Good Life - Malte W. Wilkes - E-Book

Good Life E-Book

Malte W. Wilkes

4,8

Beschreibung

Nie war Marketing so spannend wie in diesem Roman. Anlässlich einer Produkteinführung kommt es zu einem Marketingwettlauf zwischen zwei Unternehmen. Die Köpfe der Kampagnen sind alte Bekannte und erbitterte Feinde. Es entbrennt ein Kampf um Prinzipien und Marketingkonzepte, um Macht, Geld und Liebe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 559

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



LESEPROBE

Wilkes, Malte W.

Good Life

Ein Marketingroman

LESEPROBE

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2002. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40132-4

|5|28. bis 11. Dezember nachmittags

Ein echter Manager schwitzt nicht. Höchstens, wenn er Sport treibt. Dann ist er zwar etwas erhitzt, doch niemals ist er in profanem Schweiß gebadet. Aber im kühlen Seminarraum des altehrwürdigen Sheraton-Airport in Frankfurt schauten elf Manager gebannt zu, wie Richard Frieler, dem Leiter des Produktmanagements der Strother Pharma, das Wasser nur so herunterlief. Es war purer Angstschweiß. Bei mir, Jo Pass, Unternehmensberater, von Freund und Feind als »Marketingguru« bezeichnet, Buchautor und »Berater des Jahres«, war der sichtbare Glanz auf meiner Stirn und um meine Augen Resultat schierer Erregung. Mein Freund und Assistent Simon Jung hätte dazu Lust gesagt. Die unbändige Lust, jemanden fertig zu machen.

»Erklären Sie dem erlauchten Publikum einmal genauer, warum Ihrer Meinung nach eine Unique Selling Proposition, vulgo USP, mit einer Positionierung gleichzusetzen ist«, höhnte ich schelmisch lächelnd und wies dabei in die kleine Runde der anwesenden Seminarteilnehmer. Die Jungmanagerin hinter dem Teilnehmerschild »Karin Wagner« mit dem selbst gemalten Smiley notierte sich krampfhaft etwas auf ihrem Notizblock. Dabei beugte sie sich so weit vor, dass ihr die schwarzen Haare ins Gesicht fielen und ich ihre Augen nicht mehr sehen konnte. Ihre Beine jedoch schauten unter dem Tisch hervor: Schwarze Hose und rote Pumps standen wie Soldaten nebeneinander.

»USP«, hob Frieler mit etwas brüchiger Stimme an, »USP verlangt in der Werbung ein Nutzenversprechen, das die Menschen zum Handeln veranlasst. Es muss also ein einzigartiges, den Kauf auslösendes Nutzenversprechen sein. Rosser Reeves, der großartige US-Werber, entwickelte diesen Ansatz in den frühen 1940er Jahren«, fügte er hinzu und schaute triumphierend in die Runde. Seine braune Kordhose und seine Schnürschuhe passten gut zusammen. In der Kombination mit dem weißen Hemd, der unifarbenen Krawatte und dem braun karierten |6|Pullunder zeigte sich der zweiundfünfzigjährige Frieler allerdings als konservativ und jenseits der aktuellen Mode.

»Ja, und er ist 1911 geboren. Schön, dass Sie auch die Literatur gelesen haben.« Ich lehnte mich mit meinen vollen 127 Kilo in dem für mich unbequemen Seminarstuhl zurück und grinste meinen Partner Simon an, reckte und streckte mich über meine ganze Länge von einem Meter neunzig. Jetzt konnte es endlich losgehen. Der kleine, belanglose Streit verbarg meine auffällige Missstimmung. Hatte ich es nicht gleich gewusst – dieses blöde Seminar war ein hirnrissiger Einfall.

*

Am Freitagnachmittag hatte mich mein oberster Chef von der, bescheiden gesagt, nicht unbekannten Unternehmensberatung WW1 Consulting & Company mit Sitzen in Düsseldorf, Berlin, Paris, London, New York und Tokio angerufen. Die drittgrößte, rein deutsche Management-Consulting nach Roland Berger und Kienbaum brauchte ihren »Marketingstar« – so drückte er es aus –, weil es einfach keinen anderen Ersatzmann gab. Das schmeichelt natürlich, dachte ich ironisch. Jeder Berater war angehalten, im Jahr einige Vorträge auf Kongressen zu halten, lediglich fortgeschrittene Juniorberater gaben auch öffentliche Seminare für andere Veranstalter. »Das ist gut für das Renommee und die Akquisition«, sagte Werner Walker, Inhaber von WW1 Consulting, und so gehörte es zum Unternehmenscredo, niemals einen Veranstalter hängen zu lassen, wenn man zu einem geistigen Schaulaufen zugesagt hatte.

»Roland, einer unserer guten Junioren, ist krank«, hatte er mir erklärt. Ich kannte ihn nicht, und er war mir auch egal. Wie sollte es auch bei weltweit fast fünfhundert Mitarbeitern anders sein? »Montag hat er ein zweitägiges Seminar über ›Strategisches Marketing‹ in Frankfurt. Beginn neun Uhr dreißig. Jo, Sie haben doch Urlaub. Können Sie den nicht verschieben? Sie wissen doch, jetzt zum Jahresende drängen alle Projekte, und ich habe niemanden mehr frei. Eigentlich hätten Sie gar nicht in Urlaub gehen sollen.«

Ich hatte meine eigenen Projekte voll im Griff und konnte darum freinehmen, wann immer es diese zuließen. Die Entwicklung eines neuen Recruitinginstruments für die englische Privatbank Richard & |7|Richard hatte ich mit unserem Londoner Beratungsbüro abgeschlossen. Die Neuorganisation des Vertriebs der Großbäckerei Dickmann KG hatte ich in der letzten Phase erfahrenen Coachern aus unserem Haus übergeben und musste nur noch die Ergebnisse überwachen. Die kreative Marketingkonzeption für die neue Buchreihe eines renommierten Großverlages war erst im Januar fällig und lag voll im Zeitplan. Und die internationale Strategie für die weltweite Markteinführung eines standardisierten Krankenhauses hatte ich für den allerletzten Feinschliff in die Hände von fähigen WW1-Consulting-Beratern und -Junioren gegeben.

Doch jetzt hatte ich schon meinen Flieger nach New Orleans, The Big Easy, gebucht. Ich liebte New Orleans, denn erst dort war ich erwachsen geworden. Nach dem Abitur in Hamburg, wo ich auch Simon Jung kennen gelernt hatte, hatte ich im Ruhrgebiet eine Lehre als Industriekaufmann in einem Stahlunternehmen abgeschlossen. Dann war ich nach New Orleans gegangen, um dort Management, Marketing und Kommunikationswissenschaften zu studieren. Dort, im tiefen Süden der USA, war aus Jonathan Jo, war aus dem Jeansträger ein Träger von karierten Hosen geworden. Wenn der Pianospieler Willi »the Lion« Smith einen Bowler trug oder Louis Armstrong ein weißes Taschentuch in der Hand hatte, dann war damit nicht nur eine schnöde Funktion verbunden, erklärten mir meine amerikanischen Freunde, sondern dann war das ihre »Flagge«. Daran erkannte man sie sofort. Meine persönliche »Flagge« waren karierte Hosen, wie sie auch beim Golfen getragen werden. Zu meinen echten Freunden in New Orleans zählte ich fast nur Musiker. Vom Freund seichter Klassik wandelte ich mich zu einem schon fast fanatischen Jazzfan, der in allen möglichen Situationen Songtitel assoziierte.

So auch jetzt. All Of Me ... Er will mich ganz, ging es mir durch den Kopf, als ich die impertinente Forderung des WW1-Consulting-Chefs am Telefon vernahm. Dieser Song von Gerald Marks und Seymor B. Simons aus dem Jahre 1931 schien der Dreistheit angemessen, mir eine überflüssige und unangebrachte Urlaubsverschiebung abzuverlangen.

»Werner« – wir sprachen uns bei WW1 Consulting alle mit Vornamen an –, »New Orleans ist für eine Woche gebucht. Meine Koffer sind gepackt. Morgen früh soll es losgehen und morgen Abend will ich meinem Helden Tim Breeze Laughlin im French Quarter bei einem begnadeten |8|Klarinettensolo im Tin Roof Café lauschen. Wir werden doch wohl noch irgendwo einen Junioren abziehen können!«

»Tut mir leid, Jo. Die meisten habe ich schon in einem großen, kurzfristigen Sonderprojekt untergebracht. Sie kennen das doch von den vielen Baustellen an der Autobahn: Wenn man eine Menge Aufträge hat, dann tut man so, als wären die Baustellen mit fünfzehn Meistern, Gesellen und Lehrlingen bestückt – doch tatsächlich arbeiten nur drei Menschen gleichzeitig dort. In dieser unangenehmen Situation sind wir jetzt auch. Ich brauche Sie, Jo.«

Was ich dringend brauchte, war Urlaub. Doch mittlerweile war mir klar: Das konnte ich vergessen. Was sich Werner Walker in den Kopf gesetzt hatte, war im Grunde genommen schon beschlossene Sache. Also galt es jetzt, hart zu verhandeln. »Ich brauche entweder Urlaub oder eine echte Herausforderung. Geben Sie mir eines der spannenden Überhangsprojekte. Ziehen Sie dafür irgendwo einen Junioren für dieses Popelseminar raus. So einen Juniorenquatsch habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht. Sie wissen, ich hasse seichte Seminare, und nach über fünftausend Teilnehmern in Zehnergruppen weiß ich, wovon ich rede.«

»Jo«, versuchte es Walker auf die persönliche Tour, »ich brauche Ihre Hilfe. Ich habe dem Vorstand des Veranstalters Omniforum Anfang des Jahres in die Hand versprochen, dass WW1 Consulting beim Ausfall eines Referenten oder Moderators immer einen höherwertigen Ersatz schickt. Und Sie sind unser bester Mann.«

Bedingungen musst du stellen. Delegieren kann Walker, aber wozu hast du schließlich Verhandlungstechniken gelernt?, ging es mir durch den Kopf.

»Aber ohne Simon Jung gehe ich nicht, und der fährt morgen nach Ibiza.« Simon war mein Schulfreund auf dem Gymnasium gewesen, Sohn eines mittleren Beamten, bescheiden und eher unauffällig. Nach dem Abitur hatten wir uns aus den Augen verloren, als ich nach New Orleans ging und Simon erst in Bochum und dann in London Ökonomie studierte. Vor sieben Jahren hatten wir uns als Juniorberater bei WW1 Consulting wiedergetroffen. Ich war inzwischen Seniorberater mit Sonderstatus und Jung mein Assistent im Range eines Beraters. Mir schien, dass wir beide damit zufrieden waren. Es war nicht verwunderlich, dass wir beide gleichzeitig unseren Urlaub genommen hatten.

|9|»Mit Simon habe ich schon gesprochen, das ist kein Problem. Sie gehen zusammen nach Frankfurt zu diesem bereits gebuchten Seminar, und dann werden Sie sich anschließend drei Tage um neue Akquisitionsprojekte kümmern. Dann wäre Ihr Kurzurlaub sowieso zu Ende gewesen.«

»Verdammt, ich habe dieses Jahr noch fünfzehn Tage.«

»Lassen Sie sich die auszahlen oder verschenken Sie sie an eine arme Musikband. Was weiß ich. Jetzt brauche ich Sie jedenfalls – ich habe dem Veranstalter mein Wort gegeben.«

»Wie ist das Ganze denn abrechenbar?«, versuchte ich ein weiteres Argument gegen unsere Berufung einzubringen.

»Ich schreibe Ihnen die Differenz gut.«

Das hatte also auch nichts gebracht. Ich wusste, dass ein Seminartag für einen Juniorberater höchstens mit 1500 Euro pro Tag liquidiert wurde. Das war schon viel. Ich selber stellte aber 5000 und mein Assistent Simon Jung noch respektable 2500 Euro pro Tag in Rechnung. Da wir seit drei Jahren immer als Einheit, als Brain-Couple auftauchten, waren für uns 7500 Mäuse pro Tag fällig. Walker musste uns also für das Witzseminar 12000 Euro aus seinen eigenen Verrechnungskonten gutschreiben. Sein Wort war ihm wirklich etwas wert.

»Die von Roland vorbereitete PowerPoint-Präsentation ist per Kurier auf dem Weg zu Ihnen. Da ich weiß, dass Sie lieber mit Folien arbeiten, habe ich das Ganze auf Overheadcharts ziehen lassen. Es sind einhundertzwanzig geworden.«

Einhundertzwanzig Folien für so ein Seminar. Zwei hätten meiner Meinung nach völlig gereicht: auf der einen der Titel ›Strategisches Marketing‹ und auf der anderen die Abbildung einer Pumpgun.

*

Am Montagmorgen hatte ich mich mit Jung gegen sechs Uhr früh auf dem Flughafen Düsseldorf-International getroffen. Ich war mit einem Taxi aus meinem Junggesellenapartment im Hafen, der neuen Nobelgegend, zur Halle C gefahren. Die Wohnung war mit 2000 Euro Monatsmiete sündhaft teuer, aber die hundert Quadratmeter auf zwei Etagen boten einen schönen Ausblick über den Rheinknick und die Brücken. Der Hafen war die neue Restaurant- und Promeniermeile in |10|Düsseldorf. Ich machte mir nichts daraus, aber es war eben auch bequem. Beim Italiener um die Ecke traf man das ganze Spektrum der so genannten Freiberufler: den zu braun gebrannten Schönheitschirurgen, den exaltierten Scheidungsanwalt, den bunt schillernden Werber oder den blau gewandeten Banker – und einen Unternehmensberater in karierten Hosen.

Mein optisches Markenzeichen, die karierte Hose, war auch an diesem Morgen wieder frisch gebügelt. Ich hatte mindestens dreißig Exemplare, die von meiner deutsch-griechischen Haushälterin liebevoll gepflegt wurden. Wie immer trug ich einen maßgeschneiderten schwarzen Blazer und ein weißes Hemd ohne Krawatte. Mein gediegener Kleidungsstil kaschierte mein Übergewicht recht gut. Doch wie sehr ich mich auch bemühte, so distinguiert und seriös – unterstrichen durch meinen militärisch kurzen Drei-Millimeter-Vollhaarschnitt – sah ich immer nur morgens aus. Bereits mittags waren meine Sachen stark zerknittert. Bis abends hatten Brötchenkrümel, Spaghettisoße und andere Leckereien mein Aussehen nicht gerade verbessert. Diese Eigenart hasste ich an mir.

Simon war mit seinem BMW angereist und parkte in der unkomfortablen Flughafengarage. Da ich in der Nähe wohnte, hatte ich meinen schwarzen Jaguar zu Hause gelassen. Wir waren beide siebenunddreißig Jahre alt, sahen aber am Eincheckautomaten nebeneinander wahrscheinlich wie Oliver Hardy und Stan Laurel aus. Während ich mit meiner stattlichen Erscheinung nicht zu übersehen war, musste der kleine, aber drahtige ein Meter zweiundsiebzig große Simon Jung im schwarzen Anzug mit stahlblau-roter Krawatte schon »hier« sagen, bevor man ihn bemerkte. Simon war ein exzellenter Analytiker, dafür weniger kreativ. Sein Temperament hielt sich in Grenzen. Er strahlte bei den Mandanten immer die totale Ruhe und das verdichtete Wissen in Person aus. Seine Überzeugung war, dass man durch Höflichkeit und Diplomatie weiterkommt und nicht um jeden Preis gewinnen muss. Obwohl er durch diese Einstellung mit Frauen besser klar kam als ich, waren wir beide Junggesellen, und so ergänzten wir uns in unserem Beruf ganz gut und verbrachten mehr Zeit miteinander als so manches Ehepaar. Außer Handgepäck hatten wir nichts dabei und checkten mit unseren Lufthansakarten am Automaten ein. Für Dezember war es sehr mild, und so hatten wir, wie viele Manager und Berater, die |11|praktisch das Hotel nie verlassen, weder Mantel noch Schirm mitgenommen. Flugzeug, Hotel und wieder Flugzeug war angesagt.

Simon spürte sofort, dass ich an diesem Morgen schlecht drauf war. »Zeig ja nicht wieder, dass du mit dem Düsenjäger durch die Kinderstube gebraust bist«, versuchte er mich aufzumuntern. Dabei kannte ich meine Eltern gar nicht, und auf das Kinderheim, das mir sechzehn Jahre lang Vater und Mutter ersetzt hatte, ließ ich nichts kommen. Doch Simon meinte es nur gut. Trotzdem: Bei der Security lauerte ich darauf, dass irgend etwas schief lief, um sofort einen der Dienst schiebenden Sicherheitsbeamten anraunzen zu können. Doch die waren einfach nur nett.

Nachdem ich festgestellt hatte, dass die Lufthansa für ihre Gäste wie üblich die FAZ und Die Welt, aber nicht die Bild ausgelegt hatte, ging ich in den kleinen Buch- und Zeitschriftenladen und besorgte mir eine. »Wer Bild nicht liest«, grummelte ich Simon an, »der weiß nichts darüber, was in Deutschland gerade auf der Agenda steht.« Er nickte gelangweilt, denn das hatte er schon mehr als hundert Mal gehört.

Das Flugzeug war bis auf den letzten Platz besetzt. Bei der kurzen Strecke hätte man doch lieber mit dem eigenen Wagen oder mit dem Zug fahren sollen. Mitten in diesem Gedanken schlief ich auch schon ein, während Simon an meiner Seite den von beflissenen Flugbegleitern verteilten Focus las.

Pünktlich um sieben Uhr dreißig landeten wir auf dem Frankfurter Flughafen, checkten im Sheraton-Airport ein und standen eine Stunde später vor dem wie immer viel zu großen Seminarraum. Die Betreuerin von Omniforum erwartete uns: eine junge Frau mit goldgefasster Brille, nach hinten gekämmten halblangen, schwarzen Haaren mit einem Pony. Für ihr nadelstreifiges Businesskostüm wirkte sie etwas zu jung; sie war vielleicht vierundzwanzig Jahre alt. Vor dem Seminarraum hatte sie die Teilnehmerschilder auf einem kleinen Tischchen aufgebaut: jeweils einen Anstecker und einen Tischaufsteller mit dem Namen des Teilnehmers hintereinander. Daneben lag eine Teilnehmerliste für die ersehnten Ankömmlinge bereit.

Ich griff mir die Liste. »Hier ist Ihre persönliche Mappe«, flötete die Betreuerin entgegenkommend und reichte mir eine umfangreiche Seminarmappe mit Kopien der Folien von WW1 Consulting, dem geplanten Ablaufprogramm mit Pausenzeiten sowie der nicht sehr umfangreichen |12|Teilnehmerliste. »Mein Name ist Julia Schwenger, und ich bin Ihre zuständige Betreuerin. Ich hoffe, dass wir gut zusammenarbeiten.«

»Das liegt ganz bei Ihnen«, strahlte ich sie Distanz haltend an. Normalerweise war ich gegenüber jungen Leuten recht gutherzig, denn wer sollte ihnen sonst etwas im Beruf beibringen, wenn nicht die Etablierten. Aber mein gecancelter New-Orleans-Urlaub war nicht so einfach zu verkraften. »Sie studieren hier in Frankfurt?«, fragte Simon, um wie üblich die Situation galant zu meistern. »Ja, Betriebswirtschaft. Bei Omniforum bin ich nur nebenberuflich tätig. Aber die Seminare sind sehr wichtig für mich. Einerseits lerne ich etwas, und andererseits komme ich hier in Kontakt mit potenziellen Arbeitgebern und hervorragenden Referenten.« Sie lächelte mich an.

Ich beachtete sie nicht, ging in den Seminarraum und übersah mit einem Blick die Konfiguration. Der Bullshit eines überheblichen Anfängers. »Dann wollen wir das Ganze hier mal in das richtige Format bringen. Der Beamer muss weg.« Man sollte niemals PowerPoint bei Präsentationen einsetzen, bei denen das Thema nicht wie an einer Perlenschnur aufgereiht abgespult werden kann. »Der Konferenztisch wird zu einem offenen U umgebaut. Simon, fass mal mit an.«

»Aber das wurde so von WW1 Consulting angeordnet«, versuchte Julia Schwenger die Situation zu klären.

»Wo Jo Pass verantwortlich ist, trägt er immer die Gesamtverantwortung. Glauben Sie mir, er weiß, was er tut«, beruhigte Simon sie und half mir, den aus mehreren Tischen bestehenden geschlossenen Konferenztisch zu einem offenen U zu verschieben und den veralteten Beamer in die Ecke zu manövrieren. Der Overheadprojektor und ein kleines Tischchen vor dem U für den gewichtigen Referenten rundeten das Bild ab. »So kann ich immer aktiv auf die Teilnehmer zugehen und bin nicht wie an einem Konferenztisch an meinen Platz gebunden«, erklärte ich mehr informatorisch als versöhnlich. Es machte mir keinen Spaß, morgens schon die Fehler anderer auszubügeln. Tische rücken überließ ich gern anderen.

Inzwischen hatte Simon wie ein Trüffelschwein die Teilnehmerliste durchforstet. Nichts wirklich Außergewöhnliches: vornehmlich mittleres Management, niemand, den wir kannten, einer mit der Angabe »Marketingdirektor« und ein Geschäftsführer. Zwei Teilnehmer von |13|Aventis, je einer von DaimlerChrysler, Becks-Bier und Siemens Information & Kommunikation. Alle anderen waren unbekannte Unternehmen. Kein offensichtlicher Ansatz für ein neues Geschäft.

Die übereifrige Betreuerin legte dünne Hotelblöcke und Bleistifte mit Radiergummi auf die Plätze, ergänzt durch einen Seminarbewertungsbogen. Sofort sammelte ich diese wieder ein.

»Das ist bei Omniforum strenge Vorschrift«, klagte Julia Schwenger mich an. Durch ihre Brille funkelten mich ihre braunen Augen zornig an.

»Sie bekommen Ihre gewünschte Bewertung zum Schluss. Ich werde diese Bögen persönlich verteilen. Sie werden schon noch merken, dass das Sinn macht. Und jetzt zeigen Sie mir alle Mappen. – Bitte.»

Die Omniforum-Mitarbeiterin schleppte die dicken Ordner von draußen in den Seminarraum und legte sie wie eine Weihnachtsbescherung auf die umliegenden Plätze. Ich ging von Ordner zu Ordner und riss jeweils gleich mehrere Seiten heraus.

»So geht das nicht«, versuchte sich Julia Schwenger einerseits zu wehren, während sie sich andererseits verzweifelt bemühte, die Situation wieder in den Griff zu bekommen.

»Und ob das so geht.« Ich hatte an diesem Morgen nicht die geringste Lust zum Diskutieren, zugleich aber war mir meine eigene Unfreundlichkeit zuwider. »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, wenn ich das Seminar mache, dann bestimme ich die Vorgehensweise und die Regeln. Niemand anders. Ist das klar? Sie studieren schön, Ihr Seminarveranstalter macht mittelmäßige Seminare, aber ich werde diesem Seminar ein eigenes Markenprofil geben.« Und damit riss ich weiter fröhlich die Vita des Juniorkollegen Roland sowie fünf Kopien von Folien, die ich für falsch oder für verfrüht präsentiert hielt, aus den ausgelegten Mappen.

»Roland Meyer von WW1 Consulting« – ich hatte den Namen vom Zettel abgeschaut – »ist schließlich nicht da. Wir wollen die Teilnehmer doch nicht unnötig verwirren.« Ich wusste, wie ich mich jetzt aufführte: Alligator Crawls, ein Stück des 1941 verstorbenen Jazzpianisten Thomas »Fats« Waller, fiel mir als Slogan dazu ein. Doch für Julia Schwenger sollte es noch schlimmer kommen.

Raschen Schrittes ging ich zu dem Tischchen vor dem Seminarraum und sammelte alle vorbereiteten Tischkarten ein, auf die die Namen der |14|Teilnehmer sorgfältig in sauberer, schöner Druckschrift geschrieben worden waren, wahrscheinlich von ihr. Kein Buchstabe war verschmiert, der Flipchartstift war sicherlich neu gewesen – tiefblau allemal.

Ich legte alle Tischkarten säuberlich übereinander und riss sie ruckartig einmal längs und einmal quer durch. Danach warf ich alles mit Schwung in den Papierkorb.

»Fragen Sie nicht«, erstickte ich ihren Protest im Keim. »Hier können Sie noch etwas fürs Leben lernen. Freuen Sie sich gleich auf die Veranstaltung. Und damit wir uns richtig verstehen: Nicht Sie übernehmen die Begrüßung. Ich bin der Einzige, der in das Seminar einführt und es auch leitet.« Das klang schlimmer, als ich es meinte.

Punkt neun Uhr dreißig war es nach meinen Regeln losgegangen. Ich hatte Glück: Keiner war zu spät gekommen. Drei hatten mir die Hand gegeben und behauptet, sie würden mich kennen. Ich konnte mich nicht mehr an sie erinnern, tat aber so und senkte liebenswürdig den Kopf. Der gute Simon hatte die Pausenregeln neu definiert, was Julia Schwenger zu der Bemerkung veranlasste, sie sei hier eigentlich überflüssig. Ich nickte zustimmend und langsam wurde mir klar, dass ich mich immer mehr zu einem unsympathischen Kotzbrocken entwickelte. Mein Chef hätte mir dieses Seminar nicht aufdrücken sollen.

Wie immer konnten sich die Teilnehmer setzen, wohin sie wollten. Nur der treue Simon saß außen links an der Ecke, um bei Bedarf einspringen zu können. Er hatte bei Seminaren eigentlich gar keine Funktion und lehnte sich in Erwartung eines gemächlichen Tages entspannt zurück.

»Mein Name ist Jo Pass, Unternehmensberater bei der WW1 Consulting. Und dort sitzt mein Kollege Simon Jung, der auch schon ein alter Hase im Marketing ist. Ich bin heute als Ersatz für Roland Meyer hier, einen geschätzten Kollegen aus der Unternehmensberatungsgruppe WW1 Consulting & Company. Da er leider ernsthaft erkrankt ist, lässt er sich entschuldigen. Vielleicht kennt der eine oder andere von Ihnen mein neuestes Buch Modern Marketing. Der Untertitel lautet Himmlische und teuflische Bedürfnisse befriedigen. Das soll uns sagen, dass der Mensch moralisch gute und schlechte Wünsche befriedigen möchte. Schlechte Laune am Morgen«, zwinkerte ich in die Runde, »könnte zu den teuflischen Bedürfnissen gehören. Sollten Sie diese |15|moralische Schwäche bei mir feststellen, so bitte ich jetzt schon um Entschuldigung. Der eine oder andere hat vielleicht von mir als Mitglied einer bedeutsamen Jury oder als Träger einer Auszeichnung gehört. Und wiederum andere haben in der Fach- oder Wirtschaftspresse von mir oder über mich gelesen. Aber glauben Sie ja nicht alles, was Sie lesen oder hören – glauben Sie einfach noch viel mehr.«

Ich grinste und war jetzt in meinem Element. Ich spürte, auch nach drei Jahren Seminarabstinenz und ausschließlich mit gut vorbereiteten Vorträgen auf Kongressen: Ich hatte es noch drauf. Die Gruppe kicherte, war aber noch nicht richtig locker.

»Bitte schreiben Sie Ihre Namen auf die Metaplankärtchen vor Ihnen.« Ich knickte ein Kärtchen in der Mitte und schrieb auf beide Seiten »Jo Pass«. Dann stellte ich es auf mein Tischchen, sodass es jeder lesen konnte.

Inzwischen hatten auch die Teilnehmer mit der ersten Arbeit begonnen. Links war ein Voreiliger, der das Kärtchen längs statt quer gefaltet hatte und nun mit dem Platz nicht auskam. Er brauchte eine neue Karte und schrieb schwungvoll »Julius Rot« darauf. »Karin Wagner« mit einem zusätzlich gemalten Smiley saß Rot direkt gegenüber. »Dr. med. Richard Frieler« neben ihr benötigte zwei Zeilen auf dem kleinen Kärtchen. Ganz schlicht kam »Bauer« daher, während »J.V. T. Ort, M. A.«, eine attraktive Brünette, mir direkt gegenübersaß. Während die anderen noch schrieben, ging ich zu ihr:

»Was heißt J.V. T.?«

»Jenny Victoria Teresa. Teresa wie Mutter Teresa.«

»Karl Kaufmann«, »Dipl.-Kfm. P. Tiel«, »›Fetzi‹ Ferra«, »H.-J. Hermann«, »Weiss« und »Dr. Paul Biker« vervollständigten die Schilderangaben. Ich bedeutete Julia Schwenger, die Simon gegenüber auf der rechten Seite saß, ebenfalls ihren Namen aufzuschreiben.

»Meine Damen und Herren«, ergriff ich wieder das Wort, »Sie müssen das Kärtchen schon zu mir drehen oder beide Seiten beschriften. Denn Sie wissen ja, wie Sie heißen, ich nicht.« »Bauer«, »Weiss« und »H.-J. Hermann« drehten ihre Tischkarten schnell um, und die Runde grinste.

»Nun gilt es, sich vorzustellen. Ich habe festgestellt, dass es nur drei Typen gibt.« Die Seminargruppe schaute mich erwartungsvoll an.

»Der erste Typ sagt: ›Ich heiße Meyer und bin Manager in der Firma |16|Müller‹ – und das war es. Viel haben wir von ihm nicht erfahren. Der zweite Typ sagt: ›Ich heiße Meyer und bin in der Firma Müller. Müller hat vierzigtausend Angestellte und zweitausend Lehrlinge, fertigt Flugzeugkabel und so weiter.‹ Wir haben alles über das Unternehmen und nichts von Herrn Meyer erfahren. Der dritte Typ sagt: ›Ich heiße Meyer und bin von der Firma Müller. Ich habe drei Kinder und baue gerade. Dabei habe ich ein Problem mit dem Grundwasser ... Wenn Sie auch gerade bauen, sollten wir uns in der Pause zusammensetzen.‹ Wir lernen alles über Herrn Meyer, doch nichts über sein Unternehmen. Um das zu verhindern, bitte ich Sie jetzt, sich gegenseitig zu interviewen und dann nicht sich, sondern den Partner vorzustellen.«

Die aufgeschreckten Teilnehmer schauten sich Hilfe suchend nach einem geeigneten Interviewpartner um. Doch schnell hatte ich Interviewpaare zusammengestellt und ihnen erklärt, was ich alles dieser ersten Darstellung entnehmen wollte: Name, Unternehmen, Position, kurzer Werdegang, Lebensziele, Hobbys, die Motive für die Teilnahme an diesem Seminar sowie die Antwort auf die Frage, ob man freiwillig hier sei. Eifrig ging die Gruppe an die ihr gestellte Aufgabe, und schon wenig später vibrierte der Raum von sich gegenseitig befragenden Gesprächspartnern.

Während die Teilnehmer mit meinem Fragenkatalog beschäftigt waren, schlenderte ich betont lässig zu Julia Schwenger hinüber, die in das Spiel nicht involviert war. »Haben Sie jetzt verstanden, warum ich keine vorgeschriebenen Namenstafeln mag? Wenn Sie Namenszüge und die dazugehörigen Menschen betrachten, so haben Sie schon ein erstes Psychogramm. Warum schreibt einer Dr. med. und nicht nur Dr.? Warum schreibt jemand Dipl.-Kfm., obwohl dieses sicherlich kein Namensbestandteil ist? Übrigens trauen sich nur Frauen, ihren Spitznamen einzusetzen.« Ich schaute zu »Fetzi« Ferra rüber. »Und was sagt uns ein kalter, isolierter Nachname über das Selbstbewusstsein dieses Menschen – entweder ist es stark und unbiegsam wie eine tiefgefrorene Gänsekeule oder so schwach wie eine kurze Gänsedaune. Warten wir noch die Vorstellung ab, dann wissen wir alles. Wer durch andere vorgestellt wird, muss zwangsläufig mehr plaudern, als ihm lieb ist.« Julia Schwenger nickte. Ihr zunächst abweisender Blick wurde langsam anhimmelnd. Das hatte mir an diesem Urlaubstag noch gefehlt.

Mehr Sorgen machte ich mir um meine beiden Gegner. In jedem |17|Seminar ist mindestens einer, der dem ungeliebten Referenten beweisen will, dass er mehr drauf hat als er. In meiner langen Seminarzeit als Juniorberater und Berater hatte ich einen untrüglichen Instinkt dafür entwickelt, diese Kontrahenten gleich anfangs zu identifizieren. »Bauer« und »Dr. med. Richard Frieler« schienen mir die geeigneten Kandidaten zu sein. Ich hätte mit Sicherheit auf sie gesetzt wie auf das Gold von Fort Knox, obwohl sie sich im Moment noch entspannt unterhielten. Bauer mit Julius Rot und Karin Wagner mit Frieler.

Nach fünfzehn langen Minuten musste ich die Interviews abbrechen, denn die Teilnehmer hatten sich frei gesprochen und verplaudert. Genau das wollte ich. Sie mussten in diesem kahlen Raum mit zwei Kunstdrucken an den Wänden, einem Overheadprojektor, einer Leinwand, einem Flipchart und einer verstaubten künstlichen Pflanze sowie dem diffusen Licht eines Kronleuchters zunächst etwas über sich selbst hören. Dann erst konnte ein Seminar erfolgreich starten. Gleichzeitig fällt es vielen Menschen leichter, über andere zu sprechen als über sich selbst – sonst gäbe es weder die allseits beliebte Gerüchteküche noch massenhaft vermarktete Klatschgeschichten. So war es auch hier. Ich hatte Pärcheninterviews auch schon auf privaten Partys oder bei anderen Einladungen durchgesetzt, bei denen sich die Teilnehmer nicht kannten und sich erst mühsam ins Gespräch bringen mussten. Die ausführlichen Vorstellungen durch andere waren immer ein Türöffner für die Seele.

Bei der üblichen Vorstellung hörte ich zunächst gar nicht weiter zu. Mich interessierten nur wenige Dinge. Dass Bauer mit Vornamen Klaus hieß, war schön. Er hatte unter anderem in Harvard studiert, und das war schlecht. Das waren Leute, die auf die Analyse von Fallstudien getrimmt waren. In den Unternehmen waren sie hochbegehrt, und das wussten sie. Ich aber wusste: Wer Fallstudien sucht, wird nur Fallstudien und niemals Innovationen ernten. Bauer hatte seine ersten Sporen als Junior-Produktmanager bei Vodafone absolviert und war, ich hatte es erwartet, nicht wirklich freiwillig hier. Sein Chef hatte ihm die Teilnahme an einem Seminar ans Herz gelegt. Das war mein Pech – denn jetzt wollte er es ihm und damit auch mir zeigen.

Auch »Fetzi« Ferra hatte wenig Überraschendes zu bieten, denn sie arbeitete in der Modebranche. Mit Vornamen hieß sie eigentlich Festina, wollte aber nicht wie ein Uhrenfabrikat genannt werden.

|18|Ganz anders Jenny Ort. Ihren respektablen Magister hatte sie in Essen gebaut. Als Kommunikationswissenschaftlerin war sie dann in die aufstrebende PR-Branche gegangen, wo sie nun in einer Agenturkette als Beraterin tätig war. Ein neues Geschäftsfeld sollte »Strategisches Marketing« werden. Ich schmunzelte innerlich, denn einem Wettbewerb gegenüber einer WW1 Consulting, McKinsey, Boston Consulting Group oder Arthur D. Little waren PR-Companys bestimmt nicht gewachsen.

Dr. med. Richard Frieler war Leiter des Produktmanagements der Strother Pharma. Seine internistische Arztpraxis war von Beginn an nicht gut gelaufen, woraufhin er sich, wie er es ausdrückte, neu orientierte und in die Industrie ging. Ein inhabergeführter Mittelständler gab ihm eine Chance in der Forschung, wo er sich aber nicht wohl fühlte. »Ich bin ein Mann der Praxis«, betonte er. »Ausführliche Anamnese, kompetente Diagnose, schnelle Therapie« sei sein Credo. So sei er dann ins Marketing gerutscht, wo es ja vor allen Dingen um gesunden Menschenverstand ginge.

Die übrigen Vorstellungen boten das gewohnte Bild und plätscherten an mir vorüber. Glücklichweise konnte ich mich darauf verlassen, dass der treue Simon wichtige Informationen, die für einen interessanten Auftrag oder eine bedeutende Akquisition nutzbar gewesen wären, gewissenhaft aufnehmen und mir später darüber berichten würde. Interessant war nur noch, welches Seminarziel die Teilnehmer hatten. Rot: »Ein Upgrade auf den neuesten Stand.« Ich ergänzte im Kopf, was er wirklich dachte: »Ich weiß eigentlich schon alles.« Bauer: »Mal schauen, was andere so draufhaben.« Ich wusste, dass auch er alles zu wissen glaubte. Und so ging es im Grunde weiter. Frieler: »Dem Marketing die letzten Geheimnisse entlocken.« Ich dagegen hörte innerlich: »Weil ich eigentlich alle Geheimnisse schon kenne.« Etwas spezifischer wurden nur zwei. »Fetzi« Ferra: »Mich interessiert, inwieweit strategisches Marketing in einer kurzlebigen Saisonbranche wie der Mode eingesetzt werden kann.« Und Jenny Ort: »Ich will Tipps und Tricks der klassischen Berater kennen lernen.« Nun, da war sie gerade mittendrin.

Endlich hatten die Teilnehmer ihren jeweiligen Nachbarn vorgestellt. Bei der Vorstellung der Damen gaben sich die Herren wie üblich nicht ohne überzogene Galanterie: »Wie ich von meiner charmanten |19|Nachbarin erfahren durfte ... Meine reizende Interviewpartnerin hat mich mit ihren Ausführungen so gefangen genommen ...«. Ich erhob mich, um die Gruppe wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen. Wenn Jo Pass ein Seminar macht, dann soll es auch seinen Namen verdienen.

»Meine Damen und Herren, es ist erstaunlich, aber die meisten von Ihnen wissen nicht, warum sie hier sind. Vielleicht können Sie mir sagen, warum Ihr bedeutendes Unternehmen so viel Geld in Sie investiert? Wahrscheinlicher ist aber, dass Sie gar nicht wissen, wie viel Ihr Brötchen- und Kuchengeber gerade für Sie ausgibt und was das eigentlich genau bedeutet. Nehmen wir einmal an, Sie verdienen – ich schaute dabei in die Runde – 75000 Euro im Jahr, was mit Lohnnebenkosten von etwa 70 Prozent schon 127500 Euro Kosten bedeutet. Rechnen wir vereinfachend, dass darin das Auto, die Direktversicherung oder was Sie sonst an Benefits haben schon inbegriffen sind. Kalkulieren wir weiterhin Ihre Arbeitsplatzkosten: die Telefonanlage, der Schreibtisch, der Raum. Mit 10 Prozent Aufschlag auf Ihr Gehalt sind Sie innerhalb dieser einfachen Rechnung gut bedient, so dass wir jetzt bei zirka 140000 Euro liegen. Wenn wir die durch zweihundertdreißig Arbeitstage teilen, so kostet ein Arbeitstag« – ich rechnete es auf dem Flipchart vor – »zirka 610 Euro. Das Seminar kostet Sie 450 Euro am Tag. Rechnen wir noch 75 Euro anteilige Übernachtung und 100 Euro anteilige Anfahrt hinzu, so betragen die Kosten pro Tag bereits 1235 Euro. Da Sie für Ihr Unternehmen an diesem wie an jedem anderen Tag Produktives leisten, könnten wir noch einen entgangenen Gewinn hinzurechnen. Damit haben Sie sicherlich nicht gerechnet. Machen wir es kurz: Da Sie zwei volle Tage hier sein werden, investiert Ihr Unternehmen in Ihre gänzlich unvorbereitete Teilnahme irgendetwas zwischen 2500 und satten 5000 Euro. Wahrscheinlich muss Ihr Unternehmen 15000 bis 30000 Euro im Schweiße des Angesichts vieler Hilfswilliger umsetzen, damit Sie heute hier sitzen. Und trotz dieses immensen Kostenaufwandes haben einige von Ihnen keine konkreten Ziele für das Seminar.«

Ich schaute in die Runde, doch die Gesichter hingen dicht über den Notizblöcken. Links von mir saß Julius Rot, und ich baute mich vor ihm auf. »Sie sind heute hier, weil Sie eine vorbereitete Liste von Informations-, Kommunikations-, Kontakt- und Wissenszielen abarbeiten wollen.«

|20|Ich ging jetzt von einem zum anderen: »Herr Bauer ist hier, weil er genau überprüft hat, dass für die Ziele seines Chefs – der ihn schließlich hierher geschickt hat – überhaupt ein externes Seminar geeignet ist und das Seminarniveau den Vorstellungen seines Chefs entspricht. Hierzu hat er Erfolgsmeldungen geprüft, sich über den Referenten – der heute leider ein anderer ist – schlau gemacht und sich über die Didaktik des Seminars informiert.

Karl Kaufmann investiert 5000 Euro, weil er die thematischen Hauptbücher zu dem Thema durchgearbeitet oder wenigstens eine Internetrecherche gelesen hat. Er hat sich für dieses perfekt ausgeschriebene Seminar entschieden, weil er im Gegensatz zu einem Kongress aktiv mit anderen arbeiten möchte und darum gegenüber anderen Branchen aufgeschlossen ist.

Frau ›Fetzi‹ Ferra« – ich schaute ihr in die Augen – »ist in dieser Runde, weil sie festgestellt hat, dass es keine branchenspezifischen Seminare zu ihrem Thema gibt, oder weil sie bewusst vom Wissen anderer Branchen und intelligenter Teilnehmer aus so einem generellen Seminar profitieren will.

Dr. Paul Biker ist vielleicht nur aus internen Prüfungsgründen hier. Er hofft, dass 25000 Euro investierter Umsatz ihm die Erkenntnis bringen, ob dieses Strategieseminar oder der Referent die Basis für eine intensive Fortbildung seiner ganzen Mannschaft im Unternehmen sind. Er weiß: Sein Unternehmen und speziell seine Geschäftseinheit haben zum Thema ›Strategisches Marketing‹ merklichen Nachholbedarf, und den will er im nächsten Jahr durch externe Hilfe vernünftig aufgeholt wissen.« Biker schaute mich erstaunt nickend an. Per Zufall hatte ich das Richtige getroffen.

»Jenny Ort ist hier, weil sie eine präzise Wettbewerbsanalyse ihrer zukünftigen Mitbewerber im Beratungsfeld ›Strategisches Marketing‹ gemacht hat. Sie kennt die exakten Namen und die speziellen Unternehmen, die nationalen und die internationalen. Sie weiß, was sie anbieten, und hat darum dieses Programm gezielt herausgesucht, um schnell, ich betone: schnell, Basiswissen zu bekommen, von dem aus sie sich weiterorientiert. Sie sucht innovative Produkte in der Beratung und ist sich im Klaren darüber, dass sie diese hier niemals bekommen kann. Aber mit dem gebotenen Wissen aus unserer geschickten Arbeit hier kann sie sie vielleicht entwickeln oder entwickeln lassen.

|21|Paul Tiel sucht zehn Lehrsätze, die er übermorgen in einem eigenen Seminar an ausgesuchte Mitarbeiter weitergeben kann, sodass diese Naturgesetze des strategischen Marketings wie die zehn Gebote des Alten Testamentes durch sein Unternehmen diffundieren, auch wenn sie für ihn neu sein werden.«

Ich ging jetzt zu Richard Frieler, um nicht jeden anzusprechen und die Gruppe mit zwölf verschiedenen Begründungen für ein Seminar nicht gleich zu überfordern. »Dr. med. Richard Frieler wiederum hat fünf seiner Schlüsselmitarbeiter nach konkreten Problemen seines Hauses gefragt und diese als hier einzubringende Kernthesen aufbereitet. Er will sie hier gelöst sehen und hat dazu bereits übermorgen, vorausschauend und planend wie er ist, ein Meeting einberufen, um dort Bericht zu erstatten. Dieser Bericht soll einen Gegenwert von 5000 Euro haben.

Meine Damen und Herren, dieses Intensivseminar ist kein fröhlicher Ausflug, kein freundliches Geschenk Ihres Unternehmens, keine überraschende Jahresabschlussgratifikation, sondern ein zukunftsorientierter Anspruch Ihres Unternehmens an Sie, seine Manager. Ich habe mir für heute und morgen vorgenommen, diesen Anspruch zu erfüllen und Ihnen mindestens Erkenntnisse für das Seminarhonorar von 900 Euro zu liefern. Wenn Sie glauben, dass ich das nicht erreicht habe, so schreiben Sie das dem Veranstalter auf den Abschlussbewertungsbogen, und Sie bekommen Ihr Geld zurück. Dafür garantiere ich mit meinem Namen: Jo Pass.«

Julia Schwenger, die junge, studentische Betreuerin des Veranstalters Omniforum, zuckte zusammen und notierte sich etwas auf dem Schreibblock, der vor ihr lag. In ihren Augen sah ich aufblitzende Bewunderung, denn das hatte sie noch nie gehört.

»Wenn Sie aber richtig mitarbeiten, wenn Sie selbst aus dem angebotenen Material die Erkenntnisbeziehung zu Ihrem Unternehmen herstellen – etwas, was ich ja nicht leisten kann –, dann werden Sie den Wert dieses Seminars auch mit 5000 Euro ansetzen. Das verspreche ich Ihnen. Und damit wir richtig eingestimmt sind – machen wir jetzt erst einmal eine kurze Kaffeepause, bevor wir inhaltlich richtig loslegen.«

Die geistig erschöpfte Runde klopfte enthusiastisch auf die Tische und war gleichzeitig verwundert. Es war zehn Uhr dreißig und das junge Seminar erst eine Stunde alt. Unser ausgelobtes Thema hatten |22|wir noch gar nicht angesprochen. Doch ich war sicher: Jetzt war es ein echtes Pass-Seminar. Ich hatte nicht nur eine intensive Duftmarke gesetzt, sondern das Seminar mit meinem ureigenen Stil, meiner klaren Sprache und meiner bestechenden Dramaturgie zur Marke gemacht. Man konnte es lieben oder hassen – vergessen würde es niemand. Noch Jahre später würden die Teilnehmer mich begeistert auf dieses Seminar ansprechen. Hier hätten sie erstmalig den wahren Wert von Seminaren erfahren. Ich kannte das. Übrigens hatte niemand jemals die Unverschämtheit besessen und sein Geld zurückverlangt.

Auch ich ging vor die Tür, wo Kaffee und Teewasser für uns vorbereitet waren. »Bauer« und »Frieler« raunte ich Simon zu, um mit ihm die potenziellen Gegner abzugleichen.

»Bauer nicht mehr, den hast du im Sack.«

»Was hat ihn umgestimmt?«

»Der hat das erste Mal realisiert, dass sein Unternehmen tatsächlich zwischen 5000 und 10000 Mark für ihn bezahlt.« Simon lernte es einfach nicht, in Euro zu denken. »Und da du ihn so gut gelaunt darauf hingewiesen hast, dass sein strategisch denkender Chef ihn in so ein Seminar wie unseres beorderte, fragt der sich gerade, was dieser wohl mit dem Seminar beabsichtigte. Irgendein bisher nicht identifiziertes Defizit muss der ja wohl sehen. Bauer ist von seinem Sockel förmlich abgestürzt. Aber warum musstest du den Frieler mit so ironischen Bemerkungen wie ›vorausschauend und planend wie er ist‹ so provozieren?«

»Darf ich Ihnen einen heißen Kaffee kredenzen?«, Julia Schwenger unterbrach uns und reichte mir eine Tasse schwarzen Kaffee. Fein säuberlich waren auf der Untertasse ein Päckchen weißer Zucker sowie eine kleine Dose Kaffeesahne neben den Silberlöffel drapiert.

Ich dankte freundlich. »Oh, vielleicht finde ich noch ein Kipferl für Sie«, flötete sie, outete sich dabei der süddeutschen Zunge zugehörig und war im nächsten Moment auch schon wieder Richtung Kaffeetisch verschwunden.

Ich ging auf die Toilette. Nicht, um zu pinkeln, sondern damit Simon Gelegenheit hatte, die momentane Stimmung der Teilnehmer auszuloten. Als ich wiederkam, zeigte er mit dem Daumen nach oben, was hieß, dass meine generelle Marschrichtung mehr oder weniger akzeptiert worden war. Es konnte losgehen.

|23|»Strategie«, so erklärte ich, »ist ein über die Zeit hinweg konstantes Verhalten. Dabei werden sowohl Fragen des Inhaltes als auch des Prozesses berührt. Wenn eine wohl sorgende Mutter zum Beispiel den engen Freunden verbietet, ihrem einzigen Kind jemals naturalistisches Kriegsspielzeug zu schenken, so fährt sie eine inhaltliche Ausschlussstrategie. Wenn sie gleichzeitig sagt, dass direkt nach dem Mittagessen immer die täglichen Schularbeiten gemacht werden müssen, weil das Kind zu dieser Zeit den aktiven Vormittag noch gut im Kopf hat, so hat sie eine deutliche Prozessstrategie definiert. Und wenn sie irgendwann in der Woche plötzlich die Vokabeln abhört, so ist das sicherlich taktische Revision, aber keine Strategie.«

»Fetzi« Ferra lachte. Vielleicht war sie Mutter und fand sich durch die Beispiele in ihrer privaten Alltagsrealität wieder. Mit ihren vielleicht 40 Jahren und der etwas fülligeren Figur konnte das durchaus der Fall ein. Sie war modisch gekleidet, mit einem langen, braunen Rock, unter dem schwarze Stiefel hervorschauten. Das herbstfarbene Oberteil war ein Mittelding aus langer Bluse und Pullover und reichte ihr bis zu den Oberschenkeln.

Ich stellte die verschiedenen Strategieschulen dar. Für das Marketing waren mir aber zwei besonders wichtig: einerseits die unternehmerische Sichtweise des Österreichers Joseph Alois Schumpeter, der die schöpferische Zerstörung und die Innovation als Hauptaufgaben des freien Unternehmers in einer Personengesellschaft und des Topmanagers in einer Kapitalgesellschaft definierte. Und andererseits die marktorientierte Positionierungsschule mit ihrem herausragenden amerikanischen Vertreter Michael Porter. In beiden Strömungen bedeutete Strategie, dass man andere Maßnahmen als bisher auf diesem Markt üblich oder bekannt einsetzt, um eine einzigartige und wertvolle Position in den Köpfen der Kunden zu erreichen. Der Leitsatz dahinter lautete: »Alles, was Menschen wollen, ist, wählen zu können.« In der Regel wählen sie das Neue, Interessante und Bessere.

»Zunächst einmal kann man seinen Marktbereich generisch positionieren, und oft reicht das schon.« Die Runde schaute mich verständnislos an. »Unter generischen Strategien verstehen wir aber auch Standardstrategien, die über Branchen hinaus generell eingesetzt und nicht originär neu entwickelt werden.

Lassen Sie uns das einmal am Beispiel eines Treffens von Menschen |24|durchspielen. Schon verschiedene Begrifflichkeiten könnten verschiedene Gattungen und damit generische Positionierungen bedeuten: Meeting, Fete, Party, Event. Doch nur ein anderer Name allein ist langweilig, denn Sie haben über zweihundertfünfzig persönliche Freunde und Bekannte. Jetzt fangen Sie an und engagieren eine Jazzband.« Was hätte mir auch sonst einfallen sollen? »Dazu kaufen Sie beim besten Caterer, sagen wir in Frankfurt bei Plöger, die erlesensten Leckereien ein: Hummerschwänze, Kaviar, Schinkenröllchen mit exquisiten, trockenen Weinen aus Italien. Sie schaffen es, als Dinnerspeaker einen Marketingguru zu engagieren« – ich grinste – »der Ihren Freunden launig über Innovationen im Alltag berichten kann. Letztendlich bitten Sie Ihre umfangreiche Bekanntschaft um 50 Euro Beitrag pro Person, da Sie auch so schon genug in die Party buttern müssen. – Welche Positionierung haben Sie Ihrer Party gegeben?«

Karin Wagner kaute gedankenverloren auf ihrem Hotelbleistift herum. Als ich sie anschaute, schrieb sie schnell etwas nieder.

»Nun, Sie haben mit Ihrer neuen Party die typische Position des Nischenplayers eingenommen. Hoch differenziert in Qualität und Design, mit einem engen Kerngeschäft der gehobenen, kleinen Erlebnisparty. In der Wirtschaftszeitungswelt rechne ich den Economist zu diesem Typ. – Wie würden Sie Ihre Party verändern, wenn Sie als Pionier auftreten wollten?«

Julius Rot mischte sich in die Debatte ein: »Es müsste etwas Außergewöhnliches sein. Etwas, das es noch nie gegeben hat. Etwas, das praktisch jetzt zum ersten Mal passiert.«

Max Weiss ergänzte: »So langsam bewegen wir uns aber von der privaten Party zu einer Party als Geschäft.«

»Das ist alles viel zu unkonkret.« Frieler, die Nase.

»Ein wahrer Pionier würde vielleicht eine IQ-Party veranstalten. Jeder, der einen Test besteht und bei dem ein Intelligenzquotient von mindestens einhundertdreißig gemessen wird, darf mitmachen. Also wir alle. – Oder aber jeder müsste ein selbst komponiertes Lied mitbringen, das an diesem Abend eine Liveband spielen wird. Es kann gesummt sein oder in Noten transkribiert. Ich weiß nicht, ob es so etwas schon gibt, aber die Richtung ist klar. Pioniere sind meistens innovativ in der Konfiguration und im Design eines Produktes, wie es zum Beispiel Apple immer wieder versuchte.

|25|Die ganz andere Positionierung des lokalen Produzenten ist einfach zu beschreiben. Bei unserem Partybeispiel ist es die Hausparty nur für Hausbewohner. Diese undifferenzierte Strategie wendet sich an spezielle geografische Nischen, wie das Postamt, die Apotheke oder den Tante-Emma-Laden um die Ecke.«

»Was soll das? Hier sitzen doch keine kleinen Einzelhändler!« Schon wieder dieser Frieler, der mir langsam auf den Wecker ging. »Das ist doch völlig an der Praxis vorbei«, meckerte er weiter.

Noch hielt ich mich zurück, denn jetzt – kurz vor der Mittagspause – war es zu früh für einen Eklat. »Wer als Manager nicht die gesamte Positionierungscheckliste kennt, der kann nicht auswählen. Und Apple ist nun wirklich kein kleiner Laden. Aber wir können ja auch gleich die ausgesuchte Positionierung der weltweiten Replikatoren anschauen. Unsere Party würde dann durchstrukturiert und durchgestylt und überall auf der Welt identisch, nur durch kleine, lokale Besonderheiten differenziert, angeboten. Der Schwerpunkt liegt auf dem Marketing bei gleichzeitig standardisierter Produktion und funktional orientiertem Verkauf. Beispiele sollten vielleicht Coca-Cola oder McDonald’s sein.«

»Ist die Kostenführerschaft nicht auch eine Positionierung?« H.-J. Hermann war aufgewacht.

»Ich spreche hier lieber von kostendominanten Unternehmen, die als Massenproduzent auftreten. Wir denken vielleicht an Nestlé oder General Motors. Welche generischen Positionierungen fallen Ihnen noch ein?«

»Freie Berufe.« Karl Kaufmann.

»Nachahmerstrategien.« Dr. Biker.

»Nun, das sind außergewöhnliche Sonderfälle mit eigenen Marktgesetzen. Unter generischen Gesichtspunkten, also Standardstrategien, sicherlich richtig. Was noch?«

Klaus Bauer wollte endlich zeigen, dass er etwas Vernünftiges studiert hatte: »Da haben wir zunächst die Rationalisierer. Das sind globale Unternehmen. Sie vergeben ungeheuerliche Produktionsaufträge und verkaufen an große Marktsegmente, beides weltweit. IBM, Ikea und Adidas könnte man dazurechnen. 3M ist dagegen der Typ des kristallinen Diversifizierers oder Netzwerkunternehmens. Sie sind hochgradig diversifiziert, haben eine breite und oft nach Design differenzierte |26|Produktpalette, die durch interne Entwicklung rund um Kernkompetenzen entsteht. Aus so einem Post-it-Klebstoff kann man viele Produkte machen. Dann fallen mir noch Konglomerate ein. Das sind Finanzholdings, die dominante Unternehmen verschiedener Branchen zusammenkaufen und dabei oft eine zusammenhängende Differenzierung suchen.«

»Haben Sie ein Beispiel?« Alle überlegten. »Ich biete Ihnen im Pharmageschäft beispielsweise Altana an, die zur Quandt-Familie gehört und so über sieben Ecken mit BMW zu tun hat. Herr Bauer, haben Sie auch bei Mintzberg in Montreal studiert?«

Bauer errötete: »Warum?«

»Weil Sie seine Klassifizierung gut dargestellt haben. Zur Abrundung der generischen Standardpositionierungen fehlt uns eigentlich nur noch die generelle Positionierung des Produzenten für dünne Märkte, die wir nicht mit Nischen verwechseln dürfen. Gemeint sind einzelne, enorm große Aufträge weniger Käufer. Ein Weltgeschäft, bei dem es um umfassende Designinnovationen und komplexe Hochtechnologie geht. Kriegsgerät ist so ein Markt, aber auch die Luftfahrt mit Airbus.«

»Oder Boeing.« Schon wieder Frieler. Er sprach es, um die Aufmerksamkeit bewusst auf sich zu lenken, mit einem langen ›eu‹ aus und nickte dabei mit dem Kopf. Ich läutete die Mittagspause ein.

Frieler zog über seinen geschmacklosen Pullunder ein Jagdjackett mit auffälligen Lederflicken an den Ärmeln, das er bis dahin über die Stuhllehne gehängt hatte. Dann nahm er aus seinem kleinen Aktenkoffer ein etwas veraltetes Handy heraus, schaltete es ein und begann sofort, mit seinem Büro zu telefonieren. Noch im Gespräch klappte er den Koffer zu, veränderte die Nummernkombination, griff ihn am Handgriff und ging zum Essen.

H.-J. – Hans-Jürgen hatte die Vorstellungsrunde ergeben – Hermann kam direkt auf mich zu: »Wirklich interessant. Wo würden Sie denn mein Unternehmen, Siemens, einordnen?«

»Ich habe das zu wenig untersucht, sehe aber von außen Siemens überhaupt nicht generisch positioniert. Siemens ist eben kein richtiger Rationalisierer, weil sie« – ich sah ihn an – »auch selbst produzieren. Wahrscheinlich muss man die einzelnen Sparten von Siemens gesondert betrachten und kommt dann zu mehreren Klassifikationen.« |27|Jenny Ort war zu uns gestoßen, während die anderen dem Ausgang entgegen und in das Restaurant zum Mittagessen strebten. Ich bedeutete Simon, dass ich gleich nachkommen würde. »Wahrscheinlich ist das auch ein Problem von Siemens, dass man das gesamte Unternehmen nicht homogen unter einer Headline, einem Sinn vermittelnden Claim subsumieren kann.«

»Ich habe zufällig Ihr neuestes Buch bei mir. Würden Sie es mir signieren?« Jenny Ort war dicht an mich herangetreten. In ihrem blauen Hosenanzug und mit ihren langen Haaren sah sie hübsch aus. Ihre Lippen waren voll, und die grünen Augen schauten hinter einem leichten blauweißen Lidschatten hervor. Sie reichte mir Modern Marketing. Ein winterliches Parfüm, vielleicht etwas zu schwer für die schlanke, aber vollbusige Frau, nahm mir fast die Luft zum Atmen. Zu viel und zu nah. Ich trat instinktiv einen großen Schritt zurück. Hatte die Frau noch nie etwas von sozialem Abstand gehört? Sie war schließlich kein Mann und kam auch nicht aus einem arabischen Land, wo das Anfassen und die Nähe gesellschaftlichen Respekt signalisieren. Doch sie folgte mir, und so setzte ich mich nochmals hin und nahm einen Kugelschreiber aus meinem Jackett.

»Schreiben Sie ›Für Jenny‹.« Ich schrieb: »Für Teresa. Schmunzelnd Ihr Jo Pass«, und gab ihr das Buch zurück. Sie lachte. Ich wusste, dass das ihre Geschichte sein würde. Mich würde sie nicht vergessen. Selfmarketing braucht eben gute Geschichten, und das war so eine.

»Gehen wir gemeinsam zum Essen?« schaute sie mich mit nach links geneigtem Kopf an und kam mir für mein männliches Empfinden zu nah. Sie hatte es wahrscheinlich nicht beabsichtigt und war einfach ungezwungen, doch mein Ego wurde dadurch ganz schön verunsichert.

»Äh«, stotterte ich und drückte mich aus dem Stuhl hoch. »Ich glaube, ich muss noch etwas arbeiten. Leider. Wir sehen uns in einer Stunde wieder.« Ich floh förmlich. Sobald attraktive Frauen mir zu nahe kamen, wurde ich nervös. Beruflich konnte ich gut mit ihnen zusammenarbeiten. Jetzt jedenfalls spurtete ich mehr auf mein Zimmer, als dass ich gemütlich ging. Nummer 211 war wie alle Hotelzimmer dieser Businessgüteklasse auf der Welt. Ein Doppelbett, ein Minischreibtisch mit Telefon und einem Stuhl davor, zwei moderne, festgeschraubte Bilder sowie ein Fernseher, der mich immer noch mit |28|»Guten Tag, Herr Jo Pass« begrüßte und den ich sofort abschaltete. Ich schaltete mein Handy an, vertat mich zweimal mit der PIN, telefonierte mit dem WW1-Consulting-Office. Erwartungsgemäß lag nichts an. Tatsächlich war das Sekretariat erstaunt, denn ich hatte eigentlich Urlaub, und man wähnte mich schon in New Orleans. Nebenbei plünderte ich die Minibar. Zwei Schokoriegel, einer mit Himbeer- und einer mit Joghurtgeschmack, waren der Anfang. Die Tüte Chips und die Tüte gesalzener Erdnüsse folgten unter Spülung mit zwei Cola. Ich beruhigte mich, träumte von Café au lait mit Zichorie und frischen Beignets mit fingerdickem Puderzucker im Café du Monde in New Orleans, bis es Zeit war, sich wieder mit dem auseinander zu setzen, was mir den Urlaub versalzen hatte: einem überflüssigen Seminar.

Wieder im Seminarraum angekommen, grantelte ich innerlich über die Seminarbetreuerin, um ihre Attraktivität für mich gleich wieder abzuschwächen. Der Seminarraum, so ging es mir durch den Kopf, war natürlich nicht gelüftet worden, weil Julia Schwenger die mühevolle Pflicht des beiläufigen Small Talks mit Seminarteilnehmern bevorzugte. Die obligatorische Klimaanlage heizte gut, und weil inzwischen die Dezembersonne durch die großen Scheiben schien, war der Raum reichlich überhitzt. Es würde mindestens zwei Stunden dauern, bis die Temperatur einigermaßen erträglich war.

Wir diskutierten zunächst über strategische Allianzen, weil das im Seminarprospekt so angekündigt war. Ich hielt das für überflüssig, weil keiner der Anwesenden nach meiner Einschätzung in den nächsten fünf Jahren auch nur andeutungsweise für eine solche Koalition in Frage käme.

Dann wendeten wir uns wieder der Positionierung zu. Ich erklärte, die Positionierung stelle im Grunde genommen die Basis, die Königsfrage des Marketings dar. »Jeder Markt ist durch Intelligenz gestaltbar, aber fangen Sie mit der Frage der Positionierung an!« Deutlicher ging es nicht. »Werden hier die Weichen gestellt, so ist das der Punkt, von dem aus sich alles entwickelt: die Werbung, der Vertrieb, die Verkaufsargumentation, der Preis und vieles mehr. Während die generische Positionierung die des Gesamtunternehmens oder einer Einheit beschrieb, sollten wir die Positionierung einer Marktleistung, also eines Produktes oder einer Dienstleistung, gesondert betrachten.«

|29|»Das bringt doch alles nichts«, war Dr. med. Richard Frieler lautstark zu vernehmen. »Das alles lässt sich einfach auf den USP, die Unique Selling Proposition, verkürzen. Das ist das ganze Geheimnis, und wir können hier viel Zeit sparen, wenn wir genau da ansetzen.«

Ich hatte die Schnauze voll und blickte zu Simon rüber. Ganz gemächlich hob er seine Hände und rieb sich beide Ohren. Wir hatten mehrere solcher Zeichen auch für Präsentationen vereinbart. »Halt die Ohren steif und den Ball flach. Lass dich nicht provozieren. Bleib konstruktiv warmherzig. Es gibt keinen Grund, sich aufzuregen.« Ich sah das völlig anders. Wenn der Herr Spielchen spielen wollte, dann konnte er sie haben. Jetzt war meine Rollentauschstrategie fällig.

»Das ist äußerst interessant. Vielleicht sind Sie so nett und skizzieren uns Ihren klugen Gedanken eben schnell auf dem Flipchart oder dem Overhead, damit wir alle daran teilhaben können.« Frieler schaute sich um und wurde etwas unsicher. Betont jovial nahm ich einen Flipchartstift und reichte ihn ihm. Da er ihn annahm, war er nun ein Gefangener der Situation. »Nein« konnte er schlecht sagen, denn er musste den Stift in seiner Hand loswerden. Und dazu musste er nach vorn gehen, denn dort gehörte er seinen von mir manipulierten Gedanken nach hin. Wenn er aber schon einmal praktisch auf der Bühne stand, musste er sich auch äußern. Er stand auf und stellte sich neben das Flipchart. Ich wiederum ging ganz langsam um ihn herum und setzte mich rechts auf seinen Stuhl. Zwischen Karin Wagner und Max Weiss. Ich hatte es geschafft, die Rollen zu tauschen. Er war nun der Magister, ich saß im Stuhl des Schülers.

Frieler merkte den wichtigen Unterschied wie alle im Raum. Intellektuell hatte er ihn noch nicht verarbeitet. Schweiß lief ihm das jetzt etwas verkniffene Gesicht herunter. Dabei war noch kein weiteres Wort gefallen.

»Erklären Sie dem erlauchten Publikum einmal genauer, warum Ihrer Meinung nach eine Unique Selling Proposition, vulgo USP, mit einer Positionierung gleichzusetzen ist«, höhnte ich schelmisch lächelnd und wies dabei in die Runde der Seminarteilnehmer.

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|33|11. Dezember nachmittags bis 12. Dezember

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|47|18. Dezember

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|59|19. Dezember

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|70|10. Januar

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|73|16. Januar

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|87|22. Januar

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|90|30. Januar

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|96|31. Januar

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|105|12. Februar

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|128|20. Februar

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|147|12. März

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|165|13. März

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|187|17. März

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|205|6. und 7. April

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|224|8. April

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|246|10. April

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|253|11. und 12. April

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|266|14. April

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|284|8. Juni

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|302|20. bis 27. Juni

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|323|5. Juli

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|342|Auf ein Wort ...

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|344|Quellen und empfohlene Literatur

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.

|347|Drei Antworten auf Fragen, die Leser oft stellen (statt einer Danksagung)

Möchten Sie mehr lesen?

Den vollständigen Text gibt es als eBook bei Ihrem Online-Händler.