Go West. Unterwegs im anderen China - Frank Lehnert - E-Book

Go West. Unterwegs im anderen China E-Book

Frank Lehnert

0,0

Beschreibung

Als Westeuropäer im Westen Chinas unterwegs zu sein ist ein Abenteuer, das nur wenige wagen. Zu aufwendig erscheint es, die notwendigen Dokumente zu beschaffen, und zu groß sind oft die Entfernungen für die verfügbare Zeit. Hinzu kommen die Sprachbarrieren. Der Autor reiste während seines Arbeitsaufenthalts in China in die entlegenen westlichen Provinzen. Auf eigene Faust oder mit einheimischen Reiseveranstaltern erkundete er weithin unbekannte Regionen, er kämpfte mit praktischen Hürden und lernte viel über das Alltagsleben im heutigen Reich der Mitte. Was er fand, waren außergewöhnliche Landschaften mit Zeugnissen einer wechselvollen Geschichte, ambitionierte Bauprojekte und immer das herzliche Lächeln auf den Gesichtern der Menschen. Go West. Unterwegs im anderen China erzählt davon, wie es ist, am Tor zum Ende der Welt zu stehen, zuckersüße Melonen an einem der heißesten Flecken der Erde zu essen oder Briefmarken auf dem Dach der Welt zu kaufen. Lassen Sie sich mitnehmen auf eine faszinierende Reise nach Westchina und finden Sie vielleicht dabei Ihr nächstes Sehnsuchtsziel.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 257

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Panta rhei – alles fließt (Heraklit)

Meinen Eltern gewidmet in Dankbarkeit für alles

Inhalt

Meine unbeschwerte Zeit in China

Go West – der ferne Westen Chinas

Immer dem Lauf der Sonne folgend

Im Takt der Traditionen

Lichun, »Beginn des Frühlings«, 3. bis 5. Februar

Das neue Jahr in Sichuan

Kein Weg zu weit

Vielgeliebte Stadt

Das Reich der Pandas

Die Alpen des Ostens

Guyu, »Getreideregen«, 19. bis 21. April

Zwischen dem Gelben Fluss und der Seidenstraße in Gansu

Chinas geografische Mitte

An der alten Seidenstraße

Der Beginn vom Ende der Welt

Knotenpunkt in der Wüste

Chushu, »Ende der Hitze«, 22. bis 24. August

Bazare, Kamele, Kebab und mehr in Xinjiang

Kashgar – unter Beobachtung

Mit dem Bus aufs Dach der Welt

Ürümqi und das Land der Uiguren

Mister Yangs Gespür für Orte

Qiufen, »Herbsttagundnachtgleiche«, 22. bis 24. September

Eine Goldene Woche in Tibet

Lhasa und der tibetische Buddhismus

Pässe, Seen, Festungen

Zum Everest Base Camp

Von Göttern und Daten

Goldene Tage in Yunnan

Die Mosuo von Lijiang

Mit dem Jangtse durchs Schneegebirge

Wunderland Yubeng

Das neue Shangri-La

Lidong, »Beginn des Winters«, 7. bis 8. November

Chongqing, die große Unbekannte

Megacity im Wandel

Lektionen der Geschichte

Steinerne Zeugen

Epilog

Anhang

Legende

Abbildungsverzeichnis

Die vierundzwanzig Solarbegriffe

Internetquellen

Danksagung

Kontakt

Meine unbeschwerte Zeit in China

Für die meisten Zugereisten aus dem westlichen Ausland bleibt China sprichwörtlich ein Buch mit sieben Siegeln.

Um Land und Leute besser kennenzulernen, empfiehlt es sich, tief, ja tiefer unter die vielgestaltigen Oberflächen des Alltags abzutauchen, die oft als bunt geschminkte, ausstaffierte, zur Schau gestellte und zurechtgerückte Fassaden erscheinen. Die wichtigste Voraussetzung für das Kennenlernen ist es, länger vor Ort zu sein und somit ausreichend Zeit zum Erleben, Beobachten, Kommunizieren, Verstehen und Dokumentieren zu haben. Die Gelegenheit dazu bot sich mir während meines Expat-Einsatzes für eine bayerische Automobilfirma.

Dreieinhalb Jahre konnte ich bis Ende 2019 in Beijing arbeiten, wohnen und leben. Eine wunderbare Zeit für mich persönlich, so facettenreich wie die über sechstausendjährige Geschichte Chinas von den Ursprüngen bis hin zu einer pulsierenden Weltmacht mit all den Licht- und Schattenseiten. Eine Zeit, in der ich zahlreiche Eindrücke von den meisten der zweiundzwanzig Provinzen sowie von Taiwan, den vier direkt verwalteten Städten, den fünf autonomen Gebieten und den beiden Sonderverwaltungsgebieten Hongkong und Macau sammelte.

Mein Lebensabschnitt in China war in erster Linie durch die Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen geprägt. Alles in allem verbrachte ich 1278 erlebnisreiche Tage voller positiver Eindrücke in dem riesigen Land, die ich mit einem großen Dank an das Leben verbinde.

Dabei fing meine Geschichte mit und in China recht holprig an. Nicht vergessen werde ich den Tag, an dem mir die verantwortliche Personalreferentin mitteilte, dass ich mich mit der Übernahme einer Position in China vertraut machen solle. Damals suchte ich nach möglichen neuen Aufgaben. Für drei Jahre in China zu arbeiten war jedoch nicht meine erste Option. Zu viele schlechte Nachrichten und beunruhigende Reportagen über das Land hatte ich im Kopf. Bilder von grauen Menschen, noch graueren Megastädten, ungesundem Leben, verordneter Tristesse, die meine Vorstellungen beeinflussten. Hinzu kamen die Meinungen von Freunden bei gemeinsamen gemütlichen Biergartenbesuchen im warmen Licht der bayerischen Abendsonne, die mir von einem Umzug nach China dringend abrieten. Aber der Fluss des Lebens hat mich letztendlich in sich aufgenommen und mit einer steten lautlosen Strömung über verschiedene Zwischenstationen genau in dieses Land, an diese Orte, zu diesen Menschen geführt.

Die Zeit für das bewusste Erkunden des Landes nahm ich mir insbesondere anlässlich der chinesischen Feiertage.

In China gibt es zwei Arten von Feiertagen. Manche haben ihr festes Datum, andere wiederum hängen vom chinesischen Kalender ab. Die beiden längsten Zeitabschnitte in Verbindung mit Feiertagen sind die Goldene Woche, die alljährlich mit dem Nationalfeiertag am 1. Oktober beginnt, und das Neujahrsfest, dem sich nahtlos das Frühlingsfest mit dem Wechsel vom Winter zum Frühjahr anschließt. Diese Zeit ist ein Muss für alle Entdecker mit einem offenen Herzen, einer gesunden Neugierde, um auf Reisen zu gehen, den Wind im Gesicht zu spüren und einfach nur begeistert lächelnd mit offenem Mund zu staunen.

Zu diesen Anlässen haben die Chinesen in der Regel eine ganze Woche frei. Sie besuchen Familie und Freunde in der Heimat, oft in weit entfernten Provinzen. Eine gewisse Beharrlichkeit und Ausdauer beim Nutzen der öffentlichen Verkehrsmittel und beim Besuchen von Sehenswürdigkeiten im Strom der schwarzhaarigen Mitmenschen sind für Zugereiste während dieser Tage durchaus von Vorteil. Geschickter ist es aber, auch die Zeit nach den Feiertagen für Reisen im Land zu nutzen. Viele freie Tage im Umfeld von Feiertagen sind im eigentlichen Sinn gar keine Urlaubstage, sondern müssen an einem anderen Wochenende wieder eingearbeitet werden. Somit ist China das Land mit den meisten Feiertagen weltweit, aber auch das Land mit den wenigsten echten Urlaubstagen.

Viele Reiseveranstalter bieten mehrtägige Gruppen-Rundreisen durch China an. In der Regel beginnen diese Reisen in Shanghai, eine der größten Städte der Welt. Von dort aus geht es weiter in die Hauptstadt Beijing, um auch einen kurzen Ausflug zur berühmten Chinesischen Mauer und zum Sommerpalast zu unternehmen. Die Terrakotta-Armee in der Nähe der alten Kaiserstadt Xian ist das am westlichsten gelegene Reiseziel bei derartig geführten Touren. Den krönenden Abschluss bildet schließlich die Weltstadt Hongkong.

Besonders beeindruckend waren für mich während meiner Zeit in China jedoch die Reisen in den abgelegenen westlichen Teil des Riesenreiches. Diese Regionen werden nur selten von westlichen Ausländern besucht. Aus diesem Grund ist Chinas Westen auch weniger touristisch und damit abenteuerlicher zu bereisen. Ich durfte dort eine endlose Landschaft mit einer wunderschönen, mystischen Natur, herzlichen, offenen Menschen und vielen Sehenswürdigkeiten erleben, von denen einige auf der Liste der Weltkulturerbestätten stehen.

Tradition und Moderne gehen hier Hand in Hand und prägen so das Alltagsbild. Nach den Reisen zu den touristischen Sehenswürdigkeiten im Osten des Reichs der Mitte führten mich meine Touren daher in den fernen Westen Chinas.

Go West – der ferne Westen Chinas

Westchina ist ein schillernder Begriff. Er steht nicht nur für Tibet und Xinjiang, die den meisten aus bestimmten Gründen bekannt sind, sondern für eine ganze Region. Der größte Teil davon lässt sich den nord- und südwestlichen Territorien zuordnen, die auf Chinesisch Xibei und Xinan heißen.

Die Zentralregierung in Beijing hat den Namen Westchina Ende der Neunzigerjahre etabliert, um ihre »Go West«-Politik zur Anbindung der weniger entwickelten Gebiete an die wohlhabenden Küstenprovinzen im Osten des Landes zu unterstützen.

Westchina umfasst die Autonomen Gebiete Tibet, Xinjiang und Innere Mongolei, die Provinzen Sichuan, Guizhou, Yunnan, Shaanxi, Gansu, Qinghai, Ningxia und Guangxi sowie die regierungsunmittelbare Stadt Chongqing. Die Fläche Westchinas macht neunundsechzig Prozent des ganzen Landes aus. Bedingt durch die wechselhafte Geschichte, die dort herrschenden Naturgewalten und zahlreiche soziale Konflikte waren diese Regionen bis vor wenigen Jahren noch sehr rückständig. Die Armutsrate unter der Bevölkerung von 365 Millionen Menschen war entsprechend hoch.

Die Natur hat es mit diesem Gebiet aber äußerst gut gemeint, denn Bodenschätze und andere Ressourcen gibt es in Unmengen.

Schon vor Jahrhunderten wurde hier erfolgreich Handel auf der alten Seidenstraße getrieben. Die politische Führung Chinas hat bei ihrer »Go West«-Strategie die Bedeutung des alten Wegenetzes erkannt und das Programm der »Neuen Seidenstraße« mit einer Vielzahl von Projekten zum Ausbau der Infrastruktur ins Leben gerufen. Das ist keine leichte Aufgabe, denn der größte Teil Westchinas ist gebirgig mit der höchsten Bergkette der Welt, dem Himalaya, und dem ausgedehnten Tibetplateau. Auf dieser Hochebene liegen die Quellen großer Flüsse Südostasiens und der indischen Halbinsel, wie Ganges und Mekong. Im Südwesten von Tibet erheben sich die Gipfel des Himalayas. Der Nordwesten Chinas wird von weiten Wüstenzonen geprägt mit der Wüste Gobi an der Grenze zur benachbarten Mongolei.

In diesem Teil des Landes habe ich voller Begeisterung, Offenheit und Entdeckerfreude ausgewählte Provinzen besucht. Angetrieben von der Neugier auf das »andere China« mit seinen einzigartigen Naturschönheiten und den allseits aufgeschlossenen, freundlichen Menschen abseits der Metropolen und der »Top Ten Must Have to See«. Wichtig bei der Planung der Reisen war es, die jeweiligen klimatischen Bedingungen in den einzelnen Provinzen zu berücksichtigen, die sich im Lauf des Jahres so schnell verändern.

China mit den bereisten Provinzen (farbig)

Immer dem Lauf der Sonne folgend

Schon bei meiner Ankunft in Beijing Ende Juli 2016 spüre ich, dass im Reich der Mitte auch klimatisch Extremsituationen auf mich zukommen werden. Als ich aus der Ankunftshalle des Beijing Capital International Airport hinaustrete, empfängt mich eine morgendliche Hitze mit einer gefühlten Temperatur von weit über dreißig Grad Celsius. Die hohe Luftfeuchtigkeit tut ihr Übriges und treibt mir in Sekundenschnelle den Schweiß aus den Poren. Es ist einer der irre heißen Sommer in der Hauptstadt, in denen jedes noch so kleine Schatten spendende Fleckchen willkommen ist. Die Sommerhitze vermischt sich dann fast überall im Land mit sintflutartigen Regengüssen, die der Monsun mit sich bringt.

Abgesehen davon sind das Klima und das Wetter in den Regionen und Provinzen des Landes sehr unterschiedlich. Während Temperaturen und Niederschläge von Nordwesten nach Südosten kontinuierlich zunehmen, weisen alle Regionen große Temperaturunterschiede zwischen den Jahreszeiten auf. Im Winter dringen die bitterkalten sibirischen Luftmassen bis in den Süden vor, dagegen gelangt im Sommer die tropische Luft für kurze Zeit weit in den Norden. Aber ich lerne schnell, mich gegen diese Herausforderungen rechtzeitig zu wappnen. Die richtigen Hilfsmittel bestelle ich auch ohne chinesische Sprachkenntnisse zielsicher im Internet bei der Shoppingplattform Tabao, die im globalen Vergleich zu den zehn am häufigsten besuchten Internetseiten gehört.

Wie ich während meiner Zeit in China feststelle, gibt es für mich nicht die eine bevorzugte Jahreszeit, wie zum Beispiel in Deutschland den Herbst oder das Frühjahr. Die Jahreszeiten sind viel kürzer, jede hat ihre besonderen Reize und ermöglicht fantastische Erlebnisse.

Im Allgemeinen sind jedoch im ganzen Land die milderen Temperaturen von April bis Mai und von September bis Oktober am angenehmsten, um oft draußen in der Natur, auf den Straßen, Plätzen und in den Parks zu sein oder das Lebensgefühl »On the road« zu feiern. Beim Reisen nehme ich gern in Kauf, dass gleichzeitig mit mir sehr viele Einheimische mit Sack und Pack im eigenen Land unterwegs sind und es auf Inlandsflügen, Bahnfahrten, in Hotels sowie an allen Ausflugszielen entsprechend voll wird.

Im Takt der Traditionen

Unbewusst habe ich mich bei der Planung meiner Touren am chinesischen Kalender orientiert, der auch die Übergangsjahreszeiten kennt. So schlägt eine Jahreszeit nicht plötzlich in eine andere um, sondern gleitet allmählich in die nächste über. Rückblickend verbinde ich diese Phasen des Wandels mit den Temperaturen in meinem Apartment in Beijing. Auch bei noch so kaltem oder heißem Wetter wurde weder die Heizung noch die Klimaanlage in Betrieb genommen, wenn das behördlich festgelegte Datum für den Beginn der Saison noch nicht erreicht war. Der Startschuss für den offiziellen Beginn des Heizens und des Kühlens ist einer der vielen kontrollierten Eingriffe durch die Zentralregierung in den Ablauf der Tage.

Trotzdem sind die Menschen in der Volksrepublik China immer noch sehr den Traditionen verhaftet, was mich anfangs überraschte. Strikt folgt die Einteilung von Tag und Nacht dem uralten chinesischen Sonnenkalender mit seinen vierundzwanzig Solarbegriffen, die ein Jahr in annähernd gleiche Zeitabschnitte gliedern (siehe Anhang). Diese überlieferten Begriffe sind wie eine unsichtbare Schatztruhe, gefüllt mit Beobachtungen zu den jährlichen Sonnenbewegungen, dem Wechsel der Jahreszeiten, dem Klima und den sich daraus ergebenden Erkenntnissen, an denen sich noch heute wie selbstverständlich das Alltagswissen in einer hochdynamischen modernen Gesellschaft orientiert.

Zum Glück konnte ich diesen Schatz schon frühzeitig für mich entdecken, weil eine Mitarbeiterin in China mir ein Set von bunten Postkarten schenkte, auf denen die vierundzwanzig Solarbegriffe in überlieferten Abbildungen dargestellt sind. Die Begriffe gelten auch als die »fünfte große chinesische Erfindung«, neben dem Papier, dem Buchdruck, dem Schwarzpulver und dem Kompass.

Fast jeden Morgen schaute ich als Erstes auf die Postkarte mit dem zutreffenden Solarbegriff, etwa »Yushui, Regenwasser; Regenschauer werden erwartet« am 19. Februar. Dann verglich ich das Bild mit dem Blick aus dem Fenster meiner Wohnung in der sechzehnten Etage des hochmodernen Apartmenthauses auf das alte und das moderne Beijing, um letztlich meistens fest zustellen, dass Überlieferung und Alltag übereinstimmten. (Die Wohnung befindet sich in Wirklichkeit zwei Etagen tiefer, aber die vierte und die vierzehnte Etage werden nicht gezählt, weil die Vier in China als Unglückszahl gilt.)

Die vierundzwanzig chinesischen Solarbegriffe wurden von der UNESCO zum immateriellen Kulturerbe erklärt. Insgesamt stehen sechsundfünfzig Stätten in dem Riesenreich auf der Welterbeliste, sechs davon befinden sich in Westchina. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich an einem meiner ersten Tage in Beijing in einer Buchhandlung einen Farbbildband mit Beschreibungen und Fotografien der Orte in China kaufte, die zum Welterbe gehören. Ein wahrer Glücksmoment!

Dieser Bildband war mein Impulsgeber beim Vorbereiten der Reisen, von denen ich nun erzählen will. Die Ordnung folgt dem chinesischen Sonnenkalender und den Feiertagen; die angegebenen Daten entsprechen dem jeweiligen Jahr meines Aufenthalts im Reich der Mitte.

Lichun, »Beginn des Frühlings«, 3. bis 5. Februar

Das chinesische Neujahrsfest richtet sich nach dem Sonnenkalender, wodurch das Datum alljährlich wechselt. Es ist das mit Abstand wichtigste Fest in China und wird im ganzen Land gefeiert. Die meisten Chinesen reisen an ihren Heimatort, um diese Zeit gemeinsam mit der Familie zu verbringen. Daher kommt es Touristen so vor, als wären die Metropolen des Landes menschenleer im Vergleich zu sonst.

Traditionell werden zum chinesischen neuen Jahr Dumplings, Maultaschen, mit klebrigem Reis gegessen und Geldgeschenke in roten Briefumschlägen an die Sprösslinge verteilt. Als wichtigen Bestandteil der Feierlichkeiten gab es früher viele Feuerwerke, die jedoch in den großen Städten wegen der Lärmbelästigung, der Luftverschmutzung und der Sicherheitsbedenken der Behörden zunehmend eingeschränkt werden.

Das chinesische Neujahr heißt auch Frühlingsfest. Am Ende der mehrtägigen Feierlichkeiten steht das Laternenfest. Es findet traditionell am fünfzehnten Tag des ersten Monats statt, meist im Februar. Viele Chinesen lassen zu diesem Anlass Laternen in den Himmel steigen, was auf eine jahrtausendealte Tradition zurückgeht. Buddhistische Mönche zündeten einst an diesem Tag Laternen in den Tempeln an. Der Han-Kaiser Ming entschied daraufhin, dass alle Haushalte und Tempel dem Brauch folgen sollten.

Lichun, »Beginn des Frühlings«, die Welt wird wieder lebendig

Das neue Jahr in Sichuan

Im Südwesten Chinas liegt das Land des Überflusses. So bezeichnen die Chinesen Sichuan, die Heimat der Pandabären. Mit einer Fläche von 485 000 Quadratkilometern – fast doppelt so groß wie Großbritannien – und circa 92 Millionen Einwohnern gehört Sichuan zu den vier bevölkerungsreichsten Provinzen Chinas. Es hat einzigartige Naturlandschaften und viele Zeugen einer mehr als 3500-jährigen Geschichte.

Sichuan erstreckt sich östlich des tibetischen Hochplateaus und wird durchflossen vom Jangtse, einem der drei Hauptflüsse Chinas. Über 6300 Kilometer lang ist er nicht nur der wasserreichste Fluss Chinas, sondern nach Amazonas und Nil auch der drittgrößte Fluss der Erde.

In vier Gebirgen Sichuans ist der Panda heimisch, eines der nationalen Symbole, er wird in Schutzzonen besonders gehegt. Die Provinzhauptstadt Chengdu ist mit ihren 15 Millionen Einwohnern der wichtigste Knotenpunkt im Westen Chinas. Die Regionen nahe Tibet gehörten früher zum Großtibetischen Reich. Daher leben in den kleineren autonomen Bezirken im Westen und Norden Sichuans, aber auch in Chengdu selbst viele Tibeter.

China mit einem Ausschnitt der Provinz Sichuan und der Reiseroute

China begrüßt das neue Jahr. Ganz Europa hat sich längst vom Rausch der Silvesternacht erholt, wenn hier das Neujahrs- oder Frühlingsfest stattfindet. Dazu hüllt sich das Land in Rot und Gold.

Das chinesische Silvester fällt stets auf einen Neumond zwischen dem 21. Januar und dem 21. Februar. In diesem Jahr, 2019, beginnt das Neujahrsfest am 4. Februar. Nun wird der Hund, der über das vergangene Jahr gewacht hat, von dem fleißigen, mitfühlenden und großzügigen Schwein als Tierkreiszeichen abgelöst. In China ist jedem Jahr eines von zwölfTieren mit seinen besonderen Eigenschaften zugeordnet. Im Jahr des Schweins geborene Zeitgenossen sind bei Freunden äußerst beliebt, vielleicht weil sie als sehr kommunikativ, pünktlich und zielstrebig gelten.

Doch das Wichtigste an Neujahr ist: Es wird wild, laut und bunt gefeiert. Die rote Glücksfarbe, das viele Gold, der Krach und der Lärm von Feuerwerken sollen das Monster Nian vertreiben, das immer in der Silvesternacht aus dem Tiefschlaf erwacht und auf der Suche nach Futter über alles Lebende herfällt.

Der Legende nach wohnte dieses Fabelwesen in den chinesischen Bergen. Doch das Monster, das als Ochse mit einem Drachenkopf in die Dörfer kam, fürchtete sich vor den Farben Rot und Gold. Darum dekorieren die Chinesen noch heute zu Silvester ihre Häuser und Wohnungen entsprechend. Um das Monster zu vertreiben, machen sie außerdem so viel Lärm wie möglich, am liebsten mit Feuerwerk.

Knallerei und Raketen haben eine lange Geschichte in China, wo fast achtundneunzig Prozent aller Feuerwerkskörper weltweit produziert werden. Doch im Mutterland der Pyrotechnik wird es immer schwieriger, diese Tradition zu pflegen, denn schon in mehr als vierhundert Städten ist das Geballer aus Angst vor Bränden und wegen der enormen Feinstaubbelastung behördlich verboten. Findige Tüftler haben deswegen Elektroknallkörper entwickelt, die zwar auch höllischen Lärm machen, aber eben keinen Feinstaub erzeugen.

Kein Weg zu weit

Das chinesische Neujahr ist das Familienfest schlechthin. Wer kann, macht sich auf den Weg zu seinen Wurzeln. Egal in welcher noch so entlegenen Ecke des Riesenreichs sich die Kinderstube befindet, die Menschen begeben sich auf die alljährliche Völkerwanderung, um dorthin zurückzukehren.

Traditionell hat das Frühlingsfest fünfzehn Feiertage. Heute nehmen sich Chinesen durchschnittlich fünf bis acht Tage frei. Drei davon spendiert der Staat als gesetzliche Feiertage, die restlichen Tage müssen eingearbeitet werden.

Spätestens am letzten Abend des Jahres versammelt sich zu Hause die ganze Familie am runden Drehtisch beim Festessen. Die Kinder erhalten rote Briefumschläge mit Geldgeschenken, die aber erst am nächsten Tag geöffnet werden dürfen. Kurz vor Mitternacht werden die Fenster geöffnet, damit das Glück einziehen kann. Man verlässt gemeinsam das Haus, um die Spuren des alten Jahres mit hinauszunehmen. Es gibt eine ganze Reihe weiterer glücksbringender Rituale.

Die Tickets für Zug und Flugzeug werden schon Wochen im Voraus gebucht und sind für bestimmte Strecken schnell ausverkauft. Wer keines ergattert hat, ist nicht zu beneiden, denn das öffentliche Leben steht für eine Woche komplett still. Dennoch ist Reisen auch

in dieser Zeit möglich. Für mich heißt es in diesem Jahr: auf nach Sichuan, zu den Pandas, ins Land des Überflusses. Die nächsten sieben Tage werde ich gemeinsam mit Gleichgesinnten aus Shanghai und Suzhou einen kleinen Flecken dieser traumhaften, sagenumwobenen Landschaft mit dem Reiseveranstalter meiner Wahl erkunden. Wir treffen uns in der Megacity Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan. Wer in China von dieser Metropole spricht, denkt sofort auch an Pandas, scharfes Essen, schlimmen Verkehr, die Leichtigkeit des Seins, Entspannung in Teehäusern und das beste Nachtleben Chinas.

Mit dem Air-China-Flug CA4114 geht es am Morgen von Beijing nach Chengdu. Die befürchteten endlos langen Warteschlangen von Reisenden bleiben mir heute erspart. Trotzdem heißt es, erst einmal für das Einchecken anzustehen. Das geschieht bei den Terminals von Air China nur noch im Dialog mit dem Computer.

Ein junger Chinese in Uniform und mit schwarzer Mundschutzmaske, die fast sein ganzes Gesicht bedeckt, kommt auf mich, dem einzigen Ausländer in der Schlange, zu. Er bietet mir in gebrochenem Englisch seine Hilfe bei der vollelektronischen Gepäckabfertigung an. Ich bin hocherfreut über so viel Aufmerksamkeit und Service, wundere mich nur etwas über seine bunten Hawaii-Schuhe zur Dienstkleidung.

Nach dem Einchecken schiebt er mich in eine Ecke der großen Abfertigungshalle und holt aus seiner Hosentasche ein dickes Bündel roter Geldscheine der chinesischen Währung Renminbi heraus. Für seine Hilfe will er von mir drei solche Scheine haben, das sind dreihundert Yuan (eine weitere Bezeichnung der chinesischen Währung bei einem festen Betrag), umgerechnet fast vierzig Euro. In diesem Moment bricht mein Kartenhaus von »null Kriminalität in China« in sich zusammen. Enttäuscht von so viel Dreistigkeit und ohne ihn zu bezahlen, lasse ich den Typen stehen.

Vom Airport geht es mit dem grün-weißen Taxi in das Hotel im Nordosten der Stadt. Der Taxifahrer Johnny spricht einige Brocken Englisch. Er erzählt mir von seinem Sohn, der ein großer Fan der Fußballer vom FC Bayern München ist und selbst Fußball spielt. Zweimal in der Woche bringt Johnny ihn mit dem Taxi zum Training und am Sonntag zum Punktspiel. Außerdem hat Johnny fünf Freundinnen, die alle seinen kräftigen Körper lieben. Das kostet alles viel, viel Geld. So will er von mir für die Fahrt zum Hotel einen Bonus, weil heute das chinesische Neujahr ist. Bereitwillig gebe ich ihm eine Banknote extra.

Vielgeliebte Stadt

Chengdu erwartet mich mit angenehm frühlingshaften Temperaturen. Es ist ein Gefühl, als hätte ich die Kälte des Beijinger Winters mit einem Mal hinter mir gelassen. Neue Energie steigt in mir auf und durchströmt mich von den Fußsohlen bis zu den Haarspitzen.

Das Flowers-Hotel in der Vorstadt ist eine einfache Herberge. Es steht in einer Neubausiedlung mit zwanzigstöckigen ockerfarbenen Plattenbauten. Die gemütlichen, alle etwas unterschiedlich eingerichteten Apartments liegen in der zehnten und zwölften Etage des Hochhauses. Hier oben ist nicht viel vom Straßenlärm zu hören, auch weil die Fenster sich nicht öffnen lassen. Der Ausblick auf die umliegenden Wohnhäuser ist einzigartig. Ich befinde mich in der Stadt, die weltweit am schnellsten wächst. Im Stadtgebiet von Chengdu und im Umland leben bereits mehr Menschen als in New York City.

Die Metropole hat mit ihren Pandas, Tempeln und den alten Vierteln im Zentrum zwar einiges zu bieten, doch der eigentliche Reiz dieser dreitausend Jahre alten Stadt liegt in der Entspanntheit ihrer Bewohner. Die Chinesen lieben Chengdu über alles, vor allem wegen des gemütlichen Alltags mit den vielen Teehäusern, in denen man eine ausgedehnte Mittagspause verbringt, bevor es zurück ins Büro geht. Wer einmal hierherkommt, so sagen meine chinesischen Kollegen, der wird diese Stadt nicht wieder verlassen wollen.

Am Abend möchte ich das historische Zentrum erkunden. Doch das ist schwieriger als gedacht. In den Flanierstraßen sind Häuser im Stil des alten Chinas entstanden, mit grauen Ziegeldächern und Innenhöfen hinter dicken rustikalen Holztüren, an denen rote Ballonlaternen baumeln. Es handelt sich jedoch durchweg um Neubauten im Retrodesign. Echte historische Gebäude gibt es nirgends mehr zu bewundern. Einem geschichtsinteressierten Touristen zerreißt es bei so viel Staffage womöglich das Herz, aber den Chinesen gefällt es.

Die Kuanzhai Alley mit den drei aufwendig rekonstruierten Straßenzügen ist das Aushängeschild der Stadt mit Läden für gehobenes Kunsthandwerk, Antiquitäten und Teezeremonien, mit Boutiquehotels, Restaurants, Cafés und kleinen Galerien. Ich sehe Einheimische und Touristen in Grüppchen gemütlich durch die engen Gassen schlendern und immer wieder an Ständen mit verschiedenen Fleischspießen stehen bleiben. Essen hat im Reich der Mitte eine so immense Bedeutung wie vielleicht nirgendwo sonst auf unserem Planeten. »Chi fan le ma?«, Hast du heute schon gegessen?, lautet entsprechend die übliche Begrüßung unter Chinesen.

Ein Paradies ist daher auch die Jinli Street, auf der es bis spätnachts verschiedene Snacks zum Probieren gibt. Die leckere Suppe mit den langen Nudeln, die von Hand gezogen und kunstvoll im hohen Bogen in den Suppentopf befördert werden, ist nur eine der lokalen Köstlichkeiten.

Ein paar Meter weiter beobachte ich minutenlang das Handwerk eines Meisters, der mit feinen Pinzetten, Bürsten und einer Stirnlampe die filigranen Gehörgänge von mutigen Passanten putzt. Eine Art Stimmgabel soll dabei die Nerven im Ohr durch Schwingungen massieren, wonach die Kunden angeblich süchtig werden, wie ich später erfahre. Ein außergewöhnliches Schauspiel, dargeboten auf einem mobilen Behandlungsstuhl in der Fußgängerzone.

Die meisten Touristen kaufen sich in einem der Souvenirläden bunte Masken, deren Originale in der Sichuan-Oper in Chengdu zum Einsatz kommen. Diese dreihundert Jahre alte Variante der chinesischen Oper durfte ich schon während meines ersten kurzen Aufenthalts in der Stadt live erleben. Bei der Sichuan-Oper wird in einer sehr hohen Tonlage gesungen. Die Darsteller bringen Gefühlsänderungen durch Farbpulver oder Masken aus Papier beziehungsweise wie in Chengdu aus Seide zum Ausdruck. Für den Zuschauer nicht nachvollziehbar wechseln sie auf der Bühne in zwanzig Sekunden bis zu zehn Masken, deren Muster und Farben die einzelnen Rollen und die Handlung unterstreichen. Vor Beginn der Aufführung werden die Seidenmasken auf das Gesicht geklebt, jede hängt an einem versteckten Faden, an dem der Darsteller während der verschiedenen Szenen zieht. Nur etwa zweihundert Künstler beherrschen diesen Maskenwechsel noch. Ein unvergessliches Erlebnis!

Das Reich der Pandas

Am Morgen treffe ich beim Frühstück im Hotel auf meine Mitreisenden. Eine Gruppe entspannt wirkender Leute mit einem peruanischen, irischen sowie einigen französischen, amerikanischen und chinesischen Pässen. Uns verbindet die gemeinsame mehrtägige Reise, die bei einem traditionellen chinesischen Frühstück mit gekochtem Gemüse, Ei und den weißen Dampfbrötchen aus Weizen mit oder ohne Fleischfüllung beginnt. Dazu gibt es, wie üblich in den Hotels, die hauptsächlich Chinesen beherbergen, den zuckersüßen Instantkaffee. Unsere Reiseleiterin ist die junge Chinesin Valerie mit ihrem einnehmenden Lächeln und der aufgeschlossenen Art, die nebenberuflich Erlebnisreisen für Gruppen begleitet. Im normalen Büroalltag arbeitet sie als Einkäuferin für eine chinesische Firma, die Elektronikbauteile für die Automobilfirmen herstellt.

Der Bus bringt uns vom Hotel zu der ersten Station unserer Reise, dem Wolong-Naturreservat. Das Areal etwa hundert Kilometer nordwestlich von Chengdu ist das wichtigste Rückzugsgebiet der dort noch frei lebenden Pandas und wurde 2006 von der UNESCO in die Liste der Weltnaturerbestätten aufgenommen.

Während sich die Provinzhauptstadt mit einem modernen Antlitz präsentiert, ist die Gegend entlang der Nationalstraße 213 durch nebelverhangene Berge, ursprüngliche Natur und landwirtschaftlich genutzte Flächen gekennzeichnet. Ich sitze im Bus mit Ausblick auf die vorbeiziehenden beeindruckenden Panoramen neben Andrew. Er ist als Englischlehrer für etwas mehr als ein Jahr von Kalifornien nach China gekommen, um Chinesen im Alter zwischen drei und dreizehn Jahren seine Sprache beizubringen. Im Auswendiglernen sind die jungen wissbegierigen Einheimischen wahre Weltmeister, doch in der täglichen praktischen Anwendung des Gelernten fordern sie Andrew viel Geduld ab, wie er sagt. Ich denke dabei unwillkürlich an Sisi, eine Chinesin, die an einer Universität in England erfolgreich ihren Master abgeschlossen hatte, bevor sie für sechs Monate in unserer Gruppe im Entwicklungszentrum in Beijing als Praktikantin arbeitete. Trotz ihrer Ausbildung und der hervorragenden Zeugnisnoten war sie nicht imstande, einen Entwurf für einen im Rücksitz des Autos integrierten kleinen Tisch zu erstellen. Eines Tages kam sie zu mir und sagte, sie sei Chinesin und benötige für die Bearbeitung klar umschriebene Aufgaben mit einem Anfang und einem Ende. Alles andere gehe leider nicht.

Das Etappenziel der Busfahrt ist das Panda-Zentrum, das komplett neu erbaut und gestaltet wurde, nachdem das alte Zentrum beim großen Erdbeben 2008 in Trümmer gefallen war. Das Naturreservat Wolong erstreckt sich über zweitausend Quadratkilometer Bergwald und wurde vor allem zum Schutz der Pandabären eingerichtet, von deren gesamter Wildpopulation etwa zehn Prozent hier, im Königreich der Pandas, leben. Verschiedene Zuchtprogramme in den letzten Jahren haben dazu geführt, dass wir bei unserem Besuch etwa zweiundsechzig große und kleine Pandas bei ihrem stressfreien Alltag in den einzelnen Gehegen des Zentrums dabei beobachten können, wie sie Unmengen an Bambus in sich hineinstopfen. Täglich bis zu achtunddreißig Kilogramm vertilgt und verdaut ein ausgewachsener Panda. Die Nahrungsaufnahme ist für die Bären eine anstrengende Vollzeitbeschäftigung. Für mehr als zum Fressen und Schlafen reicht der Pandatag nicht.

Es ist ein kalter sonniger Morgen, als wir durch das moderne Eingangstor treten, auf dem in Englisch und Chinesisch mit weißen Lettern der Name des Parks steht. Die Bäume auf den Anhöhen ringsum haben ihre Blätter längst verloren. Das Sonnenlicht erschafft im Kontrast zu dem wolkenlosen blauen Himmel und dem Braunton der kahlen Bäume eine einzigartige Atmosphäre. In der ruhigen Wasseroberfläche des künstlich angelegten Sees im Eingangsbereich spiegelt sich die imposante Bergwelt wider. Von hier aus habe ich eine fantastische Sicht auf das Tal der Balang-Berge, durch das wir mit dem Bus herauf zum Wolong-Park gekommen sind.

Als ich die ersten Pandas zu Gesicht bekomme, bin ich beeindruckt. Wie aus einem Kinderbuch entsprungen, schauen sie fast traurig drein, mit schwarzen Augen und Plüschohren. So verspielt und zutraulich. Kaum zu glauben, dass diese arglosen Tiere in der freien Wildbahn überleben können. Da die Bären mit dem dichten wolligen weißen Fell und den schwarzen Beinen Einzelgänger sind, leben sie jeweils allein in relativ großen Gehegen. Nur zur Paarung werden männliche und weibliche Tiere zusammengebracht. Die drolligen, knuffigen Pandababys leben dann mit ihrer Pandamutter zusammen, bis sie bereit sind, inmitten der angrenzenden Bergwelt außerhalb des Zentrums ihrer eigenen Wege zu gehen.

Manche der Pandabären in dem Wildgehege warten vielleicht auf ihre Reise in die weite Welt. Denn Pandas »made in China« sind international gefragt und für den Staat eine profitable Einnahmequelle. Als Leasingobjekte werden die Bären paarweise an Tierparks für etwa eine Million Dollar pro Jahr für fünfzehn Jahre vermietet, um anschließend in den Wolong-Park zurückzukehren. Etwa fünfzig Pandas leben außerhalb Chinas in den Zoos dieser Welt. Falls Nachkommen in den ausländischen Gehegen geboren werden, erhalten die Pandababys zwingend einen chinesischen Namen und gehen automatisch in das Eigentum des chinesischen Staats über. Ein lukratives Geschäft im Namen des Artenschutzes, gefördert vom World Wide Fund For Nature als der größten internationalen Organisation für Umweltschutz, deren Wappentier der Große Panda ist.

Die Alpen des Ostens

Die Weiterfahrt mit dem Kleinbus gestaltet sich abenteuerlich. Unser Gefährt schraubt sich auf einer engen Passstraße entlang eines Gebirgsflusses hin- und herwackelnd immer weiter hinauf und muss dabei den Gesteinsbrocken am Straßenrand ausweichen, die von den nahen Berghängen abgerutscht sind. Es geht bis auf 4500 Meter, dem höchsten Punkt des Balang-Passes.

Unser Fahrer stoppt an der Aussichtsplattform mit den markanten Felsen als Hintergrund für Erinnerungsfotos. Der Ausblick in die endlose Weite mit dem hellblauen Himmel und den weißen Wölkchen ist traumhaft. Ich stelle mir das grandiose Naturschauspiel vor, wenn im Morgengrauen hier die Wolken als »sea of clouds« dahinziehen. Aber auch jetzt bietet sich von der Passhöhe ein atemberaubender Blick auf die schneebedeckten Siguniang-Berge. Tibetische Bauern verkaufen an fliegenden Ständen als Snacks regionale Köstlichkeiten, die alle gesund erhalten und machen sollen und dabei auch noch gut schmecken. Toiletten gibt es auch – sie sind allerdings nur nach einer kleinen Kletterei am Berghang zu erreichen und entpuppen sich als Löcher im Boden hinter ein paar Betonplatten mit Fensteröffnungen ohne Glas.

Bald darauf sitzen wir wieder im warmen Bus, der auf der asphaltierten Straße mit fast gleichbleibender Geschwindigkeit dahinfährt. Entlang der Strecke wechseln sich blaue Hinweisschilder mit bunten tibetischen Fahnenmeeren ab, bevor es in einen der kilometerlangen Tunnel geht, die aussehen, als wären sie erst kurz vor unserer Durchfahrt eröffnet worden. Wieder einmal staune ich, wie in China selbst die entlegensten Gebiete eine perfekt ausgebaute Infrastruktur aufweisen. An vielen Stellen wird die Straße zu einem Nadelöhr. Die Seiten sind nicht durch Leitplanken begrenzt, doch unser Busfahrer meistert die unzähligen Haarnadelkurven geschickt, auch wenn uns schnell fahrende Lastwagen im ungünstigsten Moment hupend entgegenkommen.