Gone Baby Gone - Dennis Lehane - E-Book

Gone Baby Gone E-Book

Dennis Lehane

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Beschreibung

Als die vierjährige Amanda entführt wird, beginnen Patrick Kenzie und Angela Gennaro ihre Suche in den einschlägigen Kreisen, was selbst die hartgesottenen Ermittler an ihre Grenzen bringt. Bis sich herausstellt, dass sie von gänzlich unerwarteter Seite auf eine falsche Fährte gelockt wurden und jemand wissentlich mit ihrem Leben gespielt hat. Kenzie und Gennaro müssen sich entscheiden: für Recht und Gesetz oder für ihre Menschlichkeit.

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Dennis Lehane

Gone Baby Gone

Ein Fall für Kenzie & Gennaro

Roman

Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg

Diogenes

Gewidmet meiner Schwester Maureen und meinen Brüdern Michael, Thomas und Gerard: Danke, dass ihr zu mir gestanden und mich ertragen habt. Das kann nicht einfach gewesen sein.

Und JCP, chancenlos.

Anmerkung des Autors

Jeder, der mit Boston, Dorchester, South Boston und Quincy vertraut ist, ebenso mit den Steinbrüchen in Quincy und dem Naturschutzgebiet Blue Hills, wird erkennen, dass ich mir einige Freiheiten in Geographie und Topographie herausgenommen habe. Dies war beabsichtigt. Zwar gibt es die Städte, Gemeinden und Gegenden, doch sind sie den Bedürfnissen der Geschichte und meinen Schrullen angepasst worden und deshalb reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten zwischen den Figuren und Ereignissen in dieser Geschichte und lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Fort Mesa, Texas, Oktober 1998

Lange bevor im Golf von Mexiko die Sonne aufgeht, wagen sich die Fischerboote in der Dunkelheit hinaus. Meist handelt es sich um Krabbenkutter, ab und an geht es auch auf Marlin oder Tarpun, und die Boote sind nahezu ausschließlich mit Männern besetzt. Die wenigen Frauen, die hinausfahren, bleiben meist unter sich. Das hier ist Texas, und während zweihundert Jahren Fischerei haben so viele Männer einen schweren Tod gefunden, dass ihre Nachkommen und überlebenden Freunde finden, ein Anrecht auf ihre Vorurteile, ihren Hass auf die vietnamesische Konkurrenz und ihr Misstrauen gegenüber jeder Frau zu haben, die diese üble Arbeit erledigt und noch vor Sonnenaufgang mit dicken Kabeln und Haken arbeitet, die einem die Knöchel aufschlitzen.

Frauen, meint einer der Fischer in der Dunkelheit vor Morgengrauen, als der Kapitän den Motor des Trawlers zu einem leisen Grollen zurückfährt und die aufgewühlte schiefergraue See hereinkommt, Frauen sollten wie Rachel sein. Das ist eine Frau.

Das ist eindeutig eine Frau, sagt ein anderer Fischer. Gottverdammich, und was für eine.

Rachel ist erst vor kurzem nach Port Mesa gekommen. Sie ist im Juli mit ihrem kleinen Jungen und einem verbeulten Dodge-Pick-up aufgetaucht, hat sich ein kleines Haus auf der Nordseite der Kleinstadt gemietet und das HILFE- GESUCHT-Schild aus dem Schaufenster von Crockett’s Last Stand genommen, einer Hafenbar, die auf uraltem Pfahlwerk steht, das sich zum Meer neigt.

Erst nach Monaten bekam jemand ihren Nachnamen heraus: Smith.

Port Mesa zieht eine Menge Smiths an. Und ein paar Millers dazu. Auf der Hälfte der Krabbenkutter arbeiten Männer, die vor irgendetwas davonlaufen. Sie schlafen, wenn die Welt wach ist, fahren raus, wenn die meisten schlafen, trinken die restliche Zeit über in Bars, die nur wenige Fremde einladend genug finden, um sie überhaupt zu betreten, folgen dem Fang und den Jahreszeiten, westlich bis Baja, südlich bis Key West, und bekommen ihre Heuer auf die Hand.

Auch Dalton Voy, Besitzer von Crockett’s Last Stand, bezahlt Rachel Smith in bar, aber wenn sie etwas gesagt hätte, würde er sie auch mit Gold aufwiegen. Seit sie ihren Platz hinter dem Tresen eingenommen hat, ist der Umsatz um zwanzig Prozent gestiegen. Und so komisch es klingt, auch die Schlägereien sind seltener geworden. Normalerweise kommen die Männer von den Booten, die Sonne hat ihnen durch die Haut bis ins Blut gebrannt, das macht sie reizbar, und sie sind schnell bereit, einen Streit mit einer hocherhobenen Flasche oder einem Poolqueue zu beenden. Und nach Daltons Erfahrung machen es schöne Frauen umso schlimmer. Dann sind die Männer schneller mit einem Lächeln bei der Hand, aber auch schneller beleidigt.

Doch Rachel hat etwas, das sie besänftigt.

Und warnt.

Es liegt in ihrem Blick – ganz plötzlich blitzt etwas bös und kalt auf, wenn jemand eine Linie überschreitet, ihr Handgelenk zu lange festhält, einen anzüglichen Witz reißt, der nicht witzig ist. Und es liegt auf ihrem Gesicht, in den Falten, in der verwitterten Schönheit: Zeugnis eines Lebens vor Port Mesa, das mehr dunkle Morgengrauen und harte Fakten gesehen hat als die meisten der Krabbenfischer.

Rachel hat eine Waffe in ihrer Handtasche. Dalton Voy hat sie mal aus Versehen zu Gesicht bekommen, und das Einzige, was ihn daran überraschte, war die Tatsache, dass ihn das keineswegs überraschte. Er hatte so was geahnt. Die anderen auch. Keiner wagt es, sich Rachel nach Feierabend auf dem Parkplatz zu nähern und sie zu überreden, in sein Auto zu steigen. Niemand folgt ihr bis nach Hause.

Wenn die Härte allerdings nicht in ihrem Blick liegt und diese Distanziertheit aus ihrem Gesicht verschwunden ist, o Mann, dann bringt sie den ganzen Laden zum Leuchten. Sie bewegt sich an der Bar entlang wie eine Tänzerin; wie sie sich dreht, vorbeugt, einschenkt, alles ist glatt und geschmeidig. Wenn sie lacht, dann macht sie den Mund weit auf, ihre Augen sprühen Funken, und jeder in der Bar will einen neuen Witz erzählen, einen noch besseren, nur um wieder den Schauder ihres Lachens die Wirbelsäule entlang zu spüren.

Und dann ist da ihr kleiner Junge. Ein hübsches, blondes Kerlchen. Sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, aber wenn er lächelt, dann weiß man sofort, dass er Rachels Kind ist. Und wegen seiner Launen, die so schnell wechseln wie ihre. Manchmal blitzt auch bei ihm die Warnung in den Augen auf, was schon komisch ist bei einem Kind in seinem Alter. Er kann gerade mal laufen, und trotzdem zeigt er der Welt bereits: Bis hierhin und nicht weiter.

Die alte Mrs. Hayley passt auf den Jungen auf, wenn Rachel bei der Arbeit ist, und einmal sagt sie zu Dalton Voy, dass man sich keinen braveren Jungen vorstellen kann, keinen, der seine Mama so offenkundig liebt. Dieser Junge wird mal was Besonderes, sagte sie. Präsident oder so. Ein Held. Denk an meine Worte, Dalton. Denk an meine Worte.

Eines Abends macht Dalton bei Boynton’s Cove seinen täglichen Spaziergang und sieht plötzlich Mutter und Sohn. Rachel steht hüfttief im warmen Golf, hebt den Jungen hoch und taucht ihn immer wieder ins Wasser. In der untergehenden Sonne ist das Meer golden und seidig, und Dalton kommt es so vor, als würde Rachel ihren Sohn in Gold läutern und einen uralten Ritus vollziehen, um der Haut eine Schutzschicht zu verleihen, damit sie undurchdringlich wird.

Die beiden lachen im bernsteinfarbenen Wasser, und direkt hinter ihnen berührt die Sonne den Horizont. Rachel küsst den Hals ihres Sohnes und setzt ihn sich auf die Hüfte. Er lehnt sich in ihren Händen zurück. Sie schauen sich in die Augen.

Dalton findet, er hat im ganzen Leben noch nie etwas so Schönes wie diesen Blick gesehen.

Rachel bemerkt Dalton nicht, und Dalton winkt nicht mal. Tatsächlich kommt er sich wie ein Eindringling vor. Er hält den Kopf gesenkt und geht den Weg zurück, den er gekommen ist.

Eine derart reine Liebe macht etwas mit einem. Man fühlt sich klein. Man fühlt sich hässlich und beschämt und wertlos.

Dalton Voy, der Mutter und Sohn in dem bernsteinfarbenen Wasser spielen sieht, ist auf eine kalte, simple Wahrheit gestoßen: Sein ganzes Leben ist er noch nie so geliebt worden, nicht für eine Sekunde.

Eine solche Liebe? Verdammt. Sie scheint so unschuldig, dass es fast schon kriminell ist.

ERSTER TEILIndian Summer, 1997

1

Tag für Tag werden in den USA zweitausenddreihundert Kinder vermisst gemeldet.

Ein Großteil wird von einem Elternteil entführt, das mit dem anderen zerstritten ist, und in über fünfzig Prozent der Fälle ist der Aufenthaltsort des Kindes bekannt. Die Mehrheit dieser Kinder kehrt innerhalb einer Woche zurück.

Dann gibt es die Ausreißer. Auch hier bleibt der Großteil von ihnen nicht lange fort; meist findet man sie in kürzester Zeit – für gewöhnlich im Haus von Freunden.

Anders ist es bei denen, die zu Hause vor die Tür gesetzt werden oder weglaufen, ohne dass die Eltern die Suche nach ihnen aufnehmen. Dies sind zumeist die Kinder, die die Notunterkünfte und Busbahnhöfe bevölkern, in Rotlichtbezirken an den Straßenecken herumlungern und schließlich im Gefängnis landen.

Von den mehr als achthunderttausend Kindern, die landesweit Jahr für Jahr als vermisst gemeldet werden, fallen nur etwa dreieinhalb- bis viertausend in die Kategorie der nicht familiären Entführungen, wie es das Justizministerium nennt, also Fälle, bei denen die Polizei recht schnell ausschließen kann, dass das Kind von einem Familienmitglied entführt wurde, ausgerissen ist oder rausgeworfen wurde, sich verlaufen hat oder gar verletzt wurde.

Von ihnen verschwinden jedes Jahr dreihundert Kinder, die nie wiederauftauchen.

Niemand – weder Eltern, Freunde noch Gesetzeshüter, weder Fürsorgeeinrichtungen noch Vermisstenstellen – weiß, wohin diese Kinder geraten. In Gräber womöglich; in Keller oder Häuser von Pädophilen; ins Nichts vielleicht, in die Löcher im Gewebe des Universums, aus denen nie wieder etwas von ihnen hinausdringt.

Wohin diese dreihundert auch gehen, sie bleiben verschwunden. Eine Weile lang verstören diese Fälle die Öffentlichkeit; bei den Menschen, die ihnen nahestehen, dauert es erheblich länger.

Sie sterben nicht, denn es gibt keine Leiche als Beweis dafür. Fortdauernd warnen sie uns vor dem Nichts.

Und bleiben verschwunden.

 

»Meine Schwester«, sagte Lionel McCready, der in unserem Büro im Glockenturm auf und ab ging, »hat ein sehr schweres Leben gehabt.« Lionel war ein großer Mann mit einem schlaffen Bassetgesicht und breiten Schultern, die steil von seinen Schlüsselbeinen abfielen, so als würde dort etwas auf ihnen hocken, das wir nicht sehen konnten. Er hatte ein schüchternes Lächeln, und seine schwielige Hand konnte fest zupacken. Er trug braune UPS-Dienstbekleidung und knetete den Schirm der dazu passenden braunen Baseballmütze in seinen kräftigen Pranken. »Unsere Ma war – na ja, eine Trinkerin, offen gestanden. Und unser Dad hat sich verdrückt, als wir beide noch klein waren. Wenn man so aufwächst, dann – dann – na ja, man entwickelt wohl ziemlich viel Wut. Es dauert eine Weile, bis man zur Vernunft kommt und seinen Weg im Leben findet. Das betrifft nicht nur Helene. Ich mein, ich hatte auch ein paar ernsthafte Probleme, bin mit zwanzig verhaftet worden. Ich war kein Engel.«

»Lionel«, mahnte seine Frau.

Er hob eine Hand, so als müsse er das endlich mal alles loswerden, sonst würde er das nie wieder schaffen. »Ich hatte Glück. Ich habe Beatrice kennengelernt und mein Leben auf die Reihe gekriegt. Was ich damit sagen will, Mr. Kenzie, Miss Gennaro, wenn man genug Zeit hat und die paar Brüche übersteht, dann wird man erwachsen. Man schüttelt diesen Mist ab. Meine Schwester wird erst noch erwachsen, mehr will ich gar nicht sagen. Sie hat ein schweres Leben gehabt und –«

»Lionel«, sagte seine Frau, »hör auf, andauernd nach irgendwelchen Entschuldigungen für Helene zu suchen.« Beatrice McCready fuhr sich mit einer Hand durch das kurze erdbeerrote Haar und sagte: »Liebling, setz dich. Bitte.«

»Ich versuche doch nur zu erklären«, sagte Lionel, »dass Helene kein leichtes Leben gehabt hat.«

»Du auch nicht«, meinte Beatrice, »und du bist ein guter Vater.«

»Wie viele Kinder haben Sie denn?«, fragte Angie.

Beatrice lächelte. »Eins. Matt. Er ist fünf. Er wohnt bei meinem Bruder und seiner Frau, bis wir Amanda gefunden haben.«

Lionel schien bei der Erwähnung seines Sohnes ein wenig aufzuleben. »Er ist ein toller Junge«, sagte er, doch sein Stolz schien ihm ein wenig peinlich zu sein.

»Und Amanda?«, fragte ich.

»Amanda ist auch ein großartiges Kind«, sagte Beatrice. »Und sie ist viel zu jung, um allein dort draußen zu sein.«

Amanda McCready war vor drei Tagen aus der Nachbarschaft verschwunden. Seitdem schien ganz Boston besessen darauf herauszufinden, wo sie sich aufhielt. Die Polizei hatte mehr Männer auf die Suche geschickt als bei der Jagd auf John Salvi nach der Schießerei in der Abtreibungsklinik vor vier Jahren. Der Bürgermeister hatte eine Pressekonferenz abgehalten, auf der er verkündet hatte, dass alle Stadtangelegenheiten auf Eis liegen würden, bis Amanda gefunden worden sei. Die Berichterstattung war umfassend: jeden Morgen die Titelseiten der beiden Zeitungen, am Abend die Hauptmeldung in den führenden drei Nachrichtensendungen, stündliche Updates zwischen den Seifenopern und Talkshows.

Und nach drei Tagen – nichts. Keine Spur von ihr.

Als Amanda McCready verschwand, war sie vier Jahre und sieben Monate auf der Welt gewesen. Ihre Mutter hatte sie Sonntagabend zu Bett gebracht, hatte gegen halb neun nach ihr gesehen und am Morgen kurz nach neun in ihr Bett geschaut, doch es war leer gewesen bis auf den knittrigen Abdruck auf dem Laken.

Verschwunden waren auch die Kleidungsstücke, die Helene McCready für ihre Tochter bereitgelegt hatte – pinkfarbenes T-Shirt, Jeansshorts, pinkfarbene Socken und weiße Turnschuhe, ebenso Amandas Lieblingspuppe, die blondhaarige Nachbildung einer Dreijährigen, die eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit ihrer Besitzerin aufwies und die Amanda auf den Namen Pea getauft hatte. Im Zimmer fanden sich keinerlei Spuren eines Kampfs.

Helene und Amanda wohnten im ersten Stock eines dreigeschossigen Hauses; zwar wäre es möglich gewesen, dass Amanda von jemandem entführt worden war, der eine Leiter an ihr Schlafzimmerfenster gestellt und das Fliegengitter aufgedrückt hatte, um einzudringen, doch das war unwahrscheinlich. Fliegengitter und Fensterbretter wiesen keinerlei Spuren auf, und im Boden am Fuß des Hauses gab es auch keine Leiterabdrücke.

Erheblich wahrscheinlicher war, wenn man mal davon ausging, dass eine Vierjährige sich nicht plötzlich dazu entschloss, mitten in der Nacht allein das Haus zu verlassen, dass der Entführer die Wohnung durch die Wohnungstür betreten hatte, ohne das Schloss zu knacken oder die Scharniere aus den Zargen zu hebeln, denn all das war bei einer Tür, die nicht abgeschlossen worden war, völlig unnötig.

Als diese Information an die Öffentlichkeit kam, musste sich Helene McCready von der Presse einiges anhören. Vierundzwanzig Stunden nach dem Verschwinden Amandas stand in der News, Bostons Klatschzeitungspendant zur New York Post, folgende Schlagzeile:

HEREINSPAZIERT:

Mutter der kleinen Amanda lässt Tür unverschlossen

Unter der Überschrift befanden sich zwei Fotos, eins von Amanda, das andere von der Wohnungstür. Die Tür stand sperrangelweit offen, was, wie die Polizei mitteilte, nicht der Situation am Morgen von Amanda McCreadys Verschwinden entsprach. Nicht abgeschlossen, ja; weit geöffnet, nein.

Ein Unterschied, für den sich der Großteil der Stadt allerdings nicht interessierte. Helene McCready hatte ihre vierjährige Tochter allein in einer unverschlossenen Wohnung gelassen und war nach nebenan in die Wohnung ihrer Freundin Dottie Mahew gegangen. Die beiden hatten ferngesehen – zwei Sitcoms und den Film der Woche mit dem Titel Her Father’s Sins, mit Suzanne Somers und Tony Curtis. Nach den Nachrichten hatten sie die Hälfte der Wochenendausgabe von Entertainment Tonight geschaut, dann war Helene nach Hause gegangen.

Amanda McCready war etwa drei Stunden und fünfundvierzig Minuten allein in einer unverschlossenen Wohnung zurückgelassen worden. Irgendwann in diesem Zeitraum, so die Vermutung, war sie entweder weggelaufen oder entführt worden.

Angie und ich hatten den Fall so genau verfolgt wie der Rest der Stadt, und wir waren ebenso ratlos wie alle anderen. Helene McCready hatte eingewilligt, sich einem Lügendetektortest zu unterziehen, und bestanden. Die Polizei hatte nicht eine einzige Spur gefunden, der sie hatte folgen können; den Gerüchten zufolge wandte sie sich sogar an Personen mit übersinnlichen Fähigkeiten. Nachbarn meldeten, sie hätten in jener Nacht, einer warmen Spätsommernacht, in der die meisten Fenster offen waren und überall Leute auf den Straßen, nichts Verdächtiges bemerkt und nichts gehört, das Kinderschreien geähnelt hätte. Niemand erinnerte sich daran, eine Vierjährige allein herumwandern gesehen oder Personen bemerkt zu haben, die entweder ein Kind oder ein merkwürdig aussehendes Bündel bei sich gehabt hätten.

Amanda McCready war, soweit das irgendjemand beurteilen konnte, spurlos verschwunden.

 

Ihre Tante Beatrice McCready hatte uns am Nachmittag angerufen. Ich drückte ihr gegenüber meine Zweifel aus, dass wir viel mehr tun könnten als zig Polizisten, die Hälfte der Bostoner Reporter und tausende von Mitbürgern ihrer Nichte wegen schon taten.

»Mrs. McCready«, sagte ich, »sparen Sie sich das Geld.«

»Lieber möchte ich meine Nichte in Sicherheit sehen«, entgegnete sie.

 

Jetzt saßen Angie und ich in unserem Büro im Glockenturm der Bartholomew’s Church in Dorchester, die abendliche Rush Hour verging mit entferntem Hupen und Gasgeben unten auf der Straße, und wir hörten zu, wie Amandas Tante und Onkel ihre Sache vorbrachten.

»Wer ist Amandas Vater?«, fragte Angie.

Wieder schien sich diese Last auf Lionels Schultern zu senken. »Das wissen wir nicht. Wir glauben, dass es sich um einen Kerl namens Todd Morgan handelt. Kaum war Helene schwanger, ist er verduftet. Keiner hat je wieder von ihm gehört.«

»Die Liste der möglichen Väter ist allerdings lang«, sagte Beatrice.

Lionel sah zu Boden.

»Mr. McCready«, sagte ich.

Er sah mich an. »Lionel.«

»Bitte, Lionel«, sagte ich. »Setzen Sie sich.«

Mit einigen Schwierigkeiten setzte er sich in einen kleinen Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs.

»Dieser Todd Morgan«, sagte Angie und notierte sich den Namen. »Weiß die Polizei, wo er sich aufhält?«

»In Mannheim, in Deutschland«, antwortete Beatrice. »Er ist dort bei der Armee stationiert. Als Amanda verschwand, war er in der Garnison.«

»Haben Sie ihn als Verdächtigen ausgeschlossen?«, fragte ich. »Gibt es keine Möglichkeit, dass er einen Freund dafür angeheuert haben könnte?«

Lionel räusperte sich und sah wieder zu Boden. »Die Polizei meint, er würde sich wegen meiner Schwester schämen und glaube nicht mal, dass Amanda sein Kind ist.« Er schaute mich aus verlorenen, sanften Augen an. »Er soll gesagt haben, wenn er einen kleinen Windelscheißer wolle, der die ganze Zeit rumheult, dann hätte er sich auch in Deutschland ein Kind anschaffen können.«

Ich konnte spüren, wie ihn der Schmerz durchfuhr, als er seine Nichte einen ›Windelscheißer‹ schimpfen musste, und nickte. »Erzählen Sie mir von Helene«, sagte ich.

Es gab nicht viel zu erzählen. Helene McCready war vier Jahre jünger als Lionel, also achtundzwanzig. Sie war im ersten Jahr an der Monsignor Ryan Memorial High School ausgestiegen und hatte den zweiten Bildungsweg, von dem sie ständig gesprochen hatte, nie eingeschlagen. Mit siebzehn brannte sie mit einem Kerl durch, der fünfzehn Jahre älter war; sie hausten sechs Monate lang in einem Wohnwagenpark in New Hampshire, bevor Helene mit einem blaugeschlagenen Gesicht und nach der ersten von drei Abtreibungen nach Hause zurückkehrte. Seither hatte sie eine ganze Reihe von Jobs angenommen – Kassiererin bei Stop & Shop, Angestellte bei einem Herrenausstatter, Assistentin in einer chemischen Reinigung, Rezeptionistin bei UPS –, blieb aber bei keinem Job länger als achtzehn Monate. Seit dem Verschwinden ihrer Tochter hatte sie sich bei ihrer Teilzeitstelle bei der Lottoannahme im Li’l-Peach-Gemischtwarenladen abgemeldet, und es hatte nicht den Anschein, als würde sie die Stelle wieder antreten.

»Aber sie liebt die Kleine«, betonte Lionel.

Beatrice machte ein Gesicht, als wäre sie da anderer Meinung, sagte aber nichts.

»Wo ist Helene jetzt?«, fragte Angie.

»In unserem Haus«, antwortete Lionel. »Der Anwalt, den wir eingeschaltet haben, meinte, wir sollten sie so lange wie möglich abschirmen.«

»Warum?«, fragte ich.

»Warum?«, entgegnete Lionel.

»Ihr Kind wird vermisst. Sollte sie nicht an die Öffentlichkeit gehen? Oder zumindest die Nachbarschaft abklappern?«

Lionel öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Er besah sich seine Schuhe.

»Helene ist dem nicht gewachsen«, sagte Beatrice.

»Warum nicht?«, fragte Angie.

»Weil – nun, weil sie Helene ist«, antwortete Beatrice.

»Überwacht die Polizei das Telefon in ihrer Wohnung, für den Fall, dass es eine Lösegeldforderung gibt?«

»Ja«, sagte Lionel.

»Aber sie ist nicht da«, meinte Angie.

»Das ist ihr zu viel geworden«, erklärte Lionel. »Sie brauchte ihre Privatsphäre.« Er streckte die Hände aus und sah uns an.

»Ach«, sagte ich. »Ihre Privatsphäre.«

»Verstehe«, meinte Angie.

»Hören Sie« – Lionel knetete wieder an seiner Mütze herum –, »ich weiß, wie sich das anhört. Wirklich. Aber die Menschen zeigen ihre Sorge auf unterschiedliche Weise. Richtig?«

Ich nickte halbherzig. »Wie ist sie denn nach drei Abtreibungen darauf gekommen, ein Kind auszutragen?«, sagte ich, und Lionel zuckte zusammen.

»Ich glaube, sie fand, dass es an der Zeit sei.« Lionel beugte sich vor, und sein Gesicht hellte sich auf. »Wenn Sie gesehen hätten, wie aufgeregt sie während der Schwangerschaft war. Ihr Leben bekam einen Sinn, verstehen Sie? Sie war sich sicher, das Kind würde alles besser machen.«

»Für sie«, meinte Angie. »Aber was ist mit dem Kind?«

»Das habe ich damals auch gesagt«, meinte Beatrice.

Lionel wandte sich mit großen Augen und verzweifeltem Blick an die beide Frauen. »Sie waren gut füreinander«, sagte er. »Das ist meine feste Überzeugung.«

Jetzt betrachtete Beatrice ihre Schuhe. Angie schaute zum Fenster hinaus.

Lionel sah mich an. »Wirklich.«

Ich nickte, und sein Bassetgesicht fiel erleichtert in sich zusammen.

»Lionel«, sagte Angie, die immer noch zum Fenster hinausschaute, »ich habe alle Zeitungsberichte gelesen. Niemand scheint auch nur eine Ahnung zu haben, wer Amanda entführt haben könnte. Die Polizei ist aufgeschmissen, und den Berichten zufolge weiß Helene ebenfalls nichts.«

Lionel nickte. »Ich weiß.«

»Also gut.« Angie drehte sich um und sah Lionel an. »Was glauben Sie, was passiert ist?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete er und umklammerte seine Mütze so fest, dass ich schon dachte, er würde sie in seinen Pranken zerpflücken. »Als ob sie vom Erdboden verschluckt worden ist.«

»War Helene mit jemandem zusammen?«

Beatrice schnaubte.

»Regelmäßig?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Lionel.

»Die Presse deutet an, dass sie mit ein paar unappetitlichen Kerlen herumhing«, meinte Angie.

Lionel zuckte mit den Schultern, als sei dies ganz selbstverständlich.

»Sie treibt sich im Filmore Tap herum«, sagte Beatrice.

»Das ist die übelste Kaschemme in Dorchester«, meinte Angie.

»Wenn man bedenkt, wie viele Bars sich um diese Ehre streiten«, sagte Beatrice.

»So schlimm ist es da gar nicht«, meinte Lionel und sah mich hilfesuchend an.

Ich hob die Hände. »Lionel, ich trage ständig eine Waffe bei mir. Aber wenn ich ins Filmore gehe, werde ich nervös.«

»Das Filmore ist als Drogenbar bekannt«, sagte Angie. »Angeblich liefern sie dort Koks und Heroin wie andernorts Pizza. Hat Ihre Schwester ein Drogenproblem?«

»Heroin, meinen Sie?«

»Egal was, meinen sie«, bemerkte Beatrice.

»Sie raucht ein wenig Gras«, antwortete Lionel.

»Wenig?«, fragte ich. »Oder viel?«

»Was heißt viel?«, entgegnete er.

»Würde ich auf ihrem Nachttisch eine Bong und eine Joint-Klammer finden?«, fragte Angie.

Lionel blinzelte sie an.

»Sie ist nicht nach irgendeiner bestimmten Droge süchtig«, sagte Beatrice. »Sie nimmt, was sie kriegen kann.«

»Koks?«, fragte ich.

Sie nickte, und Lionel schaute seine Frau verblüfft an.

»Pillen?« Beatrice zuckte mit den Schultern.

»Nadeln?«, fragte ich.

»O nein«, sagte Lionel.

»Soweit ich weiß, nicht«, sagte Beatrice. Dann dachte sie darüber nach. »Nein. Wir haben sie den ganzen Sommer über in kurzen Sachen gesehen. Das hätten wir gemerkt.«

»Augenblick mal.« Lionel hob eine Hand. »Moment. Hier geht es um Amanda und nicht um die schlechten Angewohnheiten meiner Schwester.«

»Wir müssen alles über Helene wissen, ihre Gewohnheiten und ihre Freunde«, entgegnete Angie. »Wenn ein Kind vermisst wird, ist der Grund meist im nächsten Umkreis zu suchen.«

Lionel stand auf, und sein Schatten legte sich über den ganzen Schreibtisch. »Was soll das bedeuten?«

»Setz dich«, sagte Beatrice.

»Nein. Ich muss wissen, was das zu bedeuten hat. Wollen Sie damit andeuten, dass meine Schwester etwas mit dem Verschwinden von Amanda zu tun haben könnte?«

Angie sah ihn fest an. »Sagen Sie es mir.«

»Nein«, stellte er laut fest. »Okay? Nein.« Dann sah er zu seiner Frau hinunter. »Sie ist keine Kriminelle. Sie ist eine Frau, die ihr Kind verloren hat.«

Beatrice sah ihn mit undurchsichtigem Gesichtsausdruck an.

»Lionel«, begann ich, und er schaute mich an. »Sie haben selbst gesagt, es ist so, als hätte Amanda sich in Luft aufgelöst. Fünfzig Polizisten suchen nach ihr. Vielleicht mehr. Sie beide suchen. Leute in der Nachbarschaft …«

»Ja«, sagte er. »Viele. Sie waren toll.«

»Okay. Und wo ist sie?«

Er starrte mich an, als würde ich sie plötzlich aus der Schreibtischschublade ziehen.

»Ich weiß es nicht.« Er schloss die Augen.

»Niemand weiß es«, betonte ich. »Und falls wir uns dieser Sache annehmen – und ich habe nicht gesagt, dass wir das tun werden …«

Beatrice setzte sich auf und sah mich streng an.

»… dann werden wir von jemandem aus ihrem nächsten Umfeld ausgehen müssen.«

Lionel setzte sich wieder hin. »Sie glauben also, dass sie verschleppt wurde.«

»Sie nicht?«, fragte Angie. »Eine Vierjährige, die ausreißt, wäre doch nach drei vollen Tagen nicht immer noch dort draußen, ohne dass jemand sie gesehen hätte.«

»Ja«, sagte er, so als hätte er es die ganze Zeit gewusst, es aber bislang von sich ferngehalten. »Ja. Sie haben wahrscheinlich recht.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Beatrice.

»Wollen Sie meine ehrliche Meinung wissen?«, entgegnete ich.

Sie sah mich unverwandt an und legte den Kopf leicht schräg. »Ich bin mir nicht sicher.«

»Sie haben doch einen Sohn, der bald in die Schule geht. Richtig?«

Beatrice nickte.

»Sparen Sie das Geld, das Sie für uns ausgegeben hätten, und stecken Sie es in seine Ausbildung.«

Beatrice rührte sich nicht; mit dem leicht zur Seite geneigten Kopf wirkte sie jetzt wie geohrfeigt. »Sie nehmen den Fall also nicht an, Mr. Kenzie?«

»Ich weiß einfach nicht, ob das einen Sinn hätte.«

Beatrice erhob in dem kleinen Büro ihre Stimme. »Ein Kind wird –«

»Vermisst«, sagte Angie. »Ja. Aber es suchen schon viele Menschen nach ihr. Die Berichterstattung war umfassend. Jeder in der Stadt und wohl die meisten im Staat wissen, wie sie aussieht. Und glauben Sie mir, die meisten halten Ausschau nach ihr.«

Beatrice sah Lionel an. Lionel zuckte ganz leicht mit den Schultern. Sie wandte sich wieder mir zu. Beatrice war eine kleine Frau, gerade mal eins sechzig. Ihr blasses Gesicht war herzförmig, die Sommersprossen hatten die gleiche Farbe wie ihr Haar, Knopfnase und Kinn wirkten kindlich rund. Doch ihre Aura war eine wütende Stärke, so als würde sie lieber sterben als nachgeben.

»Ich bin zu Ihnen beiden gekommen«, sagte sie, »weil Sie Menschen finden. Das ist Ihr Job. Sie haben vor ein paar Jahren den Mann gefunden, der all diese Morde begangen hatte, Sie haben das Baby und seine Mutter auf dem Spielplatz gerettet, Sie –«

»Mrs. McCready«, sagte Angie und hob eine Hand.

»Keiner wollte, dass ich hierherkomme«, sagte sie. »Helene nicht, mein Mann nicht, die Polizei nicht. ›Du vergeudest nur dein Geld‹, sagten alle. ›Sie ist noch nicht mal dein Kind‹, sagten sie.«

»Liebling.« Lionel legte seine Hand auf ihre.

Sie schüttelte sie ab und beugte sich vor, bis ihre Arme auf dem Schreibtisch lagen und sie mich aus saphirblauen Augen ansah.

»Mr. Kenzie, Sie können sie finden.«

»Nein«, entgegnete ich sanft. »Nicht, wenn sie wirklich gut versteckt ist. Nicht, wenn so viele Leute, die darin ebenso gut sind wie wir, nicht in der Lage waren, sie zu finden. Wir sind einfach nur zwei mehr, Mrs. McCready. Nur zwei mehr.«

»Aber es schadet doch nichts«, sagte Beatrice. »Oder? Was könnte es schaden?«

2

Wenn man ausschließen kann, dass ein Kind ausgerissen ist oder von einem Elternteil entführt wurde, dann ist das Verschwinden eines Kindes aus Sicht eines Privatdetektivs durchaus mit einem Mordfall zu vergleichen: Wird der Fall nicht innerhalb von zweiundsiebzig Stunden gelöst, dann wird er höchstwahrscheinlich nie geklärt. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass das Kind tot ist, wenn auch die Wahrscheinlichkeit recht hoch ist. Doch wenn das Kind noch lebt, geht es ihm definitiv schlechter als zum Zeitpunkt des Verschwindens. Es gibt keine Grauzone, wenn es um Erwachsene geht und Kinder, die nicht ihre eigenen sind; a) man hilft dem Kind, oder b) man nutzt es aus. Zwar kann man es auf unterschiedliche Weise ausnutzen – Erpressung der Eltern, Ausbeutung als Arbeitskraft, sexueller Missbrauch aus persönlichen Gründen oder zum Profit, Mord –, doch keine davon hat etwas mit Fürsorge zu tun. Und wenn das Kind nicht stirbt und schließlich gefunden wird, sind die Verletzungen so tief, dass für immer Narben bleiben.

In den vergangenen vier Jahren hatte ich zwei Männer umgebracht. Ich hatte zugesehen, wie mein ältester Freund und eine Frau, die ich kaum kannte, vor meinen Augen starben. Ich hatte Kinder gesehen, die auf die schlimmste nur denkbare Weise geschändet worden waren, war Männern und Frauen begegnet, die reflexhaft töteten, hatte Beziehungen erlebt, die in all der Gewalt verbrannten, mit der ich mich bewusst umgeben hatte.

Und das alles war ich leid.

Amanda McCready wurde zu diesem Zeitpunkt mindestens sechzig, vielleicht sogar siebzig Stunden vermisst, und ich wollte sie nicht mit blutverklebten Haaren in irgendeinem Müllcontainer finden. Ich wollte sie nicht in sechs Monaten finden, mit leeren Augen und missbraucht von irgendeinem Irren mit Videokamera und einer Mailingliste von Pädophilen. Ich wollte keiner Vierjährigen in die Augen schauen und dort den Tod all dessen sehen, was an ihr rein und unschuldig gewesen war.

Ich wollte Amanda McCready nicht finden. Das sollte jemand anderer tun.

Doch ich war in den letzten paar Tagen in diesem Fall gefangen wie der Rest der Stadt, es war in meinem Viertel passiert, und vielleicht waren ›Vierjährige‹ und ›vermisst‹ keine Wörter, die man in ein und demselben Satz hören will, also willigten wir ein, uns in einer halben Stunde mit Lionel und Beatrice McCready in Helenes Wohnung zu treffen.

»Also übernehmen Sie den Fall?«, fragte Beatrice, als Lionel und sie aufstanden.

»Das werden wir unter vier Augen besprechen«, sagte ich.

»Aber –«

»Mrs. McCready«, sagte Angie, »in dieser Detektei werden die Dinge auf eine bestimmte Weise gehandhabt. Wir einigen uns unter vier Augen, bevor wir irgendetwas zusagen.«

Das gefiel Beatrice zwar nicht, aber ihr war auch klar, dass sie dagegen nicht sonderlich viel machen konnte.

»Wir kommen in einer halben Stunde bei Helene vorbei«, sagte ich.

»Danke«, sagte Lionel und zupfte seine Frau am Ärmel.

»Ja. Danke«, sagte Beatrice, klang aber nicht sehr überzeugend. Ich hatte den Eindruck, dass erst die vom Präsidenten befohlene Entsendung der Nationalgarde, die nach ihrer Nichte suchen sollte, sie zufriedenstellen würde.

Wir lauschten, wie ihre Schritte die Kirchturmstufen hinunter verhallten, dann schaute ich aus dem Fenster zu, wie die beiden den Schulhof neben der Kirche überquerten und zu einem von Wind und Wetter mitgenommenen Dodge Aries gingen. Die Sonne war weiter westlich bis außerhalb meines Sichtfelds gezogen, und der Himmel an diesem Tag Anfang Oktober war immer noch sommerlich blass, wenn auch bereits ein Hauch von Rost darin schwebte. »Vinny, warte doch!«, rief eine Kinderstimme, »Vinny!«, und aus dem dritten Stock klang das irgendwie einsam. Der Wagen von Beatrice und Lionel wendete, und ich beobachtete die Qualmwolke aus ihrem Auspuff, bis sie verschwunden war.

»Also ich weiß nicht«, sagte Angie und lehnte sich zurück. Sie legte ihre Füße in Turnschuhen auf den Schreibtisch und strich das lange dicke Haar zurück. »Bei diesem Fall weiß ich einfach nicht.«

Angie trug kurze schwarze Fahrradshorts und ein weites schwarzes Top über einem engen weißen. Auf dem schwarzen Top standen vorn die weißen Buchstaben NIN, auf dem Rücken die Wörter PRETTY HATE MACHINE. Das Top hatte sie seit etwa acht Jahren, und noch immer sah es so aus, als würde sie es zum ersten Mal tragen. Ich lebte nun schon seit fast zwei Jahren mit Angie zusammen. Soweit ich das beurteilen konnte, kümmerte sie sich auch nicht besser um ihre Kleidung als ich mich um meine, aber ich besaß Hemden, die eine halbe Stunde nachdem ich das Preisschild abgemacht hatte aussahen, als seien sie durch einen Automotor gezogen worden, wohingegen sie Socken aus Highschool-Tagen ihr Eigen nannte, die immer noch blütenweiß waren. Frauen und ihre Kleidung verblüfften mich häufig in dieser Hinsicht, aber ich schätzte, das war eins dieser Mysterien, die ich nie klären würde – wie das Rätsel, was tatsächlich mit Amelia Earhart geschehen war oder mit der Glocke, die dort gehangen hatte, wo sich jetzt unser Büro befand.

»Du weißt nicht?«, fragte ich. »Wie meinst du das?«

»Ein Kind, das vermisst wird, eine Mutter, die offenbar nicht sonderlich eifrig sucht, eine aufdringliche Tante …«

»Du fandest Beatrice aufdringlich?«

»Na, auch nicht aufdringlicher als ein Zeuge Jehovahs mit einem Fuß in der Tür.«

»Sie macht sich Sorgen um das Kind. Riesige Sorgen.«

»Sie hat mein Mitgefühl.« Angie zuckte mit den Schultern. »Trotzdem mag ich es nicht, derart bedrängt zu werden.«

»Stimmt, darin bist du eher Mittelklasse.«

Sie warf mit einem Bleistift nach mir und traf mich am Kinn. Ich rieb mir die Stelle und suchte nach dem Bleistift, damit ich ihn zurückwerfen konnte.

»Alles schön und gut, bis jemand ein Auge verliert«, murmelte ich, während ich unter meinem Stuhl nach dem Bleistift suchte.

»Wir stehen ziemlich gut da«, sagte sie.

»Stimmt.« Der Bleistift war nicht unter dem Stuhl oder unter dem Schreibtisch.

»Haben mehr verdient als im letzten Jahr.«

»Dabei ist erst Oktober.« Kein Bleistift auf den Dielen oder unter dem Minikühlschrank. Vielleicht war er bei Amelia Earhart gelandet, bei Amanda McCready und der Glocke.

»Erst Oktober«, bestätigte Angie.

»Und du meinst, wir brauchen diesen Fall nicht.«

»So ungefähr.«

Ich gab die Suche nach dem Bleistift auf und sah aus dem Fenster. Der anfängliche Rosthauch war nun blutrot, der weiße Himmel verdunkelte sich blau. Auf der anderen Straßenseite in einer Wohnung im zweiten Stock flammte die erste gelbe Glühbirne des Abends auf. Die Luft, die durch das Fliegengitter hereinkam, roch für mich nach früher Jugend und Ballspielen, nach langen, lässigen Tagen, die in lange, lässige Abende übergingen.

»Findest du nicht?«, fragte Angie nach einer Weile.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Sprich jetzt, oder schweige für immer«, sagte sie leichthin.

Ich drehte mich um und sah sie an. Abendlicht fiel durch das Fenster hinter ihr, und goldene Staubkörnchen schwebten über Angies dunklen Haaren. Ihre honigfarbene Haut war nach dem langen trockenen Sommer, der sich bis weit in den Herbst erstreckt hatte, dunkler als sonst, und nach monatelangem täglichem Basketballspiel auf dem Ryan-Spielplatz waren die Muskeln in ihren Waden und ihr Bizeps deutlich geformt.

Meiner bisherigen Erfahrung mit Frauen nach ist ihre Schönheit häufig das Erste, was man übersieht, wenn man erst mal eine Weile intim miteinander ist. Rein verstandesmäßig weiß man, dass die Schönheit vorhanden ist, doch nimmt die emotionale Fähigkeit ab, sich davon überwältigen oder überraschen zu lassen, bis man schier trunken ist. Doch jeden Tag gibt es bei mir Augenblicke, da werfe ich Angie einen Blick zu und spüre den süßen Schmerz im Brustkorb.

»Was denn?« Angie musste breit grinsen.

»Nichts«, sagte ich sanft.

Sie hielt meinem Blick stand. »Ich liebe dich auch.«

»Echt?«

»Ja, echt.«

»Beängstigend, oder?«

»Manchmal schon.« Sie zuckte mit den Schultern. »Manchmal überhaupt nicht.«

Wir saßen eine Weile und sagten kein Wort, dann schaute Angie zu ihrem Fenster hinaus.

»Ich bin mir einfach nicht sicher, ob wir dieses … dieses Durcheinander gerade nötig haben.«

»Welches Durcheinander meinst du?«

»Ein vermisstes Kind. Noch schlimmer, ein vom Erdboden verschlucktes Kind.« Sie schloss die Augen und atmete die warme Luft mit der Nase ein. »Ich mag es, glücklich zu sein.« Sie schlug die Augen auf, schaute aber weiter hinaus. Ihr Kinn zitterte ein wenig. »Verstehst du?«

 

Vor anderthalb Jahren waren Angie und ich eine Beziehung eingegangen, nachdem wir Freunden zufolge eine jahrzehntelange Liebesaffäre hatten. Diese achtzehn Monate waren die wirtschaftlich erfolgreichste Zeit gewesen, die unsere Detektei jemals erlebt hatte.

Vor knapp zwei Jahren hatten wir den Fall Gerry Glynn abgeschlossen – vielleicht auch nur überlebt. Bostons erster Serienmörder nach dreißig Jahren hatte viel Aufmerksamkeit bekommen und mit ihm auch jene, denen das Verdienst zugeschrieben wurde, ihn gefasst zu haben. Landesweite Nachrichten, nicht enden wollendes Wiederkäuen in den Klatschzeitungen, zwei Taschenbücher aus der Reihe ›Wahre Verbrechen‹, ein drittes war angeblich in Arbeit –, und schon gehörten Angie und ich zu den bekannteren Privatermittlern in der Stadt.

Nach Gerry Glynns Tod weigerten wir uns fünf Monate lang, irgendwelche Fälle anzunehmen, doch das schien nur das Interesse möglicher Mandanten zu wecken. Nachdem wir die Ermittlungen im Falle einer verschwundenen Frau namens Desiree Stone abgeschlossen hatten, gaben wir uns einen Ruck, und in den darauffolgenden Wochen drängten sich die Leute auf der Treppe im Glockenturm.

Ohne uns das gegenseitig einzugestehen, lehnten wir kurzerhand alle Fälle ab, die nach Gewalt rochen oder Einblicke in die dunkleren Ecken der menschlichen Natur befürchten ließen. Ich glaube, wir beide fanden, dass wir eine Pause verdient hatten, also konzentrierten wir uns auf Versicherungsbetrug, Wirtschaftskriminalität und einfache Scheidungsangelegenheiten.

Im Februar nahmen wir sogar das Hilfeersuchen einer älteren Frau an, wir möchten doch bitte ihren entlaufenen Leguan suchen. Das hässliche Vieh hieß Puf‌fy, und es handelte sich um ein vierzig Zentimeter großes, schillernd grünes Ungetüm mit, wie seine Besitzerin es formulierte, »einer negativen Einstellung zur Menschheit«. Wir entdeckten Puf‌fy in der Wildnis der Bostoner Vorstadt, als er über das klamme Green von Loch 14 im Belmont Hills Country Club eilte und wie wild mit seinem dornigen Schwanz wedelte, als er zu dem bisschen Sonne wollte, das er auf dem Fairway von Loch 15 erspäht hatte. Ihm war kalt. Er wehrte sich nicht lang. Allerdings hätten wir ihn beinahe zu einem Gürtel verarbeitet, als er sich auf dem Rücksitz unseres Firmenwagens erleichterte, aber seine Besitzerin bezahlte die Reinigung und entlohnte uns großzügig für die Rückgabe ihres geliebten Puf‌fy.

Ein solches Jahr war das gewesen. Nicht gerade die allerbesten Frontgeschichten für den Bartresen, aber außergewöhnlich gut für das Bankkonto. Und so peinlich es auch gewesen sein mochte, eine verwöhnte Echse über einen gefrorenen Golfplatz zu jagen, es war allemal besser, als beschossen zu werden. Viel besser.

»Glaubst du, wir haben den Mumm verloren?«, fragte mich Angie neulich.

»Auf jeden Fall«, sagte ich. Und lächelte.

 

»Und was, wenn sie tot ist?«, fragte Angie, während wir die Treppe hinunterstiegen.

»Das wäre schlecht«, sagte ich.

»Schlechter als schlecht, je nachdem, wie tief wir mit drinstecken.«

»Du willst ihnen also absagen.« Ich öffnete die Tür zum hinteren Schulhof hinaus.

Sie sah mich mit halbgeöffnetem Mund an, als fürchte sie, ihre Gedanken in Worte zu fassen und diese auszusprechen, weil sie dann jemand wäre, der sich weigerte, einem Kind in Not zu helfen.

»Ich möchte jetzt noch nicht zusagen«, bekam sie heraus, als wir unseren Wagen erreichten.

Ich nickte. Das Gefühl kannte ich.

»Alles an diesem Verschwinden riecht faul«, sagte Angie, während wir die Dorchester Avenue zu Helenes und Amandas Wohnung entlangfuhren.

»Ich weiß.«

»Vierjährige Kinder verschwinden nicht einfach so, ohne dass jemand nachhilft.«

»Bestimmt nicht.«

Entlang der Straße kamen die Menschen nach dem Essen aus ihren Häusern. Einige stellten Gartenstühle auf ihre kleinen Veranden; andere gingen die Avenue entlang zu Bars oder Ballspielen im Dämmerlicht. Ich roch den Schwefel einer kürzlich gezündeten Flaschenrakete, und der feuchte Abend hing wie ein vergessener Atemzug in jenem schmerzlichen Farbton zwischen Dunkelblau und plötzlichem Schwarz.

Angie zog die Beine an die Brust und legte ihr Kinn auf die Knie. »Vielleicht bin ich ja feige geworden, aber ich habe nichts dagegen, Leguane über Golfplätze zu jagen.«

Ich sah durch die Windschutzscheibe und bog von der Dorchester Avenue in die Savin Hill Avenue.

»Ich auch nicht«, sagte ich.

 

Wenn ein Kind verschwindet, wird der Raum, den es eingenommen hat, sofort von Dutzenden Menschen gefüllt. Verwandte, Freunde, Polizeibeamte, Fernseh- und Zeitungsreporter – sie alle entfachen eine blindwütige Energie, machen viel Lärm und teilen sich das Gefühl der Intensität, des entschlossenen, gemeinsamen Engagements für ein Ziel.

Doch in all dem Lärm ist nichts lauter als das Schweigen des vermissten Kindes. Dieses Schweigen ist achtzig bis hundert Zentimeter groß, man spürt es an der Hüfte, hört es von den Dielen heraufsteigen, und es schreit einen aus Ecken und Spalten und dem ausdruckslosen Gesicht einer Puppe an, die auf dem Boden neben dem Bett liegt. Dieses Schweigen ist anders als die Stille bei Beerdigungen und Totenwachen. Die Stille der Toten verbreitet ein Gefühl von Endgültigkeit; eine Stille, von der man weiß, dass man sich damit abfinden muss. Das Schweigen eines vermissten Kindes ist nichts, womit man sich abfinden möchte; man weigert sich, es zu akzeptieren, deshalb schreit es einen ja so laut an.

Die Stille der Toten sagt: Goodbye.

Das Schweigen der Vermissten sagt: Findet mich.

Es hatte den Anschein, als hätte sich die halbe Nachbarschaft und ein Viertel der Bostoner Polizei in Helene McCreadys Wohnung versammelt. Vom Wohnzimmer aus ging es durch einen Säulenvorbau ins Esszimmer, wo das Auge des Wirbelsturms war. Die Polizei hatte ganze Reihen von Telefonen auf dem Boden aufgereiht, die alle in Gebrauch waren; andere sprachen in ihre Handys. Ein korpulenter Mann in einem T-Shirt mit der Aufschrift PROUD TOBE A DOT RAT schaute von einem Stapel Handzettel auf, die auf dem Couchtisch vor ihm lagen, und sagte: »Beatrice, Channel Four möchte Helene morgen um achtzehn Uhr haben.«

Eine Frau legte eine Hand über das Mikro ihres Handys. »Die Produzenten von Annie in the AM haben angerufen. Sie wollen Helene in der Morgenshow.«

»Mrs. McCready«, rief ein Polizist aus dem Esszimmer, »eine Sekunde bitte.«

Beatrice nickte dem Korpulenten und der Frau mit dem Handy zu und sagte zu uns: »Amandas Zimmer ist das erste rechts.«

Ich nickte, Beatrice verschwand in der Menge und ging ins Esszimmer.

Amandas Tür stand offen, und das Zimmer selbst war still und dunkel, so als könne der Straßenlärm nicht bis hierher vordringen. Eine Toilettenspülung wurde betätigt, ein Streifenpolizist kam aus dem Bad und sah uns an, während er mit der rechten Hand den Reißverschluss zuzog.

»Freunde der Familie?«, fragte er.

»Ja.«

Er nickte. »Rühren Sie bitte nichts an.«

»Keine Sorge«, sagte Angie.

Wieder nickte er und ging den Flur entlang in die Küche.

Ich nahm meinen Autoschlüssel, um das Licht in Amandas Zimmer einzuschalten. Zu diesem Zeitpunkt war jeder Gegenstand im Zimmer bereits auf Fingerabdrücke untersucht worden, doch die Polizei störte es immer, wenn man an einem Tatort etwas mit bloßen Händen anfasste.

Über Amandas Bett baumelte eine blanke Glühbirne von der Decke, die kupferne Abdeckplatte fehlte, und die offenliegenden Kabel waren staubig. Die Decke musste dringend gestrichen werden, und die sommerliche Hitze hatte die Poster von den Wänden geholt. Sie lagen verknüllt an den Sockelleisten. Die Klebestreifen bildeten unregelmäßige Rechtecke dort, wo die Poster gehangen hatten.

Die Wohnung war vom Grundriss her identisch mit meiner eigenen, so wie die meisten Wohnungen in den dreigeschossigen Häusern im Viertel. Amandas Zimmer war demnach nur halb so groß wie das andere Schlafzimmer, das vermutlich Helenes Zimmer war, hinter dem Bad rechts, gleich gegenüber der Küche und mit Blick auf den Balkon zum Hinterhof darunter. Amandas Zimmer lag zum Nachbarhaus hin und hatte mittags wohl genauso wenig Licht wie jetzt um 20 Uhr.

Das Zimmer war muffig, das Mobiliar karg. Die Kommode gegenüber vom Bett sah aus wie von einer Haushaltsauflösung, und das Bett selbst hatte kein Gestell. Eine einzelne Matratze und ein Rost lagen auf dem Boden, darauf ein Laken, das nicht zum Kissen und zur in der Hitze beiseitegeworfenen König-der-Löwen-Steppdecke passte.

Am Fußende des Betts schaute eine Puppe dumpf an die Zimmerdecke; neben der Kommode lag ein Stoffhase auf der Seite. Auf der Kommode stand ein alter Schwarzweißfernseher, auf dem Nachttisch ein kleines Radio, dafür entdeckte ich keine Bücher in dem Zimmer, nicht mal ein Malbuch.

Ich versuchte mir das Mädchen vorzustellen, das in diesem Zimmer geschlafen hatte. Natürlich hatte ich in den letzten Tagen mehr als genug Fotos von Amanda gesehen, doch die verrieten mir nicht, was für ein Gesicht sie machte, wenn sie am Abend in dieses Zimmer kam oder am Morgen darin aufwachte.

Hatte sie versucht, die Poster wieder aufzuhängen? Hatte sie sich die hellblauen und gelben Pop-up-Bücher gewünscht, die sie im Einkaufszentrum gesehen hatte? Wenn sie spätnachts in der Dunkelheit und Stille dieses Zimmers allein wachlag, konzentrierte sie sich dann auf den einsamen Nagel an der Wand gegenüber vom Bett oder auf den blassbraunen Wasserfleck, der sich an der Zimmerdecke gesammelt hatte?

Ich sah die glänzenden, hässlichen Augen der Puppe und hätte sie am liebsten mit dem Fuß geschlossen.

»Mr. Kenzie, Miss Gennaro.« Beatrice rief aus der Küche.

Angie und ich schauten uns ein letztes Mal um, dann benutzte ich meinen Autoschlüssel, um das Licht wieder auszuschalten, und wir gingen den Flur entlang in die Küche.

Dort lehnte ein Mann mit den Händen in den Taschen am Herd. Er schien auf uns zu warten. Er war einige Zentimeter kleiner als ich, breit und rund wie ein Ölfass, hatte ein jungenhaftes, fröhliches, leicht gerötetes Gesicht, so als würde er einen Großteil seiner Zeit draußen verbringen. Sein Hals sah paradoxerweise erschöpft und schlaff aus wie bei jemandem kurz vor der Pensionierung, und den Mann umgab eine hundert Jahre alte Härte, eine Unerbittlichkeit, die dich und dein ganzes Leben mit einem einzigen Blick beurteilt.

»Lieutenant Jack Doyle«, sagte er und drückte mir die Hand.

Ich schüttelte sie. »Patrick Kenzie.«

Angie stellte sich vor und gab ihm ebenfalls die Hand, dann standen wir schweigend in der Küche, und er musterte uns. Sein eigenes Gesicht war nicht zu deuten, doch die Intensität seines Blickes hatte etwas von einem Magneten, etwas lag darin, in das man hineinschauen wollte, obwohl man wusste, dass man lieber wegschauen sollte.

Ich hatte den Mann in den letzten Tagen ein paarmal im Fernsehen gesehen. Er leitete bei der Bostoner Polizei die Einheit Crimes Against Children (Verbrechen an Minderjährigen), und wenn er in die Kamera sah und erklärte, dass er Amanda McCready finden würde, ganz gleich, was dazu nötig war, dann hatte man kurzzeitig Mitleid mit demjenigen, der sie entführt hatte.

»Lieutenant Doyle wollte Sie gern kennenlernen«, sagte Beatrice.

»Was hiermit erledigt wäre«, sagte ich.

Doyle lächelte. »Haben Sie eine Minute?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Tür, die auf den Balkon hinausging, öffnete sie und warf uns einen Blick über die Schulter zu.

»Sieht wohl so aus«, sagte Angie.

 

Die Balkonbrüstung brauchte noch dringender einen Anstrich als die Decke in Amandas Zimmer. Jedes Mal, wenn sich einer von uns auf die Brüstung stützte, knisterte die abgeplatzte, sonnenverbrannte Farbe unter unseren Unterarmen wie Holzscheite im Feuer.

Auf dem Balkon konnte ich einen Grill ein paar Häuser weiter riechen, und von irgendwo drangen die Geräusche einer Hinterhofparty herüber – eine Frau beklagte sich über einen Sonnenbrand, aus dem Radio drangen die Mighty Mighty Bosstones, und das Lachen klang so scharf und abrupt wie Eiswürfel in einem Glas. Kaum zu glauben, dass es Oktober war. Kaum zu glauben, dass der Winter vor der Tür stand.

Kaum zu glauben, dass Amanda McCready dort draußen immer weiter weg trieb und die Welt sich einfach weiterdrehte.

»Und«, fragte Doyle und lehnte sich über die Brüstung, »haben Sie den Fall schon gelöst?«

Angie sah mich an und verdrehte die Augen.

»Nein«, antwortete ich, »aber wir sind kurz davor.«

Doyle kicherte leise und schaute auf den Flecken aus Beton und totem Gras unterhalb des Balkons hinab.

Angie sagte: »Ich nehme mal an, Sie haben den McCreadys geraten, sich nicht mit uns in Kontakt zu setzen.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Aus demselben Grund, aus dem ich das an Ihrer Stelle tun würde«, antwortete Angie, und er drehte den Kopf, um sie anzuschauen. »Zu viele Köche.«

Doyle nickte. »Das ist das eine.«

»Und das andere?«, fragte ich.

Doyle faltete die Hände, dann streckte er sie aus, bis die Knöchel knackten. »Kommen Ihnen diese Leute vor, als würden sie in Geld schwimmen? Besitzen sie Schnellboote und diamantbesetzte Kronleuchter, von denen ich nichts weiß?«

»Nein.«

»Und seit der Nummer mit Gerry Glynn verlangen Sie ganz hübsche Summen, habe ich gehört.«

Angie nickte. »Und ganz hübsche Vorschüsse.«

Doyle warf ihr ein schmales Lächeln zu und drehte sich wieder zur Brüstung um. Er hielt sich mit beiden Händen daran fest und lehnte sich zurück. »Bis das kleine Mädchen gefunden wird, könnten Lionel und Beatrice mit hunderttausend in den Miesen sein. Mindestens. Sie sind nur Tante und Onkel, aber die beiden würden auch Fernsehzeit kaufen, um sie zu finden, ganzseitige Anzeigen in allen landesweiten Zeitungen, sie würden Amandas Bild auf Werbetafeln an den Highways pflastern, Wahrsager engagieren, Schamanen und Privatschnüffler.« Er sah uns an. »Sie werden pleitegehen. Das wissen Sie doch?«

»Das ist einer der Gründe, warum wir versuchen, den Fall abzulehnen«, sagte ich.

»Wirklich?« Doyle hob eine Augenbraue. »Und warum sind Sie dann hier?«

»Beatrice ist hartnäckig«, antwortete Angie.

Er sah zurück zum Küchenfenster. »Ja, das ist sie.«

»Wir sind ein wenig verdutzt, dass Amandas Mutter nicht ebenso hartnäckig ist.«

Doyle zuckte mit den Schultern. »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie bis oben hin voll mit Beruhigungsmitteln, Prozac oder was immer man heutzutage den Eltern von vermissten Kindern gibt.« Er ließ die Brüstung los. »Egal. Hören Sie, ich möchte nicht bei zwei Leuten auf dem falschen Fuß anfangen, die mir vielleicht behilflich sein können, das Kind zu finden. Ohne Scheiß. Ich möchte nur sicherstellen, dass Sie mir a) nicht in die Quere kommen, b) nicht der Presse gegenüber erklären, Sie seien mit an Bord, weil die Polizei zu dumm ist, vom Boot aus das Wasser zu finden, und dass Sie c) die Angst dieser Leute nicht ausnutzen, um Geld zu machen. Zufällig mag ich Lionel und Beatrice. Das sind gute Menschen.«

»Was war b) noch mal?« Ich lächelte.

Angie sagte: »Lieutenant, wir bemühen uns sehr, diesen Fall nicht anzunehmen. Deshalb werden wir gar nicht lange genug hier sein, um Ihnen in die Quere zu kommen.«

Lange sah er sie unverwandt an, wie es seine Art war.

»Bislang weigert sich Beatrice jedoch, unser Nein zu akzeptieren.«

»Und Sie glauben, dass wird sich ändern?« Er lächelte sanft und schüttelte den Kopf.

»Hoffen können wir ja«, meinte ich.

Doyle schaute zum Hinterhof und zu dem daneben hinunter. »Ganz schön lange für eine Vierjährige.« Er seufzte. »Ganz schön lange«, wiederholte er.

»Und Sie haben keine Spuren?«, fragte Angie.

Doyle zuckte mit den Schultern. »Nichts, worauf ich mein Haus verwetten würde.«

Die brüchige Farbe unter seinen Händen knisterte. »Ich verrate Ihnen mal, wie ich zu diesem Job bei CAC gekommen bin. Vor etwa zwanzig Jahren war meine Tochter Shannon verschwunden. Einen Tag lang.« Er drehte sich um und reckte einen Zeigefinger hoch. »Nicht mal einen Tag, um ehrlich zu sein. Eigentlich war es von sechzehn Uhr bis zum nächsten Morgen um acht, aber sie war erst sechs. Und ich sage Ihnen, Sie haben keine Ahnung, wie lang eine Nacht sein kann, bis Ihr Kind vermisst wird. Shannons Freunde hatten sie das letzte Mal gesehen, wie sie mit ihrem Fahrrad nach Hause fuhr, und ein paar von ihnen meinten, sie hätten ein Auto gesehen, das ihr ganz langsam gefolgt ist.« Er rieb sich die Augen mit dem Handrücken und schnaufte schwer bei dieser Erinnerung. »Am nächsten Morgen fanden wir sie in einem Abwassergraben in der Nähe eines Parks. Sie war gestürzt und hatte dabei das Fahrrad zerlegt, sich beide Knöchel gebrochen und war von den Schmerzen ohnmächtig geworden.«

Er bemerkte unsere Gesichter und hob die Hand.

»Es ging ihr gut«, sagte er. »Zwei gebrochene Knöchel tun natürlich fürchterlich weh, und für eine Weile war sie ganz verschreckt, aber das war auch schon das Schlimmste, was sie oder meine Frau und ich in ihrer ganzen Kindheit durchleiden mussten. Wir haben Glück gehabt. Verflucht, wir hatten richtiges Glück.« Er bekreuzigte sich schnell. »Worauf ich hinauswill? Als Shannon vermisst wurde und die gesamte Nachbarschaft und alle meine Freunde bei der Polizei nach ihr suchten und Tricia und ich überall herumfuhren oder -gingen und uns die Haare rauften, haben wir auf einen Kaffee angehalten. Zum Mitnehmen. Aber in diesen zwei Minuten, in denen wir im Dunkin’ Donuts stehen und auf unseren Kaffee warten, da schau ich Tricia an, und sie schaut mich an, und wir beide wissen, ohne dass wir ein Wort sagen, wenn Shannon tot ist, dann sind wir auch tot. Unsere Ehe – vorüber. Unser Glück – vorüber. Unser Leben wäre nur noch ein langer, schmerzvoller Weg. Nichts anderes zählt mehr. Alles Gute und Hoffnungsvolle, eigentlich alles, wofür wir gelebt haben, würde mit unserer Tochter sterben.«

»Und deshalb sind Sie bei der CAC?«, fragte ich.

»Deshalb habe ich die Abteilung aufgebaut«, entgegnete er. »Das ist mein Baby. Ich habe sie geschaffen. Hat mich fünfzehn Jahre gekostet, aber ich hab’s geschafft. CAC gibt es nur, weil ich in dem Doughnut-Laden meine Frau angeschaut habe und auf der Stelle wusste, dass niemand den Verlust eines Kindes überleben kann. Niemand. Sie nicht, ich nicht und so eine Verliererin wie Helene McCready erst recht nicht.«

»Helene ist eine Verliererin?«, fragte Angie.

Der Kommissar hob eine Augenbraue. »Wissen Sie, warum sie zu ihrer Freundin Dottie gegangen ist statt umgekehrt?«

Wir schüttelten die Köpfe.

»Die Bildröhre in ihrem Fernseher ging nicht mehr richtig. Die Farben kamen und gingen, und das hat Helene nicht gemocht. Also hat sie ihr Kind zurückgelassen und ist nach nebenan gegangen.«

»Um fernzusehen.«

Er nickte. »Um fernzusehen.«

»Wow«, sagte Angie.

Er sah uns eine ganze Minute an, dann zog er seine Hose hoch und sagte: »Poole und Broussard, zwei meiner Besten, werden sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Das sind Ihre Kontaktleute. Wenn Sie helfen können, werde ich Ihnen nicht im Weg stehen.« Wieder rieb er sich das Gesicht mit beiden Händen und schüttelte den Kopf. »Mist, was bin ich müde.«

»Wann haben Sie das letzte Mal geschlafen?«, fragte Angie.

»Abgesehen von einem Nickerchen?« Er kicherte leise. »Schon ein paar Tage her.«

»Sie müssen doch jemanden haben, der Sie ablösen kann«, meinte Angie.

»Ich will keine Ablösung«, sagte er. »Ich will das Kind finden. Und zwar am Stück. Gestern.«

3

Als wir Lionels Haus zusammen mit Beatrice und ihm betraten, schaute Helene McCready sich selbst im Fernsehen zu.

Die Helene in der Mattscheibe trug ein hellblaues Kleid mit einer passenden Jacke und einer weißen Rosenblüte am Revers. Das Haar floss ihr bis zu den Schultern herab. Auf dem Gesicht fand sich nur ein Hauch zu viel Make-up, vielleicht ein wenig zu hastig um die Augen aufgetragen.

Die echte Helene McCready trug ein pinkfarbenes T-Shirt mit den Worten BORN TO SHOP auf der Vorderseite und eine weiße Jogginghose, die knapp über den Knien abgeschnitten worden war. Ihr Haar, das sie zu einem nachlässigen Pferdeschwanz gebunden hatte, hatte vom vielen Färben seinen ursprünglichen Farbton verloren und war irgendwo zwischen Platinblond und fettigem Weizenblond steckengeblieben.

Neben der echten Helene McCready saß eine Frau, etwa gleichaltrig, aber dicker und blasser, und als sie die Zigarette an den Mund führte und sich vorbeugte, um sich auf den Fernseher zu konzentrieren, zeigten sich Cellulitegrübchen unter ihren Oberarmen.

»Schau mal, Dottie, schau«, sagte Helene. »Da sind Gregor und Head Sparks.«

»Ach ja!« Dottie deutete auf die Mattscheibe, auf der zwei Männer hinter der Reporterin gingen, die Helene interviewte. Die Männer winkten in die Kamera.

»Schau mal, wie sie winken.« Helene lächelte. »Diese Penner.«

»Klugscheißer«, sagte Dottie.

Helene führte mit derselben Hand, in der sie eine Zigarette hielt, eine Dose Miller an die Lippen, und als sie trank, bog sich die lange Asche zu ihrem Kinn.

»Helene«, sagte Lionel.

»Moment, Moment.« Helene wedelte mit der Bierdose in Lionels Richtung und starrte weiter in die Mattscheibe. »Das ist die beste Stelle.«

Beatrice bemerkte unsere Blicke und rollte mit den Augen.

Im Fernsehen fragte die Reporterin Helene, wer ihrer Meinung nach für die Entführung ihres Kindes verantwortlich sei.

»Was soll man denn auf so eine Frage antworten?«, entgegnete die Fernseh-Helene. »Ich meine, ehrlich, wer würde mir denn mein kleines Mädchen wegnehmen? Wozu? Sie hat nie jemandem etwas getan. Sie war doch nur ein kleines Mädchen mit einem süßen Lächeln. Sie hat die ganze Zeit nur gelächelt.«

»Sie hatte wirklich ein süßes Lächeln«, sagte Dottie.

»Hat«, betonte Beatrice.

Die Frauen auf der Couch schienen sie nicht gehört zu haben.

»Oh, das hatte sie«, sagte Helene. »Es war perfekt. Einfach perfekt. Es bricht einem das Herz.« Helene brach die Stimme, und sie stellte ihr Bier lange genug ab, um sich ein Kleenex aus einer Schachtel auf dem Couchtisch zu ziehen.

Dottie tätschelte ihr Knie und versuchte, sie zu beschwichtigen. »Na, na«, sagte sie. »Na, na.«

»Helene«, sagte Lionel.

Die Fernseh-Helene war Aufnahmen gewichen, auf denen O.J. Simpson beim Golfen irgendwo in Florida zu sehen war.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass er damit durchgekommen ist«, sagte Helene.

Dottie drehte sich zu ihr um. »Ich weiß«, sagte sie, als sei ihr gerade die Last eines großen Geheimnisses von den Schultern genommen worden.

»Wenn er nicht schwarz wäre«, sagte Helene, »würde er jetzt im Gefängnis sitzen.«

»Wenn er nicht schwarz wäre«, sagte Dottie, »wäre er auf dem elektrischen Stuhl gelandet.«

»Wenn er nicht schwarz wäre«, sagte Angie, »würden Sie beide sich nicht dafür interessieren.«

Die beiden drehten die Köpfe zu uns. Helene schien ein wenig überrascht, so als seien wir plötzlich aus der Luft erschienen.

»Helene«, sagte Lionel zum dritten Mal.

Helene sah ihm ins Gesicht; der Mascara unter ihren geschwollenen Augen war verschmiert. »Ja?«

»Das sind Patrick und Angie, die beiden Privatdetektive, von denen wir gesprochen haben.«

Helene winkte uns schwach mit ihrem nassen Kleenex. »Tagchen.«

»Hi«, sagte Angie.

»Tagchen«, sagte ich.

»Ich kenne dich«, sagte Dottie zu Angie. »Erinnerst du dich an mich?«

Angie lächelte freundlich und schüttelte den Kopf.

»Monsignor Ryan Memorial High School«, sagte Dottie. »Ich war in der siebten Klasse. Du in der Oberstufe.«

Angie dachte darüber nach und schüttelte erneut den Kopf.

»O ja«, sagte Dottie. »Ich erinnere mich. Die Ballkönigin. So haben wir dich genannt.« Sie trank einen Schluck Bier. »Gefällt dir das immer noch?«

»Was denn?«, fragte Angie.

»Dich als was Besseres zu fühlen als alle anderen.« Sie linste Angie mit so winzigen Augen an, dass man nur schwer erkennen konnte, ob sie trüb waren oder nicht. »Wie sie im Buche steht. Miss Perfect. Miss –«

Angie wandte ihre Aufmerksamkeit Helene McCready zu. »Wir müssen mit Ihnen über Amanda sprechen.«

Doch Helene sah mich an, und ihre Zigarette war einen Zentimeter vor ihren Lippen festgefroren. »Sie ähneln jemandem. Findest du nicht, Dottie?«

»Was?«, fragte Dottie.

»Er ähnelt jemandem.« Helene nahm zwei schnelle Züge von ihrer Zigarette.

»Wem?« Dottie starrte mich an.

»Du weißt schon«, sagte Helene. »Dieser Kerl. Dieser Kerl aus dieser Show.«

»Nein«, sagte Dottie und lächelte zögernd. »Welche Show?«

»Na, diese Show«, sagte Helene. »Du musst doch wissen, wovon ich rede.«

»Nein, tu ich nicht. Welche Show?« Dottie schaute Helene an.

Helene blinzelte und runzelte die Stirn. Dann schaute sie wieder zu mir herüber. »Sie sehen genauso aus wie der aus der Show«, versicherte sie mir.

»Okay«, sagte ich.

Beatrice lehnte sich an den Türstock zum Flur und schloss die Augen.

»Patrick und Angie müssen mit dir über Amanda reden. Allein«, sagte Lionel.

»Was denn«, sagte Dottie, »bin ich vielleicht nur ein Husten?«

»Nein, Dottie«, sagte Lionel bedächtig. »Das habe ich nicht gesagt.«

»Bin ich so eine bescheuerte Versagerin, Lionel? Nicht gut genug, um bei meiner besten Freundin zu sein, wenn sie mich am meisten braucht?«

»Das hat er nicht gesagt«, meinte Beatrice müde, noch immer mit geschlossenen Augen.

»Andererseits …«, meinte ich.

Dottie verzog ihr fleckiges Gesicht und sah mich an.

»Helene«, ging Angie schnell dazwischen, »es würde erheblich schneller gehen, wenn wir Ihnen allein ein paar Fragen stellen könnten, dann belästigen wir Sie nicht weiter.«

Helene sah Angie an, dann Lionel. Dann den Fernseher. Schließlich konzentrierte sie sich auf Dotties Hinterkopf.

Dottie schaute mich immer noch verwirrt an und versuchte zu entscheiden, ob sich ein Wutanfall lohnte.

»Dottie«, sagte Helene mit dem Air, als hielte sie eine Rede vor der ganzen Nation, »ist meine beste Freundin. Meine beste Freundin. Das bedeutet mir etwas. Wenn Sie mit mir reden wollen, reden Sie auch mit ihr.«

Dottie schaute ihre beste Freundin an, und Helene stupste mit dem Ellbogen gegen ihr Knie.

Angie und ich arbeiteten nun schon so lange zusammen, dass ich ihren Gesichtsausdruck in zwei Worte fassen konnte:

Scheiß drauf.

Das Leben war zu kurz, um nur eine weitere Viertelsekunde mit Helene oder Dottie zu verbringen.

Ich sah Lionel an, der resigniert mit den Schultern zuckte.

Wir waren gerade im Begriff zu gehen, als Beatrice die Augen aufschlug, sich uns in den Weg stellte und sagte: »Bitte.«

»Nein«, sagte Angie leise.

»Eine Stunde«, beharrte Beatrice. »Geben Sie uns nur eine Stunde. Wir bezahlen auch dafür.«

»Es geht nicht ums Geld«, sagte Angie.

»Bitte«, sagte Beatrice. Sie sah an Angie vorbei, und unsere Blicke kreuzten sich. Dann stellte sie ihr Gewicht vom linken auf den rechten Fuß und ließ die Schultern sinken.

»Eine Stunde«, sagte ich. »Mehr nicht.«

Sie lächelte und nickte.

»Patrick, richtig?« Helene sah zu mir hoch. »So heißen Sie doch?«

»Ja«, sagte ich.

»Könnten Sie wohl ein Stückchen nach links, Patrick?«, fragte Helene. »Sie stehen vor dem Fernseher.«

 

Nach einer halben Stunde hatten wir nichts Neues erfahren.

Lionel hatte seine Schwester nach langem Beknien dazu überreden können, den Fernseher auszuschalten, solange wir uns unterhielten, doch das schien Helenes Aufmerksamkeitsspanne nur noch zu verkürzen. Mehrmals im Verlauf unseres Gesprächs flog ihr Blick an mir vorbei zu der dunklen Mattscheibe, so als würde die Glotze dank göttlicher Einwirkung wieder angehen.

Auch Dottie verließ trotz all ihres Gezeters, sie würde zu ihrer besten Freundin halten, das Zimmer. Wir hörten, wie sie in der Küche herumhantierte, den Kühlschrank öffnete, um sich noch ein Bier zu nehmen, und durch die Küchenschränke klapperte und einen Aschenbecher suchte.

Lionel setzte sich neben seine Schwester auf die Couch, Angie und ich setzten uns auf den Boden vor dem Fernsehschrank. Beatrice nahm am anderen Ende der Couch Platz, so weit von Helene weg wie möglich, streckte ein Bein aus und umklammerte den Knöchel des anderen Beins mit beiden Händen.

Wir baten Helene, uns alles über den Tag zu erzählen, an dem ihre Tochter verschwunden war, fragten, ob es einen Streit zwischen den beiden gegeben oder ob Helene irgendjemanden verärgert hätte, der möglicherweise aus Rache ihre Tochter entführt haben könnte.