Nummern weiter, am Jakob-Peter-Weg 5.

Aber der Reihe nach: An der Pappelstraße 4 wohnten seit Urzeiten die Caluoris. Ruth Caluori war die letzte im Haus verbliebene Caluori. Wenn sie sich im kleinen Zimmer im oberen Stock aus dem Fenster lehnte und nach rechts schaute, dann sah sie in die Kronen der Bäume des jüdischen Friedhofs. Hätte sie gewusst, wie gerne der Briefträger das Innere des Friedhofs einmal gesehen hätte, sie hätte ihn eingeladen, einmal bei ihr aus dem Fenster zu schauen. Da sie es aber nicht wusste, fragte sie ihn lediglich mit der Regelmäßigkeit, mit der sie Milchreis kochte, also jeden Donnerstag, ob er bei ihr zum Mittagessen bleiben wolle. Denn es gab Milchreis, und Milchreis schlug man nie aus, und sogar Kälin, die etwas weiter hinten im viel zu großen Eckhaus an der Pappelstraße 21 wohnte, musste zugeben, dass Caluoris Milchreis der beste im Viertel war. Es war wohl das Einzige, was Kälin je Nettes über jemanden aus dem Viertel gesagt hatte. Und es war auch das einzige Gericht, das jemand besser kochen konnte als sie selber. Aber das ist ein anderes Thema.

Das Haus am Jakob-Peter-Weg 5 war ein sogenanntes Mittelhaus. Es war kein zweistöckiges Einfamilienhaus wie seine Geschwister rechts und links, sondern ein dreistöckiges Mehrfamilienhaus. Es hatte allerdings die gleiche gelbe Fassade, die gleichen grünen Fensterläden und das gleiche rostrote, wunderschöne Ziegeldach, nur halt in größerer Höhe. Hier wohnte im Parterre Ernst Schweizer, der ehemalige Schalterchef der großen Post beim Bahnhof Wiedikon. Er blieb selbst mit den Nachbarn per Sie, die er seit Jahrzehnten kannte. Er bestand darauf, Herr Schweizer zu sein. Er war überzeugt, dass eine gewisse Distanz immer von Vorteil sei, insbesondere dann, wenn es eine unpopuläre Meinung zu äußern oder ein gutes Recht einzufordern galt.

Er passte den Briefträger ab und fragte, ob Frau Soundso noch in seiner Poststelle arbeite?

Er wartete keine Antwort ab und schob hinterher: »Einmal hat sie beim Sortieren auf einem Brief die Handschrift ihres Mannes erkannt.«

Der Briefträger wusste nicht recht, was er sagen sollte. Am besten nichts, denn alles kann eine Falle sein, wenn man nicht weiß, worauf der andere hinauswill. Speziell, wenn es sich um Schweizer handelt, den ehemaligen Schalterchef. Im Kleinen beginnt das Denunziantentum, die Spitzelei, schnell hat man sich verraten, einmal nicht aufgepasst, und das Paradies ist ein Unkrautgarten, Pflicht und Moral sind verletzt, und zuletzt ist der Ruf mitsamt dem Stand ruiniert.

Schweizer sagte: »Stellen Sie sich vor: Der Brief war an eine fremde Frau adressiert!« Und aus reiner Neugier oder direkt aus Eifersucht hatte die Frau Soundso nicht widerstehen können. »Einfach an sich genommen hat sie den fremden Brief!«

Schweizer hob hervor: »Höchstpersönlich habe ich verhindert, dass die Frau sich strafbar macht, indem sie verbotenerweise einen fremden Brief öffnet. In höchstem Maße strafbar, verstehen Sie? Das ist wie damals mit Adam und Eva. Einmal den falschen Apfel gepflückt, und schwups ist’s auch schon passiert!«

Schweizer fragte den Briefträger, ob er wisse, was auf Verletzung des Postgeheimnisses stehe?

Er gab die Antwort gleich selber: »Ins Gefängnis wird man geworfen für ein solches Vergehen. Und zwar absolut zu Recht!«

Der Briefträger wollte etwas sagen – kam aber nicht dazu. Schweizer fuhr fort, warf ihm vor: »Sie glauben mir nicht?«

Dann sagte er: »Das steht so im Postverkehrsgesetz vom zweiten Oktober 1924. Müssten Sie eigentlich wissen, als Briefträger. Kennen Sie das nicht auswendig? Hat man bei Ihnen wohl bei der Ausbildung gespart, oder Sie haben nicht richtig aufgepasst. Im Postverkehrsgesetz steht, ich zitiere, unter fünftens, Strafbestimmungen, Artikel siebenundfünfzig, hören Sie jetzt zu, ich zitiere: ›Eine mit postdienstlichen Verrichtungen betraute Person, die das Postgeheimnis verletzt, namentlich über den Postverkehr bestimmter Personen Mitteilung macht, eine verschlossene Postsendung öffnet, dem Inhalt einer solchen Sendung nachforscht oder deren Inhalt Dritten mitteilt, die eine Postsendung vernichtet, beiseiteschafft oder dem Empfangsberechtigten vorenthält, die irgendwem Gelegenheit verschafft, solche Handlungen zu begehen, wird mit Gefängnis bestraft!‹«

Warum erzählte ihm Schweizer das alles? Der Briefträger wusste es nicht.

»So weit wäre es also fast gekommen«, sagte Schweizer.

»Als Schalterchef hatte ich meinen Laden im Griff. Da kam so etwas nicht vor. Aber heute, ja heute, da weiß man nie!«

Er sagte: »Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch wenn ich heute Schalterchef a. D. bin, behalte ich alles im Auge. Für nichts hat man die Gesetze nicht gemacht, und wegen nichts fliegt auch keiner aus dem Garten Eden!«

Jeden Morgen gegen zehn Uhr kippte Schweizer das Küchenfenster. Dann setzte er sich an den Küchentisch. Er schaute auf die Wanduhr und horchte auf das Scheppern des Mofa-Anhängers. Sobald er es hörte, stand er auf, ging vor die Tür und postierte sich neben seinem Briefkasten.

Er bestand darauf, dass der Briefträger ihm seine Post in den Briefkasten warf und ihm nicht in die Hand drückte, obwohl er doch direkt danebenstand. Ordentlich zugestellt sei die Post nur, wenn sie unversehrt und pünktlich und begleitet vom schnappenden Geräusch der Briefkastenklappe eingeworfen werde.

Es machte dem Briefträger nichts aus, es so zu machen. Andere hätten sich von Schweizer dadurch schikaniert gefühlt. Der Briefträger aber sah darin keine persönliche Demütigung. Ein bisschen Ordnung kann nicht fehl am Platz sein. Ein Brief gehöre in den Briefkasten, und was der Empfänger dann damit mache, das gehe ihn nichts an.

Es machte ihm nichts aus, Schweizer das Gefühl der Überlegenheit zu gewähren.

Wenn es doch immer so einfach wäre, andere glücklich zu machen.

FUSSBALL IST FÜR SCHWÄCHLINGE

Direkt über Herrn Schweizer wohnte Lauriane Steinbrecher. Von ihrem Küchenfenster aus hatte sie freie Sicht auf den Hauseingang mit den Briefkästen, auf die schulterhohe Hecke dahinter, auf die Biegung des Jakob-Peter-Wegs, bis zum Haus der Manzinis am Jakob-Peter-Weg 23. Dahinter verdeckte eine dunkle, hohe Tanne die restlichen Häuser der Straße.

Dunkle, einsame Tannen, die nicht im Wald bei den anderen stehen dürfen, sehen immer so traurig aus.

Lauriane saß oft am Tisch und schaute hinaus. Der Tisch stand direkt vor dem Fenster. Davor: Ein knospendes Baumgerippe, wendige Schwalben.

Schwalben so früh im Jahr, dachte Lauriane. Sie beobachtete Schweizer, der inspizierte, wie der Briefträger die Post einwarf.

Vom Schlafzimmer aus hatte Lauriane Blick auf den kleinen mit einer Hainbuchenhecke begrenzten Garten hinter dem Haus. Dahinter lag die Friesenbergstraße.

Wenn die Straße nass war, hörte Lauriane den Bus schon von Weitem kommen. Im Sommer aber, wenn die Hitze dicht über dem Asphalt flimmerte, dauerte es viel länger, bis der Bus Laurianes Schlafzimmer mit Lärm anfüllte.

Früher wohnte sie mit ihrer Familie zuoberst, direkt unter dem Dach, aber nach dem Unfall war es besser, weiter unten zu wohnen. Jede Treppe weniger war ihr recht. Die Parterrewohnung wäre noch besser gewesen, aber da wohnte nun mal Herr Schweizer, und der war bereits da gewesen, als sie selbst noch ein Kind war. Ein Großvater ohne Runzeln, ohne Enkel und ohne Frau, also einfach ein Mann.

Der Briefträger hielt einen Stapel Briefe in der Hand. Mit der anderen Hand fächerte er abwechselnd mit Zeige- und Mittelfinger durch die Briefe. Es war eine flüssige Bewegung. In ihr wohnte die jahrelange Erfahrung der Wiederholung. Das ewige Üben hatte die Bewegung geschmeidig gemacht und rund geschliffen, so wie der Bach einen Kieselstein. Ebenso majestätisch wie der geborene Bankangestellte Notenbündel zählt, der Tontechniker ein Kabel aufrollt oder der Müllmann immer schon halb vom kleinen Tritt hinten auf dem Müllauto abgestiegen ist, durchforstet der Briefträger seine Briefe. Die Geste ist eines der herausragendsten Erkennungsmerkmale eines großen Briefträgers.

Der Briefträger verfügte über ein ganzes Arsenal an erhabenen Gesten und Fähigkeiten, das weit über das Sortieren von Briefen hinausging. Er fuhr sein Mofa wie ein Gott. Er kannte seine Bewohner wie der Hirte seine Schafe und konnte sich Eigenarten und Vorlieben seiner Bewohner merken, wie der Wirt die Wünsche seiner Stammgäste erriet. Briefkastenklappen schob er geräuschlos mit den Ecken der Briefe auf und knickte dabei nie ein Eselsohr.

Das Einzige, was dem Briefträger nicht lag, war das Plaudern. Es heißt, die Kunst des Plauderns sei einem gegeben oder dann eben halt nicht. Lernen könne man es nicht, das Plaudern, und vermeiden leider auch nicht, zumindest nicht, wenn man als Briefträger unterwegs ist, Tag für Tag.

Der Briefträger fächerte durch die Briefe, ein bisschen auch, weil er es so gut konnte, Zeigefinger, Mittelfinger, und prüfte, ob einer für Lauriane dabei war.

Er las: Obermatt, Lüscher-Meier, Mornar, Da Silva, Schweizer, Arikan, Wirth, Kneževic, Schmid, Keller, Thalmann, Wiederkehr, Manzini.

Schade.

Eines Tages würde er ihr einen Brief bringen, und sie stünde am Briefkasten, an der Stelle von Herrn Schweizer. Davon hatte er geträumt, und darauf freute er sich. Heute war leider nicht dieser Tag. Unter Schweizers Augen fächerte er noch ein bisschen weiter und wusste, dass er ihn damit nicht beeindrucken konnte.

Wie eine momentweise gestoppte Maschine hielt er inne. Er zog einen Brief aus dem Stapel, prüfte die Anschrift, Ernst Schweizer, alles korrekt, und warf ihn unter Schweizers strenger Beobachtung in dessen Briefkasten.

Mornar hatte wie immer viel Post.

Neun oder zehn Briefe waren es heute, alle von Hand adressiert.

Josip Mornar, oft auch Jozo Mornar, Jakob-Peter-Weg 5, CH-8055 Zürich.

Diese Buchstabenschwünge in tiefblauer Tinte. Sind sie die Schwünge eines traurigen Träumers? Oder hier: Wer das geschrieben hat, kann nur ein gebrochener Mensch sein. Er ist verzweifelt. Oder nein, vielleicht hofft er? Und dieser hier ist verliebt, unglücklich verliebt. Man sieht’s an diesem Schnörkel, am wilden Komma. Jeder Schwung enthält so viele Andeutungen.

Durch viele Hände musste ein Brief, bis er bei Mornar landete. Knitter waren keine Seltenheit. Zuletzt gingen sie durch die weichen, glatten Hände des Briefträgers. Er glättete, was zu retten war, und zu retten war leider wenig.

Mornar nahm ihm die Briefe aus der Hand und sagte: »Lass doch, lass doch. Was machst du denn? Du musst doch die Briefe nicht glätten, du reibst ihnen ja das Leben aus der Haut! Deinem Großvater versuchst du ja auch nicht, das Alter aus der Haut zu streicheln! Lass doch das!«

»Natürlich, Herr Mornar, ich wollte doch nur …«, sagte der Briefträger, und Mornar sagte: »Jozo! Alle guten Leuten nennen mich Jozo.«

Beklebt waren Jozos Briefe mit Briefmarken aus allen Himmelsrichtungen. Schweizer Marken mit Stempeln von Locarno, Lugano und Chur. Deutsche, österreichische und jugoslawische natürlich.

Heute war sogar ein Brief aus Australien dabei. Die Marke zeigte einen Leichhardt’s Grasshopper. So zumindest stand es in kursiven Buchstaben unterhalb der rotbraunen Heuschrecke auf der Briefmarke.

»Ein Land, das auf die Idee kommt, Käfer und Heuschrecken auf den Briefmarken abzubilden«, sagte der Briefträger vor sich hin und wunderte sich.

Die Schweizer hatten da ein komplett anderes Traditionsbewusstsein. Sie feierten 1991 das siebenhundertjährige Bestehen der Eidgenossenschaft mit einer eigenen Briefmarkenserie. Es gab einen Bogen aus vier Fünfzigermarken mit schraffiertem, vielfarbigem Hintergrund. Darauf prangte in silberner Schrift die Zahl siebenhundert. Sie war kaum zu entziffern. Das weiße Kreuz, das sich mittig über alle vier Marken des Bogens erstreckte, war senkrecht und waagerecht von der Perforierung durchtrennt. Wenn man sie auseinanderzupfte, blieb auf jeder der vier Marken ein weißer Winkel zurück.

Zum Jubiläum gab’s also quasi ein amputiertes Schweizerkreuz. War das wirklich besser als Leichhardt’s Grasshopper?

Der Briefträger schüttelte den Kopf, und als wären ihm dabei die Gedanken durcheinandergekommen, hüpften sie von den Heuschrecken auf der Marke zu den Grasshoppers im Hardturm und von da weiter zu seinem FCZ, der einmal mehr gegen den Abstieg spielte, gestern wieder kein Tor geschossen, da konnte man nur abwinken, nicht mal einwerfen können die oder einen Ball stoppen.

Es ist nur Fußball. Fußball nagt an der Seele. Fußball ist für Schwächlinge. Schwächlinge können ihre Emotionen nicht verbergen.

So machten seine Gedanken Sprünge, während er vor Mornars Briefkasten stand und endlich den Brief aus Australien einwerfen sollte.

Er rollte die Augen. Das half, die Gedanken an hüpfendes Ungeziefer zu verscheuchen, die ihn von der Pflicht abhielten.

Jozo bekam täglich Briefe aus der ganzen Welt. Er korrespondierte mit seinen Landsleuten, die überall verstreut lebten. Viele davon waren bereits seit Jahren in einem der Länder mit großer kroatischer Diaspora gestrandet. So lange schon, dass sie Kinder hatten in diesen Ländern, und diese Kinder sprachen die dortige Landessprache, als wäre es die Sprache ihres Mutterlandes. Sie wurden auch nicht mehr ausgegrenzt wie die Generation davor, denn die Kraft der Ausgrenzung reichte nur für die neusten Ankömmlinge und all jene mit der angeblich falschen Hautfarbe oder jene mit irrigen religiösen Vorstellungen.

Die meisten Briefe schickten aber Landsleute, die sich erst im Ausbruchsjahr des Krieges 1991 quer über die Erdkugel hatten verwehen lassen. Viele waren ins deutschsprachige Europa gestoben. Muss etwas mit den Winden zu tun gehabt haben.

Jozo selber war 1984 mit einem Stipendium der Universität Zürich in die Schweiz gekommen. Er war geblieben. Wenn er wollte, sprach er ein reineres Hochdeutsch, als es ein Deutschschweizer mit größter Anstrengung gekonnt hätte. Er hatte imposante Koteletten, sein braunes, dickes Kopfhaar lag wie eine Matte auf seinem viel zu großen Schädel. Er bestand hauptsächlich aus Kanten. Jedes Mal, wenn der Briefträger ihn sah, trug er stapelweise Bücher unter dem Arm. In der Hand hielt er ein aufgeschlagenes Buch. Er las darin und schlenderte gedankenverloren heimwärts, ohne je nachsehen zu müssen, wohin er seinen nächsten Schritt setzte.

»Wissen Sie eigentlich, wie viel Besuch der Mornar von solchen hat?«, fragte Schweizer den Briefträger.

Seine Entrüstung war aufgesetzt und kam gleichzeitig aus tiefstem Herzen. Er sagte es laut genug, dass es Mornar hören musste. Darum ging es ihm letztlich. Und natürlich auch darum, dem Briefträger das Leben schwer zu machen.

Indem er wie viel auf dem ersten Wort betonte, war es klar, dass er damit zu viel meinte. Und mit solchen meinte er die Jugos, Jozos Landsleute.

Jozo spielte mit. Er ignorierte Schweizer. Er wusste, dass er ihn damit ärgern konnte. Zurückhaltung ist ein hinterlistiges Gift.

Dann verabschiedete sich der Briefträger und blickte noch einmal zu Laurianes Küchenfenster hinauf.

Er meinte, hinter dem Vorhang ihre Silhouette ausmachen zu können. Er wandte sich schnell ab und tat so, als denke er nach und hätte deswegen nach oben geblickt, rein zufällig in ihre Richtung.

Im Augenwinkel lag der Vorhang unbewegt und ohne jeden Schatten in gleichmäßigen Wellen, das Fenster fest geschlossen. Vielleicht morgen.

Hoffentlich morgen, denn morgen ist Freitag, und wenn der Briefträger sie am Freitag nicht sieht, dann wären das, er zählte mit den Fingern der Hand die Tage nach, als er hangwärts um die Biegung des Jakob-Peter-Wegs ging, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag … das wären dann mindestens fünf Tage, an denen er Lauriane nicht gesehen hätte.

Am Jakob-Peter-Weg 23 wohnten die Manzinis. Marta und Luigi Manzini in ihrem Reihenhäuschen mit dem großem Garten. Was ihnen zum vollendeten Glück fehlte, waren die zwei versprochen Kinder, deren Namen sie längst ausgesucht hatten, jedes Jahr und für jeden neuen Anlauf neue.

Luigi Manzini war Maler und sah aus wie ein Bäcker. Er trug werktags eine blaue Latzhose und ein weißes T-Shirt. Kräftige Unterarme kamen aus dem T-Shirt, stets in der Beuge gehalten vom starken Tonus seines Bizepses. An den Haaren klebten weiße Farbspritzer. Sie gaben seinen Unterarmen den Anschein, als wären sie mit Kristallen gezuckert oder als wüchse ein dichter Rentnerhaarwald an Luigis noch nicht mal vierzigjährigen Armen. Er malte Zimmerwände, Gänge, Badezimmer, Heizkörper und Fensterrahmen, tünchte Keller, strich Garagenböden, verspachtelte Bohr- und Nagellöcher, verputzte Wände neu, wenn es sein musste, und ersetzte auch mal eine Silikonfuge. Von Fassaden dagegen hielt er sich fern.

»Keine zehn Pferde bringen mich auf so ein Gerüst!«, sagte Luigi, »und diese üblen Pastellfarben überall, die kommen mir an keinen Pinsel.«

Seine Hände waren weiß und rau und seine Finger dick und spröde. Sie sahen immer aus wie gepudert. Als wären sie voll Mehl. Die halbe Nachbarschaft dachte, er sei Bäcker.

Vielleicht hätte es geholfen, wenn er nicht immer nur weiße Wände gestrichen hätte. Aber er war der Hausmaler im Viertel, in dem er wohnte, und da gab es weiße Wände und sonst nichts.

Er begann früh zu arbeiten, fast so früh wie der Briefträger.

Die beiden trafen sich regelmäßig, als Luigi gegen halb zwölf zum Mittagessen nach Hause kam. Bei Sonnenschein stellte er sein Rad direkt an der Mauer vor seinem Haus ab. Bei Regen nahm er das Auto.

Luigi rief dem Briefträger jeden Tag das Gleiche zu: »Gute Briefe! Bring mir nur die guten Briefe. Die Rechnungen kannst du wieder mitnehmen. Haha! Oder schmeiß sie gleich dem Nachbarn ein! Oder noch besser: beim Schweizer vorne!«

Er strahlte bei jeder Witterung und sagte: »Hier, ich nehm dir die Briefe ab. Hast du etwas für meine Frau? Hoffentlich nicht! Und bring keine Kataloge mehr, davon haben wir mehr als genug!«

Der Briefträger nickte und war verlegen.

Er bedauerte aufrichtig, dass er auch heute wieder zwei Rechnungen dabei hatte, eine vom Elektrizitätswerk und eine von der Krankenkasse.

Er gab sie Luigi und sagte: »Sieht nach Rechnung aus. Tschuldigung. Aber vielleicht, vielleicht … solange die Briefe zu sind, weiß man noch nicht, was drin ist. Es könnte ja auch …«, es fiel ihm erst nichts ein, was anstelle der Rechnung im Umschlag hätte stecken können, also sagte er: »Es könnten geradesogut auch Gutschriften sein oder so etwas, wer weiß?«, und er wusste selber, wie doof und unwahrscheinlich das klang.

Luigi nahm sie und warf einen Blick in den Anhänger des Briefträgers. »Du unverbesserlicher Optimist! Haha! Gutschriften! Doch nicht von der Krankenkasse oder vom Elektrizitätswerk! Sag, da im Anhänger, die dicken Kataloge, nimmst du die wieder mit oder sind die für uns?«

Natürlich waren sie für Marta Manzini, kein Zweifel, drei Stück, jeder um die hundert Seiten dick.

»Marta!«, rief Luigi, überhaupt sprach er nie, sondern rief immer, das Laute, das Aufgedrehte war sein Naturell. »Komm raus«, rief er ins Haus, »wieder Kataloge für dich! Die trag ich dir sicher nicht ins Haus!«

Marta streckte den Kopf aus dem kleinen Küchenfenster. Das Fenster war genau über dem Herd, sie musste sich lang machen, damit sie den Kopf über die dampfenden Kochtöpfe hinweg an die Luft brachte.

Sie sagte: »Luigi! Mach vorwärts, lass ihn gehen und komm endlich rein, deine Mittagspause ist schon fast wieder vorbei!«

»Machst du auch bald Pause, Briefträger, du unverbesserlicher Optimist? Die hast du dir verdient!« Luigi rief wieder.

Dann ging er ins Haus, winkte ihm, als nähme er Abschied.

MAN MACHT ES WIE DIE ANDEREN

Der Briefträger war nicht immer Briefträger gewesen. Er hatte zwar seine Lehre bei der Post gemacht, dann aber eine Zeit lang als Lagerist im Farbenlager gearbeitet. Schon dort nannten ihn alle einfach Briefträger.

Im Farbenlager trug er Dosen und Büchsen und Kanister von hier nach da, er belud Laster, die ausfahren wollten, und entlud Laster, die zurückkamen, von den Baustellen, von den Malergeschäften und den Baumärkten. Nachmittageweise schlug er sich mit Gebinden herum. Gebindedienst hieß das: Gebinde füllen, Gebinde auswaschen, Gebinde zum Trocknen nach draußen stellen.

In der Pause machte er es wie die anderen. Er ging über die Brache, von der man nicht sagen konnte, ob es eine Wiese oder ein Geröllfeld war, bis zur Hecke, die das Fabrikgelände von Bord und Bach und Spazierweg abtrennte. Da war er weit genug vom Gebäude entfernt, um eine Zigarette zu rauchen. Bei all den hochentzündlichen Chemikalien in der Halle war Abstand schon sinnvoll. Der Briefträger hatte nie gern geraucht, tat es aber trotzdem. Manchmal tut man Dinge, ohne zu wissen, weshalb.

Er lehnte sich beim Rauchen am Zaun an, so wie die anderen. Hier draußen redete man nur, wenn am Wochenende ein Spiel war oder wenn Serkan dabei war. Serkan war ein Schwätzer.

»Halt die Klappe«, musste dann über kurz oder lang einer zu ihm sagen. Egal, worum es ging, man mochte ihm nicht mehr zuhören. Ständig prahlte er von Sachen, die ihm nicht mal der naivste Dummkopf abgekauft hätte.

Wie die anderen nahm der Briefträger die Hände nur aus den Hosentaschen, wenn ihm der Zigarettenrauch in den Augen brannte. Er wedelte den Rauch vor dem Gesicht fort. Mit den Lippen klemmte er die Zigarette im Mundwinkel fest. Er schwieg und starrte in den verhangenen Himmel des Limmattals. Über dem undurchdringlichen Wolkengrau dröhnte ein Flieger. Er strengte sich an, konnte ihn aber unmöglich orten. Die anderen schnipsten ihre Zigaretten über den Zaun, der Briefträger bückte sich, trat seine zwischen Stein und Schuh aus und steckte sie sich in die Hosentasche. Vorne bei der Straße gab es schließlich einen Aschenbecher.

Geschlossen marschierten sie zurück zum Tor der Halle. Serkan drängte sich in die Mitte und legte seine Arme um die Schultern zweier Kollegen. Einer schüttelte den Kopf und sagte: »Dass du wegen einer einzelnen Zigarette immer den Umweg zur Straße machst?«

Der Briefträger gab keine Antwort. Der andere erwartete auch keine.

Einer sagte: »So …«, und ein anderer sagte: »Packen wir’s an …«

»Bis zum Mittag«, sagte einer, und der daneben seufzte.

Serkan zuckte mit den Schultern und sagte: »Hauptsache, es gibt Lohn.«

Stillschweigend stimmten sie zu.

Eines Tages fuhr der Briefträger mit dem Gabelstapler an ein Hochregal mit Hunderten Farbeimern. Das Regal brauchte nicht länger als einen Augenblick, um zu kippen. Der Krach verklang schnell an den Hallenwänden. Danach sickerte die Farbe lautlos aus den geborstenen Eimern. Lachsfarbene Fassadenfarbe ergoss sich hektoliterweise über den Lagerboden, Farbcode RAL 2012. Sie lief unter die Hochregale. Auch der Gabelstapler stand in der Farbe, der Briefträger saß darauf und war starr vor Schreck. Er versuchte zurückzusetzen, aber das machte alles nur noch schlimmer. Die Reifen spritzten die Farbe in alle Richtungen, und die RAL-2012-Lache breitete sich weiter aus. Genug Farbe, um alle vier Türme der Hardau-Hochhäuser neu zu streichen und das Triemli-Spital gleich mit dazu. In seiner Kabine im Stapler hatte der Briefträger eine Rolle Haushaltpapier. Er benutzte sie immer anstelle von Taschentüchern, denn in der Halle war es zugig, und die Nase lief ihm ständig. Er hielt die Rolle also in der Hand und blickte über die Lache, die längst keine mehr war, sondern ein ausgewachsener Teich. Er begann die Rolle abzuwickeln und legte sie in die Farbe. Sie saugte sich voll, viel langsamer, als der Teich weiter anwuchs, denn aus den Eimern floss die Lachsfarbe wie das Wasser über eine Fischtreppe. Der Briefträger wickelte weiter Haushaltpapier ab und versuchte, damit einen See trockenzutupfen. Niemand konnte ihm den guten Willen absprechen.

In der entfernten Ecke des Lagers stand der Barackencontainer des Betriebsleiters. Er hatte zwei Fenster und eine Tür mit einem einzigen Trittchen als Treppe davor. Die Farbe lief immer weiter, zum Container und noch weiter, darunter, darunter hindurch, bis zur Rückwand der Halle, zähflüssig und dick. Das Geschepper der Eimer trieb den Betriebsleiter aus seiner Baracke. Er ruinierte sich seine schönen Schuhe, als er über das einzige Trittchen direkt in die Farbe trat.

Er stellte den Briefträger mit Schimpf und Schande vor die Tür, oder, wie er es beschönigend ausdrückte: »Ich stelle Sie hiermit frei. Fristlos.«

Dem Briefträger nützte weder, dass er beteuerte, das Ganze völlig unabsichtlich verursacht zu haben, noch, dass er nie auch nur einen Tag bei der Arbeit gefehlt hatte, oder dass er hoch und heilig versprach, er würde das schon wieder hinbiegen, den Schaden abarbeiten, egal, wie lange es auch dauere.

Sein Flehen verlor sich unter dem hohen Hallendach. Die Kollegen standen erhöht auf Leitern oder saßen auf leeren Regalen, und keiner kam ihm zu Hilfe. Wie auch, überall war Farbe. Der Briefträger und der Betriebsleiter standen schuhsohlentief im Lachsbrei.

Der Betriebsleiter packte ihn am Kragen und schob ihn durch das Tor.

»Fertig jetzt!«, schrie er ihn an. Er schubste ihn auf den Vorplatz.

Davongejagt lief der Briefträger mit hochgeklapptem Kragen aus dem Farbenlager, ohne sich ein einziges Mal umzublicken. Er stierte beim Fortgehen in die Rauchschwaden, die brusthoch über der Asphaltbrache zwischen Materiallager, Fertigungsfabrik und dem Tramdepot hingen.

Es war ein Dienstag, so gegen halb zehn Uhr. Über ihm lagen unausgeschlafene Wolken. Sie wogen schwer wie ein Bauch voller Sorgen. Sie stießen wie ein zu kurz geratener grauer Mantel gegen den Hönggerberg auf der einen und den Uetliberg auf der anderen Talseite.

Für einen Moment blieb er stehen und schaute dem Quellen des Nebels zu. Die Tram war ihm soeben vor der Nase weggefahren, die Gleise in der Tramschleife zitterten noch. Er beobachtete, wie der Nebel herabsackte und wuchs, knapp oberhalb der Bodennarbe. Er suchte ein Muster im Nebel, das es doch geben musste. Ein Zeichen oder einen Wegweiser, irgendwas.

Wenn man plötzlich, einfach so, am Dienstagmorgen, wo man doch sonst immer Farbeimer von A nach B manövrierte oder den Wareneingang kontrollierte, plötzlich nirgendwo hinzugehen und nichts zu erledigen hat, dann kommt man ins Grübeln. Wenn man einfach nur draußen steht und zusieht, wie das Wetter seinen Dienst tut, kommt man sich dann nicht automatisch so schrecklich klein und unverständig vor? Und dann sieht man den Nebel sacken und die Wolken hängen, und man spürt die Kälte kriechen und an der Haut nagen, und man denkt: Bestimmt hat das alles etwas zu bedeuten.

Aber was? Darauf kommt man beim besten Willen nicht. So ging’s auf jeden Fall dem Briefträger.

EIN BRIEF AUS KANADA

An all das musste der Briefträger heute denken, Jahre später. An die verdammte lachsfarbene Fassadenfarbe. An die Eimer und Büchsen und Kanister. An den Gebindedienst und an Serkan, der alle zuquatschte, an den Betriebsleiter, der ihm den letzten Lohn nie ausbezahlt hatte. Er musste an diese aufdringliche Präsenz der Gegenwart denken, die ihn überkam, als er an der Tramstation stand und nicht wusste wohin, nicht verstand, was soeben passiert war, und keinen Schimmer hatte, was er als Nächstes tun sollte. Er musste an das diffuse Licht dieses Tages denken, an den Wolkenhimmel, den es so nur in Zürich gibt.

Auch heute lagen auf dem Zürcher Himmel dieselben unausgeschlafenen Wolken. Sie wollten nicht wach werden und fortziehen.

Es hat mir im Grunde nicht wirklich geschadet, dachte der Briefträger. Der Regen setzte ein, stärker als damals. Er trieb sein Mofa die Friesenbergstraße hinauf und zog den holpernden Anhänger hinter sich her.

Keine zweihundert Meter weiter schüttete es wie aus Eimern. Die Jacke klebte ihm an den Schultern, und das Visier des Helms beschlug, er musste es aufmachen und die Augen zusammenkneifen. Die Regentropfen waren kalt und hart und kitzelten nicht, sondern stachen wie Nadeln.

Die Post hatte ihn mit Handkuss zurückgenommen. Keiner hatte verstanden, weshalb er nach dem Lehrabschluss nicht geblieben war. Als Jahrgangsbester, als geborener Briefträger.

Mit neunzehn wollte er halt mehr sein als ein geborener Briefträger.

Der Wind kam aus Nordnordost. Schwarzer Rauch zog von Altstetten herüber und verdunkelte erst Albisrieden, dann Wiedikon. Der Briefträger zog sich sein Halstuch über Mund und Nase, zum Schutz vor dem beißenden Rauch. Dieser kratzte ihn trotzdem in der Kehle.

Er bog in die Pappelstraße ein. Mit jedem Meter wurde die Sicht schlechter. Er hielt an und zog den Schlüssel ab. Er nahm den ersten Stapel Briefe in die Hand und deckte den Anhänger fest mit der grauen Plane zu. Zum Glück hielten diese Gummiriemen etwas aus. Er zog sie straff über die Halterung an der Außenseite des Metallkastens seines Anhängers.

Heute hatte er einen Brief aus Kanada für Frau Caluori dabei. Regen, schwarzer Rauch und eine Anschrift, der nach der Hälfte die Kugelschreiberfarbe ausging, das konnte nichts Gutes verheißen.

Frau R. Caluori; Pappe stand in blauem, schwächer werdendem Strich, dann, mit neuem Kugelschreiber: lstrasse 4, CH-8055 Zürich, und dann in Großbuchstaben mit riesigen Abständen zwischen den einzelnen Zeichen SWITZERLAND (SUISSE).

Er ging durch den Garten des Eckhauses, an der Haustür vorüber bis zu Ruth Caluoris Briefkasten. Hinter Caluoris Küchenfenster bewegte sich der Vorhang. Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

Der Briefträger zog sich das Halstuch von der Nase, denn es gehört sich nicht, so die Post zu verteilen.

Sie gestikulierte wild und zeigte mit dem Finger auf den Himmel hinter ihm, als öffne sich da gerade das Tor zur Hölle. Wer Radio hörte, wusste, dass das Farbenlager in Brand geraten war.

»Halten Sie Türen und Fenster geschlossen, und bleiben Sie zu Hause«, hieß die Anweisung.

Caluori deutete auf ihr Ohr, mit dem Zeigefinger, und sagte etwas in die Scheibe. Ihre Lippen bewegten sich übertrieben, so als spräche sie lautlos und versuche, jemandem, der nicht lippenlesen kann, auf die Sprünge zu helfen. Sie wiederholte Gestik und Lippenbewegung, aber es half nichts. Der Briefträger konnte kein Wort entziffern, das ihre Lippen formten. Er war halt nur ein Briefträger und kein Lippenleser. Er zeigte ihr den Brief und hielt ihn wie ein Geschenk in die Höhe.

Caluoris Gesicht flammte vor Erregtheit und unverständiger Wut auf, und sie zeigte mit Vehemenz auf die Rauchwolke hinter dem Briefträger. Dann gab sie auf und riss die Haustür auf. Sie packte den Briefträger am Arm und zog ihn ins Haus.

»Ja sind Sie denn übergeschnappt?«, fuhr sie ihn an.

Sie standen im kleinen Windfang zu nah beieinander. Sie konnte nichts anderes tun, als mit aufgerissenen Augen an ihm vorbei in den schwarzen Himmel zu schauen.

»Was meinen Sie, zieht mir das durch den Türspalt ins Haus?«, fragte sie.

Sie schloss die innere Tür zwischen Windfang und Gang. Zu zweit standen sie auf weniger als eineinhalb Quadratmetern, in dicker Luft neben gebauschten Jacken.

»Ach das, das macht doch nichts«, sagte der Briefträger, »davon ist noch nie keiner gestorben.«

»Nie einer«, korrigierte ihn Frau Caluori, und im selben Moment tat es ihr leid. Manchmal fallen einem die Worte von der Zunge, bevor man sich entschlossen hat, etwas zu sagen. Caluoris Worte hingen jetzt untilgbar im Windfang. Sie harrte der Wirkung ihrer Worte, aber der Briefträger hatte ihre Korrektur überhört.

Er lächelte nur und meinte: »Machen Sie sich keine Sorgen! Dunkle Wolken verheißen kein Unheil. Dunkle Wolken machen sich nur über die lustig, die am Morgen die falschen Kleider angezogen haben!«