Gottes Kraft in den Schwachen - Hannes Leitlein - E-Book

Gottes Kraft in den Schwachen E-Book

Hannes Leitlein

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Beschreibung

"Die Kirche lebt von ihren Menschen", so formuliert Petra Bosse-Huber ihr Verständnis von einer Beteiligungs- statt Betreuungskirche. Und dass ihr besonders die scheinbar "Abgehängten" weltweit und in unserer Gesellschaft am Herzen liegen, daraus macht die politisch hellwache und fröhlich-fromme Auslandsbischöfin der EKD keinen Hehl. Im Gespräch mit dem eine Generation jüngeren Journalisten Hannes Leitlein zeigt sich, worauf es religiös suchenden Menschen heute ankommt und ob die Kirche dialogfähig ist.

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Seitenzahl: 138

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Hannes Leitlein ist Journalist und Redakteur bei ZEIT Christ & Welt in Berlin. Er wurde 1986 in Schwäbisch Hall geboren, zog für seine erste Ausbildung zum Mediengestalter nach Heilbronn, für ein Freiwilliges Soziales Jahr und das Abitur nach Essen und zum Theologiestudium nach Berlin und Wuppertal. 2016 wurde er mit dem Nürnberger Medienpreis ausgezeichnet.

© Kreuz Verlag GmbH, Hamburg 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Thomas Puschmann – fruehbeetgrafik.de, Leipzig

Titelbild: Portrait Petra Bosse-Huber © Maren Kolf – Wedemark

Texte und Kapitelfotos: Hannes Leitlein

Autorenfoto: Martin Gommel

Satz und E-Book-Konvertierung: NagelSatz, Reutlingen

ISBN (E-Book) 978-3-946905-23-3

ISBN (Buch) 978-3-946905-15-8

Inhalt
Kapitel 1
Das Land und das Ausland
Kapitel 2
Macht Gott schwach oder die Schwachen mächtig?
Kapitel 3
Frieden und Weltfrieden
Kapitel 4
Die Generationen vor und nach uns
Kapitel 5
Niemand kommt zum Vater oder wie viel Absolutheitsanspruch ist noch möglich/nötig?
Kapitel 6
Die Verfassung der verfassten Kirche
Kapitel 7
Frauenzeitschriften und andere Feminismen
Impressum

Kapitel 1

Das Land und das Ausland

Hannes Leitlein: Frau Bosse-Huber, als Ausland­bischöfin: Sind Sie lieber in Deutschland oder im Ausland?

Petra Bosse-Huber: Seit ich so viel ins Ausland reise, bin ich viel lieber in Deutschland als früher. Ich komme oft aus lauten und heißen Großstädten dieser Erde zurück, Kairo, Buenos Aires, wo auch immer, stehe dann bei uns vor dem Gartentor und bin tief dankbar für dieses kleine, grüne Dorf in der Wedemark bei Hannover, in dem ich wohne. Wir leben in einem Haus mit Garten und ich denke: „Meine Güte, was ist das für ein Privileg!“ Die Dankbarkeit für mein persönliches Leben ist gewachsen. Insofern bin ich mir sehr bewusst, was ich an Privilegien, an Freiheit und Sicherheit, auch an Rechtssicherheit, in Deutschland genieße.

Wollen Sie dann überhaupt noch weg?

Unbedingt! Je mehr ich von der globalen Wirklichkeit und auch von der Schönheit dieser Erde mitbekomme, desto größer wird meine Lust, noch mehr zu sehen und zu verstehen, intensiver zuzuhören und unbekannten Menschen zu begegnen. Auch das ist ein Privileg meiner beruflichen Aufgabe und überhaupt der ökumenischen Zusammenarbeit: Dass man am Frankfurter Flughafen in einen Flieger steigt und 24 Stunden später in irgendeinem Slum auf dieser Welt unterwegs ist, wo keine weiße Frau jemals hinkommen würde ohne die internationalen ökumenischen Partner, die dort jeden Tag tätig sind, die die Umgebung kennen und die den Menschen verbunden sind. Würden diese Menschen mich nicht an die Hand nehmen und mit mir ihre Sicht der Wirklichkeit teilen, wüsste ich so viel weniger von dieser Welt!

Aber ist diese Wirklichkeit nicht auch oft schrecklich?

Ja, ich bekomme manchmal auch schreckliche Realitäten zu sehen. Aber ich verfolge nicht nur Berichte im Internet oder lese einen anonymen Menschenrechtsbericht, sondern treffe bei meinen Reisen junge und alte Menschen vor Ort. Ich kann fragen und mit ihnen reden. Unsere einheimischen Partner genießen das Vertrauen dieser Menschen. Ich komme zwar als Fremde, aber werde nicht als Outsiderin behandelt, sondern sehr gastfreundlich aufgenommen. Das ist ein unglaubliches Geschenk! Solche Begegnungen haben einen völlig anderen Charakter als eine touristische Reise. Die Lebenswirklichkeiten der Menschen wahrzunehmen, ist oft erschütternd. Dass Menschen unter solch schwierigen, oft auch menschenverachtenden Bedingungen ihr Leben meistern, erfüllt mich mit großem Respekt. So lerne ich wirtschaftliche und soziale Realitäten eben nicht nur auf die sichere Distanz kennen, sondern durch einen echten Kontakt oder ein persönliches Gespräch. Wie wenig selbstverständlich solche Begegnungen sind, ist mir vor Jahren einmal in Indien aufgefallen: Ich war mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst in ganz entlegenen Dörfern unterwegs, um das Engagement besonders von indischen Frauen für sehr einfache Klimaschutzprojekte kennenzulernen. Später habe ich darüber mit indischen Freundinnen und Freunden gesprochen, die von dieser Seite Indiens überhaupt nichts wussten. Sie waren im großstädtischen Mittelschichts-Indien zuhause und hatten von der brutalen Wirklichkeit und der Armut ihres riesigen Landes nie etwas mit eigenen Augen gesehen. Man kann im gleichen Land in so unterschied­lichen Welten leben – auch in Deutschland übrigens! Aber dass ich miterleben darf, wie Frauen unter den brutalsten Bedingungen versuchen, einen geschützten Raum für ihre Kinder und Familien zu schaffen, das berührt mich sehr. Die Dankbarkeit, hier in Deutschland leben zu dürfen, aber auch der tiefe Respekt vor den Menschen, die ihr Leben unter widrigen Bedingungen meistern, gehören für mich zusammen.

Kommen Sie sich da manchmal sehr „deutsch“ vor?

Ich bin jedenfalls kaum in der Lage, die bei mir immer mitlaufende Reflexionsebene ganz abzuschalten. [lacht] Der On-Off-Schalter fehlt da bei mir. Ich bin mit Haut und Haaren bei den Menschen vor Ort, weit weg von zuhause, aber es läuft bei mir fast immer auch eine analytische Bemühung ab. Ich versuche Zusammenhänge, Abhängigkeiten oder Interessen zu verstehen, hinter die Fassade zu blicken. Ich vermute, das ist etwas Westliches, vielleicht auch gar nicht einmal nur etwas Deutsches, dass wir Menschen der ersten Welt ganz viel über den Kopf zu klären versuchen. Ich halte emotional aber auch deshalb innerlich Abstand, weil ich manche Erlebnisse sonst nicht aushalten könnte. Das ist eine Übung, die ich noch aus meiner früheren Praxis als Notfallseelsorgerin kenne. Ich brauche ein gewisses Maß an professioneller Distanz, um einerseits gut arbeiten zu können und mich andererseits auch zu schützen. Sonst würde ich nachts nach Alpträumen stundenlang schlaflos im Bett sitzen. Dieser nötige Schutzabstand hat mir bisher dabei geholfen, psychisch gesund zu bleiben und dem Burnout zu entgehen. Ich hoffe aber, dass es mir dennoch gelingt, Menschen die Nähe und das Mitgefühl zu zeigen, die ich zutiefst empfinde.

Ist das ein bisschen wie das Gartentor, das Sie am Anfang beschrieben haben?

Ja, es ist eine Annäherung an die Wirklichkeit mit Abstand, aber mit durchlässiger Haut.

Wie gehen Sie um mit den Eindrücken?

Ich versuche zu sortieren und zu erzählen, bemühe mich, Menschen mit hinein zu nehmen in meine Erfahrungen und Fragen. Einerseits professionell, indem ich mit anderen Expertinnen und Fachleuten Fakten und Einsichten auswerte und daran im Team weiter­arbeite. Dinge, die mich wirklich belasten, versuche ich in der Supervision, die ich regelmäßig besuche, zu verarbeiten und dann hinter mir zu lassen. Einen großen Anteil aber nehme ich auch mit nach Hause. Das ist nicht nur belastend, es ist auch ein Reichtum, den ich mit meiner Familie und dem Freundeskreis teile.

Muss man sich eigentlich vorstellen, dass in Ihrem Haus alles voll ist von irgendwelchen Mitbringseln?

Nein, überhaupt nicht! Wir pflegen einen ziemlich klaren Stil, also auch eher westlich. [lacht] Es gibt einzelne Dinge, die mir wichtig sind, eine Ikone im Wohnzimmerregal oder eine afrikanische Maske. Aber unser Haus ist kein Museum.

Wo haben Sie sich am fremdesten gefühlt?

[überlegt] Vielleicht am Flughafen von Khartum, der Hauptstadt des Sudan. Das ist ein Wüstenflughafen, während des Hadsch ein muslimischer Pilgerflughafen, mitten im Sand. Damals flimmerte die Luft bei 47 Grad Hitze. Alle Frauen waren dunkel verschleiert bis auf einen schmalen Augenschlitz. Sie saßen auf dem Bo­den, es gab im ganzen internationalen Flug­ha­fen­­terminal nur wenige Stühle. Mittendrin stand ich als einzige Frau mit weißer Haut in westlicher Kleidung, unverschleiert. Da habe ich am schärfs­ten erlebt, was ich oft erfahre, wenn ich unterwegs bin: Wie anders und wie fremd man sich fühlen kann, wenn man nicht mehr selbstverständlicher Teil der Mehr­heits­be­völ­kerung ist, nicht mehr unauffällig mit­schwim­men kann im Schwarm. Der Sudan ist eines der Länder, in dem ich keinerlei sprachliche Annäherungsmöglichkeiten hatte, weil wirklich fast niemand Englisch spricht, natür­lich auch kein Deutsch, und ich nicht einmal die Schriftzeichen lesen konnte. Ich wusste, dass die Einzigen, die hier Deutsch verstehen, Geheim­dienstleute sind, die früher einmal in der DDR aus­gebildet wurden. [lacht] Das war eine ganz irritierende Situation, aber auch lehrreich. Seither sage ich mir oft: „Vergiss das nicht! Erinnere dich, wie es anderen Leuten geht, die in Deutschland ankommen und sich plötzlich in einer bedrohlich fremden Mehrheitsgesellschaft mit völlig neuen kulturellen Regeln zurecht­finden müssen!“

Welcher Reflex ist stärker: das Abgrenzen oder Anpassen­wollen?

Ich glaube, in einer so durch und durch patriarchalen islamischen Gesellschaft wie dem Sudan kann ich mich als europäische Frau nicht wirklich anpassen. Die Pfarrerinnen und Pfarrer im Ausland, die in Teheran, Dubai oder Beirut tätig sind, erzählen mir manchmal, wie sie über persönliche Beziehungen versuchen, die kulturelle Fremdheit zu knacken. Aber das geht bei meinen kurzen Besuchen von wenigen Tagen nicht. Natürlich versuche ich, über kirchliche und politische Repräsentanten oder zivilgesellschaftliche Akteure Brücken zu schlagen, um die Zusammenarbeit zu erleichtern. Aber mehr ist bei solchen Stippvisiten nicht möglich. Dafür müsste ich einen langen, mühsamen Weg des Kennenlernens und Verstehenlernens einschlagen und dort leben.

Sich für eine Zeit lang fremd zu bleiben, ist in Ordnung?

Für mich ist das die Realität. Es ist hilfreich, wenn ich das nicht nur theoretisch weiß, sondern am eigenen Leib erfahre. Das hilft mir, mich in Menschen hineinzuversetzen, die sich in meinen Augen hier in Deutschland auffällig oder ungewöhnlich, abweichend vom Mainstream verhalten. Ich nehme dann mit einem Mal wahr, wie unsicher und unwohl sich eine sudanesische Frau in der deutschen Öffentlichkeit fühlen mag, wenn sie nicht versteht, was um sie herum passiert. Diese Übersetzungsleistungen, sicher zuerst die der Sprache, dann aber auch die kulturellen und religiösen Übersetzungsleistungen, müssen wir noch sehr viel ernster nehmen, wenn wir über Integration und gesellschaft­lichen Frieden reden.

Fühlen Sie sich auch in Deutschland manchmal fremd?

Ich kann unsere selbstbezogenen kleinen Karos nur ganz schlecht ertragen. Natürlich bin ich privilegiert, weil ich bei der internationalen Arbeit mit vielen Leuten zu tun habe, die einen weiten Horizont haben und offen sind. Mit vielen kann ich politische und ökumenische Visionen teilen. Allzu homogene Milieus fallen mir dagegen zunehmend schwer. Da verspüre ich häufig den starken Impuls, ein Fenster aufzureißen, um ­frische Luft herein und den Blick in die Weite schweifen zu lassen. Wir sind eine satte Gesellschaft – das gilt natürlich nicht für alle Menschen in Deutschland –, deshalb werde ich oft ungeduldig und denke: Meine Güte, das kann doch nicht wirklich das Einzige sein, was ihr wahrnehmt und was euch interessiert, dieses kleine saturierte Leben. Ich beruhige mich allerdings immer schnell wieder. Doch je öfter ich sehe, unter welchen Bedingungen an anderen Orten Menschen ihr Leben meistern, desto öfter denke ich: „Mensch, Leute, wisst ihr eigentlich wie gut im weltweiten Maßstab wir es hier in Deutschland haben?!“

Und können Sie sich vorstellen, für immer ins Ausland zu gehen?

Nach dem Vikariat wollte ich gerne in der „United Church of Christ“ in den Vereinigten Staaten arbeiten, bin dann aber überraschend schwanger geworden. Dann konnten sie mich dort nicht mehr gut brauchen. Im Ruhestand will ich das nachholen. Da gibt es ja spannende Möglichkeiten: Vertretungsdienste, Vakanzen bei Auslandspfarrstellen oder in Partnerkirchen. Das lockt mich sehr!

Was wäre Ihr Wunschland?

Ich könnte es mir spannend vorstellen, nach Osteuropa zu gehen. Da kenne ich mich nicht gut aus.

Selbst mir, der ich ja erst 1986 geboren bin, versperrt der ­Eiserne Vorhang bis heute die Sicht.

Ja, die Lücken auf meiner inneren Landkarte sind auch groß. Ich kann die Landkarte im Osten noch immer sehr viel schlechter zeichnen als die im Westen, obwohl ich seit Jahren gezielt dorthin reise, um meine Lücken zu schließen.

Mir geht es schon mit Städten in Ostdeutschland so. Ich muss manchmal lange suchen, bis ich sie auf der Karte finde.

Wenn wir unsere jüngste Tochter in Regensburg be­suchen, fahren mein Mann und ich oft gezielt von dort weiter in irgendeine Stadt im Osten, um ein paar ­Lücken zu schließen und unser inneres Fotoalbum von Deutschland und Europa um diese Städtebilder zu ergänzen. Wie überraschend nahe sich geografisch Süddeutschland und Ostdeutschland sind! Ich kenne natür­lich vor allem den Westen durch die zwölf Jahre als Vizepräses in der rheinischen Kirche, die von Moers bis nach Saarbrücken reicht. Mich faszinieren immer noch die Dörfer im Hunsrück, am Niederrhein oder im Westerwald, die Kirchen, die Gemeinden und ihre Presbyterien. Das war ähnlich reizvoll und vielfältig wie jetzt die weite Welt zu bereisen. Das Rheinland ist so differenziert, so plural, so geprägt von lokalen Traditionen, speziellen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, aber auch von starken konfessionellen und ­religiösen Traditionen. Den Süden der Republik kenne ich auch halbwegs, den Norden lernen wir jetzt genauer kennen, seit wir in den Norden von Hannover gezogen sind. Den Osten aber haben wir uns gezielt vorgenommen. Spannend.

Fehlt Ihnen das Rheinland?

Ja, vor allem die rheinischen Menschen! Die unangestrengte Art, freundlich und heiter miteinander umzugehen, fehlt mir sehr, glücklicherweise lachen aber noch mehr Leute gern. Ich hatte vor kurzem eine Begegnung in der S-Bahn: Ich setzte mich neben eine ­ältere Dame, der übrige Waggon war leer. Da guckte sie mich irritiert an und murmelte: „Sie kommen aus dem Rheinland, oder?“ Ich fragte sie, was mich denn ver­raten hätte, und sie sagte: „In Hannover würde sich niemand neben mich setzen, wenn der restliche Waggon leer ist.“ Das fand ich witzig! Oder als wir frisch in unser kleines Dorf, nach Bissendorf, gezogen waren, haben wir alle Nachbarn die Straße rauf und runter zum Kaffee eingeladen, um uns vorzustellen und sie kennenzulernen. Da stellte sich heraus, dass viele schon 15 Jahre in der Nachbarschaft nebeneinander wohnten, sich aber noch nie von Angesicht zu Angesicht gesprochen hatten. Eine Nachbarin sagte: „Da müssen die Rheinländer kommen, damit wir mal Kaffee trinken!“ Diese lockere aufgeschlossene Art fehlt mir schon. Ich habe einige Jahre in einer Gemeinde in Düsseldorf gearbeitet und war viel im ganzen Rheinland unterwegs, als ich zur Kirchenleitung der rheinischen Landeskirche gehört habe, da habe ich dieses Lokalkolorit schätzen gelernt. Auch Wuppertal, wo ich vorher zwölf Jahre als Gemeindepfarrerin tätig war, ist eine weitgehend unterschätzte, lebensfrohe und wirklich interessante Stadt! Wuppertal ist bitterarm und hat gleichzeitig viel mehr Gemeinschaft und Zusammenhalt zu bieten, als ich in irgendeiner anderen deutschen Stadt erlebt habe. Musikalisch, kulturell – eine sagenhafte Lebendigkeit!

Ich finde, man merkt, die Stadt war einmal reich und davon ist noch viel übrig: Pina Bausch, das Tanztheater, die Jazz-Szene, die ganzen Cafés und der Zusammenhalt. Ich habe nie so schnell Anschluss gefunden wie in Wuppertal!

Wahrscheinlich haben Sie Bernd Köppen verpasst, der bis zu seinem Tod 2014 als Musiker in Elberfeld tätig war. Er steht im Jazzlexikon als einer der besten Jazz-Pianisten und Komponisten unserer Gegenwart. Sein Vater war Kirchmeister in der reformierten Gemeinde. Bernd war der Kirche immer lose verbunden und irgendwann hat er beschlossen, neben seinem internationalen Künstlerdasein in der Szene der neuen Musik unser Organist an der Sophienkirche zu werden. Das war so typisch Wuppertal! Man kann in der Avantgarde-Szene als gefeierter Weltmusiker unterwegs sein und gleichzeitig den Orgeldienst in einer normalen Gemeinde verrichten, allerdings einer wirklich lebendigen Gemeinde!

Zurück zur Heimat: Haben Sie ein Lieblingsvorurteil für die Deutschen?

Ganz witzig finde ich, dass wir so außerordentlich pünktlich sein sollen. Interkulturell ist das teilweise quietschkomisch. Oft sind es nämlich die Deutschen, die zu spät kommen. Das führt gleich doppelt zu Irritationen: Da hat jemand im Ausland gelernt, die Deutschen seien superpünktlich und müht sich selbst mit Pünktlichkeit ab und dann kommen prompt die Deutschen zu spät. Das ist im ökumenischen Kontext besonders ärgerlich, wenn Menschen von der Südhalbkugel sich anstrengen, unsere kulturellen Eigenheiten zu respektieren. Solche Sekundärtugenden sind unsere deutsche Stärke und unsere Schwäche. Wobei es andere Orte auf dieser Welt gibt, die uns um Längen schlagen! Wenn man beispielsweise aus Südkorea zurückkehrt nach Deutschland, kommt einem hier alles dreckig, herun­tergekommen und unorganisiert vor. [lacht]

Als ich über Deutschland nachgedacht habe, hatte ich auch den Bundesadler vor Augen und dann fiel mir die Fette Henne aus dem Bonner Bundestag ein. Welches der beiden Symbole, glauben Sie, steht eher für Deutschland?

Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich fand den Bundesadler immer hässlich. Doch zu Ostern waren mein Mann und ich in Südwestspanien im Urlaub, in der Extremadura an der portugiesischen Grenze. Ein sehr armes Gebiet, sozusagen das Sizilien Spaniens. In diesen riesigen Ebenen haben sich viele Adler und Geier niedergelassen, teilweise die größten verbliebenen Bestände der ganzen Welt. Atemberaubend! Seither denke ich über den Bundesadler ganz neu nach. Bisher war er für mich lediglich ein martialisches Machtsymbol. Aber als ich gesehen habe, wie Hunderte Geier ein verendetes Schaf zerlegt haben – da war ich völlig fasziniert von der Ästhetik. Ich wurde atemlose Zeugin einer mir bis dahin völlig unbekannten ökologischen Ästhetik. Selbst das absolut saubere Gerippe, das übrigblieb, hatte eine eigene morbide Schönheit.

Den mächtigen Iberischen Kaiseradler oder den kleinen Zwergadler durch das Fernglas wahrzunehmen als Teil eines feinziselierten ökologischen Systems, hat mich beeindruckt. Wenn also unser Bundesadler helfen würde, die Ökologie auf dieser Erde zu beflügeln, dann würde ich meinen Frieden mit ihm machen. Bei der Fetten Henne ist die Annäherung ja nicht so schwierig. Dieses flugunfähige Wesen ist sowieso nett, vermutlich kam sie dort in Bonn als Rheinländerin zur Welt.

Der Adler strahlt so viel Macht und Überheblichkeit aus.

Arroganz! Er wirkt autark oder vielleicht sogar autistisch. Sehr auf sich bezogen. Dabei sind Adler nicht immer alleine unterwegs. Ich will also den Adlern hiermit öffentlich Abbitte leisten! [lacht]