Globalisierte Familien - Maria Borcsa - E-Book

Globalisierte Familien E-Book

Maria Borcsa

0,0

Beschreibung

Das familiäre Leben, Lieben, Arbeiten findet im 21. Jahrhundert global und digital vernetzt statt. Diesen Entwicklungen können sich systemisch Beratende und Therapeutinnen und Therapeuten nicht entziehen – ob sie sie befürworten oder nicht. Heutzutage teilen sich Familien nicht mehr automatisch einen Haushalt, eine Nationalität oder eine Identität. Neuere Formen familiären Lebens sind weniger an eine einzelne Lokalität gebunden. Durch digitale Medien können wichtige Lebensentscheidungen über Länder und Kontinente hinweg gemeinsam getroffen werden. Mobilität und Migration sind nicht mehr notwendigerweise auf Dauer angelegt und der Begriff der Akkulturation ist neu zu bestimmen, wenn er nicht ideologisch werden soll. Was bedeuten diese Veränderungen der familiären Mobilität und Mediatisierung für systemische Beratung und Therapie? Welche möglichen blinden Flecke sollten bei der Arbeit mit mono- und transnationalen Familien beleuchtet werden? Gelingt es dabei, eine kosmopolitische Haltung einzunehmen und damit nicht nur hilfreich, sondern auch politisch zu werden? Dieser und weiteren Fragen geht Maria Borcsa nach.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 75

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Leben.Lieben.Arbeiten

SYSTEMISCH BERATEN

Herausgegeben von

Jochen Schweitzer und

Arist von Schlippe

Maria Borcsa

Globalisierte Familien

Mobilität und Mediatisierung im 21. Jahrhundert

Mit 2 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Meiner Mutter, die Bücher liebte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Tjbobbie/shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2625-6096

ISBN 978-3-647-99898-5

Inhalt

Zu dieser Buchreihe

Vorwort von Arist von Schlippe

IDer Kontext

1Globalisierte Familien – erste Annäherung

   1.1Fallbeispiel: Roulan D., eine Familie in Bewegung

1.2Mobilität, Migration und Globalisierung – das Auftreten von Weltfamilien

1.3Transnationalismus

1.4Transmigration

1.5Das Konzept der Akkulturation: Eine Ideologie?

IIDie systemische Beratung

2Perspektiven und Methoden erweitern: Informations- und Kommunikationstechnologien in familiären Beziehungen

2.1IKTs in Partnerschaft und Familienleben

2.2IKTs und Co-Präsenz

2.3Mediatisierung und transnationale Familien

2.4Handlungsbeispiel 1: Das Genogramm-4.0-Interview

Inhalt, Struktur und Einsatzgebiete

Anwendung in Beratung und Therapie

Anwendung in Weiterbildung und Supervision

Anwendung in der praxisbezogenen Forschung

   2.5Handlungsbeispiel 2: Leticia – eine Geschichte von Frauen

3Zum Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in der Beratung von globalisierten Familien

4Ausblick

IIIAm Ende

Links zum Thema

Literatur

Die Autorin

Zu dieser Buchreihe

Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewältigung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwermachen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) betreffen unsere intimen Beziehungen, deren Anfang und deren Ende, Liebe und Hass, Fürsorge und Vernachlässigung, Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten.

Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich geschrieben, allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick.

Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen Grundlagenwissen (1996/2012) und zum störungsspezifischen Wissen (2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das kontextspezifische Wissen der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind.

Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten.

Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe

Vorwort

Der 2005 verstorbene österreichisch-amerikanische Ökonom Peter Drucker stellte 2002 in seinem Buch »Managing the next society«1 die These auf, dass die Erfindung des Computers die Gesellschaft in einer Weise verändern wird, wie es zuvor jeweils nur die Sprache, die Entwicklung der Schrift und schließlich der Buchdruck vermocht hatten. Die grundlegende Idee ist, dass jeder Wandel der Art, wie Wissen weitergegeben und vernetzt wird, die Form und Art des sozialen Zusammenlebens tief greifend modifiziert. Es sind Anpassungen, die sich durchaus über Jahrhunderte hinziehen.

Drucker skizzierte eine »nächste Gesellschaft«, in der die Verarbeitung von Sinn auf allen gesellschaftlichen Ebenen eine andere Qualität bekommen werde, die die Gesellschaft drastisch verändern wird. Wissen überwindet mühelos jede Grenze, Optionen über andere Formen des Zusammenlebens erreichen alle Winkel der Welt, Wissen wird vielfältiger, dynamischer usw. Zugleich werden damit aber auch gesellschaftliche Prozesse unberechenbarer.

Noch immer zeichnen sich die Konturen einer solchen nächsten Gesellschaft erst langsam ab, dabei hat ja bereits seit Erscheinen von Druckers Buch die Dynamik an Rasanz eher noch zugenommen, haben sich die Möglichkeiten, mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKTs) umzugehen, weiter vervielfältigt und perfektioniert.

Genau hier setzt das Buch von Maria Borcsa an. Sie fragt danach, wie diese IKTs das Leben von intimen Sozialsystemen, also von Paaren und Familien oder auch Freundschaften beeinflussen. Familienleben ist heute schon globalisierter als noch vor wenigen Jahren, eng miteinander verwandte Menschen leben oft räumlich so weit entfernt, wie dies in früherer Zeit undenkbar gewesen wäre. Zugleich sind sie – und das ist das Spannende – oft enger miteinander verbunden als ihre Vorgeneration.

Ich erinnere mich noch an meine Kindheit, wo, wenn das Telefon klingelte und der Ruf »Ein Ferngespräch!« erklang, alles unterbrochen werden musste, man eilte zum Apparat, jede Sekunde war kostbar und teuer. Entsprechend knapp fielen diese Gespräche aus, für ausgiebigere Berichte über das eigene Befinden wurde das langsamere Medium Brief gewählt.

Heute machen Kommunikationsapps einen lebendigen und engmaschigen Kontakt möglich, Kommunikationssysteme reaktualisieren sich heute mehrfach pro Tag durch Kurznachrichten oder Videobotschaften – »permanently online, permanently connected«.

Diese Veränderungen machen vor Beratung und Therapie nicht Halt. Sie erfordern neue Arbeitsformen, etwa wenn es darum geht, das Familienleben von Familien nachzuvollziehen, deren Mitglieder über die Welt verstreut sind und dennoch bis ins Detail übereinander Bescheid wissen, sich zu allen möglichen Ereignissen austauschen und bei Entscheidungen mit einbezogen sein wollen. Abgesehen davon, dass solche Dynamiken natürlich alles andere als immer nur positiv erlebt werden, ist es für Beratung und Therapie wichtig, diese überhaupt in den Blick zu nehmen und Wege zu finden, mit ihnen zu rechnen, ihren Einfluss auf das Erleben der Akteure nachzuvollziehen und sie schließlich ins praktische Handeln mit einzubeziehen.

Mit diesem Band wird nun systemischen Praktikerinnen und Praktikern erstmals ein Instrumentarium an die Hand gegeben, wie sie mit den beschriebenen Phänomenen in ihrer Arbeit umgehen können. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eine anregende Lektüre. Sie ist dazu angetan, Ihre Arbeitsweise unmittelbar zu beeinflussen.

Arist von Schlippe

1Drucker, P. (2002). Managing the next society. New York: St. Martins Press. Drucker veröffentlichte das Buch in seinem 93. Lebensjahr!

I

Der Kontext

1 Globalisierte Familien – erste Annäherung

»In unserer vernetzten Welt ist die Migration die neue Revolution – keine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhundert, sondern eine auf Weggehen gerichtete Revolution des 21. Jahrhunderts, deren Akteure Individuen und Familien sind, die sich nicht von den Zukunftsvisionen einer Ideologie leiten lassen, sondern von Google-Maps-Fotos des Lebens jenseits der Grenze. Diese neue Revolution benötigt keine politischen Bewegungen oder Führer. […] Für eine wachsende Zahl von Menschen bedeutet Veränderung nicht mehr, die Regierung zu wechseln, unter der sie leben, sondern das Land zu wechseln, in dem sie leben.« Krastev (2017, S. 129)2

Dieser Band widmet sich zwei fundamentalen Veränderungen in unserer Lebenswelt des 21. Jahrhunderts und deren Auswirkungen auf Familien. Eine der Entwicklungen ist die Digitalisierung, die andere der Anstieg personaler Bewegung. Zu betrachten sind diese Wandlungen vor dem Hintergrund einer zunehmenden neoliberalen Globalisierung.

In diese ökonomische Betrachtungsweise implizit eingeschrieben ist eine sprachliche Unterscheidung für die Bewegungsvarianten von reicheren im Vergleich zu ärmeren Menschen: Während wir bei gut ausgebildeten und entsprechend sozial-ökonomisch gut platzierten Personen gerne den Begriff Mobilität nutzen, wird im Zusammenhang von ärmeren Menschen – mit zumeist auch geringerem sozialen und kulturellen Kapital – fast immer von Migration gesprochen (Castles, 2010). Nicht nur in den letzten Jahren ist wegen kriegerischer Auseinandersetzungen und Androhung oder Ausübung von Gewalt noch Zwangsmigration, also Flucht und Vertreibung, hinzugekommen (Borcsa u. Nikendei, 2017).

Die Zahl der weltweiten Migrantinnen und Migranten – laut UNO-Definition sind dies Personen, die nicht mehr in ihrem Geburtsland leben – ist 2017 auf mehr als eine Viertelmilliarde gestiegen. Das sind 49 % mehr als 173 Millionen im Jahr 2000. In 2017 sind von den 258 Millionen Migranten 106 Millionen in Asien geboren, aus Europa kommt die zweitgrößte Gruppe mit 61 Millionen, gefolgt von Lateinamerika und der Karibik (38 Millionen) und Afrika (36 Millionen). Insgesamt ist der Anteil von Migrant(inn)en an der Weltbevölkerung von 2010 bis 2017 von 2,8 auf 3,4 % gestiegen (UNO, 2017; der Bericht erscheint alle zwei Jahre).

Was die Digitalisierung angeht, so weisen die neuesten Zahlen darauf hin, dass 2018 die Hälfte der Weltbevölkerung das Internet nutzt (das ist eine 7 % Steigerung zu 2017; beim Einsatz sozialer Medien gab es eine Steigerung um 13 % weltweit: Das sind jede Sekunde elf neue Nutzer(innen): https://blog.hootsuite.com/de/digitalisierung-weltweit-2018