6,99 €
Nach mehreren Versuchen, sich einer kranken Gesellschaft anzupassen, muss Carolin Hartmann aufgrund ihrer fortschreitenden Nervenerkrankung innehalten und schließlich ihren eigenen Weg gehen. Als sie bereits auf den Rollstuhl angewiesen ist, beendet sie ihre Arbeit als Juristin und begibt sich auf einen spirituellen Pfad, der ihr die Vereinigung von Körper, Geist und Seele erlaubt. Anstelle von Leere und Taubheit nimmt sie wieder ihre Verletzlichkeit wahr, was sie mit schlagendem Herzen schließlich leben und lieben lässt. Vordergründig erzählt die Autobiografie die Geschichte von Carolin Hartmann, die schließlich ihrer inneren Stimme folgend, aus der Enge gesellschaftlicher Erwartungen in ungeahnte Freiheit flieht. Allgemein handelt die Geschichte von der Schwierigkeit loszulassen und sich dem Leben widerstandslos hinzugeben, um sein persönliches Potenzial finden und entfalten zu können. Es geht um den Mut, den es bedarf, die Kontrolle zu verlieren, um seine eigene Realität erschaffen zu können. Die innere Stimme Carolins, die sich erst durch die Krankheit ausdrücken und Gehör verschaffen konnte, führt sie durch Gefühle von Ohnmacht, Einsamkeit und Isolation schließlich zu Verantwortung, Respekt und Liebe dem Leben gegenüber.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2021
Carolin Hartmann
Goldregen
Eine Liebeserklärung an die Freiheit
Copyright: © 2021 Carolin Hartmann
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag: Laura Piccolo & Matilde Ruiz Fraile
Foto: Guido Woller
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-34691-8 (Paperback)
978-3-347-34692-5 (Hardcover)
978-3-347-34693-2 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Ich möchte das Buch allen widmen, die einen Traum haben, und sie ermutigen, ihn zu leben!Es gibt keine Grenzen, nur die eigene Angst, die wir dazu besiegen müssen.
„Alles ist möglich!“
Inhalt
Vorwort
Goldregen
Die Suche nach meinem Weg
Krankheit und Illusion
Herz und Stolz
Coming-out
Tessa und die wunderschöne Natur
Behinderung, Disziplin und die Träume anderer
Entspannung
Erfüllende Herausforderungen
Der Beginn der Rollstuhl-Ära
Mein Fels in der Brandung
Unermüdliches Durchhaltevermögen
Die Paradiesvögel
Die magische To-do-Liste
Identitätskrise
Versuch der Selbstverwirklichung
Yoga
Krokodil und Sirenita
Volle Hingabe
Etwas erwacht
Widerstände
Spirituelles Wachstum
Seelenfrieden
Geschenk des Universums
Alles oder Nichts
Nichts
Desillusionierung und der künstlich angelegte Teich
Einsturz meiner Lebenskonstruktion
Bioenergie, Sizilien und natürlicher Neuanfang
Kunst
Tanz
Musik
Abschied
Alles neu
Herz
Stimme
Buddhismus
Fundamentale Dunkelheit
Karma
„Versuche nicht, normal zu sein!“
Beschränkte Schulmedizin und das Mütter-Töchter-Muster
Körper und Geist
„Verlier nicht deine Macht!“
Entmündigung
Eigensinnigkeit
Zwischen Himmel und Erde
Eigenverantwortung
Arschbombe ins Leben
Entschlossenheit-und was kommt kommt
Lehn dich zurück und schau zu!
Die Arbeit auf dem Boden der Tatsachen
Brain Operation
Konzentration
Vorwort
Im Sommer 2006 habe ich bei einem Kuraufenthhalt meine Lebensgeschichte niedergeschrieben und mich dabei wohl erstmals in einen transpersonalen Zustand versetzt. Mit „transpersonalem Zustand“ meine ich einen Zustand, der mir erlaubte, mich wie ein Objekt zu erforschen, anstatt mich mit meinen Gefühlen zu identifizieren und blind triggern zu lassen. Ich nahm meine Brille, die mein Leben persönlich einfärbte und durch psychologische Filter eine Selektion meiner Wahrheit erstellte, einfach ab und stellte mich meiner Realität.
Ich schrieb mir regelrecht die Seele aus dem Leib, als ich mir mich vorstellte und meine Geschichte mit mir teilte. Beim Schreiben wollte ich ursprünglich der Frage nachgehen, wer oder was Carolin Hartmann sei. Ich wollte sie begreifen, um sie zu befreien und unter optimalen Lebensumständen ihr volles Potenzial entfalten zu lassen. Ich träumte von körperlicher Heilung, wie sie mir meine Intuition bereits in jungen Jahren zugeflüstert hatte. Darauf wartend, zögerte ich das Ende und damit die Veröffentlichung meines Buches mehr und mehr hinaus. Doch im Laufe meines Schreibprozesses, der sich über mehr als ein Jahrzehnt erstreckte, liess ich los.
Mehr und mehr wandte ich mich der Heilung meiner Wunden zu. Noch immer fühle ich zeitweise tiefen Schmerz, der mich das Leben sabotieren lassen will und mir eine dunkle Zukunft prophezeit. Trotz größtem Bemühen kann ich diesen Schmerz nicht dauerhaft auflösen, aber ich habe gelernt ihn anzunehmen. Manchmal fühle ich ihn, jedoch löscht er nicht mehr alles andere aus. Ich halte mich dann an Dingen fest, die ich liebe und die mich wachsen lassen.
Es ist die Begeisterung, Freude und Energie, die kommen und gehen, aber was immer da ist, ist die Möglichkeit zu wachsen.
Während ich also zu Beginn des Schreibprozesses ohnmächtig auf ein Wunder, nämlich meine körperliche Heilung wartete, habe ich nun begriffen, dass es meine Lebensaufgabe ist, meine Einstellung dazu zu verändern. Ich habe die Macht, einige Dinge in meinem Leben für mich so zu gestalten, wie es mich erfüllt und glücklich macht. Dabei muss ich mich ehrlich wahrnehmen, meine Bedürfnisse kennen und fühlen, wofür mein Herz schlägt, anstatt meinem Ego blind die Führung zu überlassen. Mein Ego neigt dazu, fremden Erwartungen gerecht zu werden und dabei die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. Es spaltet sich dazu vom Herzen ab, anstatt mit gehobenem Haupt im Namen der Liebe in den Krieg zu ziehen.
Alle verkopften Träume und Vorstellungen, die ich von meinem Leben hatte und die mein Herz zubetoniert haben, habe ich nun losgelassen, damit es wieder frei schlagen kann!
„Nature’s plans are better than yours!“, wurde ich in Indien gelehrt.
Mit vollem Bewusstsein will ich nun all meinen Ängsten begegnen, sie annehmen, anstatt vor ihnen wegzulaufen und so an ihnen wachsen.
Meine größte Angst ist, von meiner gewaltigen Krankheit besiegt zu werden, während sie meinen „starken Willen“ höhnisch auslacht. Jahrelang zwang mich mein starker Wille, vor der Krankheit wegzulaufen, um mich nicht von ihr kleinkriegen zu lassen. Die Krankheit war immer der böse Feind, der mich durch Stürze in die Knie zwang, mir spontan meine Stimme nahm, mich lallen und Schlangenlinien fahren ließ wie eine nichtzurechnungsfähige Besoffene, mich in Angstzustände isolierte und mir das Gefühl gab, nicht genug Zeit zu haben, um frei zu sein. Jahrelang führte ich einen Kampf gegen die Krankheit, indem ich sie unterdrückte und ihr keinen Raum in meinem Leben geben wollte.
Nun bin ich mutig und bleibe endlich stehen, um von dieser mächtigen Naturgewalt zu lernen. Ich will nun endlich ihre Botschaft verstehen, in mein Leben integrieren und ihr mit meiner Kunst Ausdruck sowie Gehör verleihen.
Sie wird mich wachsen lassen.
Das Buch erzählt meine persönliche Lebensgeschichte, meine Verhaftungen und Dramen aus vergangenen Tagen. Ich habe sie längst hinter mir gelassen und mache jetzt neue Fehler.
Dennoch bereue ich gar nichts, denn die Vergangenheit hat mich zu genau der jungen optimistischen Frau gemacht, die ich heute bin.
Nam-myoho-renge-kyo.
Der Tanz des Lebens findet genau in dem Moment statt, wenn aus der, die du einmal warst, die wird, die du jetzt bist.
Barbara de Angelis
Goldregen
Ich fing bereits in meiner Kindheit damit an, Menschen zu segnen.
Mit diesem Satz möchte ich nichts behaupten, was über meinen subjektiven, damals kindlichen Horizont hinausgehen könnte. Was ich vielmehr damit behaupten möchte ist, dass ich mir bereits als kleines Mädchen mithilfe meiner großen Vorstellungskraft, meine eigene kleine Welt erschuf. Ich erzählte niemandem davon. Dieser Teil von mir, wollte nicht durch menschlichen Verstand erfasst und rationalisiert werden. In meiner Welt war ich ein kleiner Engel und als rechte Hand Gottes mit Superkräften auf die Erde geschickt worden.
Anfangs waren es stets Mütter mit Kinderwagen, die mir begegneten. Erblickte ich dann ein forderndes wundervolles Babygesicht, scheinbar aus einer anderen Dimension, so wollte ich ihm mit allem, was in meiner Macht stand, viel Glück für sein Leben wünschen. Dabei stellte ich mir vor, wie sich der Himmel öffnete und Gold über das Kind regnete. Der Goldregen strömte durch den Kopf in die Wirbelsäule und breitete sich danach im ganzen Körper aus. Oft lächelten mich die Kinder dann an, was mein Herz erwärmte und diese nonverbale Kommunikation zu einem liebevollen Abschluss brachte. Ich war mir sicher, dass die Kinder noch nicht so grobstofflich fixiert waren wie die Erwachsenen und daher noch rein genug für diese feinstoffliche Wahrnehmung. Sie schienen noch übersinnliche Antennen zu haben und daher meine, mit Vorstellungskraft gebündelte, Herzensenergie wahrnehmen zu können.
Später waren es dann auch Erwachsene, ältere oder kranke Menschen, die hilfsbedürftig waren. Diese absolute Konzentration auf die Liebe führte immer zu einem unglaublichen Hoch an Glücksgefühlen. Mit der Mission, die Erde ein Stück heiler zu machen, war ich dann kurz in einer anderen Welt.
Ich war davon überzeugt, dass der vorgestellte himmlische Goldregen ein göttlicher Segen war, der sich durch meine Meditation und Visualisierung irdisch manifestieren konnte.
Anfangs segnete ich stets Fremde, deren Geschichte ich nicht kannte, sondern zu denen ich lediglich intuitiv eine Verbindung empfand. Dies geschah dann meist an der Bushaltestelle, im Bus oder in Geschäften. Mit der Zeit beglückte ich dann auch meine Familie und Freunde. Das Schöne dabei war, dass ich bei mir nahe-stehenden Personen die segensreiche Wirkung quasi bezeugen konnte. Ich sah alle meine Freunde und Familienmitglieder hinfallen und an einer scheinbar unverrückbaren Tatsache verzweifeln, doch immer wieder sah ich sie kraftvoller denn je wieder aufstehen. Jede Krise und jede Träne, garniert mit etwas übersinnlichem Goldregen, machte sie stärker und schöner. Nur so konnte ich ihren Schmerz fühlen und aushalten, indem ich dabei den Goldregen über ihrem Kopf beobachtete, der in sie strömen und sie reparieren würde.
In meinen frühen Zwanzigern versuchte ich erstmals, meinen Goldregen mit Intention einzusetzen. Anstatt mich dem Universum mit bedingungsloser Liebe zur Verfügung zu stellen, fing ich an, etwas zu erwarten und den Goldregen so gewissermaßen manipulativ einzusetzen. So versuchte ich Gold unter anderem über Objekte regnen zu lassen und dabei meinem menschlichen Trieb zu folgen. Ohne Intuition und göttliche Verbindung. Sowohl Hausarbeiten, Bewerbungen, Lottoscheine zeigten sich völlig resistent für meine Versuche der magischen Manipulation. Was blieb waren auch keine Hochgefühle, sondern ein Nachgeschmack der weltlichen Ohnmacht und einer beschämenden Obsession, die mir zeigte, wie unfrei und verhaftet ich war.
Ähnlich war es dann auch, wenn ich attraktive Männer für mich gewinnen wollte und zu schüchtern und unsicher war, mich irgendwie mit Körper und Stimme anzunähern. Dann versuchte ich lieber auf astraler Ebene ihre Seele zu bezirzen. Zu diesem Zwecke ließ ich Gold über sie regnen in der Hoffnung, dass sie dann meine Nähe suchen würden. Dies schlug jedoch völlig fehl, denn diese, zwar unglaublich liebevolle Energie taugte nicht, um einen Körper zu einer Handlung zu motivieren. Um einen Körper zu lieben, musste ich diese Liebe mit meinem Körper ausdrücken. Ich musste den Goldregen übersetzen und in die materielle Welt holen. Also machte ich genau dies zu meiner Lebensaufgabe. Ich wollte von nun an nicht mehr in eine andere Welt reisen mit der Mission, die Erde ein Stück heiler zu machen, sondern vor Ort mit dem arbeiten, was ich hier in dieser irdischen Begrenzung vorfand.
Mit Körper, Stimme, Herz und Disziplin beschloss ich nun voller Hingabe für die Freisetzung universeller, bedingungsloser Liebe zu arbeiten, denn dies schien die beste Übersetzung des Goldregens zu sein.
Die Suche nach meinem Weg
Was machte denn eine Behinderung zu einer solchen in unseren Augen?
Die Tatsache, den Alltag, in irgendeiner Art und Weise, schlechter oder langsamer bewältigen zu können. Fraglich war jedoch, ob der Sinn des Lebens wirklich im stupiden Alltagsbewältigen lag.
Warum hatten wir dann ein Gehirn und handelten nicht instinktiv? Ich war überzeugt, der Sinn des Lebens war ein anderer, den nur jeder Mensch allein für sich entdecken konnte.
Die Bezeichnung „behindert“ hingegen, ging fälschlicherweise von einem objektiven Maßstab aus und stellte dabei folgerichtig auf einen Mangel ab. Genauso wären wir in den Augen der Vögel „behindert“, weil wir nicht fliegen konnten. Die Natur hatte dies aber für uns Menschen nicht vorgesehen und für manche von uns eben auch nicht Gehen, Sehen oder Hören. Folglich verlangte die Natur vom Menschen lediglich Flexibilität, um seinen individuellen Maßstab zu finden und sich nicht mit den menschlichen Standards zu vergleichen.
Um mich von meiner „Behinderung“ zu befreien, brauchte ich also nur natürliches Selbstbewusstsein, das es mir erlaubte mich außerhalb des gesellschaftlichen Zusammenhangs als vollkommenes Individuum wahrzunehmen. Dann war ich frei.
Liebe Leserin, lieber Leser,
doch nun der Reihe nach: Mein Name ist Carolin Hartmann. Ich bin sozusagen Carolin Hartmann wie Elisabeth Schmitt Elisabeth Schmitt ist. Ungefähr bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr war ich weder vom Schicksal gnadenlos gebeutelt, noch meinte es Fortuna mit mir auffallend gut. Ich glaubte mich bis dahin manchmal einfach vom Leben vergessen. Während viele meiner Freunde etwas besonders gut konnten, empfand ich mich als rundum durchschnittlich. Einige meiner Freundinnen waren sehr sportlich und trainierten für das Kunstturnen zwei-bis dreimal wöchentlich. Bei der alljährlichen Weihnachtsfeier des Turnerbundes sah ich den Mädels dann mit Bewunderung zu. Nachdem sie sich aufgewärmt und auf spektakuläre Weise gedehnt hatten, performten sie dann in schönen Kostümen und strahlten dabei ein für mich einschüchterndes Selbstbewusstsein aus.
Wie gerne wollte ich auch eine dieser begabten, stolzen Turnerinnen sein, die sich mit Leichtigkeit und Grazie auf dem Schwebebalken mehrmals überschlugen und die Schwerkraft dabei lächelnd besiegten.
Ich hingegen war nicht völlig untätig, sondern spielte halt vielmehr in der zweiten Liga. Meine Gruppe war sozusagen für alle „Dabeisein ist alles“-Turnerinnen und auch ohne Teilnahmebeschränkung möglich. Wir performten auf Hits, die von ihren Interpreten bereits ein Jahr später am liebsten geleugnet worden wären. Auch unser Styling war im Gegensatz zu den Kunstturnerinnen mehr als einfach gehalten. Schaffte es dann doch noch jemand aus unserer Gruppe (trotz primitiven Stylings und fieser musikalischer Untermalung) Ausstrahlung zu haben, wurde er sofort ausgewählt, befördert und durfte sich von nun an „Kunstturnerin“ nennen.
Diese Selektion aller Sternchen am Himmel unserer Turngruppe fand regelmäßig in meinem Beisein statt. Jedoch war ich nie traurig, nicht dabei gewesen zu sein. Hochmotiviert entschloss ich mich jedes Mal, mich von nun an mehr anzustrengen. So war es immer gewesen. Je aussichtsloser die Lage war, umso größer meine Motivation diesen weiten Weg zu meistern. Denn je steiler und härter der Weg war, umso erstrebenswerter war der wundersame Erfolg, der am Ende einen solchen Weg belohnte. So blendete ich den gegenwärtigen Misserfolg aus, der mir die jetzige Realität unverblümt vor Augen hielt, indem ich meine Zukunft als erfolgreiche Turnerin visualisierte. Dieser Traum wiederum gab mir Kraft weiter zu trainieren und segnete mich mit unermüdlichem Durchhaltevermögen.
Mit dieser Einstellung konnte mich schon als Kind keine Niederlage desillusionieren, denn mit jeder Niederlage entstand eine neue Option erfolgreich zu werden, wenn ich den genannten harten, steilen Weg gehen würde. Jedoch muss ich wohl schon immer gewusst haben, dass ich nur dann ausreichend motiviert sein würde, den gewünschten Erfolg zu erreichen, wenn ich genau wüsste welcher der vielen Wege wohl meiner wäre. Es sollte nicht der Naheliegendste sein, sondern genau der Weg, der meine Qualitäten beanspruchen und sie auch bis zu ihrem Maximum erschöpfen sollte. Mein ganz persönlicher individueller Weg, der auf mich zugeschneidert sein sollte. Er sollte dabei mehr als nur vorhandene Fähigkeiten abverlangen und mich so über mich hinaus wachsen lassen.
Da das Turnen jedoch selbst bei genauester Betrachtung und größtem Willen meinerseits keinerlei versteckte Fähigkeiten in mir zum Ausdruck brachte, beschloss ich nach einigen Jahren meine Energie nicht darin verpuffen zu lassen einen Weg einzuschlagen, der ganz offensichtlich nicht der meine war.
Ich wusste immer, dass ich keinesfalls schlechter war als die anderen, nur eben anders. Mir war klar, dass ich durch dieses Anderssein benachteiligt wäre, wenn ich die Suche nach meiner Welt aufgeben würde. Ich hatte nun genau zwei Möglichkeiten: Ich konnte mein Anderssein durch Anpassung verkümmern lassen, indem ich einfach das tun sollte, was die Gesellschaft für mich vorgesehen hatte und so die Suche nach meinem Weg aufgeben. Dann wäre ich durch dieses „Anderssein“ lediglich benachteiligt. Die zweite Möglichkeit bestand darin, meinen Weg weiter zu suchen und darauf zu vertrauen, dass ich ihn finden und hochmotiviert meistern würde. Nur so hätte ich die Möglichkeit, mein Anderssein in einen Vorteil umzuwandeln und schließlich als Besonderheit pflegen zu können.
So befand ich mich also mit ungefähr 12 Jahren auf der Suche nach meinem Weg aus der inneren Einsamkeit und Isolation. Diese Suche fand jedoch ausschließlich in meinem Kopf statt. Nie erzählte ich von meinem Kummer, sondern immer ermutigte und tröstete ich meine Schulfreunde. Ich war gut in der Schule, stets fleißig, zuvorkommend und passte mich meiner Umgebung restlos an. Meine trockene, humorvolle Art schenkte mir stets einen kleinen feinen Kontrast, den man sehr schätzte. Nie hatte ich jedoch wirklich enge Freunde, die ich nah an mich herangelassen hätte. Vielmehr hatte ich viele unterschiedliche Bekannte, die nur eine Sache gemeinsam hatten und – zwar mich. Ich besuchte das Gymnasium in einer nahegelegenen Kleinstadt und hatte so viele Schulfreunde, die mich auf meiner Suche nach meinem Weg inspirierten. Des Weiteren waren da noch die Freunde, die in meiner Straße, dem „Goethering“ wohnten und mit denen ich aufwachsen durfte. Von diesen vier„Goetheringer Mädels“, wie meine Mutter uns nannte, war ich mit zwei Jahren Abstand die Jüngste. Ich war sozusagen das Küken und so hatte ich auch einen besonderen Status. Mir wurde beispielsweise erst Wochen später von den Mädels gebeichtet, dass sie heimlich am Hühnerstall eine Zigarette geraucht hatten.
Auch sonst hinkte ich den „Goetheringer Mädels“ in meiner Entwicklung extrem nach: die Mädchen gingen schon lange aus und hatten Sex, während ich meine Teenagerjahre auch an den Wochenenden noch mit meinen Eltern zuhause verbrachte. Zwar hatte ich auch schon wie andere Teenager Sehnsüchte, jedoch hatte ich Angst davor rauszugehen und der unberechenbaren, ernüchternden Realität zu begegnen. Ich bevorzugte die Sicherheit der mich liebenden Atmosphäre und träumte lieber von einer zukünftigen Party, auf der ich wunderschön aussehen würde und mir alle Jungs zu Füßen liegen sollten. Mit der festen inneren Überzeugung, dass mir ein solcher Abend zukünftig bevorstehen würde, genoss ich die gemütlichen Fernsehabende im Pyjama mit meinen Eltern, die ich noch nicht zu entbehren bereit war.
Schließlich wurde mein Bekanntenkreis durch die Musiker der „Moorbachtaler Blasmusik“ vervollständigt. Mit acht Jahren hatte ich angefangen Klarinette zu lernen und war dem genannten Verein beigetreten. Mit großer Nervosität und manchmal Bauchschmerzen brachten mich meine Eltern zweimal die Woche zur Orchesterprobe beziehungsweise zum Klarinetteneinzelunterricht. Der Einzelunterricht fand bei einem Vollblutmusiker statt, der bereits mindestens 60 Jahre alt war, aber von seinem frischen Geiste sein Alter nicht verriet. Obwohl mir die nötige Leidenschaft für mein Instrument fehlte, um den musikalischen Weg einzuschlagen, den mein Lehrer wohl gewählt hatte, packte ich des Öfteren nach dem Unterricht meine Klarinette in ihr Köfferchen und beschloss, von nun an täglich zu üben. Wie gerne wollte ich meinen Lehrer stolz machen. Seine Leidenschaft inspirierte mich. Ich bewunderte ihn für seine Entschlossenheit, die ihn nie daran zweifeln ließ, ob es sinnvoll war, mehr als sein halbes Leben damit zu verbringen, in ein Holzrohr zu blasen und Laute zu erzeugen. Zwar war dies genau das, was ich eben auch suchte, nämlich die Überzeugung, dass etwas Sinn machte, alles andere damit ausblendete und dem man sich mit Haut und Haaren hingab. Jedoch war dies der Weg meines Klarinettenlehrers und nicht der meine. Das musste ich immer dann feststellen, wenn ich erst eine Woche später, bei Unterrichtsbeginn meine Klarinette wieder unbenutzt aus ihrem Köfferchen holte.
Die Orchesterproben sollten hingegen von der puren Konzentration auf sich und sein Instrument ablenken und durch gemeinsames Musizieren die Geselligkeit fördern und den Spaßfaktor erhöhen. Bei den meisten funktionierte diese Methode. Sie rissen sich sogar regelrecht darum Ämter wie Notenwart, Satzführer oder Ähnliches zu übernehmen, die zwar ehrenamtlich ausgeübt wurden, jedoch vereinsintern mit einer gehörigen Portion Wichtigkeit belohnt wurden. Diese Wichtigkeit bestätigte einige dann derart in ihrem Glauben an eine musikalische Prädestination, dass sie immer fleißiger übten und das Orchester immer mehr dominierten. Ich und einige andere Unentschlossene fühlten uns durch diese Tyrannei der Notenwarte und Satzführer, die unseren Reihen entsprungen waren, derart unter Druck gesetzt, dass mir nach zehn Jahren endlich klar wurde, dass ich mich entscheiden musste. Ich hatte zwei Optionen, die mich wachsen lassen und glücklich machen sollten. Einerseits konnte ich „Ja zur Musik“ sagen und diesem Hobby eine etwas höhere Priorität einräumen, anstatt weiterhin als zweitklassige Musikerin nach dem Motto „es kann nicht nur Häuptlinge geben“ in Unwichtigkeit und fehlender Wertschätzung meine Zeit zu vergeuden. Oder aber ich konnte das Leben einer Musikerin mit dem einer Kunstturnerin vergleichen, dieser Erfahrung dankbar sein und der Blasmusik den Rücken kehren.
Diese Entscheidung machte ich mir nicht leicht, da ich bereits in frühester Kindheit gelernt hatte, dass man das zu Ende bringen sollte, was man einmal angefangen hatte. So zwang ich mich auch wöchentlich den Kirchenchor zu besuchen, obwohl ich zu keinem Zeitpunkt irgendeinen Ton traf noch in irgendeiner Weise wirklich Spaß an diesem Hobby hatte.
Einfach aus dem Verein auszutreten, erinnerte mich nicht an persönliche Freiheit, sondern vor allem an Schwäche, niedere Frustrationstoleranz und Resignation. Alle aus meinem Dorf, die nicht gerade zu den Punks am Dorfbrunnen zählten, spielten entweder Fußball oder bei der „Moorbachtaler Blasmusik“ ein Instrument. Manche überehrgeizige Jungs in meinem Dorf taten sogar beides und galten so als Multitalente. Wenn ein Junge Fußball, sowie ein Instrument spielte und zudem noch gut in der Schule war, hätte er alle Töchter des Dorfes in nur einer Nacht flachlegen können, ohne dass dies auch nur im Geringsten an seinem Image gekratzt hätte.
Zudem war mir klar, dass ein Vereinsaustritt auch soziale Kontakte beenden würde, die mich bereicherten. Meine Orchesterfreunde waren wieder komplett anders, als alle meine anderen Freunde und machten damit einen Teil von mir aus, den ich nicht aufgeben wollte.
Dennoch entschied ich mich schließlich dafür, meine musikalische Karriere zu beenden. Anstatt mit Leidenschaft dabei zu sein wie alle Satzführer und Notenwarte, freute ich mich über jeden Grund, der Probe fernbleiben zu können. Ich wäre sogar wesentlich lieber an einem zehnstündigen Schultag mit Doppelstunde Latein zur Schule gegangen, als in die Orchesterprobe!
Ich wusste, in meinem Leben würde es sicher unangenehme Dinge geben, die ich nicht würde aufgeben können. Um diese unangenehmen Verpflichtungen auffangen zu können, sollte ich also meine Freizeit stets so angenehm wie möglich gestalten. Dieser selbstauferlegte Zwang zu meinem Hobby hingegen, entbehrte jeder Rechtfertigung. Da Aufgeben zudem nicht gleich Aufgeben war, entließ ich mich auch vom Kirchenchor und fühlte mich tatsächlich als freier Mensch.
Ich bereute diesen Schritt wirklich nie. Ich war zum ersten Mal mir selbst treu gewesen. Anstatt einfach das zu tun, was alle für gut hielten, hatte ich für mich persönlich beschlossen, dass dieses Hobby wohl nicht zu mir passte.
Dieser Entschluss ließ mich wachsen und war wohl mein erster Schritt auf meiner Suche, denn auch das Ausschlussverfahren ist ein Weg des Findens. Um positiv festzustellen, was man will, ist es auch hilfreich zu wissen, was man nicht will.
Meinen Befürchtungen zum Trotz, schaffte ich es auch, den Kontakt zu einigen Orchestermitgliedern, die mir am Herzen lagen, aufrechtzuerhalten. So waren an meinen Geburtstagspartys immer die verschiedensten Mädchen und Jungs zusammen, die sich gegenseitig nicht kannten und auch unterschiedlicher nicht sein konnten. Ich mochte alle und fand alle auf ihre Art interessant. Bei allen konnte ich einen Teil von mir ausleben, aber eben nur einen Teil, und um den Rest nicht verkümmern zu lassen, brauchte ich dann eben wieder andere Freunde.
Auch in modischen Angelegenheiten zeigte sich meine Unfähigkeit, mich festlegen zu können. Einige meiner Freundinnen trugen immer Leggings und verkörperten mit ihrer Haarschleife, ordentlichen Schultaschen und gestochenen Handschriften den braven Streberlook. Da ich mich mit ihnen richtig gut verstand und ein Teil von mir auch so angepasst brav und strebsam war wie sie, entschloss ich mich, den Mädels und ihrem Haarschleifen-Leggings-Look in etwas entschärfter Version beizutreten. Jedoch, kaum hatte ich mich entschieden, diesen Teil von mir auszuleben, musste ich feststellen, dass dieser Teil auch nur ein Teil war und damit nicht meine ganze Person widerspiegelte.
Die richtig coolen Kids meiner Klasse wollten die Welt verbessern, waren Vegetarierinnen und rauchten Marihuana. Dieser alternative Lebensstiel beeindruckte mich, da sie wie mein Musiklehrer damals für eine Wahrheit tausend andere voller Überzeugung ausblendeten. Das wollte ich auch. Ich war ja immer noch auf der verzweifelten Suche nach einer solchen Wahrheit. Was ich fand, waren jedoch immer nur Botschaften, die ich zwar nachvollziehen und sie auch überzeugend vertreten konnte, allerdings auch genauso überzeugend widerlegen konnte. Ich war also pro und kontra zugleich.
Durch diese Unentschlossenheit, aber dem großen Willen einer Clique anzugehören und mich mit ihr für etwas zu entscheiden, wechselte ich wöchentlich von Leggins und braven Haarschleifen, über Lederschmuck und verrissene Schlabberjeans der coolen Kids zu Gucci, Prada und perfekt manikürten Fingernägeln aus der etwas versnobten Ecke.
Der Versuch, mich damals in eine Schublade zu stecken, wie es doch schließlich fast alle meiner Freunde geschafft hatten, schlug bei mir also fehl. Ich hatte das Gefühl, bei meinen Freunden nur einen gewissen Aspekt von mir ausleben zu können. Wie beispielsweise die Interessen eines Arztes seinem Patienten gegenüber nur medizinischer Art sind und dabei beispielsweise politische Tendenzen verborgen bleiben. So empfand ich alle meine Freundschaften gewissermaßen auf ein Gebiet beschränkt. Nur durch meine Vielzahl an Bekanntschaften und Freundschaften konnte ich jedem Teilgebiet Rechnung tragen und mir selbst treu sein. Ich war sozusagen mit Medizinern UND Politikern befreundet.
Meine Familie jedoch war eine Ausnahme und mir so nah, dass sie mich als Komplex kannte und liebte. Die Tatsache, dass sie alle Aspekte an mir liebte und schätzte, gab mir genügend Sicherheit, mich in aller Ruhe suchen und definieren zu können, mit der Gewissheit etwas Liebenswertes zu finden. Meine Familie war sozusagen mit all meinen Seiten im Großen und Ganzen einverstanden, und somit konnte ich im Einzelnen auch keinen Fehler machen.
Die modische Frage beantwortete ich später, indem ich einfach Elemente aus all meinen Freundschaften, die ein Teil von mir waren, kombinierte. Das Endergebnis war sehr kontrastreich durch die vielen kleinen Teilwahrheiten, die ich selbst widerlegte, aber eben ICH … zum ersten Mal gefunden!
Krankheit und Illusion
Inmitten dieser orientierungslosen Pubertätsphase im Alter von 13 Jahren brach meine Krankheit aus. Sie entwickelte sich sehr schleichend und lenkte daher erst mit der Zeit von meinen pubertären Selbstfindungsproblemen ab. Indem sie immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zog, nahm sie mir die Wahl eines für mich passenden Weges, der mich glücklich machen sollte, regelrecht ab. Ich wurde durch die Krankheit gezwungen, meinen ganz eigenen Weg zu gehen, mich für etwas zu bekennen und deswegen andere Optionen auszublenden. Allerdings kam diese Erkenntnis erst mit der Zeit.
An den Moment, in dem ich zum ersten Mal feststellte, dass mit meinem Körper wohl etwas nicht stimmte, kann ich mich nicht mehr erinnern. Vielmehr fand eine Entwicklung langsam statt, die man zunächst übersehen konnte.
Ich war ungefähr 13 Jahre alt, als mir ein schwerer Barhocker auf den Fuß fiel und der Zehennagel daraufhin entfernt werden musste. Nach dieser Fußverletzung stellte man fest, dass ich den linken Fuß nach innen stellte.
Meine Eltern tadelten mich deswegen. Wir waren uns alle einig, dass dies noch Folgen der Fußverletzung waren und ich den ehemals verletzten Fuß jetzt wahrscheinlich unbewusst schützen wollte. Als diese Entwicklung auch nach einem Jahr trotz größter Bemühung meinerseits nicht zurückgehen wollte, gingen meine Eltern und ich zum Orthopäden und versuchten diesem „Problemchen“ mit Einlagen, Schienen und allerlei orthopädischen Tricks zu begegnen-jedoch erfolglos!
Mit etwa 15 Jahren verspürte ich Schwindel und hatte schließlich richtig Angst, wenn ich in der Schule die Treppe in der Mitte ohne Handlauf hinunterlief. Ich sah dann plötzlich die Stufen sehr unscharf und verschwommen bis sie zur Einheit wurden. Da mir so keine Differenzierung mehr gelang, verlor ich jede räumliche Orientierung und hielt vor Schreck den Atem an. Meine Beine wurden dann zu steifen, schweren Stelzen, die nicht mehr unter meiner Kontrolle standen. Ich glaubte, ich hätte Höhenangst, die ein solches Schwindelgefühl auslösen würde.
Ich wurde motorisch immer unsicherer und versuchte nun durch höchste Konzentration jeden meiner Schritte zu kontrollieren. Geschah dann etwas, das mich in meiner Konzentration störte, wie etwa ein bellender Hund, der mich erschrak oder eine zufällige Begegnung, die mich stoppte, verlor ich jede motorische Beherrschung und fing an zu torkeln. Anfangs gewann ich bereits nach kleinen Ausfallschritten wieder die räumliche Orientierung, doch mit der Zeit musste ich mich an etwas festhalten, um nicht hinzufallen. Ich fühlte mich durch solche Zwischenfälle erniedrigt und vor den Augen anderer gedemütigt. Immer wieder versuchte ich, durch ein gequältes Lachen über mein trotteliges Gestolper mein Gesicht zu wahren, anstatt mich traurig und erschrocken zu zeigen. Lieber war ich lustig und trottelig, als traurig und tragisch.
Ich schämte mich für meine motorischen Aussetzer, die ich nie als Krankheit betrachtete. Zu keiner Zeit empfand ich mich als Opfer, vielmehr machte ich mich selbst dafür verantwortlich. Ich fühlte, dass in mir drin zwischen Körper und Geist etwas nicht stimmte und dass mir kein Arzt der Welt helfen konnte. Auf der einen Seite gab mir dieses Gefühl der eigenen Verantwortung damals unglaubliche Schuld- und auch Schamgefühle, unter denen ich sehr litt. Ich war dadurch in meiner Pubertät nicht in der Lage, meine Persönlichkeit auszubilden und meine Interessen herauszufinden, da alle Kraft darauf gerichtet war, meine „Störung“ zu verbergen. Gleichzeitig schenkte mir diese Einstellung sehr viel Hoffnung, denn ich selbst schien über alles zu verfügen, was ich zu meiner Heilung brauchte. Bis mich diese Einstellung schließlich wirklich handlungsfähig machte, gab sie mir zumindest ein unermüdliches Durchhaltevermögen.
So sprach ich nicht darüber und war die alte lustige Carolin, während ich innerlich immer damit beschäftigt war, mich beim Gehen zu konzentrieren. Meist war ich derart hochangestrengt, dass ich dem Gespräch meiner Freundinnen, die neben mir liefen, gar nicht mehr folgen konnte. In etlichen Situationen log ich, weil ich mich schämte und keine Schwäche zeigen wollte. Zum Beispiel, wenn in der Schule auf der Treppe jemand am Handlauf stand, den ich dann hätte umgehen müssen. Vorausschauend sah ich das schon, bevor wir überhaupt an der Treppe waren. Da ich unglaubliche Angst hatte, die Stufen hinunter zu gehen, ohne mich an dem Handlauf festzuklammern, log ich dann und behauptete ich hätte was im Klassenzimmer vergessen, um mich dieser Situation irgendwie entziehen zu können.
Da ich meist hochkonzentriert auf den Boden starrte beim Laufen, wurde ich gegenüber meiner Umwelt sehr unaufmerksam. Ich empfand sie als Irritation und nicht etwa als beflügelnde Inspiration. Ich frage mich, was damals wohl mein Motor war und woher ich die Energie nahm, die ich hinter meinem Muskelpanzer ungeteilt zurückbehielt. Vielleicht war es die Antizipation der großen Befreiung, die mich täglich motivierte.
Wenn mich dann doch jemand darauf ansprach, da mein Gangbild und meine Gleichgewichtsausfälle trotz meiner Tricks immer auffälliger wurden, erzählte ich anfangs von Dornwarzen am Fuß, dann von Knieproblemen und später waren es Hüftprobleme.
Jedes Mal, war es, wie ein Schlag ins Gesicht für mich, der mich aus meiner Welt auf den Boden der Tatsachen holte. Man störte dann meinen perfekt funktionierenden Verdrängungsmechanismus, denn ich hatte mir die Angst vor dem unbeherrschbaren Schwindel nie wirklich eingestanden. Ich verdrängte meine Krankheit, indem sich mein Geist von meinem Körper abspaltete. Mein Geist beschäftigte sich nie mit meinem Körper und dessen Problemen, sondern ließ ihn hilflos zurück und versuchte ihn und seine „Schwäche“ zu leugnen.
So war ich nicht traurig, dass ich nun die Treppe am Geländer herunterlaufen musste, oder in Sorge wegen meiner ständigen Angstzustände, aber ich war traurig, wenn andere merkten, dass mit mir etwas nicht stimmte, dass ich anders war. Immer wieder holte ich mich dann aus einer solchen Krise heraus, indem ich meine Intuition fühlte, die mir liebevoll zuflüsterte, dass ich ein Märchen leben und Kriegerin werden würde. Ich fühlte dann, dass ich täglich trainieren müsste, um zu siegen. Zwar war ich noch nicht bereit, es tatsächlich als Kriegerin mit der Realität aufzunehmen, jedoch gab mir diese Vision die nötige Stärke und das Vertrauen auf meinem Lebensweg.
Meine Mutter kränkte mich regelmäßig, indem sie mir vorsichtig erklärte, dass sie wieder mal einen Termin beim Arzt ausgemacht hatte. Mir wurden in dieser Zeit derart viele Fehldiagnosen gestellt, dass ich endgültig jeden Glauben an die Schulmedizin verlor. Zwar wusste ich, dass ich wohl nicht die Durchschnittspatientin war. Jedoch wäre mir weit mehr geholfen gewesen, hätte man mir ehrliche Ratlosigkeit entgegengebracht und versucht, mich menschlich etwas zu motivieren für die Schwierigkeiten, die da noch auf mich zukommen sollten.
Stattdessen wurden zig unangenehme Untersuchungen mit mir gemacht. Meine Finger und Zehen wurden mit Kabeln beklebt und schließlich durch Stromreize zum Zucken gebracht. Aus meinem Rückenmark wurde Nervenwasser gezogen, was mir noch Tage später beim Sitzen unerträgliche Kopfschmerzen bereitete. Des Öfteren wurde die pubertierende junge Frau auf ein Wackelbrett gestellt, um bei frühzeitigem Gleichgewichtsverlust einmal mehr eine Störung der unteren Extremitäten festzustellen. Jeder Arztbesuch oder Aufenthalt in einer Spezialklinik brachte uns immer wieder erneut die Bestätigung, dass mein Nervensystem wohl betroffen war. Wovon es betroffen war und wie die Entwicklung aussehen würde, konnte uns letzten Endes dann niemand beantworten. Es wurde also immer wieder aufs Neue festgestellt, dass „mein Problem“ wohl tatsächlich eins war und mir durch mitleidige Blicke und spaßfreie Gespräche der Ernst der Lage klar gemacht.
Anfangs konnte ich mich von solch niederschmetternden Arztbesuchen gut erholen, indem ich in meinen Alltag zurückkehrte, wo ich noch so tun konnte, als wäre alles in Ordnung. Als jedoch meine Krankheit mit ungefähr 16 Jahren so weit fortgeschritten war, dass sie mir alltäglich begegnete, sehnte ich mich nach Verständnis, Unterstützung und Mitgefühl für diesen Albtraum, den ich erlebte. Stattdessen versuchten die Ärzte mir jede Hoffnung auszureden, um mich nüchtern auf die unheilbare Krankheit und meine trostlose Zukunft als Behinderte vorzubereiten. Meiner Familie versuchte ich die Tapfere vorzuspielen, um sie nicht traurig und verzweifelt sehen zu müssen.
Also flüchtete ich mich weiter in meine Welt, die mir sehr rosige Zukunftsaussichten präsentierte. In meiner Welt sollte ich Superheldin sein und jede Muskelfaser meines schönen Körpers beherrschen. Meine Stimme sollte ausdrucksstark sein und mit meinem klaren Gesang von meinem großen Herzen die Menschen erreichen und sie segnen. Männer würden mir zu Füßen liegen, bis ich dann schließlich von verschiedenen, mich liebenden Männern mehrere Kinder gebären wollte.
Die Realität, die ich jedoch alltäglich erfuhr, war sehr gegensätzlich. Ich stolperte über meine eigenen Füße und Jungs machten Witze über mich. Einige Jungs meiner Klasse nannten mich „Jonny Walker“. Ich war schüchtern und von Sex und Weiblichkeit peinlich berührt.
Regelmäßig wurde ich durch die Ärzte von der auserwählten Superheldin auf die Rolle der ernsthaft kranken Patientin reduziert und damit wurde mir alles genommen, was mir im Alltag soviel Kraft gab. Ich fing an mich minderwertig zu fühlen.
Als ich 17 Jahre alt war, fand man auch endlich durch eine Blutentnahme heraus, dass ich an der Friedreich Ataxie litt, die durch ein defektes Gen ausgelöst wurde und eine Degenerierung des Nervensystems zur Folge hatte. Der Krankheitsverlauf war erfahrungsgemäß derart unterschiedlich, dass man mir nur sehr schwammige Prognosen machen konnte. Ich würde wohl bald auf einen Rollstuhl angewiesen sein und sollte am besten einen Beruf lernen, den ich allein in einem stillen Kämmerchen für mich betreiben könnte. Was überspitzt klingen mag, ist ein Zitat, das mich noch heute sehr wütend macht. Ich weiß nicht, dachte die Ärztin damals an Handarbeit oder traute sie mir schon dies in Anbetracht der Krankheit nicht mehr zu? Dachte sie am Ende an eine Behindertenwerkstatt? Diese Fragen stiegen sodann in mir auf, während ich kurz davor war, mein Abitur zu machen mit dem Ziel anschließend Jura zu studieren.
Aus medizinischer Sicht könne man nichts für mich tun. Man riet mir weiterhin zu Krankengymnastik und mich keiner fleischlosen Diät zu unterziehen. Als ich komplett desillusioniert mit meinen ebenso betroffenen Eltern die Klinik verließ, wünschte man uns dann noch alles Gute. Mein mangelndes Vertrauen in Ärzte und in die Medizin kam mir sehr zugute. So empfand ich nur Wut der Ärztin gegenüber, die so unverblümt mein „Todesurteil“ ausgesprochen hatte, ohne mir auch nur eine kleine Hoffnung zu machen. Was sie ausgesprochen hatte, war lückenlos und bedurfte keiner Auslegung, die meine Eltern und ich bestimmt sehr wohlwollend für uns gestaltet hätten.
Natürlich waren wir gekommen, um die Fakten zu erfahren und wollten keinerlei Beschönigung, jedoch steht man ja auch bei einer Beerdigung vor einem blumigen Grab und verzichtet nicht auf jede Dekoration, nur weil ja eh schon alles scheisse ist. Ich empfand die Art und Weise, wie man mit meinem Schicksal umgegangen war, derart respektlos und in Anbetracht der Tatsache, dass der Mensch nicht mal fähig ist, eine absolut sichere Wetterprognose zu machen, auch sehr überheblich. Voller Zorn und entschlossen ein Wunder vollbringen zu wollen, dachte ich nur „Frau Doktor, sie werden von mir hören!“
Meine Freunde redeten nicht mit mir über meine Krankheit, sondern „respektierten“ meinen wunden Punkt. Hinter meinem Rücken wurde jedoch gemutmaßt, welche Krankheit dies wohl sein könnte. Damit war ich zufrieden. Es war mir egal, was hinter meinem Rücken geredet wurde, solange ich nicht damit belästigt und in meiner Traumwelt gestört wurde.
Die Physiotherapie zweimal wöchentlich, war für mich eine sehr schöne Schnittmenge zwischen meiner sehr einsamen Traumwelt und der brutalen Realität. Ich lernte dort mit meinem kranken Körper zu arbeiten und mich dabei als die Kriegerin meiner Traumwelt zu fühlen.
Mein Geist war jedoch sehr ehrgeizig und setzte meinen Körper immer wieder unter Leistungsdruck, was sehr kontraproduktiv für den angestrebten Heilungsprozess war. So war ich nach kurzen Höhenflügen auch regelmäßig sehr frustriert.
Die Physiotherapie tat mir dennoch sehr gut, denn nie wurde ich auf die Patientinnenrolle reduziert. Die jungen Therapeuten interessierten sich auch für mich als Mensch, lachten über meine Witze und ich fühlte mich nicht gedemütigt, wenn ich vor ihnen auf einem Bein stand, einen Ball fangen musste und dabei manchmal das Gleichgewicht verlor und herumtorkelte wie eine Besoffene.
Für sie war ich trotzdem die lustige, fröhliche Carolin. Dies gab mir Selbstsicherheit, die ich im Alltag immer öfter brauchte, denn meine Krankheit war nun mit 17 Jahren endgültig nicht mehr zu übersehen. Immer wieder holte ich mich selbst aus meinem Tief heraus, indem ich versuchte, meine gewohnte Technik bei Niederlagen anzuwenden.
Ich nahm mir also regelmäßig vor, von nun an alles für mich und meinen Körper zu tun, hart zu trainieren und mich gesund zu ernähren. So wollte ich für meine Gesundheit, mit allem was in meiner Macht stand, kämpfen und mich meinem Schicksal widersetzen. Allerdings wusste ich auch, dass wenn ich scheitern würde, ich noch tiefer fallen und dann zum ersten Mal komplett desillusioniert sein würde. Der Preis, den ich für diesen Versuch zu zahlen hätte, nämlich mich für meine Krankheit als die einzige Wahrheit mit Leidenschaft zu bekennen wie mein Musiklehrer sein Instrument spielte, war mir noch zu hoch, da ich sehr große Angst hatte, zu scheitern. Die Angst vor einer Desillusionierung durch die Wahrheit, dass mein Leben eben kein Märchen, sondern ein hartes Schicksal wäre und ich keine schlafende Superheldin, sondern hilfsbedürftig und krank wäre, blockierte mich. Mir fehlte der Mut, trotz dieser Angst meine Energie ganz auf meine Schwäche zu konzentrieren. Um der Angst nicht begegnen zu müssen, behielt ich diese „Alles-oder-nichts“-Variante lieber als finale Methode im Hinterkopf und zögerte eine Desillusionierung immer weiter hinaus.
Stattdessen versuchte ich lieber mit allem, was in meiner Macht stand, so zu sein wie alle anderen. Ich zwängte mich dabei in ein sehr enges Korsett, war stets angespannt und kontrolliert. Nichts in meinem Leben schien zu fließen und alles was mir widerfuhr, empfand ich als das Ergebnis meiner eigenen nüchternen Kalkulation. Mein Leben verfügte über ein sehr niedriges Energieniveau und so war ich stets die Zuhörerin von Freundinnen, die vor Lebensfreude sprudelten und von unglaublichen Erlebnissen zu berichten hatten. Ich hörte stets zu, gab Ratschläge und träumte davon, eines Tages ebenfalls mit zerzausten Haaren im Sturm des Lebens zu stehen.
Meinen Körper empfand ich als seelenlose Hülle ohne eigene Vorlieben oder besondere Bedürfnisse. Mein Geist hatte dissoziiert und sich von meinem Körper abgespalten. Ich war mir sicher, dass meiner Seele die „Begrenzung“ auf den eigenen Körper sowie dessen Sinneswahrnehmung nicht gelungen war. Daher gelang mir auch keinerlei Begrenzung, was meine menschliche Verantwortung anging. Ich machte mich für das Schicksal und die Gemütslage meines Umfelds verantwortlich, manchmal sogar für das Wetter. Die Realität schien meine formlose verlorene Seele zu spiegeln und daher allgemein in meinen Verantwortungsbereich zu fallen.
Herz und Stolz
Ich träumte davon einen hübschen Freund zu haben, um den mich alle beneiden sollten und der allen (vor allem mir selbst) zeigen sollte, wie attraktiv und liebenswert ich war. Zwar glaubte ich schön zu sein, denn das wurde mir sehr oft gesagt, jedoch war ich einfach unsichtbar für Jungs. Ich war nicht präsent in meinem Körper und daher nicht sexy. Meine Energie war atmosphärisch zerstreut und gab mir daher im besten Fall eine gütige Ausstrahlung, aber keinen Sexappeal.
Zudem schämte ich mich für meine weiblichen Rundungen, anstatt sie wie andere Mädchen meines Alters mit Stolz und durchgestreckter Wirbelsäule zur Schau zu stellen. Ich versuchte immer wieder weniger zu essen, um meinen prallen Hintern loszuwerden. Die Schlabberjeans sollte schließlich lässig an meiner Hüfte hängen und nicht einen weiblichen Entenpo abzeichnen. Zudem fand ich meine Brüste störend, die immer wieder den Aufdruck auf meinem T-Shirt unleserlich machten. Ich war also noch längst nicht im Körper einer Frau angekommen, dennoch wollte ich unbedingt einen Freund. Dieses Verlangen war rein kognitiv und hatte nicht das Geringste mit einer pulsierenden Vagina oder einem sich nach Romantik verzehrenden Herzen zu tun. Mein Verlangen hatte vielmehr etwas mit Stolz, Anerkennung und Bestätigung zu tun.
Aus lauter Angst, ein Junge könnte mich mit der Realität konfrontieren und mir zu verstehen geben, dass er an einer Freundin, die läuft als sei sie betrunken, kein Interesse habe, schützte ich mich, indem ich Jungs gegenüber meistens absolutes Desinteresse zeigte. Ich ergriff nie die Initiative. Es kam auch selten zu Blickkontakten oder zufälliger Kommunikation, da ich beim Laufen meist hochkonzentriert auf den Boden starrte.
Ich fühlte mich unsichtbar für die Jungs und so musste ich der Realität, mir und meinem Körper nicht ins Auge sehen. Stattdessen konnte ich meinen Traum weiter träumen, indem mich die Männer anbeten würden.
Hin und wieder wurde ich dann doch gesehen. Als ich 15 war, gab es einen Jungen, der sich bei meinen Freunden sehr an mir interessiert gezeigt hatte, was mir alle berichtet hatten. Er war Mitte 20 und seit sechs Jahren in einer festen Beziehung mit einem Mädchen, die drei Klassenstufen über mir in meiner Schule war. Mir schmeichelte es, dass er mich wollte, obwohl er doch so eine schöne gesunde Freundin hatte. Ihre Arroganz und Antipathie stellten mich zudem vor keinerlei moralische Bedenken.
Da alle meine Freundinnen ihn irgendwie heiß fanden und mich dazu ermutigten, lud ich ihn eines Tages zu mir nach Hause ein. Ich wollte ihn küssen. So hatte ich es bei meinen Freundinnen angekündigt, die in dieser Woche auch beide das erste Mal geküsst worden waren. Ich war von Anfang an nicht in ihn verliebt. Ich wollte schlichtweg mit meinen Freundinnen mithalten. Er war der männlichste Junge, den ich bis dahin von Nahem gesehen hatte, und das machte mir unglaubliche Angst.
Wir saßen auf meinem Bett. Die Kuscheltiere hatte ich zuvor in den Schrank gestopft. Ich fühlte seine Erwartungshaltung und die Spannung im Zimmer lähmte mich. Alles was ich sagte und tat, schien die Spannung zu steigern. Schließlich schlug ich ihm sehr direkt vor mich doch nun endlich zu küssen, womit ich die unerträgliche Spannung lösen und mich befreien wollte. Natürlich schlug der Plan völlig fehl. Während er mich leidenschaftlich und nun scheinbar völlig verzaubert küsste, dachte ich über Adjektive nach, mit denen ich gleich am Telefon meinen Freundinnen das erlebte Küssen beschreiben wollte. Er überschüttete mich mit Komplimenten und ich wusste, dass er so sehr in mich verliebt war, dass ich mich vor ihm niemals für irgendetwas würde schämen müssen. Dennoch war ich noch nicht reif für diese erwachsene, echte, tiefe Form der Liebe und so fand ich, dass ihn seine Schwäche für mich irgendwie peinlich machte. Als er endlich ging, durchlüftete ich mein Zimmer, das nach seinem männlichen Rasierwasser roch, holte meine Kuscheltiere aus dem Schrank und rief meine Freundinnen an.