Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Leserinnen und Leser, die sich heute - ca. 40 Jahre nach Karl Rahners Tod - um das Verständnis seiner Theologie bemühen und von ihr lernen wollen, werden wohl mit Interesse einige Studien (im Laufe von Jahrzehnten sehr verstreut veröffentlicht und heute schwer greifbar) aufnehmen, die zwei Schüler aus Rahners Innsbrucker Lehr-Zeit über zentrale Aspekte seiner Theologie in einem Band gesammelt vorlegen. Die Texte werden - mit geringfügigen Ausnahmen - mitsamt Anmerkungen unverändert und ungekürzt dargeboten. So tragen sie den Stempel ihrer Erscheinungszeit innerhalb der Zeit der Kirche und der eigenen Biographie. Jene zwei Aufsätze, die zu seinen Lebzeiten erschienen, hat Karl Rahner selbst noch zur Kenntnis genommen. Die Beiträge 3, 5, 8 und 10 stammen von Siegfried Hübner, die übrigen von Klaus P. Fischer. Herausgeber: Hans-Jürgen Sträter, Adlerstein Verlag
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Leserinnen und Leser, die sich heute - mehr als dreißig Jahre nach Karl Rahners Tod - um das Verständnis seiner Theologie bemühen und von ihr lernen wollen, werden wohl mit Interesse einige Studien (im Laufe von Jahrzehnten sehr verstreut veröffentlicht und heute schwer greifbar) aufnehmen, die zwei Schüler aus Rahners Innsbrucker Lehr-Zeit über zentrale Aspekte seiner Theologie in einem Band gesammelt vorlegen. Die Texte werden - mit geringfügigen Ausnahmen - mitsamt Anmerkungen unverändert und ungekürzt dargeboten. So tragen sie den Stempel ihrer Erscheinungszeit innerhalb der Zeit der Kirche und der eigenen Biographie. Jene zwei Aufsätze, die zu seinen Lebzeiten erschienen, hat Karl Rahner selbst noch zur Kenntnis genommen.
Die Beiträge 3, 5, 8 und 10 stammen von Siegfried Hübner, die übrigen von Klaus P. Fischer.
An einigen wenigen Stellen wurden Versehen berichtigt und die Präsentation lesefreundlicher gestaltet. Manche Unschärfen und Spannungen im Druckbild spiegeln Schwierigkeiten in der Aufbereitung älterer, noch ohne PC erstellter Aufsätze und mögen wohlwollend entschuldigt werden. Der Quellennachweis am Ende gibt Auskunft über die Herkunft der Beiträge.
Es bleibt den Lesern vorbehalten, von Thematik und Inhalt der einzelnen Abhandlungen Brücken zu aktuellen Fragen zu schlagen. Dabei liegt es in der Natur der 'Sache', um die es Rahner ging, dass sie ohne die von ihm öfters apostrophierte ,Anstrengung des Begriffs“ auch heute nicht zu haben ist.
Der Abgleich der in diesem Band vereinigten Zitate aus Rahners Schriften samt ihrer thematischen Einordnung mit den Texten und Perspektiven, wie sie die neu herausgekommenen Bände „Sämtliche Werke“ Karl Rahners bieten, dürfte für Studierende eine unerlässliche und zugleich spannende Aufgabe sein. Sie könnten zudem entdecken, dass eine kritische Edition sämtlicher Werke Rahners willkommen und hilfreich, aber nicht gleichbedeutend ist mit einer Aufschlüsselung sämtlicher Aspekte seines Werkes. Die Autoren dieser Beiträge waren stets bemüht, Zugänge zu Rahners tiefgründiger und an Perspektiven reicher Theologie zu bahnen, gerade weil diese - nach Rahners eigener Intention - stets auch Hilfe zum Glauben sein wollte.
Heidelberg - Berggießhübel, Pfingsten 2015
Klaus P. Fischer / Siegfried Hübner
Inhalt
1. Der Mensch vor dem Geheimnis
2. Der Tod - „Trennung von Seele und Leib“?
3. Gott - „das letzte Wort vor dem Verstummen“
4. Philosophie und Mystagogie
5. Die nichtchristliche Menschheit im Licht christlichen Glaubens
6. Menschwerdung - Karl Rahner und die evolutive Weitsicht
7. Strukturwandel der Kirche - Aufgabe und Chance?
8. Karl Rahner - Rufer und Helfer zum Glauben
9. Glaube als Über-sich-verfügen-lassen
10. Gesegnetes Altern im Glauben
Quellennachweis
Zu den Autoren
Die mystagogische Struktur der Theologie Karl Rahners1
I. Rahners Theologie als „Grundkurs" auf der „ersten Reflexionsstufe“
Karl Rahner hat im Jahre 1969 eine kleine Schrift mit dem Titel „Zur Reform des Theologiestudiums“2 veröffentlicht, die aus manchen Vorarbeiten hervorgewachsen ist. Wer mit dem Lebenswerk Rahners ein wenig vertraut ist, kann in diesem Titel - weit genug gefasst - jenes Leitmotiv wiedererkennen, welches, geführt von spirituellen Erfahrungen, Rahners theologisches Denken zutiefst geprägt hat und bis heute charakterisiert. In der genannten Schrift skizziert Rahner seinen eigenen Beitrag zur Deutung jenes „Einführungskurses“ in das „Mysterium Christi“, den das letzte Konzil für das Theologiestudium als dessen Beginn gefordert hat. Bestimmt ist es kein Zufall, wenn Rahner in seiner Schrift einmal beiläufig feststellt, eine von ihm in München (später auch in Münster) gehaltene Vorlesung „Einführung in den Begriff des Christentums" sei trotz mancher Vorbehalte „doch etwas Ähnliches“ gewesen wie der geforderte Einführungskurs - „wie ich hinterher bemerkte“ (fügt Rahner hinzu).
In nachträglicher (Selbst-) Reflexion erscheint Rahners Theologie ja doch als groß angelegter Versuch, das Theologiestudium selbst, sowie Art und Methode dieses Studiums, von Grund auf zu reformieren. Titel und Inhalt dieser Vorlesung „Einführung in den Begriff des Christentums“ ergaben sich nicht zufällig aus äußeren Umständen, sondern wuchsen gleichsam zwangsläufig aus Ansatz und Eigenart des Denkens von Rahner hervor. Mit Recht macht er in seiner Schrift darauf aufmerksam, dass die Orientierung des vom Konzil verordneten Einführungskurses auf „das Geheimnis Christi" hin die tiefste und innerste Einheit der verschiedenen theologischen Fächer anvisiere.3
Rahners eigener Beitrag beginnt da, wo er sich die unvermeidliche Frage stellt, wie denn - über die inhaltliche Festlegung (Mysterium Christi) hinaus - die innere Einheit der theologischen Wissenschaften formal begründet werden könne. Er verweist hier kritisch auf das Scheitern der sogenannten „theologischen Enzyklopädien“ im 19. Jahrhundert. Diese hatten nach der ursprünglichen, lebendigen, organischen Einheit der theologischen Wissenschaften gesucht, um sich vor der kritischen Fragestellung der Neuzeit (z. B. Lessings!) verantworten zu können: vor der Frage nämlich, wie überhaupt „das äußerlich Gegebene innerlich verständlich, das Zufällige notwendig und somit verpflichtend werden könne und wie überhaupt das Einzelne zum Ganzen sich verhielte“.4 Doch diese Versuche scheiterten schließlich an dem Fehler, dass sie das Einheitsprinzip der Theologie seines Inhalts vollständig entleerten, den Inhalt der Theologie gegenständlich auslegten und doch wieder auf die verschiedenen Fächer verteilten; so blieb für den Grundkurs de facto nur noch die Funktion einer Einführung in wissenschaftliches Arbeiten mit theologischen Gegenständen übrig - eine reine, inhaltlose Formalität, die das Bedürfnis nach intellektueller Rechenschaft über den Glauben (verstanden als existentielles Engagement) genauso unbefriedigt lassen musste, wie es für ähnliche Erwartungen heute etwa die (fachlich gewiss berechtigten) „Einleitungen“ in manche wissenschaftliche Spezialfächer tun. Von dieser Gefahr, im rein Formalen zu erstarren und so fast zwangsläufig zu scheitern, oder von der anderen Gefahr, den projektierten Einführungskursus wiederum nur als Überblick - bestehend aus Inhaltsangaben zu den theologischen Fächern - zu verstehen, kommt man nach Rahner nur los, wenn man als Theologe „selber zurück zur Sache findet" und, statt bloß wissenschaftlich, detailliert und informiert über einen theologischen Gegenstand zu reden, sich dafür interessiert, „was dieser in sich eigentlich bedeutet“.5 Worauf Rahner mit dieser Kritik eigentlich hinzielt, wird klarer im Zusammenhang mit der von ihm neu eingeführten Bezeichnung „erste Reflexionsstufe“.
In einer Anmerkung wird diese von Rahner in der Weise erklärt, dass hier „nach den (transzendentalen) Bedingungen des möglichen Glaubensvollzugs hinsichtlich eines bestimmten Inhalts“ geforscht werde.6 Zwei mögliche Missverständnisse dieses Ansatzes müssen gleich abgewehrt werden: Es geht Rahner weder um eine missionarische Glaubensbegründung - Einführung in den Glauben für Nichtchristen - noch um eine Art Cursus Minor, der die Darbietung eines theologischen 'Existenzminimums' für Studenten ohne wissenschaftliche Ambitionen wäre. Die Voraussetzung, die Rahner ausdrücklich macht, hilft sein Anliegen klarer zu erkennen, die Voraussetzung nämlich, dass „ich aus irgendeinem faktischen Grund Christ bin ... und dann frage, aus welchen Gründen ich mit intellektueller Redlichkeit ein Christ sein kann", und zwar ohne vorher und hierzu ein umfassendes Studium der theologischen Fächer durchlaufen zu haben, was ohnedies ein lebenslanges Bemühen bliebe.7
Rahner grenzt dann das von ihm gemeinte Verfahren dialektisch weiter ab. Die „erste Reflexionsstufe“ des Glaubens ist zwar „unwissenschaftlich“ (weil nicht Ergebnis einer systematischen Aufsammlung der Erkenntnisse und Untersuchungen der einzelnen Fächer), sie erhebt aber doch, indem sie intellektuell redliche Verantwortung des Glaubens sein will, Anspruch darauf, „eine eigene erste Wissenschaft“8 zu sein. Rahner versucht noch mehr zu verdeutlichen: Die 'Unwissenschaftlichkeit' dieser andersartigen Disziplin liegt im Gegenstand, nicht im Subjekt und seiner Methode“. (Ebd., 73f)
Was Rahner damit sagen will, ist dies: Es soll in dieser Disziplin nicht reflektiert werden über einen der Gegenstände der sog. „wissenschaftlichen Theologie", sondern - aber durchaus in methodischer Strenge - über das glaubende „Subjekt“ selbst und dessen innere Strukturen, insoweit als sie den Vollzug des Glaubens im Sinne der „totalen Entscheidung“ (ebd., 76) ermöglichen und tragen. Dies versteht Rahner unter der „ersten Reflexionsstufe“.9
Der von Rahner anvisierte „Einführungskurs in das Geheimnis Christi" müsste dieser Art von „erster Reflexion" vollziehen und einüben.
Erst diese (transzendentale) Reflexion könnte auch das neuzeitliche Problem beantworten, „wie das äußerlich Gegebene innerlich verständlich, das Zufällige notwendig und somit verpflichtend werden könne und wie überhaupt das Einzelne zum Ganzen sich verhielte".10
Das 'Lernziel' dieses Grundkurses ist Rahner von seinen früheren Arbeiten her vorgegeben; es muss gezeigt werden: wenn „der alles menschliche Erkennen gründende und umfassende Horizont seiner Existenz von vornherein das Geheimnis ist (und so ist es), dann hat der Mensch durchaus eine positive, mindestens mit der Gnade gegebene Affinität zu jenen strikten Geheimnissen, die den Grundinhalt des Glaubens ausmachen“.11 Diese Feststellung enthält jedoch nur in „existentialontologischer“ Formulierung jene „Grundüberzeugung“, die Rahner in einem Brief an den Verfasser dieses Beitrags einmal so formulierte: „Kein Mensch kann das Ganze seines Lebens, seiner Grundentscheidung voll zu einer ausdrücklichen Aussage bringen.
Er lebt immer aus mehr, als er sich selbst und anderen reflex sagen kann. Er kann sein Tun trotz aller notwendigen Reflexion und reflexen Rechenschaft, die er sich und anderen über sein Handeln gibt und geben muss, nie adäquat reflektieren ...Das gilt für alle Lebensbereiche. Das gilt darum auch für das christliche Leben und Glauben.
Die reflektierte und reflektierende Theologie holt nie den im Leben vollzogenen Glauben ein. Theologie als argumentierende Reflexion muss sein ...Aber das Christsein und sein Glaube ist immer mehr, als was bei solcher Theologie zum Vorschein kommt“.12
In diesem Zusammenhang ist darauf aufmerksam zu machen, dass Rahner im Sinne der „ersten Reflexionsstufe“ seine sog. spirituellen Aufsätze und Betrachtungen unbefangen unter seine „Schriften zur Theologie“ rechnet, und zwar deswegen, weil in ihnen allen über „das Ganze des Christseins“ nachgedacht wird; die Unterschiede zwischen seinen Schriften sind nur äußerlich, durch den jeweils angezielten Leserkreis bedingt.13
Beispielhaft lässt sich das illustrieren an einem Aufsatz Rahners über das Beten, wo sich das Nachdenken über das Thema von selbst auf das Ganze des Christ-seins, einschließlich der Gnadenerfahrung, entwickelt.
Insofern die „erste Reflexionsstufe’' des Glaubens die Reflexion über die „unterste Stufe" der Gnadenerfahrung notwendig einschließt, hat Rahners theologisches Denken, das eine „Einführung in das Mysterium Christi" sein will, naturgemäß eine mystagogische Struktur.14
II. Beten als „ Grundakt” des Menschen15
Schon der erste Teil des Aufsatzes - überschrieben „Hinführung zur Frage“ (nämlich, ob Beten heute möglich sei, ist in sich höchst aufschlussreich. Vorangestellt werden drei Vorbemerkungen: „Beten als Grundakt der menschlichen Existenz“; „Beten als geschichtliche Konstante der Menschheit“, „Beten und exakte Wissenschaft“. Rahner fügt jedoch gleich hinzu, es handle sich hierbei nicht um Vorbemerkungen „im Vorfeld des Betens“, sondern um eine Art „Generalprobe des einen großen Themas 'Gebet';16 somit führen nach Rahners Absicht diese Vorbemerkungen bereits mitten in den wesentlichen Inhalt, das Beten selbst, hinein.
In diesem Sinne ist die These zu verstehen, die Rahner mit der ersten Vorbemerkung: Beten ist nicht eine Handlung, die der Mensch neben vielen anderen auch noch vollzieht (oder vielleicht noch öfter unterlässt, obwohl er sie 'praktizieren' sollte), und die so bloß an der Peripherie, an der Oberfläche (statt im Kern) seines Wesens 'passieren' würde. Beten ist vielmehr ein „Grundakt“, eine Tat, an welcher der Mensch als ganzer, mit Herz und Seele, in vollmenschlichem Einsatz beteiligt ist. Diese These Rahners hat eine polemische Stoßrichtung. Sie geht aber nicht, wie man vermuten könnte, im Sinne des biblischen Tadels gegen die 'Gebetsmühle', oder gegen das bloße Beten „mit den Lippen“ (während das Herz fern ist von Gott). Rahner formuliert hier vielmehr eine Gegenthese gegen das moderne Vorurteil, wonach Beten entbehrlich, überflüssig sei, weil darin eigentlich nichts geschehe, weil dadurch nichts verändert werde, obwohl doch gerade heute die Christen allen Grund hätten (schon um kreditwürdig zu bleiben), durch „Taten“ der Liebe an der Veränderung der Welt mitzuwirken. In einem Brief an holländische Karmelitinnen hat Rahner die polemische Richtung seiner These noch deutlicher anklingen lassen: „Das Beten ist
auch eine Tat“.17 Die These, Beten sei ein Grundakt, der den Menschen als ganzen engagiere, provoziert natürlich den Einwand, eine solche These sei unrealistisch, wenn man bedenke, wie selten ein betender Mensch 'ganz' bei der Sache sei. ...Doch übersieht ein solcher Einwand, dass Rahner das Beten oder Gebet hier von vornherein und ausdrücklich „im weitesten Sinn des Wortes" verstanden wissen will. Was heißt: „im weitesten Sinn des Wortes“? Gemeint ist eben, wie Rahner darlegen will, Beten verstanden als Grundvollzug menschlicher Existenz. Beispiele für andere Grundvollzüge des Menschen, die Rahner anführt, geben zu verstehen, wie er das Beten hier ansetzen will. Beispiele für solche vergleichbare Grundvollzüge oder Grundakte sind etwa Liebe, Treue, Vertrauen, Hoffnung, Angst.
Über solche Grundakte kann man sprechen, kann darüber nachdenken - und doch wird man darüber sprechen und einem anderen Mitteilung machen können nur, weil man voraussetzen kann, dass, wie einem selbst, so auch einem anderen Vertrauen, Hoffnung, Liebe usw. durch den lebendigen Vollzug vertraut und bekannt sind, auch wenn er darüber noch nicht, vor allem nicht wissenschaftlich, philosophisch usw. nachgedacht hat. M.a.W.: Diese Grundakte oder Grundvollzüge menschlicher Existenz sind früher als die Reflexion darüber, sie gehören dem Menschen grundlegender an als die Gedanken, Begriffe und Worte, in denen er sie begreift und formuliert. Entsprechend verhält es sich - dies ist Rahners These - mit dem Beten. Vor jedem Versuch, ein Gebet in Worte zu fassen, liegt der Vollzug oder Akt des Betens selbst. Vor allen Gedanken, die einer sich über das Beten macht, vor allen Worten, in die er es kleidet, ist Beten die „vertrauende und liebende Bewegung auf jenes Geheimnis hin, das wir Gott nennen“.18 So ist Beten zuerst und ursprünglich nicht ein Sprechen, sondern Bewegung, eine das ganze Dasein umfassende Bewegung „auf jenes Geheimnis hin, das wir Gott nennen“.
Man merkt, wie von dieser Warte aus die Konzentration beim Beten, die der vorhin erwähnte Einwand vor Augen hatte, auf einen sekundären Rang zurückgestuft wird; so wichtig das Bemühen darum ist - Beten ist ursprünglich und wesenhaft mehr als der an die betende Bewegung sich anklammernde Gedanke.
Auch sieht man, wie das zeitgenössische Vorurteil aktivistischer Gemüter, wonach Beten passiv, inaktiv und darum entbehrlich sei, durch Rahners gedanklichen Ansatz unterlaufen wird. Rahner zeigt, dass man über das Beten, es bejahend oder verneinend, nur sprechen kann, indem man es als Urvollzug des Menschen, worin sein ganzes Dasein auf das Gott-Geheimnis hin in Bewegung kommt, voraussetzt. Ähnlich wie Vertrauen, Hoffnung, Liebe usf. ist Beten ein Akt, der „immer schon in uns gegeben" ist, mag man über den Sinn des Betens dann auf der Ebene der Begriffe, der Urteilsbildung, der logischen Analyse räsonieren wie auch immer, diesen Sinn bejahen oder bestreiten. Zugespitzt formuliert: Jemand mag auf der begrifflichen Ebene (von bestimmten Zielvorstellungen oder Erwartungen her, aufgrund objektiver Erwägungen oder konkreter Erfahrungen) sich vom Beten als von etwas Unsinnigem distanzieren und kann doch mitten in der Verneinung - seinem Vordergrundbewusstsein unbewusst bzw. seinem Reflexionsvermögen unzugänglich - jene „vertrauende und liebende Bewegung auf jenes Geheimnis hin, das wir Gott nennen", aus dem Grund seines Herzens heraus vollziehen und gerade darin den Ur-Sinn dessen erfahren und mitvollziehen, was Rahner das Beten als „Grundakt“ nennt.
Eine solche Argumentation, welche die Begründung für den Sinn des Betens nicht in etwas Äußerem, wie etwa im Erfolg, sucht, sondern im Vollzug des Betens selbst und im Nachweis seiner Ursprünglichkeit, d. h., in seiner Rückbeziehung auf die Wesensmitte des Menschen findet, wirkt in unserer Zeit, die Sinn und Zweck von Handlungen ausschließlich von Wirkung und Erfolg her zu beurteilen neigt, gewiss ungewöhnlich.
In Rahners Argumentation wird deutlich, dass jedes Nachdenken über das Gebet - ob in bejahender oder verneinender Absicht - auf der begrifflichobjektiven Ebene ein sekundärer Akt ist, eine Handlung, die immer gleichsam „zu spät“ kommt, um das Beten von Grund auf 'setzen' oder 'absetzen' zu können. Wir sehen aber auch, wie dieser Gedankengang Rahners eingangs zitiertes Anliegen erfüllt, und zwar am Beispiel des Gebetes, nämlich „wie das äußerlich Gegebene innerlich verständlich, das Zufällige notwendig und somit verpflichtend wenden könne“19 oder mit anderen Worten: Rahner aktualisiert hier am Beispiel des Betens seine erwähnen „Grundüberzeugung“: „Kein Mensch kann das Ganze seines Lebens, seiner Grundentscheidung voll zu einer ausdrücklichen Aussage bringen.
Er lebt immer aus mehr, als er sich selbst und anderen reflex sagen kann“.20Für Leser, die in der philosophischen und theologischen Ideengeschichte bewandert sind, spielt Rahner in einer Reihe seiner Schriften auf die Herkunft dieser Denkweise immer wieder an, wenn er etwa von „tranzendentaler Reflexion" spricht. Von Bedeutung ist dabei aber in erster Linie die Sache, um die es geht, weniger die Terminologie. Rahner entleiht gern bei anderen Denkern gewisse Denkfiguren, folgt dabei aber stets seinen eigenen theologischen Wegen. Es ist hier formal ähnlich wie beim Lesen des Notentextes eines (klassischen) Musikstücks; man hat dabei weniger auf die Begleitstimme als auf die Exposition, auf die melodische Linienführung zu achten. Wo immer bei Rahner also von der „Transzendentalität des Geistes" o. ä.21 die Rede ist, sind solche, das ganze Menschsein umfas-sende Grundakte gemeint wie Vertrauen, Liebe, Hoffnung oder eben auch Beten. Mit dem Gesagten ist übrigens auch bereits der Inhalt der zweiten Vorbemerkung Rahners im fraglichen Aufsatz verständlich: Grundakte, den Menschen ursprünglich strukturierende Grundakte verändern sich nicht, bleiben sie selbst durch allen geschichtlichen Wandel hindurch, weshalb Rahner das so verstandene Beten eine „geschichtliche Konstante der Menschheit" nennen kann.22
Die Absicht der Argumentation Rahners wäre natürlich verfehlt, wollte man aus dem Nachweis, dass Beten in der Grundbewegung des menschlichen Daseins wurzelt, entnehmen, es sollte damit bewiesen werden, dass man beten 'müsse' (nolens volens) oder dass jedermann "im Grunde seines Herzens' bete, auch der, der das nicht wolle, nicht an Gott glaubt usw.
Das wäre eine tendenziöse Fehldeutung. Dadurch, dass Rahner vom Beten als Grundvollzug des menschlichen Daseins spricht, verändert er nur, allerdings wesentlich, den Bezugspunkt der freien Stellungnahme des Menschen zum Gebet!
Es sei hier an die Unterscheidung der zwei Reflexionsebenen (oder Reflexionsstufen) in Bezug auf das Beten erinnert. Auf der zweiten Reflexionsstufe wird über das Gebet in seiner objektiven Form: Wortwahl, Inhalt, Glaubensäußerung, Zielsetzung usw. nachgedacht. Nachdenken über das Gebet auf der ersten Reflexionsstufe aber ist dann gegeben, wenn die Reflexion sich gleichsam nochmals zurückwendet auf die allen objektivierten Gehalt tragende Grundbewegung des Betens selbst und deren Ursprung im Wagnis des Vertrauens und der Hingabe des Beters an jenes Geheimnis, das christlich Gott, ja „Vater“ heißt. Die zwei Reflexionsebenen sind nicht grundlos unterschieden; wie weit eine Kongruenz zustandekommt, hängt doch erheblich auch von der Freiheit des Menschen ab. Gedacht ist hier an die Freiheit des Menschen, sich selbst als ganzen zu verstehen, zu deuten, sich selber 'ganz' ins Spiel zu bringen.
Dieser Freiheit sind aber die besprochenen Grundakte der Existenz vorgegeben! Sie entspringen nicht der Freiheit, werden von ihr nicht gesetzt, sondern sind - und dies gilt auch für das Beten als Grundakt - ,,Angebot an seine (des Menschen) Freiheit“, wie Rahner formuliert.23 Solche Grundvollzüge der menschlichen Existenz, die der Freiheit vorgegeben oder angeboten sind, damit der Mensch sie frei übernehme, sich zueigen mache, bezeichnet Rahner oft als „Existentiale“.24
III. Das Geheimnis als „ Grenze" des Menschen
Ein weiterer, bislang ausgeklammerter Gesichtspunkt muss nun erwogen werden. Beten als Grundakt des Menschen war ja umschrieben worden als eine seiner freien Stellungnahme vorgegebene, „vertrauende und liebende Bewegung auf jenes Geheimnis hin, das wir Gott nennen.25
Noch einmal sei daran erinnert, worum es Rahner bei seinen Überlegungen zu tun ist: um die Not des Betens in der heutigen Zeit.
Wie Rahner noch in seiner ersten Vorbemerkung feststellt, erscheint das Verständnis für das Beten heute deswegen besonders bedroht, weil das Verständnis für den Adressaten des Gebetes, Gott, bei vielen Menschen im Schwinden zu sein scheint. In der Perspektive des Positivismus gefragt: Gibt es in dieser naturwissenschaftlich erklärbaren und technisch durchorganisierten Welt noch 'Platz' für Gott? Rahner akzeptiert diese Frage, die bei aller geistesgeschichtlichen Bedingtheit doch das Zeitgefühl des modernen Menschen wiedergeben dürfte: in der Natur sind die vestigia Dei verlöscht, verweht, zu sehen sind nur noch die tief eingeprägten vestigia hominis. Rahners Lösungsversuch ist nun wieder für ihn typisch: „Das Gebet selbst muss sich - und in sich Gott - uns nahebringen und rechtfertigen“. (a.a.O. 65)
Dem liegt der folgende Gedankengang zugrunde: Wenn - auf der zweiten Reflexionsstufe - das Gebet als bewusste, konkret formulierte Handlung objektiv auf Gott gerichtet ist, so muss auch der der objektiven Gestalt des Gebets vorausliegende Grundakt des Betens ursprünglich auf Gott gehen. Für Rahner heißt das: Auf der „ersten Reflexionsstufe" lässt sich zeigen, dass die Grundvollzüge des menschlichen Daseins wie „Liebe, Vertrauen, Treue, Hoffnung, Angst" und auch Beten ein nicht näher definierbares „Ziel" haben, ein geheimnisvolles „Woraufhin".
Die Grundvollzüge menschlicher Existenz haben kein konkret-gegenständliches Ziel mehr, sondern münden in jenes unaussprechliche „Woraufhin", für das „Geheimnis" der sprechendste Name ist. Diese Urerfahrung des unaussprechlichen „Woraufhin“ der menschlichen Grundakte ist nach Rahner zugleich die Grunderfahrung dessen, was wir auf der zweiten Reflexionsstufe (auf der sich auch der explizite Offenbarungsglaube befindet) „Gott" zu nennen gewöhnt sind. „Gott" ist somit für Rahner der gegenständliche Begriff für das abgründige Geheimnis, das sich am Grund des menschlichen Daseins und seiner Akte auftut.26
Rahner sagt dazu erklärend einiges in seiner dritten Vorbemerkung „Beten und exakte Wissenschaft“.27 In verständlichem Stolz auf das Zeitalter der Wissenschaft und ihre Erfolge unterliegt der heutige Mensch leicht dem Eindruck, nur das sei real und wichtig, was 'exakt'-fassbar, reflektierbar, wissbar und beweisbar ist.
Schon die Wissenschaften selbst machen aber methodische Voraussetzungen, die mit den Mitteln dieser Wissenschaften selbst nicht zu begründen oder zu beweisen sind. Außerdem ist die wissenschaftliche Reflexion - wenigstens in ihrem klassischen Verständnis - auf sogenannte 'objektive' Zusammenhänge gerichtet.
Die Anwendung, sozusagen Rückwendung der wissenschaftlichen Reflexion auf das 'Subjekt', d. h. auf den denkenden Menschen selbst, stößt auf eben jene Grund- oder Ur-Vollzüge des Menschen, die sich 'exakt' gliederndem, klassifizierendem, funktional analysierendem Denken entziehen, weil sie diese gerade tragen; weil m. a. W. das Denken hier nicht über etwas anderes, sondern (über) sich selbst reflektiert. Der Mensch müsste sich schon ganz außerhalb seiner selbst stellen können, um sich selbst ganz überdenken, sich selbst definieren zu können. Rahner stellt deshalb grundsätzlich fest: „Der Mensch ist die zu sich selbst gekommene Undefinierbarkeit"28; und eben darin beginnt er, wie Rahner in der Vorbemerkung sagt, seinen „Geheimnischarakter im Leben (zu) erfahren“.29
Was Rahner unter den Titel „Geheimnis" bringt, ist freilich noch viel umfassender als dies. Um das Geheimnis, auf das der Mensch zuinnerst bezogen ist, in dem umfassenden Sinne, den es bei Rahner hat, zu sichten, muss nun ein Satz aus der ersten Vorbemerkung nachgeholt werden, den wir bisher unterschlagen haben.
Dort nennt Rahner das Beten zunächst nur andeutend „dieses geheime Flehen des Geistes Gottes, wie Paulus es nennt, und in das wir einstimmen müssen in der Tat unserer Freiheit".30
IV. Das Geheimnis der „ innersten Mitte “
Dass Rahner in seine Überlegungen hier eine theologische Deutung einbringt, mag zunächst überraschend wirken. Doch ist zu bedenken, dass es ja um die Erhellung der strukturellen Bedingungen des Betens in der konkreten Natur des Beters geht, und dass - was entscheidend ist - der Christ ja gar nicht voraussetzungslos über Grundakte des Menschen wie Beten, Lieben, Vertrauen, Hoffnung usw. nachdenken und sprechen kann: nicht ohne die Voraussetzung mitzubedenken, dass er ja vom Geist des Gottes begnadet ist, zu dem er betet (vgl. Röm 8, 26 ff/1 Kor 2, 10 ff). Das bedeutet aber, dass jene der Freiheit vorgegebenen und ins Geheimnis mündenden Grundakte des Menschen selber insgeheim bewegt sind von jenem Gott-Geheimnis, woraufhin sie sich bewegen. Das heißt, dass dem Menschen in seiner „innersten Mitte" - mitten in den Grundvollzügen seiner selbst - Gottes Gnade angeboten ist. Dies stand für den Theologen Rahner übrigens von Anfang an fest. Zeugnis dafür mag jener kurze, 1937 entstandene Gebetstext aus „Worte ins Schweigen" sein:
„Dank deiner Barmherzigkeit, du unendlicher Gott, dass ich von dir nicht bloß weiß mit Begriffen und Worten, sondern dich erfahren, erlebt und erlitten habe ... Denn du bist im Wasser und im Geist der Taufe über mich gekommen ... Da bist du selbst, ohne mich zu fragen, zum Geschick meines Herzens geworden. Du hast mich ergriffen, nicht ich habe dich 'begriffen', du hast mein Sein von seinen letzten Wurzeln und Ursprüngen her umgestaltet, du hast mich deines Seins und Lebens teilhaftig gemacht, dich mir geschenkt... Dich kann ich darum nicht vergessen, weil du ja die innerste Mitte meines Wesens geworden bist... In der Taufe hast du, Vater, dein Wort durch mein Wesen hindurchgesprochen... Noch bedarf zwar dieses Wort ...für mich der Auslegung durch das äußere Wort, das im Glauben durch Hören aufgenommen wird. Noch ist dein lebendiges Wort mir dunkel, noch tönt es aus den letzten Tiefen meines Herzens, in die du es hineingesprochen hast, nur leise und wie im fernen Widerhall in die Vordergründe meines bewussten Lebens hinein ...“31
Man sieht, wie hier bereits - besonders deutlich bei dem Bekenntnis von dem (hier: durch die Taufe vermittelten) vorausgehenden “Ergriffensein" von Gott vor allem menschlichen „Begreifen“ - eine erste, ursprüngliche Reflexionsstufe von einer zweiten, nachträglichen und abgeleiteten, hervorgehoben wird. Rahner hat den Zusammenhang von Erfahrung, Reflexion und Deutung bis hin zum Bekenntnis später noch oft beschrieben.
Am Anfang steht die Erfahrung des Menschen, ergriffen zu sein von dem Geheimnis: „Es waltet in jedem Leben ein Unsagbares: das Geheimnis ... Wir sind, denken und handeln in Freiheit nur, indem wir das Bestimmte und Fassbare immer schon überholt haben in einer Bewegung, die keine Grenzen kennt. Wenn wir uns als die Begrenzten begreifen, ... haben wir diese Grenze schon überschritten, freilich ins Leere hinein ... haben wir uns als die dauernd Sich-selbst-Überschreitenden erfahren auf das Unumfassbare hin, das ... das Geheimnis schlechthin ist“.32
Das klingt freilich abstrakt und formal, und doch haben wir hier die formale Struktur der Begegnung mit dem Geheimnis, das von der „innersten Mitte" des Menschen her in seine „konkrete Alltagserfahrung" hinein immer wieder durchbricht, spürbar und reflektierbar vor allem in Ereignissen, in denen der weltzugewandte Mensch „gewissermaßen auf sich selbst zurückgeworfen wird". Rahner nennt dafür immer wieder Beispiele, etwa die einsam durchgehaltene Verantwortung, die innerweltlich unbegründbar absolute Liebe und Treue, das willig angenommene, „befreite“ Sterbenkönnen.33
So und ähnlich machen wir Menschen „Grund"-Erfahrungen, die uns in das unbegreifliche Geheimnis einweisen, das in der „innersten Miete" unseres Lebens aufgeht, eben dort wo wir gleichsam 'den Boden unter .den Füßen verlieren', wo wir etwas tun, was von den Prinzipien eines Menschen aus, der 'mit beiden Beinen auf der Ende stehen' will, nicht mehr fassbar ist, da es keinen verstehbaren, vernünftigen' Grund hat, und doch eine unbedingte Dynamik enthält. Dies ist die Erfahrung, die jeder mindestens unthematisch und „anonym" machen kann.
Wenn solche Erfahrung aber nun dem Leben und Wort Christi sowie seinem Opfer am Kreuz begegnet, ereignet sich, nach Rahner, etwas Entscheidendes: die menschliche Grunderfahrung, die ins Unsagbare, ins Geheimnis hinauswies, wird jetzt deutbar! Sie wird deutbar als die in Christus wirksam gewordene, durch ihn sich fortsetzende und ausbreitende „Heimsuchung des Hl. Geistes“. Beschreibung und Deutung urmenschlicher Erfahrungen als Erfahrungen des in und durch uns wirkenden Heiligen Geistes ist nun das, was Rahner immer wieder als „Mystagogie“34 bezeichnet. In allmählichem Begreifen versteht der Mensch sich als zuvor und zutiefst ergriffen von Gott und bekennt, wenn er sich selbst frei annimmt, sich bis in seinen Alltag hinein von Gott geschenkt, zum Leben erweckt, gehalten und befreit. Durch die Impulse des Hl. Geistes ist also Gott selbst dem Menschen ganz nahe, innerlicher als dieser sich selbst.
Um ein Beispiel zu haben, wie Rahner konkret „Mystagogie“ treibt, wird man ausgewählte Passagen bei ihm selbst nachlesen müssen: hier darf insbesondere auf einen Abschnitt in jenem Aufsatz „Über die Möglichkeit und die Notwendigkeit des Gebetes“ (wir haben uns auf dieses Beispiel beschränkt) verwiesen werden.35
Hier sei noch angemerkt, dass Rahner grundsätzlich „die Theologie versteht als die 'Wissenschaft' vom Geheimnis als solchen (freilich getragen von der Nähe dieses Geheimnisses zum Menschen, die ... die Christen Gnade usw. nennen)“.36 Indem die Theologie (und dies ist zugleich das Grundanliegen von Rahners eigener Theologie) den Menschen in das Geheimnis seiner „innersten Mitte“ einführt, ist sie „Mystagogie in die Gnadenerfahrung“ und zugleich „reductio in (unum) mysterium“ ,37 Grundgeheimnisse des Glaubens wie Offenbarung, Menschwerdung 'Gottes, Trinität können so von innen her zugänglich gemacht werden, ohne ihren Geheimnischarakter einzubüßen.
Nicht von ungefähr kommen wir hier auf unsere eingangs gestellten Überlegungen zurück: Rahners „Grundkurs“ als die Forderung des Konzils aufgreifende „Einführung in das Mysterium Christi“ und Mystagogie als Grundanliegen und Aufgabe zeitgerechter Theologie verschmelzen auf der „ersten Reflexionsstufe“ der Christologie vollends.
Das Mysterium, das der christliche Glaube bekennt, so fasst Rahner zusammen, bestehe darin, dass Gott selbst sich liebend an das Geschöpf wegwagen und es mit sich begnaden will. Das Geheimnis des Menschen aber bestehe - vom Geschöpf aus gesehen - darin, „dass es (das Geschöpf) wirklich in dem genannten radikalen Sinn 'capax infiniti' ist“ (ebd. 120).
Die mystagogische Struktur des theologischen Denkens von Karl Rahner wird noch einmal besonders augenfällig am Schluss jenes Aufsatzes über das Beten: Jedes „Gebet redlich alltäglicher Bemühungen appelliert ... an dieses Gebet der Tiefe, in der Gott in uns unsere Existenz betet, d. h. diese schweigend immer tiefer hinbewegt in sein eigenes Geheimnis hinein“.38
1 Stark überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten im September 1974 an der Akademie des Bistums Essen in Mühlheim a. d. Ruhr
2K. Rahner, Zur Reform des Theologiestudiums (Quaestiones Disputatae 41). Freiburg/ Br. 1969
3 A.a.O., 54.10
4 Ebd. 56, Anm. 41
5 Ebd. 58, Anm. 42
6 Ebd. 64, Anm. 49
7 Ebd. 74 f; vgl. 72 f. - Rahner sieht seinen Gedanken auch von anderen Überlegungen her bestätigtes von der naheliegenden Vermutung, dass in nicht ferner Zukunft der Pluralismus der theologischen Ansätze und Denkhorizonte für den einzelnen unüberschaubar groß sein werde (vgl. dazu STh X 47 f); auch durch das Argument, dass mit der zunehmenden Auflösung volkskirchlicher Selbstverständlichkeiten im Glaubensleben die Frage, warum und worin eine Glaubenswahrheit den Menschen angehe, an Gewicht für die Entscheidung zum Glauben zunehme (ebd. 49 — 54).
8K. Rahner (s. Anm. 1), 72.
9 Die gegenständlich-begriffliche Reflexion über die Objekte oder Inhalte, auf die der Glaubensakt bzw. die Glaubensentscheidung sich bezieht, nennt Rahner hingegen „zweite Reflexionsstufe" (s. Anm. 1, 71). Dahinter kommt — leicht erkennbar — Rahners bekanntes Schema transzendental-kategorial zum Vorschein. - In einer 'objektiveren' Terminologie spricht Rahner auch von „indirekter Methode", wobei das Adjektiv „indirekt" dem Prädikat „unwissenschaftlich" entspricht. Unter „indirekter" Methode versteht Rahner daher zunächst eine „die einzelnen Sachprobleme legitim umgehende“ Methode der Glaubensbegründung, die die „existentielle" Situation des Menschen einbezieht, was bei Rahner ausdrücklich auf „transzendentaltheologische" Methode hinausläuft (STh IX 86 -112; X 48. 54 f). So verstanden lässt sich natürlich auch die „indirekte Methode" als „wesensbestimmende" Methode des theologischen Grundkurses empfehlen (Sth IX, 90)
10 Siehe Anm. 3
11K Rahner (s. Anm. 1), 82
12 In: K. Fischer, Der Mensch als Geheimnis - Die Anthropologie Karl Rahners. Mit einem Brief von Karl Rahner. Freiburg/Br. 21975,404 f.
13 Vgl. ebd. 402 f.
14 Vgl. ebd. 408
15 So lautet die These eines Aufsatzes mit dem Titel „Über die Möglichkeit und Notwendigkeit des Gebetes", abgedruckt in dem Sammelband K. Rahner, Wagnis des Christen. Geistliche Texte. (Freiburg - Basel - Wien 1974), 63 - 84! Zur sonstigen Literatur Rahners über das Beten vgl. die Bibliographien 1924 — 1969 (Klinger - Bleistein) u. 1969 — 1974 (Bleistein), - Wenigstens als „partikuläre Aufgabe“ hat auch die Theologie „Mystagogie in das Gebet“ zu betreiben - diese Aufgabe weist Rahner dem „Grundkurs" zu: (s. Anm. 1), 63; vgl. 48!
16K. Rahner, Wagnis, 63.
17K. Rahner, Chancen des Glaubens. Fragmente einer modernen Spiritualität (Herder-Bücherei 389). Freiburg/Br. 1971, 89 f.
18K. Rahner, Wagnis, 64! Ähnlich bereits in: Von der Not und dem Segen des Gebetes (Herder-Bücherei 28). Freiburg/Br. 31960, 46: „Das Geheimnis muss genannt, angerufen, geliebt werden, damit es für uns dableibe; Geheimnis bleibt es auch so. Jeder Aufschwung des Herzens, der diesen Gott unmittelbar selber meint, ist Gebet. Und die reine Fülle dieses Gebetes, in dem der Mensch alles in einem vollbringt, was so auf Gott hin möglich ist, heißt christlich Liebe."
19 Vgl. Rahner, Zur Reform ...
20 Vgl. Rahners Brief an Fischer (Anm.12)
21 Zu diesem Begriff vgl. die ausführlichen Erläuterungen bei P. Eicher, Die anthropologische Wende. Freiburg/Schweiz 1970; B. van der Heijden, Karl Rahner. Darstellung u. Kritik seiner Grundpositionen. (Einsiedeln 1973); K. Fischer (s. Anm. 12).
22 K. Rahner (s. Anm. 16) 65 f.
23K. Rahner, Hörer des Wortes (München 21963), 91-134. - S. a. K. Fischer (s. Anm.12), 150 -170. 235-257.
24 Für den Gebrauch, den Rahner von diesem entliehenen Terminus macht, gilt das entsprechend, was oben im Hinblick auf die „transzendentale Reflexion" gesagt wurde. Zur Erläuterung des Begriffs vgl. die Anm. 21 genannten Werke, sowie den Art. Existential, übernatürliches: K. Rahner/ H. Vorgrimler, Kleines Theologisches Wörterbuch (Herder-Bücherei 108 - Freiburg/Br. 1971), 107.
25K. Rahner, Möglichkeit (s. Anm. 15), 64
26 Zum Begriff „Geheimnis" vgl. Rahners programmatischen Aufsatz in STh IV, 51-99; dazu Sth IX 113-126; X 104-112.- Vgl. auch K. Fischer (s. Anm. 12), wo u. a. die Bedeutung E. Przywaras für Rahners Ansatz beim „Gott-Geheimnis" des Menschen bzw. für Rahners anthropologische Interpretation und Weiterführung der Formel reductio in mysterium erörtert wird. Dass der Mensch ein „Geheimnis" genannt werden kann nur in dem Maße, als sein existentialontologisches „Rückgeführtwerden" in dieses Gott-Geheimnis hinein aufgewiesen wird und besteht, wird in dem letztgenannten Werk überdeutlich herausgearbeitet und sollte, da es das Anliegen dieses Werkes ist, nicht übersehen werden.
27 Vgl. K. Rahner (s. Anm. 15), 66-69, sowie den Aufsatz „Wissenschaft als Konfession?" (STh III 455-472) und die beiden Aufsätze über das Verhältnis der Theologie zu den modernen Wissenschaften, in STh X 89-112.
28 STh IV, 140
29K. Rahner, Wagnis (s. Anm. 15), 67
30 Ebd. 64.
31K. Rahner-H. Rahner, Worte ins Schweigen. Gebete der Einkehr (Herder-Bücherei 437). Freiburg/Br. 1973, 34 f
32 STh IX, 167
33 Vgl. ebd. 168 f
34 Zu Begriff und Sache vgl. STh IX, 113 — 126; X 49 ff, sowie K Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance (Herder-Bücherei 446, Freiburg/Br 1972), 88-95.24
35 In K. Rahner (s. Anm. 15), 82 f; dazu den Aufsatz „Über die Erfahrung der Gnade": STh 111,105-109.
36 STh IX, 114
37 Vgl. ebd. 113 —126
38K. Rahner, Wagnis (s. Anm. 15), 84
Karl Rahner befasst sich mit dieser traditionellen Wesensbeschreibung des Todes im Rahmen seiner verschiedenen Beiträge zu einer Theologie des Todes, vorab und programmatisch bereits in seiner gleichnamigen, tiefsinnig-schwierigen Quaestio disputata (1958). Er bezeichnet diese als Vorstoß „in ein nur undeutlich bekanntes Gebiet“.1 Warum ist dieser Themenbereich „nur undeutlich bekannt“, und was gab überhaupt den Anstoß für Rahners „Vorstöße“ in diese terra incognita?
Nun, unleugbar in dieser Todesdefinition enthalten ist die Vorstellung von einer „unsterblichen“ Seele, „wobei schon im Terminus ,unsterblich ' die Voraussetzung miteinfließt, nur der Leib sterbe, nicht eigentlich der Mensch; es sterbe also das ,Sterbliche' vom ,Unsterblichen' weg“.2 Die christlichen Theologen haben schon früh die Unschärfe, ja das Ungenügen dieser Definition empfunden, weil diese trotz mancher Vorbehalte klassisch gewordene Vorstellung vom Wesen des Todes wichtige Glaubensinhalte unterzubelichten, ja zu entstellen scheint.
A. Das traditionelle Verständnis des Todes
a) Platon
Für Festlegung und Zuordnung der Begriffe „Seele“, „Leib“, „Trennung“ finden wir bei Platon die folgende hypothetische Formulierung:
„ό θάνατος τυγχάνει ὤν ... ούδέν άλλο ή δυοίν πραγμάτοιν διάλυσις, τής ψυχῆς καὶ τοῦ σώματος άπ’ άλλήλοιν“3
Im klassischen Griechisch entspricht το πράγμα der lateinischen „res“ und bezeichnet einfach eine Sache oder ein Ding.4
Die zitierte Todesauffassung enthält mithin eine dinghafte Vorstellung von Seele und Leib. Nicht so einfach zu fassen ist διάλυσις, bei anderer Gelegenheit heißt der Tod ,,λύσις και χωρισμός ψυχής άπό σώματος “.5 Keineswegs handelt es sich hier um banale Synonyma. Am häufigsten spricht Platon substantivisch von άπαλλαγή oder verbal von άπαλλάττεσθαι“ bzw. „ή ψυχή άπό τοῦ σώματος άπαλλαγεῐσα“.6
Eindeutig ist nun aber der Primärsinn von ἀπαλλαγή / άπαλλάθεσθαι die Erlösung oder Errettung.
Die übliche Übersetzung „Trennung“ wird dem platonischen Wortsinn nicht gerecht, zumal Platon diesen wiederholt akzentuiert als κάθαρσις der Seele.7
Mit dieser Kennzeichnung bringt er bewusst einen aktiv-ethischen Zug in die Todesvorstellung. Nicht allein um die Überwindung der Gefangenschaft der Seele im Leib8 geht es, sondern auch um die Überwindung eines wesensfremden Lebensvollzugs der Seele, der als φίλο-σώματος (bzw σωματοειδής) umschrieben wird9. Eine Seele, die sich den Begierden des Leibes ergeben hat, gilt als μεμιασμένη καὶ ἀκάθαρτος.10 Die Seele, auf Erden demnach in einem reatus culpae et poenae lebend (vgl. Kratylos 400c), kann somit nur erlöst werden durch ein philosophisches Verhalten, durch Streben nach dem Ewig-Unsterblichen, auch τὸ καθαρόν genannt.11
Die folgende Erläuterung bezeichnet die aktive und die passive Komponente des Sterbens: „Οὔτως, ώς ἒοικεν, έγγυτάτω έσόμεθα τού είδέναι, έάν ὃτι μάλιστα μηδέν όμιλώμεν τῷ σώματι μηδέ κοινονῶμεν ... ἒως ἂν ό θεός άπολύση ήμάς. Καὶ οὔτω μἐν καθαροἰ άπαλλατόμενοι τής τοῦ σώματος άφροσύνης, ώς ... γνωσόμεθα δι"ήμῶν αύτῶν παν τὸ ειλικρινές. Τοῦτο δ’έστίν ίσως τὸ ἀληθές.12
Diese Anschauung beruht auf der Überzeugung, dass die Seele dem Idealen (μονοειδές) und Ewigen (άεὶ öv) kongenial (συγγενής13) und folglich selbst άθάνατος14 ist. Nicht wenige Indizien weisen nun darauf hin, dass Platons Reflexionen über den Tod im Bezugsfeld orphischer Mystik stehen.15 In diesem Zusammenhang sind die Gerichtsmythen16 von zentraler Bedeutung. Sie erhellen die Auffassung vom Tod als „Umzug“ oder „Hauswechsel“ der Seele: μετοίκησις του τόπου του ένθένθε είς άλλον τόπον.17 Die gereinigten Seelen aber dürfen für das Leben nach dem Tod erwarten: Τούτων δέ αύτῶν οί φιλοσοφία ίκανῶς καθηράμενοι ἂνευ τε σωμάτων ζῶσι τὸ παράπαν είς τον έπειτα χρόνον, wobei σώμα hier auch alle irdischen Verfehlungen bis hin zum Mord einschließt.18
Wir müssen hier abbrechen. Festzuhalten wäre das ethisch-religiöse Anliegen, das Platon zur Auffassung des Todes als Erlösung der Seele aus einem konkupiszenten, leiblich-irdischen Dasein führt.
Das seltener verwendete Wort „Trennung“ ist, wo es auftaucht, auf dem Hintergrund der Metaphysik des ΧΩΡΙΣΜΟΣ zu lesen.
Dieser ethisch-religiöse Hintergrund des platonischen Denkens ließ die Kirchenväter erkennen: „Nulli nobis quam isti [platonici] propius accesserunt“.19 Mit dem Stichwort ,,Leibfeindlichkeit“ wird man Platon nicht gerecht. Wenn die christliche Theologie seine Vorstellung vom Tode übernahm (in modifizierter Form), dann schwang meist ungesagt Platons religiöse Vision in bestimmender Weise mit. Die christliche Kritik an Platon entzündet sich nicht rein formal am „Dualismus“ (wie uns die terribles simplificateurs immer einreden wollen), sondern an der Kardinalfrage, ob der Mensch seine Erlösung, sein Heil, die Gemeinschaft mit Gott nur jenseits dieser Welt oder vielmehr durch diese Welt hindurch erreichen wird. Diese Frage erreicht ihre entscheidende Dichte im Todesproblem. Die patristische Theologie bekam (proximi causa platonicorum accessus!) dieses hintergründige Problem nur unzureichend in den Griff mit der Folge, dass die christliche Kritik vor allem an der Todesvorstellung (aber mit welchen Rückwirkungen!) wenig mehr zuwege brachte als einige „Fußnoten zu Platon“.20
b) Augustinus
Mit Platons 700 Jahre älterem Genie ringt Augustinus intensiv. Die Vorstellung einer „animae a corpore separatio“ ist für ihn so selbstverständlich, dass er seine Aufgabe nur mehr in der Differenzierung erblickt. Vorab versteht er den Begriff separatio rein passivisch.21 Sodann engt er die klassische Definition auf den Tod des Leibes ein, da sie den Tod des ganzen Menschen nicht hinreichend umschreibe. Die Seele erleide im Tode nämlich eine theologisch analoge „Trennung“: „Mors igitur animae fit, cum eam deserit Deus, sicut corporis, cum id deserit anima. Ergo utriusque rei (!), id est totius hominis, mors est, cum anima Deo deserta deserit corpus.“22 Diese ganzmenschliche Sicht des Todes rührt offensichtlich daher, dass Augustinus das „generale mortis malum“ von vornherein theologisch, als Ausdruck der infralapsarischen Ordnung konzipiert. Die Heiligen allerdings erfahren nach dieser Konzeption nicht den ganzen Tod: sie erfahren vom Tod nur „animae a corpore separatio“, nicht jedoch „separatio a Deo“.
Von ihnen gilt vielmehr: in requie sunt enim animae piorum a corpore separatae.23 Hier allerdings ist Augustinus auf Distanzierung von der platonischen Schule bedacht: quia videlicet eius (seil, animae) perfectam beatitudinem tune illi fieri existimant, cum omni prorsus corpore exuta ad Deum simplex et sola et quodammodo nuda redierit.24 Dem hält er entgegen: Tarnen eis (seil, animis in requie viventibus) melius esset cum suis corporibus bene valentibus vivere.25
Eine Begründung wird nicht gegeben; doch lehre ein Blick in die Heilige Schrift: non corpus esse animae, sed corruptibile corpus onerosum!26 Auf die Gerechten warte eine „immortalitas“, die auch ein „corpus incorruptibile“ miteinschließe.27
Wieder müssen wir abbrechen. So viel jedoch ist zu sehen, dass bei Augustinus der Leib eher als Anhängsel der Seele erscheint, nicht aber als konstitutive Beziehung der Seele zur Welt und nicht in seiner konstitutiven Bedeutung für den menschlichen Lebensvollzug wahrgenommen wird. Trotz entgegenstehender Beteuerungen scheint die Seele vom Verlust des Leibes (dann aber auch von seinem Besitz?!) nicht wesentlich affiziert zu werden.
c) Aristoteles28
Der Stagirite beginnt seine Schrift Περί ψυχής u . a. mit der Frage, ob es Affektionen gebe, die der Seele allein (also nicht zugleich auch dem Körper) eigen seien. Als so eine exklusiv seeleneigene Affektion erscheine das νοεῐν. Sollte sich diese Vermutung bei näherer Prüfung bestätigen, sei die Seele vom Körper abtrennbar (χωριστός), sonst nicht.29
Seine Überlegungen führen Aristoteles dann zu der berühmten Unterscheidung, dass die Seele die denk- und erkennbaren Gegenstände nicht in Wirklichkeit sei, sondern nur δυνάμει πώς: so wie eine Schreibtafel, auf der noch nichts geschrieben steht. Daraus folgert Aristoteles:30 Ανάγκη ἂρα... έπεὶ πάντα νοεί άμιγή εῐναι... ϊνα κρατῆ, τ□ῦτο δ’έστίν, ϊνα γνωρίζη (ό καλούμενος τῆς ψυχής νοῦς), (ebd. 429a) Weiter folgt für diesen Nūs: „getrennt nur ist er all das, was er ist, und bloß dieses ist unsterblich und ewig“ (χωρισθείς δ’έστι μόνον τούθ’ ὃπερ έστι, καί τοῦτο μόνον αθάνατον καί άίδιον - 430a). Der Partizipialausdruck (χωρίσθείς Aorist Passiv) - anstelle des Verbaladjektivs χωριστός - zeigt, dass an „Trennung" hier nicht bloß im logischontologischen, sondern im ontischen Sinne gedacht ist: ή διανοητική ψυχή ist vom Körper trennbar und genießt Unsterblichkeit.31
d) Thomas von Aquin
Gerade im Hinblick auf unser Thema muss man sich die von Thomas übernommene und vertiefte Leistung des Aristoteles - „anima forma corporis“ als Denkmodell für die leib-seelische Einheit oder Identität des Menschen - vor Augen halten: So wie Pupille und Sehkraft zusammen das Auge bilden, so bilden Seele und der Körper zusammen das Lebewesen (Aristoteles, Über die Seele 413a). Für Wesen und Schicksal der „anima intellectiva universalium comprehensiva“ zieht Thomas jedoch die gleiche Folgerung wie Aristoteles: „Ipsum igitur intellectuale principium, quod dicitur mens vel intellectus, habet operationem per se, cui non communicat corpus. Nihil autem potest per se operari, nisi quod per se subsistit.
Non enim est operari nisi entis in actu: unde eo modo aliquid operatur, quo est ... Relinquitur igitur animam humanam, quae dicitur intellectus vel mens, esse aliquid incorporeum et subsistens“.32 Aus der „Subsistenz“ der Geistseele aber folgert Thomas weiter: „Propter hoc anima humana remanet in suo esse, destructo corpore.33 Auch Thomas umschreibt den Tod selbstverständlich als Trennung der Seele vom Körper.34 Wie vor ihm Augustinus, lehnt er allerdings die platonische Vorstellung ab, der Tod erlöse die Seele vom leiblichen Dasein.
Nicht zufällig sei die Seele dem - Körper verbunden, sondern ex sua natura; durch den Tod aber könne diese Natur der anima incorruptibilis nicht verändert werden, daher: „esse separatum a corpore est praeter rationem suae naturae.“35 Zur Natur der Seele gehöre vielmehr eine „aptitudo et inclinatio naturalis ad corporis unionem“.36 Gegen Platon die Einheit der Seele verteidigend, scheut Thomas sich nicht, das in der Geistseele mitenthaltene Sein der sensitiven Seele als ein „quasi quoddam imperfectum et materiale (!)“ zu bezeichnen.37 Aus erkennbar theologischen Motiven geht Thomas damit weit über Aristoteles, aber auch über Augustinus, hinaus: „potentiae sensitivae... manent in anima separata... ut in radice, per modum scilicet quo principiata sunt in principiis suis; in anima enim separata manet efficacia influendi iterum huiusmodi potentias si corpori uniatur.“38
Ähnlich wie Augustinus beurteilt Thomas den Tod im infralapsarischen Zusammenhang: vom Schöpfungsgedanken aus betrachtet, sei die Trennung von Seele und Leib „contra naturam“ 39 In deutlicher Spannung dazu steht freilich die Versicherung, die Auferstehung der Leiber sei streng übernatürlich:?: „Nullum principium activum resurrectionis est in natura; neque respectu conjunctionis animae ad corpus, neque respectu dispositionis quae est necessitas ad talem conjunctionem.“40
Diese Spannung wirkt sich weiter aus, wenn Thomas - wie schon Augustinus, und hierin die Lehrentscheidung „Benedictus Deus“ von Benedikt XII. (1336) vorwegnehmend - lehrt: „Statim animae, soluto vinculo carnis, per quod in statu viae detinebantur, praemium consequuntur vel poenam.“ Die Begründung bringt die Problematik voll zum Vorschein: „Gloria corporis non est ita essentialis sicut gloria animae. Unde maius detrimentum esset sanctis si gloria animae differetur, quam de hoc quod gloria corporis differatur.“41
Wieder müssen wir abbrechen. Gerade das Todesproblem macht aber deutlich, dass die Leib-Seele-Einheit auch bei Thomas, trotz vielversprechender Ansätze, letztlich nicht durchgehalten wird. Die Annahme eines „Zwischenzustandes“ sowie die heute sich seltsam ausnehmenden Fragen nach Beschaffenheit, Erkenntnisweise und Erkenntnisgegenständen einer abgeschiedenen Seele belegen dies.
Platons ΧΩΡΙΣΜΟΣ schlägt wieder durch, mit allen negativen Konsequenzen für die Frage nach der Heilsbedeutung der leiblichen Existenzweise und der Welt für die erlöste Identität des Menschen. Zusätzlich erhebt sich logische Kritik: Hat Thomas bei der Behandlung des Todesproblems wirklich noch streng metaphysisch gedacht: Seele und Leib als „principia“? (s.o.)
Oder ist vielleicht unvermerkt und gewohnheitsmäßig eine physische Supposition der Begriffe an die Stelle der metaphysischen getreten, so dass die Schlüsse schon dadurch fehlerhaft sein müssen?
e) Die Schultheologie
Der hiermit erreichte Status quaestionis blieb maßgeblich für nahezu die gesamte Schultheologie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein und galt als repräsentativ für die katholische Lehre. Die klassischen Dogmatik-Lehrbücher42 wie selbstverständlich die überlieferte Deutung des Todes als Trennung von Seele und Leib und wiederholten (außer Schmaus) ebenso treu wie phantasielos die spekulativen Konvenienzargumente bis hin zu Gericht und Auferstehung der Leiber) der oben allzu knapp referierten Exponenten. Verständlicherweise war auch die Katechese von daher geprägt, wie schon beispielhaft der Catechismus Romanus: „Duarum partium, animae et corporis, quibus homo constat, alteram tantum, nempe corpus, corrumpi et in pulverem terrae, ex qua compactum est, redire, animam vero incorruptam manere intelligimus.“
„Der lebendige Kern des Menschen... kann, getrennt von seinem sterblichen Leib bestehenbleiben.43 Wie festgefügt dieser traditionelle Status quaestionis war, erlebte Karl Rahner bei einer vom „Institut für die Begegnung zwischen Naturwissenschaft und Theologie“ veranstalteten Diskussion über das Leib-Seele-Problem. Nur das Faktum des Todes, so gestand der Thomist Luyten („Ich würde nie darauf kommen, wenn die Menschen nicht sterben würden“), zwinge ihn, anzunehmen, die Subsistenz der Seele beinhalte, nach Eintritt des Todes, ein „Weiterbestehen des Ich als Geist in der Abgelöstheit vom Körper“.44 Luyten und Doms vertraten die Auffassung, der Tod sei als Abschneidung der Weltzugewandtheit des Geistes oder als Wegfall von dessen Bindung an die Leibesmaterie zu verstehen. Auf Rahners Gegenfrage, woher man so etwas wisse und wie man, falls diese Auffassung zuträfe, dann eine leibhaftige Geistexistenz des Menschen überhaupt noch verständlich machen wolle, erwiderte Luyten: „Wir spekulieren doch nicht über die Möglichkeiten, sondern über den real existierenden Menschen, der einmal stirbt.“45
Luyten merkte hier anscheinend nicht, dass er selber eine spekulative Deutung des Wesens des Todes vortrug, die zwar ein ehrwürdiges Alter, aber nicht ebensoviel Evidenz besitzt.
B. Karl Rahners Kritik und Neuinterpretation
1. Der personale Aspekt
a) Der christologische Ansatz
Die platonische Tradition hatte das aktive, die christliche Tradition das passive Moment stark herausgestellt. Trotz dieses Gegensatzes hat man die griechische ‘ Formel nicht abgewehrt, sondern 'getauft ‘. Die christliche Taufe hat freilich nicht die platonische 'Seele' von ihrem sprachlichen Leib abtrennen, sondern die in dieser Formel verkörperte Anschauung mit neuem Licht und Leben erfüllen wollen.
Dies führte zwangsläufig nicht nur zu einer Vieldeutigkeit der Begriffe, sondern zu einer weltanschaulichen Osmose, die heute von zu wenig missionarisch denkenden Dogmatikern bedauert wird.47
Jedenfalls wurde die Mehrdeutigkeit in Begriff und Vorstellung zu einem theologischen Problem, das durch eine päpstliche Lehrentscheidung nicht etwa gelöst, sondern nur noch augenfälliger wurde: „Animae sanctorum omnium ... mox post mortem suam et purgationem .. etiam ante resumptionem suorum corporum et iudicium generale... fuerunt, sunt et erunt in caelo... et vident divinam essentiam visione intuitiva et etiam faciali, nulla mediante creatura in ratione objecti visi se habente, sed divina essentia immediate se nude, clare et aperte eis ostendente“.48
Die hinter der päpstlichen Verlautbarung stehende Überzeugung führte Rahner zu der weiteren Frage: Macht Gott den Tod zum Gericht, weil der Mensch im Tod sein endgültiges Wesen (z.B. in heiliger Gottverbundenheit) selbst vollendet hat, oder folgt das Gericht auf den Tod erst durch ein Dekret Gottes, das als solches dann erst die Autobiographie eines Menschen abschließen würde?49 Hauptsächlich „aus theologischen Gründen“ beantwortet Rahner seine Frage selbst im Sinne der erstgenannten Alternative (ebd). Den wesentlichen theologischen Grund dürfte ihm der Blick auf den Tod Christi geliefert haben. Denn der Tod Christi war „Ausdruck, Leiblichkeit seines liebenden Gehorsams, der Übereignung seines ganzen geschöpflichen Seins in Freiheit an Gott“.50 Die theologische Meditation des Todes Christi also veranlasste Rahner, im Tod nicht bloß ein passives Widerfahrnis, sondern darin eingeschlossen zu sehen die Tat der personalen Freiheit des Menschen, die sich in seinem Tod auslegt und vollendet. Die anima intellctiva, vom göttlichen Du herausgerufen und herausgefordert, wird ja ipso facto zur bewussten, freien Person, zum Dialogpartner Gottes geweckt und erhoben.
Zusammengefasst lautet Rahners Folgerung so: „So wie der Mensch Geist und Materie, Freiheit und Notwendigkeit, Person und Natur ist, so muss auch sein Tod diese realontologische Dialektik.... an sich tragen... Der Tod muss also beides sein: das Ende des Menschen als Geistperson ist tätige Vollendung von innen, ein aktives Sich-zur-Vollendung-Bringen,... das Ergebnis des Lebens bewährende Auszeugung und totales Sich-in-BesitzNehmen der Person... Und der Tod des Menschen als Ende des biologischen Lebens ist gleichzeitig in unauflösbarer und das Ganze des Menschen betreffender Weise Abbruch von außen, Zerstörung, Parzenschnitt, Widerfahrnis..., so dass sein 'eigener Tod‘ von innen durch die Tat der Person selbst gleichzeitig das Ereignis der radikalsten Entmächtigung des Menschen ist, Tat und Leiden in einem, (ebd 30) Dieser Text ist allerdings sehr unterschiedlich interpretiert worden.
b) Die „Endentscheidungshypothese“ - eine Versuchung?
L. Boros ist überzeugt, dass er mit seiner bekannt gewordenen „Endentscheidungshypothese“ nur das ausspricht und weiterführt, was in Rahners Theologie des Todes bereits (vielleicht noch verklausuliert) gesagt oder wenigstens angelegt ist.
Wenigstens im deutschen Sprachraum ist Boros der profilierteste Vertreter dieser Hypothese. Da er sie in mehreren Schriften erläutert hat, darf sie hier als bekannt vorausgesetzt werden: vgl. Mysterium mortis. Der Mensch in der letzten Entscheidung (Olten- Freiburg i. Br. 1962); Erlöstes Dasein (Mainz 1965); Aus der Hoffnung leben (Olten-Freiburg/Br. 1968); Wir sind Zukunft (Mainz 1969), sowie diverse Zeitschriftenbeiträge. Zu meinem Bedauern kann ich nicht auf die sonstigen Anregungen eingehen, die Boros, abgesehen von dieser Hypothese, in die Theologie des Todes eingebracht hat: vgl. dazu Greshake / Lohfink (Anm.41), 115ff.
Andere Autoren, wie Josef Pieper, Eberhard Jüngel und Gisbert Greshake,