Glitch - Viktor Fritzenkötter - E-Book

Glitch E-Book

Viktor Fritzenkötter

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Beschreibung

Ein Fehler in elektronischen Schaltungen oder eine plötzliche Falschaussage im Programmcode – und schon kommt es auf dem Bildschirm zum Glitch. Was einst als Problem galt, wird heute als Effekt geschätzt, der sonst verborgene Funktionszusammenhänge sichtbar macht. Mehr noch: Glitches können in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen sogar zum künstlerischen Stilmittel werden. Viktor Fritzenkötter analysiert die Bedeutung von Glitch-Phänomenen und ordnet deren digitale Konjunktur in eine traditionsreiche Geschichte ein, zu der auch Literatur, Musik und Rundfunk gehören.

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Seitenzahl: 75

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ein Glitch ist mehr als eine ärgerliche Störung in elektronischen Schaltungen oder ein plötzlicher Fehler im Programmcode. Der Glitch macht verborgene Ordnungen sichtbar und birgt eigene Formen der Sinnstiftung: ein Essay über die digitale Konjunktur eines Phänomens und seine analoge Vorgeschichte in Literatur, Musik und Rundfunk.

Viktor Fritzenkötter

GLITCH

Von produktiven Fehlern und dem Einfall im Ausfall

Verlag Klaus Wagenbach     Berlin

DIGITALE BILDKULTUREN

Durch die Digitalisierung haben Bilder einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Dass sie sich einfacher und variabler denn je herstellen und so schnell wie nie verbreiten und teilen lassen, führt nicht nur zur vielbeschworenen »Bilderflut«, sondern verleiht Bildern auch zusätzliche Funktionen. Erstmals können sich Menschen mit Bildern genauso selbstverständlich austauschen wie mit gesprochener oder geschriebener Sprache. Der schon vor Jahren proklamierte »Iconic Turn« ist Realität geworden.

Die Reihe DIGITALE BILDKULTUREN widmet sich den wichtigsten neuen Formen und Verwendungsweisen von Bildern und ordnet sie kulturgeschichtlich ein. Selfies, Meme, Fake-Bilder oder Bildproteste haben Vorläufer in der analogen Welt. Doch konnten sie nur aus der Logik und Infrastruktur der digitalen Medien heraus entstehen. Nun geht es darum, Kriterien für den Umgang mit diesen Bildphänomenen zu finden und ästhetische, kulturelle sowie soziopolitische Zusammenhänge herzustellen.

Die Bände der Reihe werden ergänzt durch die Website www.digitale-bildkulturen.de. Dort wird weiterführendes und jeweils aktualisiertes Material zu den einzelnen Bildphänomenen gesammelt und ein Glossar zu den Schlüsselbegriffen der DIGITALEN BILDKULTUREN bereitgestellt.

Herausgegeben von

Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich

Niall Staines, Sunset (2023)

1 | Kunst oder Nicht-Kunst? Absicht oder Fehler?

Glitch als Bild: Škriniar und die Bande

Es geschah am 17. Juni 2024 im Frankfurter Waldstadion – oder vielmehr: auf den Bildschirmen, die das Gruppenspiel der Fußball-Europameisterschaft zwischen Belgien und der Slowakei übertragen. Es läuft etwa die 20. Spielminute, als der belgische Offensivspieler Leandro Trossard zu einem Distanzschuss über den weit vor dem eigenen Tor stehenden slowakischen Keeper ansetzt. Dieser verfehlt sein Ziel knapp, so weit, so wenig bemerkenswert. Für verblüffte Fan-Gesichter am Bildschirm sorgt jedoch ein anderer visueller Reiz. Während Trossards Lupfer hinter dem Tor landet, lässt der slowakische Verteidiger Milan Škriniar seinen Sprint zur Torlinie austrudeln – er war zurückgeeilt, um notfalls für seinen geschlagenen Keeper klären zu können. Dabei verfängt er sich im eigenen Tornetz und taumelt darin hängend in die Nähe der dahinter befindlichen Werbebande – mit ungeahnten Konsequenzen. Plötzlich sind bloß noch seine Beine knieabwärts erkennbar, der gesamte Oberkörper scheint wie von Zauberhand verschwunden, verschluckt vom Lidl-Logo, während das Tornetz weiterhin intakt wirkt. Wer sich nun entsetzt die Augen reibt oder schlicht etwas länger blinzelt, kann indes beruhigt aufatmen. Nur wenige Sekunden später kehrt Škriniar zurück aus dem Orkus, der kommerziellen Parallelwelt hinter der Werbebande, und nimmt mit all seinen 187 Zentimetern die angestammte Position auf dem Platz wieder ein. Auch Kopf und Oberkörper erweisen sich als weiterhin dem Körper zugehörig und bewegen sich berechenbar menschlich. Den rund 50.000 Zuschauer*innen im Stadion bleibt das soeben aufgeführte Kleinstdrama ohnehin verborgen; sie blicken auf zwei Teams und insgesamt 22 Spieler, die sich auf dem echten Rasen duellieren. Außerdem könnten sie, selbst wenn sie danach suchen sollten, im gesamten Stadionrund keine Lidl-Bandenwerbung entdecken. Was also ist da passiert? (# 1, 2)

# 1, # 2 Škriniar und die Bande – aus der TV-Übertragung des EM-Spiels Belgien–Slowakei

Veranstalterin der Fußball-Europameisterschaft ist bekanntlich die UEFA, deren Hauptinteresse – wie manche Fan-Kreise alles andere als unplausibel argumentieren – nicht dem schönen Spiel als solchem gilt, sondern den damit zu erzielenden Profiten. Vor der EM 2024 in Deutschland hat sie daher veranlasst, die in nationalen Ligen, Vereinswettbewerben, aber auch anderen Sportevents längst etablierte virtuelle LED-Bandenwerbung, bei der sich diverse Werbeträger im festgelegten Rhythmus abwechseln, konzeptuell weiterzuspinnen. Die noch real existierende Bande wird nun softwarebasiert durch Künstliche Intelligenz im Übertragungsbild erkannt, mittels digitaler Eingriffe überblendet und bekommt ein neues Antlitz, das erst auf dem Bildschirm sichtbar wird, nicht jedoch im Stadion. In der offiziellen Terminologie trägt dieser Vorgang den so uneleganten wie präzisen Namen »Virtual Board Replacement«. So sollten während der EM zunächst in drei wesentlichen Absatzmärkten – Deutschland, China und den USA – die Botschaften der jeweiligen Werbebanden zielgruppenorientiert angepasst werden können, um den unterschiedlichen kulturellen Prägungen, aber auch zeitzonenbedingt unterschiedlichen Anstoßzeiten mit adäquatem Marketing zu begegnen. Noch einen Schritt weiter geht seit wenigen Jahren die australische A-League, die nicht nur das Motiv der Banden im digitalen Bild verändert, sondern gleich die gesamte Bande virtuell hinzufügt – offiziell, um dem Stadionpublikum eine bessere Sicht zu ermöglichen. Eine solche Form des Simulakrums wiederum wäre in Deutschland nach jetzigem Stand nicht gesetzeskonform, da der Medienstaatsvertrag seit dem Jahr 2000 festlegt, dass virtuelle Werbung bei TV-Übertragungen nur dort platziert werden dürfe, wo »eine am Ort der Übertragung ohnehin bestehende Werbung ersetzt wird«. Einblendungen künstlicher Werbung auf dem Rasen oder artifiziell erzeugter Werbebanden sind also untersagt. Damit wird zaghaft eine Grenze gezogen zwischen realem Signifikat und virtuellem Signifikanten, die im postdigitalen Zeitalter, also im Prozess der kaum noch wahrgenommenen Omnipräsenz digitaler Phänomene im Alltag, etwas anachronistisch anmutet.

Dass Škriniar kurzzeitig zu einem verstörenden Partikularwesen ohne Rumpf und Kopf gestutzt wurde, hängt mit einem schlichten Übertragungsfehler zusammen: Die KI-gesteuerte Software überschreibt den im Tornetz hängenden Spieler mit einer Werbebande, schlicht und ergreifend, weil gemäß ihrer Programmierung eine Werbebande eingeblendet werden soll (und ein Spieler ›hinter dem Tor‹ nicht vorgesehen ist). Daraus entsteht unfreiwillig ein mediales Artefakt, das wie eine aktualisierte und radikalisierte Parabel aus Ray Bradburys Erzählsammlung Der illustrierte Mann (1951) wirkt. In dessen Rahmenhandlung begegnen wir einem rastlosen Mann, der von Kopf bis Fuß mit Tätowierungen überzogen ist; eine Zauberin aus der Zukunft hat sie ihm in die Haut geschrieben. Nachts beginnen die Motive, sich zu animieren und meist dystopische Geschichten zu erzählen, futuristische Visionen, in denen die Handlungsmacht des Menschen zunehmend durchwirkt und eingeschränkt wird von ungeahnten technologischen Abhängigkeiten. »Alles ist da und wartet nur darauf, dass Sie zusehen«,1 bekennt ominös der Protagonist gegenüber dem Erzähler. Es ist ein Offenbarungseid, der im Falle der Fußballübertragung versehentlich wiederholt wird, zum Vorschein bringt, was im Verborgenen hätte bleiben sollen.

Es handelt sich bei Škriniar in der Werbebande um einen emblematischen Glitch, zudem einen, der eher unscheinbar im größeren Zusammenhang steht und gleichzeitig gewaltige Symbolisierungs- und Reflexionspotentiale offenlegt.

Ein Eindruck des Unheimlichen entsteht, wenn wir den Ausschnitt aus der EM-Übertragung mit einem Still aus dem Videospiel Die Sims 4 vergleichen – einer selbsternannten »Lebenssimulation«, in der die Spieler*innen alltägliche Routinen der von ihnen erstellten Avatare beobachten und beeinflussen können. Der Phantasie sind dabei nur wenige Grenzen gesetzt, die Möglichkeiten, komplexe, lebensnahe Szenarien zu erzeugen, mannigfaltig. Manchmal passieren aber auch wunderliche Dinge, und die spielbaren Figuren geraten in ihrer Küche in eine ähnliche Lage wie Škriniar im Fußballstadion. (# 3)

# 3 »Very focussed« – und keine Probleme? Still aus The Sims 4

Amorphe, zwischen Subjekt und Objekt hybridisierte Bilder und Erscheinungen sind häufig Ausdruck von Glitches in Videospielwelten. Der literarische Glitch-Experte Clemens J. Setz bemerkt darum, dass Glitches häufig in Zustände des Unheimlichen führen.2 Ob eine Werbebande durch den Körper eines Fußballspielers ragt oder eine Videospielfigur mit dem Tisch verschmilzt: Es handelt sich in beiden Fällen um räumliche Verdopplungen oder Überlagerungen zweier räumlicher Ebenen. Da ist etwas, obwohl da nichts sein dürfte, weil da schon etwas anderes ist – analog zu Schellings Diktum, das Freud zur Grundlage seiner Definition des Unheimlichen nahm: »[U]nheimlich nennt man alles, was im Geheimniß, im Verborgnen, in der Latenz bleiben sollte und hervorgetreten ist«.3 Diese Unheimlichkeit gilt es auszuhalten, auch als semiotischen Überschuss, wenn die Figur sich – wie im abgebildeten Fall – zu allem Überfluss auf unbehagliche Weise als »sehr fokussiert und selbstsicher« (»very focussed«, »very confident«) erweist.

Zugleich ist solchen Fehlern oder Glitches ein beträchtliches ästhetisches Potential zu eigen, um das es hier in der Folge wesentlich gehen soll und das sich freilegen lässt, wenn man jene fehlerhaften Momente auf ihren Reiz hin untersucht. Was lösen die betrachteten Motive aus? Stoßen sie etwas an, wirken sie produktiv? Und wie muss ein Fehler beschaffen sein, damit es nicht beim kurzen Achselzucken oder gar reiner Frustration bleibt, damit er überhaupt das Zeug zum Glitch hat? Um sogleich einen begrifflichen Dualismus aufzuspannen: Wenn das Betriebssystem eines Laptops sich aufhängt und Die Sims 4 abstürzt oder der Livestream eines Fußballspiels zusammenbricht, käme vermutlich niemand auf die Idee, von einem Glitch zu reden: Hier handelte es sich in der Nomenklatur der Programmierenden um einen sogenannten Bug, um den es später noch gehen wird – und der ist in den häufigsten Fällen nichts als nervig.

Was also macht einen Glitch aus? Der Versuch einer groben Definition:

Als Glitch werden gemeinhin temporäre Fehler in elektronischen Schaltungen (oder einfach allgemein: Kreisläufen) bezeichnet, die meist von geringem Ausmaß und zunächst rätselhaften Ursprungs sind. Im engeren Sinne verweist der Glitch beispielsweise auf eine plötzliche Falschaussage im Programmcode eines Computerspiels, die als visuelle Irritation vorübergehend die Logik der Spielewelt unterbricht, jedoch rasch vom ansonsten konsistenten größeren Zusammenhang absorbiert wird. Insbesondere im gegenwärtigen Stadium einer fortgeschrittenen Durchdringung des Lebens durch Digitales, das im Alltag häufig unsichtbar bleibt, wird diese Qualität innerhalb der Glitch Art