Glück à la carte - Antonella Boralevi - E-Book

Glück à la carte E-Book

Antonella Boralevi

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Beschreibung

Ein Feel-Good-Roman über verpasste Chancen, Träume und die große Liebe

Am Abend vor ihrem 47. Geburtstag reist Mirella nach Paris und betritt ein geheimnisvolles Restaurant. Dort erhält jeder Gast eine magische Speisekarte, die nur für ihn bestimmt ist: Anstelle von Gerichten sind dort die Schlüsselmomente des eigenen Lebens aufgelistet. Mirella durchlebt diese ganz besonderen, oft aber auch schmerzhaften Situationen erneut. Und am Ende – so lautet die Regel – darf sie an einer Stelle ihrem Leben eine neue Wendung geben. Doch welche der vielen nicht gelebten Möglichkeiten soll Mirella ergreifen? Oder soll sie einfach neugierig und gelassen abwarten, was die Zukunft für sie bereithält?

Ein charmanter, kluger Roman über verpasste Chancen und die Suche nach dem Lebensglück.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Zum Buch

Am Abend vor ihrem 47. Geburtstag reist Mirella allein nach Paris. Sie nimmt allen Mut zusammen und sucht ein ganz besonderes, magisches Restaurant in der Rue Thérèse auf. Hier werden jedem Gast auf einer nur für ihn bestimmten Speisekarte die Schlüsselmomente seines Lebens präsentiert.

Mirella lässt ihre Vergangenheit mit allen Höhen und Tiefen Revue passieren. Am Ende – so lautet die Regel des Restaurants – darf sie an einer Stelle eingreifen und ihrem Leben eine neue Wendung geben. Doch für welche der vielen verpassten Möglichkeiten soll sie sich entscheiden? Und liegt in der richtigen Wahl schon der Schlüssel zum Glück?

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel La locanda delle Occasioni Perdute bei Rizzoli, Mailand

1. AuflageCopyright © Antonella BoraleviCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016bei carl’s books, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, München, unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock (stickerama, Cattallina, paseven, Ron and Joe, Kozachenko Maksym)Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-16734-9V001www.carlsbooks.de

Für euch, liebe Leserinnen und Leser,die ihr beschlossen habt, dieses Buch zu lesen,dass es euch dazu ermuntern möge,das Leben mit all seinen Überraschungen anzunehmen

Der Morgen tritt zusammen mit der Dämmerung in Erscheinung

Giuseppe Parini, Il giorno

Rue Thérèse

Ich schritt unter den Arkaden des Palais Royal entlang, ganz benommen im Kopf. Der finstere Schatten der Säulen schluckte das spärliche Tageslicht. Es regnete, diesen Regen, den es nur in Paris gibt. Kaum zu spüren und zu sehen, dringt er dir doch bis ins Herz.

Aus der Dunkelheit der Passage du Perron gelangte ich in die unscheinbare Rue de Beaujolais und betrachtete die Hausfassaden. An die genaue Adresse erinnerte ich mich nicht. Oder wollte ich mich vielleicht gar nicht erinnern?

Es verlangt Mut, sich seinem Leben zu stellen.

Auf dem schwarzen Asphalt spiegelten sich die Wolken in den Pfützen. Ich hätte nicht sagen können, ob ich die Füße auf die Erde setzte – oder in den Himmel.

Getrieben von einem Instinkt, der mir fremd war, gegen den ich mich aber nicht zu wehren vermochte, betrat ich die Passage de Beaujolais am Ende der Straße und kam in der Rue de Richelieu wieder heraus. Die Straße war mit Autos verstopft, und auf dem Bürgersteig warteten ganze Trauben durchgefrorener Menschen auf den Bus und traten von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten.

Ich schlug den Kragen meines roten Mantels hoch, zog die Schultern zusammen und vergrub die Nase im Schal.

Ein Passant mit einem lächerlich großen Regenschirm rempelte mich an und hätte mir fast mit der Schirmspitze ein Auge ausgestochen.

Noch war es nicht zu spät. Noch konnte ich umkehren.

Der Regen fiel mit einem sanften Sirren, als würde ein Vogel fiepen. Aber er war eiskalt und jagte mir seine spitzen Nadeln ins Gesicht.

Ich schaute auf.

Hoch über mir thronte der fette Molière mit seiner Perücke; seinen Gesichtsausdruck konnte man von unten nicht erkennen.

Eine Weggabelung.

Direkt hinter der Theke des Döner-Stands begann eine dunkle Gasse, die so eng war, dass nicht einmal Platz für einen Bürgersteig blieb.

Ein Trichter ins Unbekannte.

Ich wusste, was mich dort erwartete.

Nach dem hektischen Verkehr in der Rue de Richelieu hatte die Rue Thérèse fast etwas Unwirkliches.

Das Klackern meiner Schuhe war das einzige Geräusch. Die stummen Häuser ließen es von den Wänden widerhallen und verliehen mir das merkwürdige Gefühl, nicht allein zu sein.

Aber ich war allein.

Oder vielleicht doch nicht.

Wir schleppen so viele Leben hinter uns her.

Da war es.

Das Schaufenster war ein blinder Fleck im schmutzigen Grau der Fassade und wurde von einer Doppeltür in zwei Teile zerschnitten. In einem altmodischen, weißen Schriftzug war das Wort RESTAURANT eingraviert.

Darunter stand in einer schlichteren Schrift: à la carte.

Auf halber Höhe der Fensterscheibe hing eine schwarz-weiß karierte Gardine, die den Blick ins Innere verbarg. Der dunkle Holzrahmen des Schaufensters sprang vom Bürgersteig bis zum steifen Saum der Gardine vor, wie man es von den Ladenlokalen der Zwanzigerjahre her kennt.

Der Wunsch, das Weite zu suchen, schnürte mir den Magen zu. Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe.

Noch war es nicht zu spät.

Ich wollte dem dunklen Fenster schon den Rücken kehren, aber eine geheimnisvolle Macht zwang mich, die Hand zu heben und nach dem glänzenden Messingknauf zu greifen. Das Metall, das glatt in meiner Hand lag, strahlte Kälte ab.

Ein Schauder. Vielleicht war es Angst.

Vielleicht war es aber auch etwas anderes.

Etwas, auf das ich schon ewig gewartet hatte.

Mit plötzlicher Entschlossenheit drückte ich gegen die Tür. Sie bewegte sich in gut geölten Angeln und ließ sich leicht öffnen.

Ich trat ein.

Nach der erstarrten, regenverschleierten Düsternis der Rue Thérèse wurde ich regelrecht geblendet von den scharfen Konturen des Restaurants, und ich musste die Augen zusammenkneifen.

Einen Moment lang verharrte ich im Dunkeln.

Dann schlug ich vorsichtig die Augen wieder auf.

Vor mir stand ein alter Mann.

Ich hätte schwören können, dass er einen Moment zuvor noch nicht dort gestanden hatte. Vielleicht lag das aber auch daran, dass mein Blick getrübt war.

Der Alte trug eine weiße, sorgfältig zugeknöpfte Kellnerjacke, eine Krawatte und eine schwarze Hose. Äußerlich erinnerte er, klein und kräftig wie er war, an einen ehemaligen Boxer. Das runde Gesicht schien aus altem japanischen Holz geschnitzt. Längliche Augen, glänzender, kahler Schädel. Aber es war vor allem der Mund, der ins Auge sprang. Er war zu einer missmutigen Linie verzogen.

»Wir haben geschlossen, Madame«, sagte er, fast ohne die Lippen zu bewegen.

Wie ein unüberwindbares Gebirge stand er vor mir.

Ich schaute mich um.

Mein Blick fiel zunächst auf den Fußboden mit seinem Mosaik aus rautenförmigen schwarz-weißen Fliesen, die wie die Glaskristalle eines Kaleidoskops zu schimmern schienen. Die Tische waren in zwei parallelen Reihen angeordnet, wie in einem Zug Die weißen Leinendecken hingen fast bis auf den Boden herab. Stühle standen nur an den Längsseiten. Es waren alte Stühle aus abgenutztem Holz, das wohl einst schwarz gestrichen war, nun aber an den Rückenlehnen hell durchschimmerte.

Wände und Decke waren mit dunklen Holzkassetten verkleidet, wobei die düstere Wirkung der Vertäfelung von einer immensen Anzahl an Spiegeln abgemildert wurde – ovalen Spiegeln, die jeweils den Tischen zugeordnet waren. Die Wirkung war eigentümlich, da sich der Raum in endlosen Fluchten fortzupflanzen schien und die Wirklichkeit in viele einzelne, messerscharfe Ausschnitte aufspaltete. Ich musste ein zweites Mal hinschauen, um die Wirkung zu verstehen: Die Spiegel waren mit einer unmerklichen Neigung angebracht, die von Spiegel zu Spiegel variierte und das Sichtfeld um wenige Grade verzerrte. Das reichte, um alles zu verwandeln.

Im Mittelgang hing eine Reihe hässlicher Milchglaslampen. Alle brannten und verliehen dem Raum die kalte Krankenhausatmosphäre, die mich beim Eintreten geblendet hatte.

Eine sonderbare Begeisterung hatte mich gepackt, eine Art überbordender Freude: das Glück, hier zu sein. Draußen, in weiter Ferne, erstickte die Rue de Richelieu unter Bussen, Autos und Menschen und musste Hupkonzerte, Schimpfworte, Flüche und Liebeserklärungen über sich ergehen lassen. Dickleibige Conciergen hockten vor ihren Heizöfen in den Pförtnerlogen, in sicherer Entfernung von den lästigen Hausbewohnern, und warteten darauf, dass die Zeit verging. Eine junge Blondine sauste mit ihrem Mofa zwischen den Autos hindurch, die regennasse Haarpracht unter dem Helm hervorquellend. Eine alte Klavierlehrerin erklärte irgendwo resigniert, wie man den Beginn von Chopins Nocturne Nr. 21 gestaltete, während ihr jugendlicher Schüler lieber Fußball spielen würde. Auf Höhe der Place Colette, direkt gegenüber von der Comédie-Française, hastete ein Mann über die Straße und blieb am Blumenstand neben dem Hotel Normandy stehen.

Ich atmete tief durch.

Der Moment war gekommen. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Die Speisekarte

»Ich würde gerne die Speisekarte sehen«, sagte ich.

Der Alte schaute mich an, ohne zu erkennen zu geben, ob er mich gehört hatte. Und doch hatte ich kurz das Gefühl, tief hinten in seinen Augen einen Funken Mitleid zu entdecken. Er trat einen Schritt auf mich zu und zwang mich, zur Tür zurückzuweichen. Dabei durchbohrte er mich mit seinem Blick und sagte schließlich, ohne sich umzudrehen: »Tut mir leid, aber wie Sie sehen, ist das Restaurant voll.«

Von dem Alten ging eine intensive, geradezu magnetische Kraft aus. Ich hatte den Eindruck, dass er mich allein durch seinen Blick in eine Statue verwandeln könnte. Statt mich abzuschrecken, verlieh mir dieser Gedanke aber eher Mut: den Mut, der sich unser bemächtigt, wenn alle Hoffnung verloren ist.

Ich schaute wieder über seine Schulter. Sämtliche Stühle waren leer.

Mit einem Seufzer breitete ich die Arme aus und reckte das Kinn vor.

»Aber das stimmt doch gar nicht«, flüsterte ich.

»Natürlich stimmt das.« Er schaute mich misstrauisch an. »Sie sehen doch selbst, dass kein Platz frei ist.«

Mit einer herrischen Geste schob er mich beiseite und griff nach dem Messingknauf. »Bitte gehen Sie.«

Er öffnete die Tür.

Eine eisige Böe fuhr herein. Die Rue Thérèse war ein finsteres Loch, schwarz glänzend im Regen.

Mich fröstelte.

Was dann geschah, ist mir schleierhaft. Keine Ahnung, was ihn zum Einlenken bewegt hat.

Der Alte hatte den Kopf zur Tür hinausgestreckt und schaute in alle Richtungen, als würde er jemanden erwarten. Dann zog er ihn wieder ein und fuhr sich mit seinen klobigen Fingern über den Schädel, um die Regentropfen abzuwischen. Mit einem energischen Ruck schloss er die Tür, immer noch den Kopf schüttelnd.

Dann warf er mir einen unergründlichen Blick zu.

»Haben Sie einen Schirm?«

Ich stand mit den Schultern am Fenster. Plötzlich merkte ich, dass ich zitterte. Ich wurde von unbekannten, unkontrollierbaren Empfindungen ergriffen, so als seien alle meine Sinne plötzlich überempfindlich. Doch gleichzeitig schien ich wie in dicke Watte gepackt zu sein, die jede Gefühlsregung dämpfte. Ich schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Die Menschen denken, dass man einen Schirm nur braucht, wenn es regnet«, sagte er nachdenklich. Dann erkundigte er sich mit plötzlich erwachtem Interesse: »Hat es heute Morgen geregnet, als Sie aufgebrochen sind?«

Er kannte mich also.

»Woher wissen Sie, dass ich heute Morgen aufgebrochen bin?«

Seinen Lippen entwich ein spöttisches Lachen.

»Wir wissen alles.«

Eine leise Angst befiel mich. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, ins Restaurant in der Rue Thérèse zu kommen. Vielleicht war ich, wie immer, leichtsinnig, dumm und gedankenlos gewesen. Mit bestimmten Dingen spaßt man nicht. Wovon man nicht reden kann, das sollte besser ungesagt bleiben. Was man nicht ändern kann, sollte man vergessen.

Oder vielleicht doch nicht?

Vielleicht kann man ja gar nicht vergessen.

Vielleicht sind es ja die Erinnerungen, die sich an uns erinnern und wie Wesen in finsteren Abgründen in uns weiterleben. Und am Ende stirbt man wie Funes – Borges’ Junge mit dem unerbittlichen Gedächtnis – an der Hartnäckigkeit, mit der einen die Erinnerungen in Beschlag nehmen und verhindern, dass man sie auslöscht.

Sämtliche Leben, die wir nicht gelebt haben, weil sie nicht die unseren sind, klammern sich an uns, spinnen uns mit ihren unsichtbaren Fäden ein, ersticken uns mit dem Geifer des Neids, des Bedauerns, der Schuldgefühle und verfolgen uns mit dem ewigen Schmerz verpasster Gelegenheiten. Unweigerlich kommt dann die Nacht, in der du nicht schlafen kannst, weil all die Leben, die du nicht hattest, als wirbelnde Schatten auf dich einstürmen, bis dir in deinem Spinnennetz die Luft wegbleibt.

Das ist der Moment, in dem sich das Schicksal deiner annimmt. Das ist der Moment, in dem du von dem Restaurant in der Rue Thérèse erfährst.

»Ich könnte die Herrschaften fragen, ob sie so freundlich wären, sich ins Nebenzimmer zurückzuziehen«, sagte der Alte ungehalten und fixierte mich.

»Es gibt noch einen Raum?«, fragte ich unbedacht.

Das war ein Fehler.

Der Alte meinte, ich wolle mich über ihn lustig machen, und kehrte mir verärgert den Rücken zu.

Ich hob die Hand und tippte ihm auf die Schulter.

»Entschuldigung. Ich bin etwas durcheinander.«

Der Fußboden mit den schwarz-weißen Rauten schien zu wanken.

»Von der Reise«, sagte ich, als ich das Gleichgewicht wiederfand.

»Verstehe«, sagte der Alte nach einem kurzen Moment des Schweigens. Er wirkte besänftigt.

»Entschuldigung«, wiederholte ich. Sein Verhalten mir gegenüber schien sich allmählich zu ändern. Aber noch einen Fehler konnte ich mir nicht leisten. Das würde alles verderben.

Schnell senkte ich den Kopf und beschloss, aufrichtig zu sein.

»Es ist nicht leicht für mich, hier zu sein.«

»Das ist es für niemanden«, antwortete der Alte trocken. »Aber es zwingt Sie ja niemand.«

»Allons, allons, gehen Sie schon«, sagte er dann etwas lauter in Richtung der leeren Stühle.

Schließlich wandte er sich wieder an mich und bedeutete mir, ihm zu folgen.

»Den Mantel überlassen Sie besser mir, den brauchen Sie nicht.«

Er half mir wie ein Gentleman heraus.

An einem Tisch an einem dunklen Holzparavent zog er einen Stuhl zurück.

»Bitte sehr.«

Mit klopfendem Herzen schlüpfte ich hinter den Tisch.

Ich habe nie an Gespenster geglaubt, und doch habe ich schon einmal eins gesehen. Eine Marquise. Der Ehemann hatte ihr aus dem üblichen Grund die Kehle durchgeschnitten – er hatte sie mit ihrem Liebhaber in dem Bett erwischt, das eigentlich ihm gebührte. Trotzdem hatte man sie in einem monumentalen Grab in der Kapelle der Villa, wo der Mord stattgefunden hatte, zur letzten Ruhe gebettet – ob der reuige Ehemann oder ein Erbe, weiß ich nicht mehr. Die Marquise suchte mich in Gestalt eines flackernden Lichts auf einem Vorhang heim. Ich kann bestätigen, dass sich Gespenster in jeder Hinsicht so verhalten, wie es in den Büchern steht: Ihr Atem ist laut und keuchend und erinnert eher an ein Tier als an ein Wesen, das einst ein Mensch war. Sie sind weiß und kegelförmig und sehen aus wie eine Person, die sich ein Bettlaken über den Kopf gezogen hat, genau wie im Comic. Ich war für ein Wochenende in dieser Villa zu Gast, einem majestätischen Gebäude in den Hügeln von Turin, und schlief alleine. Der Hausherr hatte mir in einem abgelegenen Flügel zwei aneinander angrenzende Zimmer mit Blick auf den italienischen Garten gezeigt. Tief unten grub sich das Tal auf der Fährte eines geheimnisvollen esoterischen Kraftfelds in die Berge, aber das wusste ich damals nicht. Als ich die beiden leeren Kammern mit ihren Einzelbetten betrat, beschlich mich ein unangenehmes Gefühl. Tief im Innern wusste ich sofort, dass ich in keinem von ihnen schlafen wollte, insbesondere nicht allein. Aber als wohlerzogene Person (was nicht mit »gut erzogen« gleichzusetzen ist) sagte ich nichts, sondern lächelte nur und zeigte auf das geringfügig weniger düstere Zimmer.

»Ich nehme das hier.«

Den Abend verbrachten wir, die anderen Gäste und ich, in einem mit goldgelber französischer Seide tapezierten Salon. Irgendwann stiegen wir mit unserem Gute-Nacht-Tee die Treppe aus rosafarbenem Carrara-Marmor hinauf und gingen zu den uns zugewiesenen Zimmern. Ich betrat mein trauriges Kämmerlein und zog mich aus. Eine gewisse Unruhe hatte sich meiner bemächtigt. Im nächsten Moment vernahm ich ein merkwürdiges Geräusch. Ein Atmen, fast schon ein Röcheln.

Das Atmen hatte auf mich gewartet, auch wenn ich es nicht wusste.

Ich tat so, als hörte ich nichts, aber das Geräusch wurde lauter. Irgendwann zwang ich mich dazu, der Sache nachzugehen. Die Unruhe schlug mir mittlerweile auf den Magen, aber ich achtete nicht weiter darauf. Das wird ein Tier sein, dachte ich. Und dann, energischer: Bestimmt ist es ein Tier. Ich schaute unter dem Bett nach und hinter dem dunklen Eichenschrank und war überzeugt davon, eine Kröte oder eine riesige Eidechse zu entdecken. Oder einen Dinosaurier.

Nichts.

Pflichtbewusst wusch ich mich und las ein paar Seiten in einem staubigen Büchlein, das ich auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Dann schaltete ich das Licht aus.

Das Atmen wurde lauter. Es bekam etwas Keuchendes.

Ich knipste das Licht wieder an.

Erneut machte ich mich auf die Suche. Irgendwann beschloss ich, das Badezimmerlicht anzuschalten und die Tür aufzulassen, um so vielleicht einschlafen zu können. Im nächsten Moment war ich hellwach, weil ich das Gefühl hatte, dass jemand im Zimmer war. Ich tastete nach dem Schalter meiner Nachttischlampe, fand ihn aber nicht. Ich setzte mich in meinem Bett auf.

Über die Gardine am Fenster huschte ein kegelförmiges Licht, pulsierend und quicklebendig.

Das konnten nur die aufgeblendeten Scheinwerfer eines Wagens sein, der durch die Nacht fuhr, dachte ich. Schließlich fand ich den Schalter, und das Zimmer wurde in schwaches Licht getaucht. Ich ging zum Fenster, schob die Gardine beiseite und sah, was ich längst wusste: Die Straße verlief viel zu tief und viel zu weit weg von der Villa, und die gewundene Zufahrt lag verlassen da.

Weit und breit kein Wagen zu sehen.

Das Atmen wurde immer lauter und keuchender.

Ich gab mir alle Mühe, ruhig zu sein, musste mir allerdings eingestehen, dass ich Angst hatte. Unwillkürlich fing ich an zu beten. In jener Nacht sprach ich viele Ave-Marias. Das Atmen wurde leiser und schwoll dann wieder an. Schließlich begriff ich, dass es nur eine Möglichkeit gab: mit diesem ominösen Etwas zu reden. Ich sagte etwas wie: »Schon gut, schon gut. Du willst also nicht, dass ich hier bin, das habe ich mittlerweile verstanden«, nahm Kopfkissen und Decke und stieg in den goldgelben Salon vom Vorabend hinab. Auf einem mächtigen Sofa streckte ich mich aus und versuchte zu schlafen.

Aber das Atmen verfolgte mich.

Es war überall, zwischen der Standuhr und den Sesseln, zwischen den Kommoden und unter der Wandkonsole. Nur wenn ich laut betete, wurde es leiser.

Als der Morgen anbrach, verschwand es. Und ich schlief endlich ein.

Der Schrei der alten Mutter des Hausherrn riss mich wieder aus dem Schlaf. Sie stand gerne früh auf und wollte den Salon herrichten, da die Hausangestellten am Sonntag freihatten. Nun saß sie auf einer rubinroten Bergère, fächelte sich Luft zu und erklärte, dass sie unten nicht mit jemandem gerechnet hätte. Als ich ihr von dem Gespenst erzählte, lächelte sie erleichtert.

»Natürlich, die Marquise«, sagte sie seelenruhig. »Das passiert nicht zum ersten Mal. Sie kommt, um unsere Gäste zu begrüßen. Nur die überdurchschnittlich sensiblen allerdings.«

Dann erzählte sie mir die Geschichte, als würde sie von einer Bridgepartie am Vorabend berichten.

Ich weiß nicht, ob es gut ist, sensibel zu sein.

In jedem Fall aber würde ich davon abraten, »überdurchschnittlich« sensibel zu sein.

Der Kellner Alphonse

Der Alte mit seinem Gesicht wie aus japanischem Holz stand reglos vor mir.

Er wartete.

Ich wollte ein wenig Konversation treiben. Um mir Mut zu machen.

»Schön ist es hier«, begann ich zaghaft.

Der Alte ließ nicht erkennen, ob er mich gehört hatte.

»Nur die Spiegel stören ein wenig.«

Das war offenbar ein heikler Punkt. Der Alte zuckte mit den Achseln.

»Die Spiegel waren schon immer da.«

»Aha.«

»Schon immer«, bekräftigte er.

Ich griff nach der makellosen Serviette, die links neben meinem Teller zu einem Dreieck gefaltet war, aber der Kellner war schneller. Mit einem Satz, den man ihm in seinem Alter gar nicht zugetraut hätte, schoss er vor, packte eine Ecke der Serviette, faltete sie auseinander und legte sie mir mit der Emphase eines Toreros auf den Schoß.

Dann pflanzte er sich wieder vor mir auf. Würdevoll. Reglos.

»Sie arbeiten schon immer hier, nicht wahr?«

Ich gab mir alle Mühe, ihn gewogen zu stimmen, obwohl mir das eigentlich nicht so wichtig war. Eigentlich spielte ich nur auf Zeit.

Ich wollte den Moment hinauszögern.

Den Moment, für den ich am Tag vor meinem Geburtstag in die Rue Thérèse gekommen war, so wie es die Regeln verlangen.

Ich respektiere Regeln, das tue ich schon, seit ich auf der Welt bin. Sie sind mir auf Deutsch und in der Uniform eines Kindermädchens eingepflanzt worden, aber das ist eine andere Geschichte. Mir war klar, dass die Regeln des Restaurants in der Rue Thérèse keine Verzögerungen vorsahen. Dort gab es kein Zurück mehr.

Mir war aber nicht klar, ob ich schon bereit war.

Noch nicht.

Ich betrachtete den Alten, der erwartungsvoll dastand. Vielleicht würde es mir gelingen, ihn wenigstens ansatzweise in ein Gespräch zu verwickeln.

Er beschränkte sich auf eine lapidare Wiederholung: »Schon immer.«

Aber dem Schlitz seines hölzernen Munds entwich eine Art Seufzer.

Ich hatte das Gefühl, die Schwachstelle in seinem Panzer gefunden zu haben.

»Würden Sie mir den Namen verraten?«

Er schaute mich verblüfft an.

»Den Namen des Restaurants?«

»Nein, Ihren. Wie heißen Sie?«

Jetzt wirkte er fast ängstlich. Die Mandelaugen zogen sich zu noch schmaleren Schlitzen zusammen.

»Ich heiße Alphonse«, verkündete er ernst, nachdem er einen Moment geschwiegen hatte.

»Na dann, guten Tag, Alphonse«, sagte ich aufgekratzt.

Die Spannung löste sich und wich der Aufregung. Das, wofür ich hierhergekommen war, passierte einem nur einmal im Leben. Man musste die Gelegenheit beim Schopfe packen. Ein plötzliches Glücksgefühl durchströmte mich.

»Ich heiße Alphonse«, wiederholte der Alte. Er wirkte jetzt sehr viel zugänglicher.

Ich schenkte ihm ein Lächeln.

»Ein schöner Name.«

Er breitete die Arme aus, um anzudeuten, dass er nichts dafür konnte.

»Ein altmodischer Name. Ein bisschen wie dieses Restaurant«, hielt ich mich dran.

Mit einem Schlag wirkte der Alte verärgert.

»Alphonse de Valois«, präzisierte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

Ich konnte mich nicht beherrschen. »Wie der Prinz?«

Der Alte stieß lang und anhaltend Atem aus, als wolle er die tiefsten Meerestiefen aufwühlen.

»Ja.«

Er schaute mich misstrauisch an.

Meine Gedanken schweiften ab. Der Spiegel an meinem Tisch hatte sich mit konzentrischen Wellen gefüllt, als würde von irgendwoher die Flamme einer unsichtbaren Kerze herüberflackern. Schnell versuchte ich mich der hypnotisierenden Wirkung zu entziehen. Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf den ersten vernünftigen Gedanken, der mir in den Sinn kam.

Aber während ich noch überlegte, ob es opportun war, mich danach zu erkundigen, warum ein Prinz aus der Familie der Valois als Kellner in einem bescheidenen Restaurant in der Rue Thérèse arbeitete, drang ein Rascheln an mein Ohr.

Ich riss die Augen auf, von plötzlicher Panik gepackt.

Der Alte aus japanischem Holz war verschwunden.

Ich schaute mich um.

Perfekt gebügelte Tischdecken, perfekt eingedeckte Tische mit zwei Gläsern pro Gedeck, in der Mitte Salzstreuer und kleine Kerzenhalter mit halb heruntergebrannten Kerzen.

Kein Mensch, nirgends.

Ich drehte den Rücken wieder dem Eingang zu. Als ich ein metallisches Geräusch hörte, wandte ich instinktiv den Kopf in die Richtung. Es war von links gekommen. Ein schmaler Lichtspalt durchbrach die dunkle Holzvertäfelung.

Ich bemerkte eine verborgene Tür, die gerade weit genug aufstand. Als ich mich zur Seite beugte, wäre ich fast vom Stuhl gefallen, aber ich konnte nicht anders. Dieser Lichtspalt zog mich unwiderstehlich an. Ich strengte die Augen an, als könnten sie aus dem Kopf treten und in die geheime Kammer hineinwandern. Mein Blick fiel auf etwas, das die Küche sein musste. Dasselbe Krankenhauslicht wie im Speisesaal. Von meinem Platz aus konnte man den altmodischen Herd sehen. Mit seinen gusseisernen Klappen und der elektrischen Platte, an der das Fett von Jahrzehnten klebte, schien er noch aus den Zeiten der Eröffnung zu stammen. Auf einem Regalbrett reihten sich Aluminiumtöpfe und große Espressokannen aneinander. Neben dem Herd beugte sich eine Alte über das Spülbecken. Sie wusch Geschirr ab.

Nein, das war kein Geschirr.

Das war ein ausgenommenes Kaninchen.

Sie wusch es äußerst gründlich; die Innereien hinterließen dünne braune Blutstreifen auf dem weißen Porzellan. Die Alte wusch und sang.

Die traurige Melodie zog einen unwiderstehlich in ihren Bann. Die Töne tropften wie Blut aus einer Wunde, und jede Phrase war so betörend, dass es einem die Kehle zuschnürte. Ich konnte kaum den Blick – und die Seele – von der Frau losreißen.

»Séverines Mutter stammt aus Lissabon«, sagte die Stimme des Alten neben mir.

Plötzlich war er wieder erschienen, vollkommen geräuschlos.

Ich blinzelte.

Als würde ich aus einem tiefen Ozean, der sich in meinem Innern ausgebreitet hatte, wieder auftauchen.

»Aha. Das Lied kam mir irgendwie bekannt vor.«

Ich schwieg und versuchte, meine Gedanken zu sammeln, um einen klaren Satz zuwege zu bringen.