Gott und das Leben - Lothar Kuld - E-Book

Gott und das Leben E-Book

Lothar Kuld

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Beschreibung

Nach christlicher Überzeugung wirkt sich das Verhältnis eines Menschen zu Gott auf sein ganzes Leben aus und gestaltet alle Lebensbezüge mit. Die Deutung der genannten Lebensbezüge ist milieuspezifisch, im Lauf des Lebens und entwicklungsbedingt individuell verschieden. Im Licht dieser drei Perspektiven aus Milieustudien, Lebenslaufforschung und Entwicklungspsychologie beschreibt der Band Religion, Religiosität und Gottesglauben im Leben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ziel des Bandes ist die Einführung in religionspädagogisches Denken. Er zeigt, wie Menschen in den Bahnen ihrer Milieuzugehörigkeit und individuellen Entwicklung von Kognition und Emotion Religion als Deutung von Leben kennen und verstehen lernen und welchen Gebrauch davon sie in ihrem Alltag und Lebenslauf machen.

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Theologie elementar

Herausgegeben von

Peter MüllerSabine Pemsel-Maier

Lothar Kuld

Gott und das Leben

Orientierungswissen Religionspädagogik

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032498-5

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-032499-2

epub: ISBN 978-3-17-034643-7

mobi: ISBN 978-3-17-034644-4

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Nach christlicher Überzeugung wirkt sich das Verhältnis eines Menschen zu Gott auf sein ganzes Leben und gestaltet alle Lebensbezüge mit. Die Deutung der genannten Lebensbezüge ist milieuspezifisch, im Lauf des Lebens und entwicklungsbedingt individuell verschieden. Im Licht dieser drei Perspektiven aus Milieustudien, Lebenslaufforschung und Entwicklungspsychologie beschreibt der Band Religion, Religiosität und Gottesglauben im Leben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Ziel des Bandes ist die Einführung in religionspädagogisches Denken. Er zeigt, wie Menschen in den Bahnen ihrer Milieuzugehörigkeit und individuellen Entwicklung von Kognition und Emotion Religion als Deutung von Leben kennen und verstehen lernen und welchen Gebrauch davon sie in ihrem Alltag und Lebenslauf machen.

Prof. Dr. Lothar Kuld ist Professor em. für Katholische Theologie/Religionspädagogik an der PH Weingarten.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1.  Gott und Religion

1.1  Entstehung des neuzeitlichen Religionsbegriffs

1.2  Religionsbegriff der Religionskritik

1.3  Der funktionale Religionsbegriff

1.4  Religion und Theologie

1.5  Religion und Säkularität

1.6  Zusammenfassung

2.  Religion und Lernen: Religiöse Bildung und Erziehung

2.1  Ist Religion lehrbar?

2.2  Wie entsteht religiöse Identität?

2.3  Religion und Bildung

2.4  Ausblick: Die Religion der Religionsdidaktik

3.  Gott im Leben von Kindern

3.1  Kindheit heute

3.2  Die Religion des Kindes

3.3  Religiöse Entwicklung und Gottesbilder im Kindesalter

3.4  Religiöse Bildung und Erziehung im Kindesalter

4.  Gott im Leben Jugendlicher

4.1  Lebensphase Jugend

4.2  Religion, Religiosität, Gottesglauben und Kirche im Leben Jugendlicher

4.3  Gottesbilder und Gottesbeziehung Jugendlicher

4.4  Gott und Gender

4.5  Gott und Milieu

4.6  Religionsunterricht in den Sekundarstufen

Literaturverzeichnis

Sachregister

Vorwort

Nicht für die Schule, sondern das Leben lernen wir, sagt ein Sprichwort in Umkehrung der ursprünglichen Sentenz aus dem 106. Brief des Philosophen Seneca (4 v. Chr. bis 65 n. Chr.) an Lucilius. Seneca schreibt: »Kinderspiele sind es, die wir da spielen. An überflüssigen Problemen stumpft sich die Schärfe und Feinheit des Denkens ab; derlei Erörterungen helfen uns ja nicht, richtig zu leben, sondern allenfalls, gelehrt zu reden. Lebensweisheit liegt offener zu Tage als Schulweisheit; ja sagen wir’s doch gerade heraus: Es wäre besser, wir könnten unserer gelehrten Schulbildung einen gesunden Menschenverstand abgewinnen. Aber wir verschwenden ja, wie alle unsere übrigen Güter an überflüssigen Luxus, so unser höchstes Gut, die Philosophie, an überflüssige Fragen. Wie an der unmäßigen Sucht nach allem anderen, so leiden wir an einer unmäßigen Sucht auch nach Gelehrsamkeit: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.« (Übersetzung: Klaus Bartels, Veni, vidi, vici, Darmstadt 15. Aufl. 2016, 110) Senecas Sentenz mahnt, das Leben nicht mit unnützen Fragen zu vergeuden. So muss sich auch der Verfasser einer religionspädagogischen Studie am Ende fragen lassen, ob er wenigstens brauchbare Fragen gestellt hat. Zumindest sollte er seinen Text kritisch gegenlesen lassen, bevor er ihn aus der Hand gibt. So verdankt sich auch dieses Buch in der Endfassung vielen Hinweisen kritischer Gegenlektüren der Rohfassung des Manuskripts. PD Dr. Anita Müller-Friese, Autorin der in Nachbarschaft zu diesem Buch verfassten theologischen Anthropologie »Gott und der Mensch«, hat das ganze Skript gelesen und auf Desiderata hingewiesen, die in der Endfassung noch nachgearbeitet und berücksichtigt werden konnten. Dr. Hans Martin Brüll (Bodnegg), Dr. Christiane Caspary (Tübingen) und Regina Willmes (Doktorandin an der PH-Weingarten) haben das Skript ganz oder in Teilen auf seine Lesbarkeit und Plausibilität hin geprüft. Dr. Eva-Maria Kenngott (Senior Researcher für »Religion und Bildung« am Institut für Religionswissenschaft und Religionspädagogik der Universität Bremen) und Birgit Menzel (ehemals Ausbilderin für katholische Religion am Studienseminar für Gymnasien in Frankfurt, jetzt Leiterin des Sachgebiets »Qualitätsentwicklung der Ausbildung/Qualifizierung der Ausbilder/Innen« in der Hessischen Lehrkräfteakademie) nahmen sich mit großer Expertise das zweite Kapitel vor, Prof. Dr. Peter Müller (PH-Karlsruhe) das dritte. Sie haben mich überzeugt, diese Kapitel in Teilen noch einmal neu zu schreiben. Dieser kleine Blick in die Entstehung des Buches zeigt, dass es sich vielen Gesprächen, Kritiken, Ermutigungen und kollegialen Beratungen verdankt. Prof. Dr. Sabine Pemsel-Maier (PH-Freiburg) und Prof. Dr. Peter Müller danke ich nicht zuletzt für die Anregung zu diesem Buch und seine Aufnahme in die von ihnen herausgegebene Reihe »Theologie elementar«.

Lothar Kuld

Einleitung

Religionspädagogik

Religionspädagogik ist eine relativ junge Wissenschaft. Sie ist ein Kind der Aufklärung und der modernen Pädagogik. Mit der Theologie teilt sie das Plausibilitätsproblem des Gottesglaubens in der Gegenwart. Als Pädagogik ist sie Teil des Erziehungs- und Bildungssystems der säkularen Gesellschaft. Diese zweifache Herkunft schlägt sich auch in der Didaktik des Faches Religionsunterricht nieder. Sie bezieht sich sowohl auf die Theologie als auch die Erziehungswissenschaft. Die Unterscheidung von Religionspädagogik und Religionsdidaktik erscheint vielleicht überraschend, aber sie hat sich eingebürgert und verweist auf unterschiedliche Reichweiten der Argumentation. Religionsdidaktik bezieht sich auf konkrete Lehr-und Lernprozesse im Religionsunterricht und in der Katechese. Diese Prozesse brauchen eine Beschreibung ihrer Zielsetzung, Inhalte, Methoden und Medien. In der Religionspädagogik geht es dagegen um die allgemeinen Voraussetzungen religiöser Bildung und Erziehung, ihre Geschichte, ihre konzeptionellen Entwürfe und schließlich die empirische Überprüfung der Voraussetzungen und Wirkungen religiöser Bildung und Erziehung. Empirie ist nie kontext- und zeitlos. Auffassungen der heutigen Religionspädagogik stehen auf den Schultern früherer Entwürfe. Die historische Religionspädagogik zeigt daher nicht nur, wie es früher war, sondern auch wie die heutigen religionspädagogischen Fragestellungen und Auffassungen entstanden sind, welche Fragen und Annahmen religiösen Lernens aus früheren Entwürfen mitgenommen und welche aufgegeben wurden.

Wissenschaft kann man historisch, systematisch oder empirisch betreiben. Der Weg in die Religionspädagogik geht dementsprechend entweder über ihre Geschichte, ihre Systematik oder ihre Empirie. Alle drei Zugänge werden in diesem Arbeitsbuch aufgenommen. Skizzen zur Geschichte des Religionsbegriffs (in Kapitel 1), zur Geschichte der religiösen Erziehung (in Kapitel 2), der Geschichte von Kindheit (in Kapitel 3) und Jugend (in Kapitel 4) leiten jeweils systematische Bestimmungen des Religionsbegriffs (Kapitel 1), des Begriffs der religiösen Bildung und Erziehung (Kapitel 2) und die Thematisierung der Gottesfrage und ihrer Voraussetzungen im Kindes- (Kapitel 3) und Jugendalter (Kapitel 4) ein. Wo immer greifbar, werden zu dieser Darstellung empirische Arbeiten herangezogen und referiert. Empirische Arbeiten prägen die Religionspädagogik mehr und mehr. Die Zeit der großen Entwürfe ist eher kleinschrittigen Untersuchungen gewichen. Es geht ihnen weniger um Visionen und das Bezeugen einer Wahrheit als um die Beobachtung dessen, was die Menschen machen und sagen.

Gegenstand der Religionspädagogik ist im weitesten Sinn Religion und Lernen. Mit Religion befassen sich die Theologie und die Religionswissenschaft, allerdings auf unterschiedliche Weise. Während sich die Religionswissenschaft mit Religion und Religionen werturteilsfrei befasst, setzt sich Theologie mit dem Wahrheitsanspruch des Glaubens auseinander, den eine Glaubensgemeinschaft tradiert und zur Annahme im Glauben vorlegt. Theologie ist in diesem Sinne Glaubenswissenschaft. Es gibt keine Theologie ohne Bezug zu einer Glaubensgemeinschaft. Theologische Konzeptionen der Religionspädagogik sind daher immer konfessionell verortet und darin von Konzeptionen anderer Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen unterscheidbar, auch wenn im Fortschritt der Ökumene der Konfessionen und Religionen viele Gemeinsamkeiten entdeckt wurden und in der pädagogischen Realisierung sich die gleichen Fragen stellen. Eine an der Religionswissenschaft orientierte bekenntnisunabhängige Religionspädagogik verortet sich demgegenüber eher in der Erziehungswissenschaft und hat wie die konfessionelle Religionspädagogik das Problem, dass eine sich als säkular verstehende Erziehungswissenschaft für Religion wenig zuständig fühlt. Jedenfalls gibt es keine nennenswerten erziehungswissenschaftlichen Entwürfe zur Religionspädagogik. Sie kommen aus der Theologie und verstehen sich als Theorie religiöser Erziehung und Bildung in christlicher (oder jüdischer oder islamischer usw.) Verantwortung.

Religionspädagogik gründet nicht in einem bestimmten Religionsbegriff, aber sie hat natürlich mit Religion und Gottesglauben zu tun, deshalb sollte Religion als Thema der Theologie, die in ihrer Geschichte Religion mal als Ausdruck von Gottesglauben bestimmt und mal religionskritisch verwirft, verstanden sein und von anderen Diskursen über Religion und Religionen z. B. in den Sozialwissenschaften oder der Religionswissenschaft unterschieden werden können, bevor ein Begriff religiöser Erziehung und Bildung gesetzt wird. Gelebte Religion ist nicht nur kognitiv, sondern hat auch mit den Träumen, Hoffnungen, Ängsten und Bedürfnissen des Menschen zu tun, und sie gewinnt je nach Erfahrung, Erleben und Kontext im Leben eines Menschen und ganzer Generationen oder Epochen mal mehr mal weniger an Bedeutung.

Wie Religion, Religiosität und Gottesglaube in ihrem Zuschnitt, so wechseln auch die Auffassungen von Erziehung und Bildung und wandelt sich auch das Verständnis religiöser Erziehung und Bildung unentwegt. Dennoch gibt es Konstanten. Das Grundproblem jeder Pädagogik ist die schon von Schleiermacher in seinen Vorlesungen zur Theorie der Erziehung (1826) formulierte Frage: »Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?« Dieser Frage muss sich auch die Religionspädagogik stellen, wenn sie »mit« und nicht »von« der jüngeren Generation etwas will. Religion kann sie mit ihr nur anschauen, nicht von ihr verlangen. Dieses nichthierarchische Verhältnis der Generationen führt zu einem grundsätzlich nicht affirmativen Verständnis zweckfreier religiöser Bildung. Sie dient weder der Befreiung von noch der Unterwerfung unter Religion. Sie führt weder zum Bekenntnis eines Glaubens noch zur Gottesverehrung noch davon weg. Ihr Zweck ist die Klärung von Religion und Gottesglauben im Horizont einer pädagogischen Fragestellung, die Kontroversen um Religion nicht löst, aber anschaut und zu verstehen versucht. Religiöse Bildung und Erziehung setzt auf diese Weise die jüngere Generation in Stand, Religion zu verstehen und an ihr begründet teilzuhaben oder mit Gründen auch nicht.

Wie dieses Buch zu lesen ist

Das vorliegende Buch wendet sich vorab an Studierende der evangelischen und katholischen Theologie und Religionspädagogik sowie Lehrerinnen und Lehrer. Es möchte in einige wichtige Fragen und Problemstellungen der Religionspädagogik einführen, die sie als – künftige – Lehrende im Erziehungs- und Bildungssystem kennen sollten. Dazu gehört ein reflektiertes Verständnis von Religion, Säkularität, religiöser Bildung und Erziehung und ihrer Didaktik. Das Verständnis dieses Felds zeigt sich in den Details der Religionspädagogik des Kindes- und Jugendalters.

Ein Arbeitsbuch vertritt keine Sondermeinung, sondern versucht, den Mainstream gegenwärtiger Lehrmeinungen wiederzugeben und Forschungsergebnisse nachvollziehbar darzustellen. Diesem Zweck sind die Form des ›close reading‹, der genauen Lektüre der Forschungsliteratur in einigen Passagen sowie die Kompetenzbeschreibungen zu Beginn und die Hinweise zum Weiterlesen am Ende der einzelnen Kapitel geschuldet. Der Idee der Reihe »Theologie elementar« entsprechend stehen am Ende der Kapitel auch Anregungen für den Unterricht. In einem Buch über Lernen mag das vielleicht überraschen. Sollen Kinder über das Lehren des Lernens nachdenken und zu Lehrkräften ausgebildet werden und in die Elternschule gehen? Natürlich nicht. Wohl aber ist es Kindern und Jugendlichen als Bedeutungen schaffenden Wesen möglich, sich diskursiv Religion (Kapitel 1), Gottesglauben (Kapitel 3 und 4) und religiöser Erziehung (Kapitel 2) anzunähern und nach Bedeutungen zu suchen, die sie selbst überzeugen. Die Kapitel sind so geschrieben, dass sie in sich verständlich sind. Man kann also thematisch auswählen und z. B. mit dem Kapitel »Gott im Leben von Kindern« (Kapitel 3) beginnen und sich auf die Lektüre dieses Kapitels beschränken, um einen Überblick zu diesem Thema zu bekommen. Das Buch steht in Nachbarschaft zum Buch »Gott und der Mensch« von Anita Müller-Friese, das in der gleichen Reihe Theologie elementar erschienen ist. Religionspädagogik baut immer auch auf einer theologischen Anthropologie1 auf, die in dem Buch von Anita Müller-Friese beschrieben ist. Auf dieses Buch wird an entsprechenden Stellen im Text verwiesen.

Aufbau des Buches

Inhaltlich ist »Gott und das Leben. Orientierungswissen Religionspädagogik« von der Überzeugung geleitet, dass die Gottesfrage im Religionsunterricht über die Beschäftigung mit Religion im Leben von Kindern und Jugendlichen auftaucht. Dazu bedarf es einer guten theologischen Expertise auf Seiten der Lehrkraft. So beschäftigt sich Kapitel 1 ausführlich mit Religion als Thema der Theologie. Religion ist in theologischer Perspektive ambivalent. In der Religionskritik wird sie bestritten. In der Säkularität der Gegenwart feiert sie eine überraschende Wiederkehr, der die Theologie freilich eher skeptisch gegenübersteht. Das ist der Hintergrund, vor dem die Religionspädagogik Religion, Religiosität und Gottesglauben im Leben von Menschen zur Sprache bringt. Kapitel 2 beginnt mit der Problemfrage »Ist Religion lehrbar?«, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Religionspädagogik hindurchzieht. Sie war nie ganz vergessen – darauf deuten die in rascher Folge sich ablösenden Konzeptionen der Religionsdidaktik seit den 1960ger Jahren hin, was vielleicht auch ein Zeichen von Verunsicherung ist, – und kehrt heute mit der Kompetenzorientierung im Bildungssystem als unerledigte Frage zurück. Die Frage des Kapitels 2 lautet daher: Was will die Religionspädagogik und welche Didaktik lehrt welche Religion? Kapitel 3 und 4 beschreiben im Horizont dieser Frage die Voraussetzungen religiösen Lernens von Kindern und Jugendlichen. Dazu gehören Einsichten in das Leben und in die Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen, in die Entstehung des Gottesglaubens bei Kindern und Jugendlichen sowie in die Bedeutung der Kontexte von Familie, Institution (Kirche, Kita, Schule), Milieu und Geschlecht für religiöse Lernprozesse. Beide Kapitel schließen mit Auszügen aus theologischen Gesprächen mit Kindern und Jugendlichen. Sie zeigen, wie Kinder und Jugendliche von Gott sprechen.

1.  Gott und Religion

Religionspädagogik entscheidet sich am Religionsbegriff. Es gibt einen substantiellen und einen funktionalen Religionsbegriff. Hinzu kommen in der Religionspädagogik Ansätze zu einem diskursiven Religionsbegriff, der Religion als eine Praxis versteht, die je nach Kontext und Erfahrungshintergrund der Lernenden individuelle Aushandlungsprozesse darüber entwickelt, was unter Religion zu verstehen sei und Religion bedeutet.1 In der Religionswissenschaft plädiert Adrian Hermann ebenfalls für eine diskursive Perspektive auf Religion, die Unterscheidungen von Religion nicht religionstheoretisch einfach postuliert, sondern Religion in Differenz zu anderen Religionen und systemtheoretisch in Differenz zu anderen Bereichen wie Wissenschaft, Politik, Kunst oder Ethik rekonstruiert, die alle nicht Religion sind.2 Substantielle Religionsbegriffe gehen dagegen von religiösen Inhalten und ihrem Wahrheits- und Geltungsanspruch aus und versuchen zu erklären, was das Wesen von Religion ist. Funktionale Religionsbegriffe beziehen Religion auf ein bestimmtes Problem, für das Religion zuständig sei, z. B. die Kontingenz menschlichen Lebens, der Sinn des Lebens oder der gesellschaftliche Zusammenhalt. Substantielle Definitionen der Religion erklären also, was Religion ist; funktionale Definitionen erklären, was Religion leistet; diskursive loten im Reden über Religion aus, wovon man spricht, wenn man von Religion redet.3 Die Religionspädagogik greift auf Studien mit funktionalen und diskursiven Religionsbegriffen zurück, um »das religiöse Feld« (Bourdieu) beschreiben zu können, in dem sie agiert. Die Bedingungen dieses Feldes ändern sich unentwegt. Zugleich arbeitet die Religionspädagogik als theologische Disziplin auch mit einem substantiellen Religionsbegriff. Dieser versteht Religion als Ausdruck des Glaubens an Gott oder das Göttliche. Heute steht Religion unter den Bedingungen der Säkularität und einer säkularen Kultur, die Religion einerseits zur Privatsache erklärt, andererseits als Zivilreligion öffentlich noch immer in Gebrauch nimmt. Religion wird also immer wieder anders verstanden.

Im Folgenden geht es darum,

• die Entstehung des neuzeitlichen Religionsbegriffs theologiegeschichtlich zu erklären;

• seine theologische Aneignung nach der Aufklärung zu analysieren und

• den zweifachen Einspruch gegen Religion einmal durch die Religionskritik des 19. Jahrhunderts

• und zum andern durch die Dialektische Theologie des 20. Jahrhunderts zu verstehen.

• Abschließend fragen wir nach der Gegenwart der Religion und des Gottesglaubens in einer säkularen Kultur.

1.1  Entstehung des neuzeitlichen Religionsbegriffs

Die Etymologie des Wortes Religion, lateinisch: religio, ist unklar.4 Moderne Etymologen neigen der Ableitung des Wortes Religion von lateinisch religare: »zurückbinden, an etwas befestigen« zu. »Religio bedeutet dann ursprünglich dasselbe wie obligatio, nämlich ›Verbindlichmachung, Verpflichtung‹.«5 Im biblischen Glauben war Religion stets mit einem Wahrheitsanspruch verbunden. Es wurde zwischen ›wahrer‹ und ›falscher‹ Religion und damit ›wahrer‹ und ›falscher‹ Gottesverehrung unterschieden.6 Von der Antike bis in die Zeit der Reformation werden Religion (religio) und Glaube (fides) synonym gebraucht. Augustinus titelt seine Apologie (Verteidigung) des christlichen Glaubens De vera religione (390 n. Chr.). Thomas von Aquin (1225–1274) definiert: Religio est quae Deo debitum cultum affert. Duo igitur in religione considerantur. Unum quidem quod religio affert […] Aliud autem est id cui affertur, scilicet Deus. (»Religion ist, was Gott die geschuldete Verehrung verschafft. Zweierlei wird also bei der Religion bedacht: einmal das, was sie Gott darbringt […], zum anderen aber, wem es dargebracht wird, nämlich Gott:« STh II-II 81,5c.). Noch knapper formuliert Thomas von Aquin an gleicher Stelle: Religio proprie importat ordinem ad Deum (»Religion ist im eigentlichen Sinn Hinordnung des Menschen auf Gott:« S.th. II-II 81,1c.). Bei Luther sind extra Christum omnes religiones […] idola (Jenseits von Christus sind alle religiones Götzendienst. – WA 40 II, 110 f.; vgl.WA 40 I, 514)7. Zwingli stellt seine reformatorische Glaubenslehre unter dem Titel De vera et falsa religione commentarius (1525) vor, Calvin unter dem Titel Institutio christianae religionis (Unterricht in der christlichen Religion. Letzte Fassung 1559). Immer geht es, wenn hier von Religion gesprochen wird, um die richtige Gottesverehrung. Gott ist das Thema der Religion. Diese Identität von Religion und Gottesgauben tritt im neuzeitlichen Religionsbegriff auseinander.

Der neuzeitliche Religionsbegriff entstand im Gefolge der Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts. Der Konflikt der einander aggressiv bekämpfenden Glaubensrichtungen war verheerend. Religion wird nun zu einem Begriff, der die verschiedenen Glaubensbekenntnisse toleriert, ohne ihren theologischen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch entscheiden zu wollen. Alle sind Religion. Darin gibt es keinen Unterschied. Der neuzeitliche Begriff der Religion verhält sich der Wahrheitsfrage gegenüber abstinent und weist den Wahrheitsanspruch eines Bekenntnisses der Privatsphäre zu, wo er entschieden werden mag. Er verhält sich Glaubensfragen und Glaubensinhalten gegenüber neutral. Religion wird »zu einem formalen Begriff, unter dem sich sehr unterschiedliche inhaltliche Konkretionen vorstellen lassen. Vom Begriff der Religion als solchem geht keine Klärungsambition hinsichtlich ihrer Wahrheitsfähigkeit mehr aus. Ihre Angemessenheit wird allein am Maßstab ihrer Sozialverträglichkeit bemessen.«8

Die in der Wahrheitsfrage tolerante Religion steht im 17. Jahrhundert gegen den unduldsamen Dogmatismus der Konfessionen. Auf diesen Religionsbegriff greifen die Aufklärer und Theologen nach der Aufklärung, sofern sie die Aufklärung rezipieren, zurück. Sie gebrauchen einen allgemeinen Religionsbegriff, der im Grunde für alle Religionen zutrifft, und machen so die von der Philosophie nach der Aufklärung bedrängte christliche Theologie für einen allgemein bleibenden Diskurs wieder gesprächsfähig. Das Pathos dieser Bemühung schwingt schon im Titel der Religionsschrift von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) mit: »Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1799). Schleiermacher bestimmt darin Religion als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«9 und er wurde mit dieser Bestimmung zum wohl einflussreichsten evangelischen Theologen des 19. Jahrhunderts, mit Wirkungen bis in die Religionspädagogik der Gegenwart hinein.10

Schleiermacher wendet sich in seiner Schrift »Über die Religion« (1799) an seine – der Untertitel sagt es schon – aufgeklärten und gebildeten Zeitgenossen, die, wie er einräumt, aus durchaus nachvollziehbaren Gründen mit Religion abgeschlossen haben.

»Von alters her ist der Glaube nicht jedermanns Ding gewesen, von der Religion haben immer nur Wenige etwas verstanden, […] Jetzt besonders ist das Leben der gebildeten Menschen fern von allem, was ihr auch nur ähnlich wäre. Ich weiß, daß Ihr eben so wenig in heiliger Stille die Gottheit verehrt, als Ihr die verlassenen Tempel besucht, daß es in Euren geschmackvollen Wohnungen keine anderen Hausgötter gibt, als die Sprüche der Weisen und die Gesänge der Dichter, und daß Menschheit und Vaterland, Kunst und Wissenschaft, denn ihr glaubt dies alles ganz umfassen zu können, so völlig von Eurem Gemüte Besitz genommen haben, daß für das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseits der Welt liegt, nichts übrig bleibt, und Ihr keine Gefühle habt für dasselbe und mit ihm. Es ist Euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, daß Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben, an dasjenige zu denken, welches Euch schuf. Ihr seid darüber einig, ich weiß es, daß nicht Neues und nichts Triftiges mehr gesagt werden kann über diese Sache, die von Philosophen und Propheten, und dürfte ich nur nicht hinzusetzen, von Spöttern und Priestern, nach allen Seiten zur Genüge bearbeitet ist. Am wenigsten – das kann niemandem entgehen – seid Ihr geneigt, von den letzteren darüber etwas zu hören, welche sich Eures Vertrauens schon längst unwürdig gemacht haben, als solche, die nur in den verwitterten Ruinen des Heiligtums am liebsten wohnen, und auch dort nicht leben können, ohne es noch mehr zu verunstalten und zu verderben. Dies alles weiß ich, und bin dennoch von einer innern und unwiderstehlichen Notwendigkeit, die mich göttlich beherrscht, gedrungen, zu reden, und kann meine Einladung, daß gerade Ihr mich hören mögt, nicht zurücknehmen.«11

Diesen Zeitgenossen, für die er viel Verständnis aufbringt und Empathie zeigt, legt Schleiermacher ein Verständnis von Religion vor, das ihre Schwierigkeiten mit Religion, wie er hofft, eigentlich ausräumen müsste. Religion, sagt Schleiermacher, ist nicht das Festhalten an Glaubensinhalten und besteht im Kern nicht in der Verpflichtung auf eine Tradition und ihre Institution, sondern kommt aus der Anschauung des – nicht näher bestimmten – Universums, welche die stärksten Gefühle im Menschen hervorzubringen vermag. Und diese Gefühle, möchte Schleiermacher zeigen, rühren nicht von irgendwelchen Gegenständen. Es muss etwas anderes sein, das den Menschen angesichts seiner Selbstwahrnehmung im Universum gleichsam anspringt und wie eine Macht berührt und dem der Mensch in seinem Innern antwortet, indem er aufnimmt und reflektiert, was ihn da berührt. So gestaltet der Mensch in seinem Innern Religion. »Alles Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden, von einem ursprünglichen und unabhängigen Handeln des ersteren, welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird.«12

Schleiermachers Definition der Religion als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«13 ist, wie man sieht, einem allgemeinen Religionsbegriff verpflichtet, der sich von Glaubenslehren und religiösen Traditionen abwendet und nur mit den Voraussetzungen für Religion beschäftigt. Die auf diese Weise von der Natur des Menschen her bestimmte Religion sichert der Theologie ihr Feld. Es ist klar abzugrenzen von dem der Ethik und Philosophie. In Religion geht es weder um Ethik noch um Philosophie. »Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.«14 Ethik befasst sich mit Moral, Philosophie mit Metaphysik. Gegenstand der Religion ist das, was die Anschauung des – näher nicht bestimmten – Universums im Innern des Menschen weckt und hervorbringt. Religion findet der Mensch auf diese Weise in sich selbst. Diese Disposition zu Religion teilt er mit allen Menschen. Deshalb ist die »Menschheit« der Ort, an dem wir reichlich »Stoff für die Religion« finden15. Gesprächsfähig und auf Augenhöhe mit den anderen Wissenschaften ist die Theologie, wenn sie sich auf ihr Feld der Religion beschränkt. »So behauptet sie ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter dadurch, daß sie aus dem der Spekulation sowohl als aus dem der Praxis gänzlich herausgeht, und indem sie sich neben beide hinstellt, wird erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefüllt und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet.«16 »Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.«17

Wenn Religion so der Natur des Menschen entspricht, warum gedeiht sie dann nicht? Schleiermacher macht dafür eine Kultur des Vernünftigen und Praktischen verantwortlich, die schon das innere Leben eines Kindes nicht achte. Schleiermacher befasst sich in seiner Religionsschrift deshalb auch mit Erziehung (vgl. dazu näher Kapitel 2). Es sind »die verständigen und praktischen Menschen, diese sind in dem jetzigen Zustande der Welt das Gegengewicht gegen die Religion, und ihr großes Übergewicht ist die Ursache, warum sie eine so dürftige und unbedeutende Rolle spielt. Von der zarten Kindheit an mißhandeln sie den Menschen und unterdrücken sein Streben nach dem Höheren.«18 Der religionssensible Erzieher belehrt nicht und übt keinen Zwang aus. Ohne Erziehung geht es nicht. Aber der religionssensible Erzieher zieht sich zurück, sobald der Sinn für Religion geweckt ist. »Jeder Mensch, wenige Auserwählte ausgenommen, bedarf allerdings eines Mittlers, eines Anführers, der seinen Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer wecke und ihm eine erste Richtung gebe, aber dies soll nur ein vorrübergehender Zustand sein; mit eignen Augen soll dann jeder sehen und selbst einen Beitrag zutage fördern zu den Schätzen der Religion, sonst verdient er keinen Platz in ihrem Reich und erhält auch keinen. Ihr habt recht, die dürftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz von einem andern ableiten, oder an einer toten Schrift hängen, auf sie schwören und aus ihr beweisen. Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum, der Religion ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.«19 Dementsprechend ist die Basis der Glaubenslehre, die Schleiermacher zuerst 1821/22 und in überarbeiteter zweiter Auflage 1830/31 publiziert, nicht die Dogmatik – diesen Begriff vermeidet er – im Sinne einer Darstellung von Glaubensinhalten, sondern die Religion, die im »frommen Selbstbewusstsein« sich bildet. Religion ist »frommes Selbstbewusstsein«. Sie entsteht im Wissen des Menschen um sich selbst angesichts des Grundes seines Daseins, den er nicht gemacht hat und der ihn übersteigt und mit dem ›Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit‹ von diesem Grund – religiös ›Gott‹ genannt – zurück lässt. »Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind«20

1.2  Religionsbegriff der Religionskritik

Der allgemeine Religionsbegriff der Aufklärung gerät freilich schon durch die Religionskritik der Aufklärung selbst in die Krise. Dafür mögen zwei frühe Belege stehen. Jean Meslier (1664–1729), ein zu Lebzeiten unbescholtener französischer Dorfpfarrer, hat eine posthum publizierte Religionskritik hinterlassen, die in ihrer Derbheit erschrecken mag, alle Einwände, die in der späteren gesellschaftskritischen Religionskritik des 19. Jahrhunderts wieder auftauchen, aber bereits vorwegnimmt: Religion sei Betrug und Verdummung des Volkes und stünde nur im Interesse der Herrschenden und ihrer klerikalen Diener, Priester und Bischöfe, die davon profitieren: »Sie sind es, die unter dem Vorwand, Euch in den Himmel zu führen und ewiges Glück zu verschaffen, Euch daran hindern, irgendein wirkliches Glück auf Erden zu genießen. Sie sind es schließlich, die Euch zwingen, in dem einzigen Leben, das Ihr habt, wahre Höllenqualen zu leiden, unter dem Vorwand, Euch dadurch ewiges Leben zu verbürgen und Euch vor den eingebildeten Qualen einer Hölle bewahren zu wollen, die es genauso wenig gibt wie ein ewiges Leben.«21 Ähnlich radikal stellt der zum Kreis der französischen Aufklärer zählende Paul Thiry d’Holbach (1723–1789) Religion in Gegensatz zur Aufklärung: »Die Religion ist die Kunst, die Menschen mit Schwärmerei zu betäuben, um sie daran zu hindern, sich mit jenen Übeln zu befassen, mit denen sie von denen, die sie regieren, überladen werden. Mit Hilfe der unsichtbaren Mächte, mit denen man ihnen droht, zwingt man sie, mit Stillschweigen das Elend zu erdulden, das ihnen von den sichtbaren Mächten auferlegt wird; man läßt sie hoffen, daß sie in einer anderen Welt glücklicher sein werden, wenn sie sich damit abfinden, in dieser Welt unglücklich zu sein.«22

Die verschiedenen Positionen der philosophischen, gesellschaftskritischen und psychoanalytischen Religionskritik des 19. und 20. Jahrhunderts stimmen darin überein, dass es Religion nicht geben solle. Religion sei immerzu nur ein unzureichendes Mittel zur Kompensation von Defiziten, die auf andere Weise besser, effektiver und nachhaltiger zu beheben seien. Die hier aufscheinende instrumentelle Sicht der Religion müsste der Religion eigentlich helfen, wenn sie in ihrer Funktionalität für das Individuum und die Gesellschaft anerkannt würde, möchte man meinen, tatsächlich aber macht diese Sicht Religion auch ersetzbar. Es gibt in der Perspektive der Religionskritik immer Instrumente, die als tauglicher angesehen werden oder sich als tauglicher herausstellen werden. Deshalb ist Religion zu überwinden. Zudem steht Religion unter dem Verdacht, andere Zwecke zu bedienen und im Dienst anderer Zwecke zu stehen, als zu bearbeiten sie vorgibt. Deshalb muss Religion bekämpft werden. Die Argumente der Religionskritik laufen immer auf diesen Punkt hinaus, dass Religion gefährlich ist. Warum ist Religion gefährlich? Im Durchgang durch die Religionskritik lassen sich eine ganze Reihe von Argumenten finden, die in zugegeben typologischer Verkürzung folgendermaßen lauten23: (1) Religion kompensiere anthropologische Defizite. Im Himmel verehre der Mensch, was er auf Erden nicht hat. Auf diese Weise hindere Religion den Menschen, das zu sein, was er selbst sein könnte. (Ludwig Feuerbach). (2) Religion hält den Menschen in einer Illusion über sich selbst fest (Sigmund Freud). Religionskritik führt den Menschen zu einem realistischeren Umgang mit sich selbst. (3) Religion ist Sinngebung. Religionskritik zeigt, dass es Sinn nicht gibt und Religion als Sinngebung den Blick auf die Realität verstellt (Jean Paul Sartre, Albert Camus). (4) Religion ist Kompensation für ökonomisch bedingtes gesellschaftliches Elend. Religionskritik kritisiert hier in erster Linie nicht die Religion, sondern die Verhältnisse, die Religion brauchen, um fortbestehen zu können (Karl Marx). (5) Religion ist Instrument der Ersatzbefriedigung, um psychische Defizite zu kompensieren. Religion erscheint als Entwicklungsverweigerung mit hohem neurotischen Potential (Sigmund Freud, Tilman Moser). (6) Religion sei mit Herrschaft verbunden, mit der die Massen diszipliniert und unter Kontrolle gehalten werden sollen (Friedrich Engels, Vladimir Iljitsch Lenin, Wilhelm Reich).

Noch im Rahmen der Religionskritik gibt es auch Stimmen, die auf die Ambivalenz der Religion verweisen. Religion kann Entwicklung sowohl hemmen als auch ermutigen. Diese Kritik zielt nicht auf die Abschaffung der Religion. Sie weist auf die Abgründe der Religion und das Versagen der Kirchen und zugleich sieht sie in der verbreiteten religiösen Indifferenz auch eine Ignoranz gegenüber dem kritischen und zur Aktion befähigenden Potenzial, das in Religion eben auch steckt. Große Resonanz hatten damit in der Theologie der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts Ernst Bloch (1885–1977) und die Vertreter der kritischen Theorie Max Horkheimer (1895–1973) und Herbert Marcuse (1898–1979), Bloch mit seiner Entdeckung der Eschatologie als Hoffnung auf ein Reich der Freiheit, die den bestehenden Verhältnissen der Versklavung entgegengehalten wird, Horkheimer und Marcuse mit ihrer Kritik des affirmativen Charakters der Kirchen gegenüber den bestehenden Verhältnissen, die sie dann aber in Kontrast zu den Ursprüngen des Christentums und den Hoffnungen des biblischen Glaubens bringen.

Seitdem hat die Relevanz der Religion in Europa weiter abgenommen. Die säkulare Gesellschaft macht von Religion keinen Gebrauch und versteht Religion auch nicht mehr. Das ist allerdings auch ein Verlust, sagt Jürgen Habermas. Möglicherweise hat Religion der säkularen Gesellschaft etwas zu sagen, das die Gesellschaft nicht kennt und ihr fehlt, wenn sie religiöse Sprache nicht mehr versteht. Wie von religiösen Menschen gefordert werde, sich säkular verstehbarer Sprache zu bedienen, so müsste deshalb umgekehrt auch von säkularen Menschen verlangt werden dürfen, dass sie religiöse Argumente übersetzen können. Habermas verdeutlicht sein Anliegen u. a. am Beispiel der Embryonenforschung und des »Verbrauchs« von Embryonen in dieser Forschung. Religiöse Menschen lehnen diese Forschung u. a. mit dem Hinweis auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen24 ab, mit einem religiösen Argument also, das man nicht teilen muss. Aber auch einem säkularen Menschen könne einleuchten, dass nach diesem Glauben der Mensch ein Geschöpf25 ist, das von einem Gott ins Dasein gerufen und im Blick dieses Gottes dem Anderen ebenbürtig ist. Man müsse auch diese religiöse Prämisse eines Schöpfergottes nicht glauben, aber man könne verstehen, dass diese Ebenbürtigkeit verschwinden würde, wenn man an die Stelle Gottes einen Menschen setzen würde, der einen anderen Menschen »nach seinem Belieben in seinem natürlichen Sosein festlegen würde«26; dann wäre auch der Grund nicht mehr gegeben, der uns in unserer Verschiedenheit zu ebenbürtigen Menschen macht. Säkulare Gesellschaften verlieren also etwas, sagt Habermas, wenn sie Religion ausblenden. Denn »im Gegensatz zur ethischen Enthaltsamkeit eines nachmetaphysischen Denkens, dem sich jeder generell verbindliche Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht, [seien] in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch [durch Auslegung] wach gehalten worden.« Es bedürfe daher einer Aufklärung, die Religion nicht vernichtet, sondern übersetzt und »den Gehalt biblischer Begriffe einem allgemeinen Publikum von Andersgläubigen und Ungläubigen« erschließt.27

1.3  Der funktionale Religionsbegriff

Die Entdeckung des instrumentellen Charakters der Religion führt in der Religionskritik zur Destruktion der Religion. In der Perspektive der Religionskritik ist Religion allenthalben Ersatz für das richtige Leben und die richtigen Lösungen im Leben. Sie hindert das Leben der Menschen. Ganz im Gegensatz dazu geht ein funktionales Religionsverständnis davon aus, dass Religion im Leben des Menschen bzw. der Gesellschaft ein Bezugsproblem löse, das nur die Religion lösen kann, und Religion deshalb eine Funktion habe, die von keinem anderen Funktionssystem der Gesellschaft übernommen werden könne. Religion ist in dieser Sicht unausweichlich. Es gibt für sie zwangsläufig Bedarf. Deshalb brauche die Gesellschaft Religion. Prominente Vertreter dieser Position sind aus philosophischer Perspektive Hermann Lübbe (*1926) und Jürgen Habermas (*1929) und aus soziologischer Niklas Luhmann (1927–1998). Lübbe, Habermas und Luhmann sehen das Bezugsproblem der Religion in der Kontingenz menschlichen Lebens,28 also in der Erfahrung, dass das Dasein absolut zufällig erscheint und auch nicht sein könnte. Dasein ist nicht zwingend, wenn es auch nicht da sein könnte. Dieses im Kern unlösbare Problem bearbeitet und löst Religion.

Nach Lübbe hat die Aufklärung Religion nicht erledigt, weil Religion auf Lebensfragen antworte, welche die Aufklärung gar nicht berührt habe. Das übersehe die Religionskritik. »Die radikale Religionskritik erklärt die Religion für ein Pseudokompensat von Lebensmängeln, die sich im Verlauf gesellschaftlich-politischer und intellektueller Emanzipationsprozesse, statt illusionär, schließlich real beheben lassen, so daß, mit dem Wegfall ihrer vormodernen, voraufgeklärten Nötigungsgründe die Religion selber verschwindet.«29 »Der Realität religiösen Lebens bleibt man indessen näher, wenn man, statt dessen, von der umgekehrten These ausgeht, daß die Religion die kulturelle Form humaner Beziehung auf genau diejenigen Lebenstatsachen ist, auf die sich intellektuelle und politische Aufklärungs- und Emanzipationsprogramme prinzipiell gar nicht beziehen können.«30 Religion bezieht sich auf Lebenstatsachen, die so oder auch anders hätten sein können, aber nun mal sind und sich der Verfügung des Menschen entziehen. Zu dieser Tatsache gehört, sobald man über den rein biologischen Sachverhalt des Lebens hinausdenkt, elementar unser Dasein. »Wir verdanken unser Dasein nicht einem Akt der Zustimmung zu ihm; es ist kein Diskursresultat, was uns selbst betrifft, auch dann nicht, wenn wir ein Wunschkind sein sollten: Der einschlägige Wunsch war ja nicht unser eigener.«31 Die Kontingenz unseres Daseins kann man wie jede echte Kontingenzerfahrung nur anerkennen. Die Anerkennung der Kontingenz des Lebens bezieht sich nicht auf irgendwelche Sektoren des Lebens, die der Mensch (noch) nicht beherrscht – wenn es so wäre, würde Religion mit dem Fortschritt des Wissens unaufhaltsam schrumpfen – sondern auf das Ganze des Lebens. »Religion ist – das ist trivial – weder Technik noch Politik, nicht Wissenschaft und auch kein Weltbild, und sie ist auch nicht – und das ist weniger trivial – fortschrittabhängig in die perfektionierten Gestalten unseres wirklichkeitsbeherrschenden Handelns und Wissens hinein transformierbar. Eben damit bleibt die Autonomie, die Eigengesetzlichkeit des technischen oder politischen Handelns seinerseits unberührt, das heißt, die Religion ist nichts, was uns lehrte, eine Technik gegen eine andere technologisch zu validieren oder einer wissenschaftlichen Hypothese einer anderen gegenüber den Vorzug einzuräumen. Nichtsdestoweniger ist ihre Zuständigkeit sektoral unbegrenzt; das Verhalten zum Unverfügbaren hat nicht sektorale, vielmehr integrale Bedeutung. Das läßt sich, einfach, auch folgendermaßen ausdrücken: Die Religion ist nicht für alles im Leben zuständig, aber fürs Ganze.«32 In dieser Abstraktion gilt diese Formulierung für alle Religionen. Es geht, wie im neuzeitlichen Religionsbegriff zu erwarten, Lübbe in seiner funktionalistischen Bestimmung der Religion als Kontingenz­bewälti­gungs­praxis nicht um den Wahrheitsanspruch oder das jeweilige Selbstverständnis der Religionen. Es geht nicht um Gott, sondern allenfalls den Glauben an Gott, also um das, was ein Mensch tut, wenn er religiös ist. Und dann zeigt sich, so Lübbe, die durch keine andere Praxis ersetzbare Funktion der Religion für die kulturelle und gesellschaftliche Praxis nach der Aufklärung.

Lübbe versteht seine Funktionsbestimmung der Religion »als eine Position im Kontext kontroverser Religionstheorien« und er will zeigen, »wieso in der Erfüllung dieser Funktion nicht die Religion illusionär ist, vielmehr die Erwartung, daß diese Funktion sich über Leistungen nicht-religiöser Kultur eines Tages auflösen werde.« Das Fazit seiner Analyse lautet: »Für die Religion gibt es kein funktionales Äquivalent.«33 Deshalb braucht auch eine Kultur und Gesellschaft mit der Aufklärung im Rücken Religion. Sonst fehlt ihr was. Ein wenig, sagt Lübbe in einem überraschenden Vergleich, sei Religion wie ein Placebo. Sie hilft, man weiß nicht wie. Und sie schadet auch nicht. Wer das kritisiere und wem diese Funktion der Religion nicht genug sei, den verdächtigt Lübbe, in der Pluralität der Religionen und Konfessionen nur die Verbindlichkeit seiner eigenen stark machen zu wollen. Das helfe aber nicht. Statt über die Wirkung von Placebos zu streiten, streite man dann eben über die Frage, »welches Placebo das beste sei«34. Sollte man den »Gutgläubigen« darüber aufklären? Lübbe sagt, ja, unbedingt.

Anders als jene Religionskritiker, die Religion als Riesenbetrug der ›Priesterkaste‹ (Meslier) sehen, seien »die Repräsentanten funktionalistischer Religionstheorie nicht Feinde der Religion. Sie sind vielmehr Freunde der Religion. Sie schätzen sie wegen ihrer funktional beschreibbaren Dienlichkeit – individuell und sozial, ja politisch. Aber nicht anders als die Priesterbetrugstheoretiker wissen sie das Funktionieren der Religion an die subjektive Bedingung der Unaufgeklärtheit über ihren Funktionsmechanismus gebunden – genau wie der Arzt die günstige Wirkung der in seiner Klinik verabreichten Placebos. Unter den zeitgenössischen Freunden der Religion [seien] die Repräsentanten der funktionalistischen Religionstheorie selbstlos-freundlich betrügerische Freunde. Ihr Betrug ist kein böser Betrug, vielmehr ein frommer Betrug. Aber Betrug ist er eben doch und daher, im Interesse des Glaubens der Gutgläubigen, entlarvungsbedürftig. Dieser Entlarvung dient das zitierte Placebo-Argument.«35

Die medizinische Metaphorik zeigt, worauf Lübbe letztlich hinaus will. Gute Religion ist lebensdienliche Religion. Ohne Religion, verstanden als »Kultur der Akzeptanz dessen, was unabwendbar ist, wie es ist«, sei »Aufklärung dauerhaft gar nicht lebbar, und zwar umso weniger, je prekärer unsere Lage angesichts dessen, was ist, sich darstellt, und je unübersehbarer wird, das zu dem, was ist, orientierungskrisenträchtig auch dieses gehört zu wissen, daß man nicht zureichend weiß, was man wissen müßte, um die Lage verläßlich meistern zu können.«36 Wenn das stimmt, dann lebt »die Aufklärung und mit ihr die kulturelle Fähigkeit, sich im Verhältnis zur Realität kognitiv und praktisch an das zu binden, was der Fall ist, […] ersichtlich von Voraussetzungen, die sie selber nicht garantieren kann – es sei denn, man rechnete ihrem eigenen Begriff […] die Kultur des richtigen Umgangs mit dem Unverfügbaren und somit Religion«37 ebenfalls dazu. Religion ist nach Lübbe unausweichlich. Deshalb verschwindet Religion nach der Aufklärung nicht.

»Alle Versuche, das ›Wesen‹ der Religion ›objektiv‹ (und sei es: phänomenologisch) zu bestimmen, können als gescheitert gelten. Sie sind jedenfalls in langen Debatten gründlich entmutigt worden. Es war«, schreibt Niklas Luhmann (1927–1998) am Ende seines posthum publizierten Werks »Die Religion der Gesellschaft« (2000), »nicht schwierig herauszufinden, daß Religionsdefinitionen immer schon einem religiösen Standpunkt verpflichtet sind, also die jeweils eigene Religion vertreten, obwohl es auch andere gibt.«38 Substantielle Religionsdefinitionen können Luhmann deshalb nicht überzeugen. Für ihn als Soziologen ist jedoch nicht zu übersehen, dass es keine Gesellschaft ohne Religion gibt. Wenn nun Religion sich in allen menschlichen Gesellschaften – von Tieren nimmt man nicht an, dass sie Religion kennen – beobachten lasse, müsse Religion für die Gesellschaft eine Funktion haben. Sonst gäbe es sie nicht. Und wenn sie sich in allen Gesellschaften beobachten lässt, muss die gesellschaftliche Funktion der Religion zudem universell sein. Die Frage lautet nun: Welche Funktion hat Religion? Um diese Frage beantworten zu können, muss man, sagt Luhmann, die Kommunikation der Gesellschaft beobachten.

Gesellschaft ist da, wo Kommunikation ist. Um zu verstehen, was Luhmann damit meint, ist es hilfreich, einen kurzen Blick auf seine Systemtheorie zu werfen. Ihr Grundgedanke ist die Unterscheidung von System und Umwelt.39 Ein System entsteht dadurch, dass sich aus der Vielzahl möglicher Elemente solche miteinander verknüpfen, die intern eine gewisse Stabilität erzeugen. Diese interne Stabilität eines Systems steht einer Umwelt oder Außenwelt gegenüber, die durch die Systembildung und interne Kommunikation des Systems überhaupt erst wahrnehmbar wird. Den systeminternen Kontakt nennt Luhmann Kommunikation. Sie reduziert die unendlichen Berührungspunkte mit der Umwelt auf eine überschaubare Größe, indem sie festlegt, was zum System gehört und was nicht. Auf diese Weise entstehen und erhalten sich Systeme selbst. Luhmann nennt das »Autopoiesis«. Jedes System produziert durch seinen Umweltbezug eine eigene systemspezifische Transzendenz. Sie ist unbestimmbar, weil über System (innen) und Umwelt (außen) hinaus kein Oberbegriff zur Verfügung steht. Dieses Problem lösen die verschiedenen Funktionssysteme durch sogenannte »Kontingenzformeln«. »Kontingenzformeln« sind Begriffe, die »Unbestimmbarkeit in Bestimmbarkeit, also unendliche Informationslasten in endliche Informationslasten zu überführen«40 erlauben. »Kontingenzformeln finden sich in allen Funktionssystemen«, im Wirtschaftssystem, im politischen System, im System der Familie, im System der Religion.41 Das Wirtschaftssystem strukturiert sich z. B. über die Kontingenzformel »Knappheit«, obwohl dies weder für Güter, noch Arbeit, noch Geld zutrifft. Das Beispiel zeigt, was »Kontingenzformeln« leisten. Sie zielen darauf ab, »andere Möglichkeiten, die auch gegeben sind, zu unterdrücken [… und] den Sinn des Systems zu fixieren.«42. Mit Hilfe von Kontingenzformeln vereinfachen Systeme die Komplexität ihrer Umwelt, sie dienen also der »Komplexitätsreduktion«; sie sind aber, weil Komplexität zu reduzieren in bestimmten Fällen wahrscheinlich auch auf andere Weise möglich wäre, »kontingent«. Religion ist nun jenes Teilsystem der Gesellschaft, das die Alternativen im Umgang mit den unendlichen Möglichkeiten der Umwelt, die sich nicht in das System einfügen lassen: das Unsagbare, Unsichtbare, Nicht-Machbare, thematisiert und bearbeitet. Das ist systemtheoretisch betrachtet die Funktion der Religion und was man von Religion erwarten kann.

Für Lübbe wie für Luhmann ist das funktionale Bezugsproblem der Religion die Kontingenz des menschlichen Lebens. Kontingenz wird mit Hilfe der Religion bewältigt. Wenn das so ist, müsste der Bedarf an Religion unausweichlich sein. Nun zeigt sich freilich in der Gegenwart, dass dies nicht der Empirie entspricht. Viele Menschen kommen auch ohne Religion aus. Religion ist also nicht unausweichlich. Offensichtlich variiert der Bedarf an Religion individuell, sozial und historisch erheblich.43 Während die Aufklärung das Problem der Kontingenz noch mit der Vorstellung, in der besten aller denkbaren Welten zu leben, bearbeiten zu können dachte, ist diese Überzeugung in der Postmoderne zerbrochen. Letzte Gewissheiten werden nicht erwartet. Die Erwartung letzter Gewissheit werde in der Moderne zurückgenommen, stellt Detlef Pollack in seiner Studie zum historischen Wandel des Kontingenzbegriffs fest. Je weniger Menschen jedoch davon überzeugt seien, dass Kontingenz überhaupt bewältigt werden kann, desto mehr nehme dann auch der Bedarf an einer Institution ab, die von sich behauptet, dass sie das könnte.44 Ein funktionaler Religionsbegriff macht also Religion nicht zwingend. Seine Konjunktur in der Religionspädagogik sollte darüber nicht hinwegtäuschen.

1.4  Religion und Theologie

Schleiermachers allgemeiner Religionsbegriff war ein Versuch, Religion in der Zeit der Aufklärung ihren Kritikern gegenüber gesprächsfähig zu halten. An ihn knüpfen die liberale Theologie und der Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts an. Die Religionskritik des 19. Jahrhunderts nahm der Theologie jedoch den Religionsbegriff in dem Maße wieder ab, wie sie jede Religion wahlweise dem Verdacht der Projektion, Illusion, Selbsttäuschung oder des Betrugs der Herrschenden unterwarf und prinzipiell jede Religion für sie einfach schlecht war. Ein theologischer Religionsbegriff scheint angesichts dieser Sachlage sinnlos. Die Wiederkehr der Religion als Thema in der Theologie des 20. Jahrhunderts ist so gesehen überraschend. Die Breite der theologischen Diskussion der Religion reicht von der nicht-religionshaften Interpretation des Christentums bei Karl Barth und der nicht religiösen Interpretation biblischer Begriffe bei Dietrich Bonhoeffer über die anthropologische Begründung der Religion bei Tillich bis hin zur gegenwärtigen Rede von der Wiederkehr der Religion. Deutlich verschiebt sich das Verständnis von Religion abermals. Denn mit der Theologie kehrt die Wahrheitsfrage als Frage nach Gott in die Bestimmung des Religionsbegriffs zurück. Die Auseinandersetzungen der Theologie mit Religion zeitigen unterschiedliche Positionierungen:

Der theologische Religionsbegriff: Religion ist die Beziehung des Menschen zu Gott. Religion ist von Gott her zu begründen.

Der anthropologische Religionsbegriff: Der Mensch ist von Natur aus religiös. Religion ist vom Menschen her zu begründen.

Theologische Absage an Religion I: Religion ist Ausdruck der Selbstvergessenheit der Theologie. Sie spricht vom Menschen und nicht von Gott.

Theologische Absage an Religion II: Religion ist das untaugliche, weil wirkungslos gewordene Gewand der Theologie. Die christliche Theologie muss sich religionslos artikulieren.

Religion kehrt wieder in der Kultur der Gegenwart. Aufgabe der Theologie ist es, die Dispersion des Religiösen in der Kultur der Gegenwart aufzuzeigen.

1.4.1  Der theologische Religionsbegriff

In der Theologie, sagt der Religionsphilosoph Bernhard Welte (1906–1983), versteht man Religion gemeinhin als Ausdruck der »Beziehung des Menschen zu Gott oder auch zum Bereich des Göttlichen«.45 Dabei geht die Initiative von Gott aus. Gott (oder das Göttliche) ist es, der sich dem Menschen zeigt, oder wie Welte formuliert: »der sich zum Menschen verhält«, und zwar nicht als etwas dem Menschen Fremdes, sondern »innerhalb des Verhältnisses des Menschen zu Gott«46. Religion ist insofern ein Vollzug des Menschen, eine »Daseinsweise«, deren fundierendes Moment Gott (oder das Göttliche) ist. In diesem Verständnis von Religion bestimmt sich vom Göttlichen her »das Dasein des Menschen als ein religiöses.«47 Deshalb spricht dieser Weg einer Definition von Religion zuerst von Gott. »In der Religion weiß sich der Mensch von Gott bestimmt und auf Gott bezogen. Daher ist Gott die Größe, von der her sich Religion primär konstituiert.«48 Diese Gegebenheit ist freilich, räumt Welte ein, nicht selbstverständlich, sonst würden nicht so viele Menschen heute nicht an Gott glauben. Wie kann Gott dann bewiesen werden und damit der Sinn von Religion? Nach Kant gelten die klassischen Gottesbeweise als widerlegt. Nach Heidegger wäre ein »durch solcherlei Beweise sichergestellter Gott kein göttlicher Gott«49. Dieser Weg ist der Theologie heute also versperrt. Schleiermacher hat das Problem so gelöst, dass er nur noch von Religion und vom religiösen Gefühl sprach und nicht mehr von Gott. Der frühe Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer werden auf Religion als Begriff der Theologie verzichten. Paul Tillich wird Religion als kulturelles Gewand, also als etwas der Religiosität des Menschen Äußerliches beschreiben, und dies, sagt Welte50, ist der Unterschied zu seiner Position, die Religion Ausdruck der Beziehung des Menschen zu Gott definiert. Diese Position steht in der Tradition des Thomas von Aquin (1225–1274), die oben schon erwähnt wurde: »Religion im eigentlichen Sinn bedeutet die Beziehung zu Gott« (religio proprie importat ordinem ad Deum), und Thomas von Aquin fügt präzisierend hinzu: »Die Religion ordnet den Menschen auf Gott allein hin.« (religio ordinat hominem solum ad Deum) (S.th. II-II 81,1). Nach dieser Überzeugung kann der Mensch als endliches Geistwesen seine letzte Erfüllung nur in Gott finden (In solo Deo beatitudo hominis consistit – S.th. I-II, 2,8).

Damit ist ein erstes Kriterium eines theologischen Religionsbegriffs gewonnen.51 Die Beziehung zu Gott, womit nicht unbedingt eine theistische Vorstellung verbunden sein muss, ist ausschlaggebend dafür, ob in theologischer Perspektive eine Praxis Religion genannt werden kann. Was in der Religionswissenschaft oder Ethnologie unter dem Stichwort Kultur mit Religion in Verbindung gebracht wird, wird diesem Kriterium vermutlich nur teilweise genügen, vermutet der Fundamentaltheologe Max Seckler (*1927). Zugleich stecke in der Aussage, Religion sei »Hinordnung des Menschen auf Gott« (ordo ad Deum) auch die Überzeugung, dass diese »Hinordnung grundsätzlich in jeder menschlichen Praxis vorkommen könne. Deshalb sei grundsätzlich jede menschliche Praxis danach zu befragen, ob und wie darin diese Zuordnung des Menschen zu der Wirklichkeit, welche Religion konstituiert, theologisch »Gott« genannt, auftaucht. Seckler sieht in der theologischen Konzentration – und damit scheinbaren theologischen Verengung – des Religionsbegriffs zugleich eine Entgrenzung von Religion, insofern die Hinordnung auf Gott in jeder menschlichen Praxis möglich ist. »Die streng theozentrische Konzentration des theologischen Religionsbegriffs geht also Hand in Hand mit seiner kategorialen und kulturtheoretischen Entgrenzung: Jener ordo ad Deum, welcher das theologische Wesen von religio ausmacht, ist ja grundsätzlich in aller menschlichen Praxis möglich.«52 Die Hinordnung des Menschen auf Gott sei dann weiter gedacht auch nicht auf die allgemein bekannten Religionen und religiösen Phänomene, mit denen sich die Religionswissenschaft befasst, begrenzt oder eingrenzbar. Andererseits sei der Religionsbegriff der Theologie aber auch nicht auf jede Beziehung zu Gott anwendbar. Es müsse, sagt Seckler, eine erlösende, Erlösung suchende und Erlösung findende Beziehung zu Gott sein, wenn eine Praxis im theologischen Verständnis religiös genannt werde.53 Damit scheiden für Seckler Religionsbegriffe wie Religion als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« (Schleiermacher) oder »Kontingenzbewältigungspraxis« (Lübbe, Luhmann), so attraktiv sie für die Verteidigung der Religion sein mögen, aus. »Für den theologischen Religionsbegriff liegt das Wesen der Religion nicht einfach in einer Befindlichkeit der Existenz oder in einer Zuständlichkeit des Bewußtseins, sondern im realen Transzendieren auf Gott hin im Horizont der Heilsfrage.«54 Diese religio, verstanden als Hinordnung des Menschen auf Gott, ist aufgrund des universellen Heilswillens Gottes grundsätzlich jedem Menschen auch außerhalb des Christentums und der übrigen Religionen möglich. Keiner kulturellen Gestalt von Religion komme deshalb ein Alleinvertretungsanspruch zu.55

1.4.2  Der anthropologische Religionsbegriff

Paul Tillich (1886–1965) definiert in einer viel zitierten Formel Religion so: »Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes das, was uns unbedingt angeht. Und das, was uns unbedingt angeht, manifestiert sich in allen schöpferischen Funktionen des menschlichen Geistes.«56