Göttin Artemis in jeder Frau - Vanessa Chakour - E-Book

Göttin Artemis in jeder Frau E-Book

Vanessa Chakour

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Beschreibung

Wir lieben unseren Garten, gehen zum Waldbaden, finden mehr und mehr Rückhalt und Stärkung in der Natur und ihrer Wildheit. Nur unsere eigene Wildheit halten wir gezähmt. In ihrem spirituellen Memoir und Ratgeber verknüpft die Autorin Vanessa Chakour ihre eigene, zum Teil dramatische, Geschichte mit einer Heilmethode, die uns durch die Welt der uns täglich umgebenden Pflanzen und Kräuter führt. Wir können uns die innere gezähmte Wildheit zurückerobern, indem wir uns mit der äußeren Wildnis verbinden. In einfachen Schritten zeigt die Autorin, wie die Verbindung mit den Pflanzen auch unsere menschlichen Bindungen stärkt, wie wir Notsituationen mit der Hilfe von Pflanzen lösen und im Umgang mit der Natur eine neue Achtsamkeit erfahren. So vermittelt die Autorin auf authentische Art, wie wir selbstbewusster und innerlich gestärkt das Leben in allen Facetten genießen können.

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Das Buch

In ihrem spirituellen Memoir und Ratgeber verknüpft die Autorin Vanessa Chakour ihre eigene Geschichte der Traumabewältigung mit einer Heilmethode, die uns durch die Welt der Pflanzen und Kräuter führt. Wir können unsere innere Wildheit zurückerobern, indem wir uns mit der äußeren Wildnis verbinden.

In einfachen Schritten zeigt die Autorin, wie die Verbindung mit den Pflanzen auch unsere menschlichen Bindungen stärkt, wie wir Notsituationen mit der Hilfe von Pflanzen lösen und im Umgang mit der Natur eine neue Achtsamkeit erfahren. Auf authentische Art vermittelt sie so, wie wir selbstbewusster und innerlich gestärkt das Leben genießen können.

Der Autor

VANESSACHAKOUR ist eine ehemalige Profiboxerin aus New York und arbeitet heute als Umweltaktivistin und Künstlerin. Sie gibt Workshops und Naturretreats zur Heilung mit der Kraft und der Hilfe von Pflanzen und Tieren. Dabei arbeitet sie in enger Abstimmung mit Wildlife-Organisationen zusammen. Als Sprecherin trat sie u. a. bereits vor der UNO und dem Muhammad Ali Center auf.

Vanessa Chakour

Göttin Artemisin jeder Frau

Entdecke deineinnere Wildheit mit derKraft der Natur

Aus dem Amerikanischenvon Thomas Görden

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Awakening Artemis: Deepening Intimacy with the Living Earth and Reclaiming Our Wild Nature bei Viking/Penguin Publishing Group/Penguin Random House LLC, NY, USA.

Dieses Buch ersetzt keinen Bestimmungsleitfaden oder eine professionelle Kräuter- oder Pilzberatung. Das Sammeln und der Verzehr von Pilzen und Pflanzen erfolgen auf eigene Gefahr. Ebenfalls stellt es keinen Ersatz für kompetenten medizinischen Rat dar. Alle Angaben in diesem Buch erfolgen daher ohne jegliche Gewährleistung oder Garantie seitens des Verlags oder der Autorin. Eine Haftung der Autorin bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschaden ist ausgeschlossen.

ISBN 978-3-8437-2512-5

Allegria ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

© der deutschen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022

© der Originalausgabe 2021 by Vanessa Chakour

Illustrationen im Innenteil: Vanessa Chakour

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotive: FinePic®, München

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
EINFÜHRUNG
TEIL I: DIE GEGENWART
BEIFUSS: Die innere Wildnis
EIBE: Zugehörigkeit
APFEL: Stammbaum
AUGENTROST: Wahrnehmung
ECHTER ALANT: Wege der Heilung
TEIL II: LIMINALE BEREICHE
GARTENKÜRBIS: Gestaltwandlung
KÖNIGSKERZE: Trösterin
BÜSCHELROSE: Grenzen
MARIENDISTEL: Metamorphose
GIFTSUMACH: Betreten verboten!
TEIL III: SONNENENERGIE
WEISSDORN: Liebhaber und Kämpfer
LÖWENZAHN: Bauchgefühl
MUSKATNUSS: Konsum
JOHANNISKRAUT: Ohne Fleiß kein Preis
GOLDRUTE: Erleuchtung
TEIL IV: IM UNTERGRUND
JAPANISCHER STAUDENKNÖTERICH: Vulkanischer Boden
HELMKRAUT: Tiefer Schlaf
GROSSE KLETTE: Tiefe
LINDE: Vergänglichkeit
AUFRECHTE WALDLILIE: Zerfall
TEIL V: DAS ZENTRUM
VIELBLÜTIGE WEISSWURZ: Ausdauer
CHAGA: Nähe
WIESENKLEE: Koexistenz
KIEFER: Allgegenwärtiger Frieden
TEIL VI: HERSTELLUNG VON PFLANZENARZNEIEN UND ANDERE PRAKTISCHE HINWEISE
DAS GANZHEITLICHE MODELL DER HEILUNG
SICH MIT DER NATUR ANFREUNDEN
WILDCRAFTING
INFORMATIONSQUELLEN
DANKSAGUNG
ENDNOTEN
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Gewidmet meinen liebenden Müttern, Andrea und Mutter Erde, die mich nähren, unterstützen und leiten. Und meinen wilden grünen Freunden, besonders den sogenannten Unkräutern, die mich zu mir selbst zurückgeführt und mir geholfen haben, Heilung zu erfahren. Mögen die Worte in diesem Buch Missverständnisse auflösen und Ihnen helfen, zur vollen Tiefe und Höhe Ihres Seins zu erwachen.

EINFÜHRUNG

Die Pforten zur Welt des Wilden Selbst sind rar, aber von hohem Wert. Wenn du eine tiefe Narbe zurückbehalten hast, dann ist das eine Tür. Wenn du eine ururalte Geschichte kennst, dann ist das eine Tür. Wenn du den Himmel und den Ozean so sehr liebst, daß es dir das Herz auseinander sprengt, dann ist das eine Tür. Wenn du dich nach einem tieferen Leben, einem vor Fülle berstenden Leben sehnst, ist das eine Tür.

Clarissa Pinkola Estés: Die Wolfsfrau1

Geschichten sind lebendig. Wir hauchen ihnen Leben ein, jedes Mal, wenn wir sie erzählen. Jedes Mal, wenn wir sie hören, gewinnen wir neue Einsichten. Uralte Mythen stehen im Einklang mit unserem Bedürfnis nach Verbundenheit, dem Bedürfnis, andere an unserem Leid teilhaben zu lassen. Sie geben uns Hoffnung und helfen uns, unseren moralischen Kompass auszurichten. Wenn wir sie von Generation zu Generation weitergeben, entwickeln sie sich weiter – in variantenreichen Formen und Neuerzählungen. In verschiedenen Kulturen werden traditionelle Geschichten wieder aufgegriffen. Das spiegelt die Tatsache wider, dass es Orte gibt – in uns und außerhalb von uns –, die es verdienen, dass wir sie schützen, heiligen und ihrer gedenken.

Artemis ist die griechische Mondgöttin: eine wilde Frau, Ökokriegerin und Aktivistin, die durch die mythische Kraft des Erzählens die Jahrhunderte überdauert. Sie ist eine höchst unabhängige Frau, die mit Pfeil und Bogen und ihren Tiergefährten durch Berge, Wälder und Sümpfe streift. Sie ist Hüterin der Frauen, der Tiere, der wilden Natur und der Jugend und sinnt auf Rache an denjenigen, die das heilige Leben verletzen, das sich in ihrer Obhut befindet. Diejenigen, die an die Göttin glauben, würden es nicht wagen, das unter ihrer Aufsicht stehende Land zu verletzen. Daher standen die wilden Heiligtümer der Artemis im alten Griechenland unter Schutz. Selbst als die Frauen und die Erde zum Schweigen gebracht, unterdrückt und missbraucht wurden, blieb die Geschichte der Artemis bestehen und hat sich sogar noch intensiviert. Sie ist für Frauen eine Beschützerin und ein heiliger Kriegerinnen-Archetyp. Jeder neuen, nach Weisheit strebenden Generation bietet Artemis, die Heldin, neue Facetten, die es verschiedenen Kulturen ermöglicht, Heiligkeit zu feiern und wertzuschätzen.

Zwar hat uns die Wissenschaft Klarheit und Informationen von unschätzbarem Wert gebracht. Jedoch brachte ihre kritische Perspektive auch viele unserer erdgebundenen Kosmologien zum Schweigen. Die Natur wurde klassifiziert, objektiviert und seziert. Wir haben ihre Bestandteile unter dem Mikroskop untersucht und darüber vergessen, einen Schritt zurückzutreten, um die Natur als einheitliches, lebendiges Ganzes zu verstehen, sie zu bewundern und zu versuchen, uns mit ihr zu verbinden. Glücklicherweise entwickelt sich die Wissenschaft weiter und erkennt das unglaubliche Empfindungsvermögen der natürlichen Welt. In dem Maße, wie sich die Methoden und der Fokus der Wissenschaft ändern, stimmen die von uns aufgedeckten Wahrheiten mehr und mehr mit den traditionellen Geschichten und der Weisheit der Ureinwohner und Ahnen überein – einem Schatz an Weisheit, die immer schon wusste, dass die Natur empfindungsfähig und lebendig ist und dass wir mit ihr untrennbar verbunden sind.

Es hat mich schon immer zu wilden Orten draußen in der Natur hingezogen. Indem ich mich auf Artemis’ Spuren begab, wurde ich eine Verteidigerin der Natur, der Frauen und unserer Verwandten in der Tierwelt. Mein Lebenswerk ist eine Hommage an missverstandene Arten wie Wölfe und andere Bewahrer unseres Ökosystems sowie an die wichtigen Wildblumen, die wir Unkraut nennen. Geschichten wie die vom großen bösen Wolf, der Irrglaube, der Löwenzahn sei invasiv, und der Mythos von der Überlegenheit des Menschen über die Natur haben sich in unserer kollektiven Vorstellung festgesetzt, als die Menschen sich der Landwirtschaft zuwandten, begannen, das Land zu domestizieren, und ihren nahen Kontakt zur Wildnis verloren. Es ist so viel einfacher, das, was wir zerstören, als »anders« zu betrachten. Heute wissen wir allerdings, dass Geschichten von der Überlegenheit des Menschen gegenüber der freien Natur nur den Irrglauben einer Trennung aufrechterhalten und damit großen Schaden angerichtet haben. Es gilt nun, diese Geschichten abzuschälen und zu schauen, was darunter zum Vorschein kommt.

Unsere Körper sind lebende Ökosysteme, in denen sich die Zyklen der Natur widerspiegeln. Auch wir erleben in uns Ebbe und Flut, gehen rückwärts und vorwärts, schrumpfen und dehnen uns aus und durchlaufen notwendige Phasen von Wachstum, Tod und Wiederherstellung. Im Gegensatz zu dem, was wir vielleicht glauben möchten, ist Heilung kein linearer Prozess, sondern eine fortlaufende Spirale hinein in unterirdische Räume der Dunkelheit, wo wir uns dem Unbekannten stellen müssen. Dort können wir uns ausruhen, regenerieren und uns schließlich zu neuer Blüte entfalten. Wir mögen uns gegen die dunklen Räume in uns wehren, aber die Wahrheit ist, dass der größte Teil unserer Heilung und unseres Wachstums unter der Erde und unter unserer Haut stattfindet. Wir brauchen dunkle, geschützte Räume, damit sich die zartesten Teile von uns ausbilden können. Ruhe und Rückzug sind ebenso notwendig wie durch das Licht entstehende Wärme und Helligkeit.

Durch meine Arbeit mit den Pflanzen und Praktiken, die ich in diesem Buch vorstelle, habe ich meine eigenen Geschichten immer wieder neu geschrieben, blinde Flecken aufgedeckt und mich in mich hineingewunden, um alte Häute abzuwerfen, mich mit Schatten zu konfrontieren und mehr die Person zu werden, die ich schon immer war. Pflanzen traten als Medizin in mein Leben, aber die wirkliche Transformation fand statt, als ich erkannte, dass ich in ihnen großartige Verbündete und Heiler um mich habe. Überall fand ich Kräuter, seltsame und wundersame Pilze und Bäume mit reichen, Familiengenerationen umspannenden Geschichten und wichtigen Rollen in unserer Umwelt. Als ich begann, diese komplexe belebte Welt zu begreifen, verstand ich auf körperlich erfahrbare Weise das riesige Netz des Lebens, dessen Teil ich bin. Ich war voller Ehrfurcht und fühlte den starken Drang, dieses Wunder mit anderen zu teilen. Ich begann, meinen Freunden, meiner Familie und schließlich auch den Schülern, die ich unterrichtete, Pflanzen, Bäume und Pilze wieder nahezubringen. Ich wies sie auf Heilpflanzen wie Beifuß, Löwenzahn, Wiesenklee, Klette, Augentrost und Kiefer hin und forderte meine Verwandten auf, hinzusehen – wirklich hinzusehen – und zu hören, wer diese Pflanzen sind. Ich ging bei Kräuterkundigen in die Lehre, lernte ständig dazu, leitete Pflanzenwanderungen und Rewilding Retreats. Ich begann, das uralte Heilwissen früherer Generationen auszugraben, das in meiner Familie vor sich hin schlummerte. Ich grabe immer noch, forsche, lerne und werde immer aufmerksamer für den Reichtum der Natur.

Unsere anthropozentrische Kultur macht uns glauben, wir wären anders als der Rest der Natur und von ihr getrennt. Mit dieser Denkweise sollten die Anhäufung von vermeintlichem Reichtum, die Ungerechtigkeiten der Kolonialisierung, eine hierarchische Machtordnung und patriarchalische religiöse Dogmen gerechtfertigt werden. Aber diese grundlegende Vorstellung von Hierarchie und Unterscheidung entspricht nicht der Wahrheit. Wir sind weder von der Natur getrennt, noch existieren wir außerhalb der natürlichen Welt. In der Tat sind wir untrennbar mit den Pflanzen, Vögeln, Fischen, Füchsen, Wölfen und Pilzen verbunden, mit denen wir Ökosysteme teilen, intellektuelle Ideen austauschen und auf die wir für unser Überleben angewiesen sind. Ich glaube, dass die Menschen als ökologische Hüterinnen und Hüter geboren wurden, aber viele von uns diese tiefere Bestimmung vergessen haben. Man hat uns beigebracht, unsere Instinkte zu ignorieren, wir sind desensibilisiert und domestiziert worden. Wir vergiften das Land, um vermeintliche Unkräuter loszuwerden, die uns helfen könnten, heil und gesund zu werden. Wir versuchen, zu kontrollieren und einzuhegen, was immerfort nach Freiheit streben wird. Wir verschwenden unsere Energie für einen aussichtslosen Kampf, wo wir stattdessen für die Wunder und die Kraft erwachen könnten, die auf uns warten. Wenn wir uns an unsere Verwandtschaft mit den Pflanzen und Tieren erinnern, können wir fürsorgliche Beschützer des Landes werden. Die indigenen Völker auf der ganzen Welt machen das bis heute so, trotz der Gewalt, Zerstörung und Korruption, die sie durch Kolonialisierung erdulden mussten. Wenn wir ihrem Beispiel folgen, nähren wir den Reichtum, der bereits da ist und der nur noch gesehen und geehrt werden muss.

Wahre Fülle ist kein Reichtum, den man erwerben kann, sondern sie ist unendlicher Frieden, Weisheit und Stabilität. Sie erwächst aus dem Wissen, dass die wertvollsten Aspekte des Lebens bereits unter unseren Füßen sprießen, durch das Wasser fließen, über uns durch die Lüfte fliegen und geduldig in unserem Körper darauf warten, sich zu offenbaren. Die Vertrautheit mit der inneren und äußeren Wildnis schenkt uns ein tiefes Gefühl der Zugehörigkeit, das uns nichts und niemand jemals nehmen kann – kein Lebensereignis, kein verlorener Job und keine schlechte Note. Je schneller wir begreifen, dass wir Natur sind, und untrennbar mit dem Lebensnetz verbunden, desto besser geht es uns als Individuen und desto besser geht es unserem gemeinsamen Zuhause, unserem Planeten. Das Wissen, das wir brauchen, um diese Welt zu heilen, besteht nicht in noch mehr Statistiken und Untergangsszenarien, sondern in Kenntnissen über unsere gegenseitige Verbundenheit und über Praktiken, die uns entschleunigen und die Symbiose mit der natürlichen Welt stärken. Wenn wir realisieren, wie unglaublich großzügig Mutter Erde und unsere Körper sind, und wenn wir die ehrfurchtgebietenden Geschöpfe, mit denen wir verwandt sind, wirklich wahrnehmen, können wir, so glaube ich, gar nicht anders, als uns zu verlieben. Und wenn wir uns verlieben, werden wir wie Artemis zu Beschützerinnen und Verteidigern.

In diesem Buch zeige ich Ihnen, wie die Pflanzen und bestimmte Übungen im Bereich Bewegung, Meditation und kreative Erkundung mich nach Hause geführt haben – an einen Ort der Zugehörigkeit. In den ersten fünf Kapiteln beschreibe ich meine Initiation auf dem Weg der ganzheitlichen Heilung und vermittle den Kontext für die folgenden Abschnitte, die von meiner Kindheit bis in meine Gegenwart reichen. Diese spiegeln sich in den Jahreszeiten wider sowie in der Art und Weise, wie ein Samenkorn dazu angetrieben wird, aus seiner Schale auszubrechen und durch die Erde bis an die Oberfläche vorzudringen. Die fünf Teile des Buches beschreiben die nach innen gerichtete Spirale der Heilung, Wiederherstellung, Verarbeitung von Traumata und Anerkennung der Geschenke, die uns die Gegenwart gibt. Ich berichte Ihnen von diesen Pflanzen, meinen Entdeckungen und meiner eigenen Geschichte in der Hoffnung, dass Sie vielleicht etwas von sich darin wiedererkennen und dazu inspiriert werden, sich für die heilige Beziehung zu Ihrem weisen, schönen Körper und der unglaublich lebendigen Welt zu öffnen. Wir müssen nicht erst eine Verbindung zur Erde entwickeln, wir müssen lediglich die Verbindung, die bereits besteht, anerkennen und uns an sie erinnern.

Es ist nie zu spät, Ihre wilde Natur wiederzugewinnen.

Das Land kennt uns, selbst wenn wir verloren sind.

Robin Wall Kimmerer:

Geflochtenes Süssgras2

TEIL I

DIE GEGENWART

Die Gegenwart entfaltet sich unaufhörlich. Sie wird von Augenblick zu Augenblick überarbeitet, obwohl wir manchmal nicht in der Lage sind, ihre Kraft zu erfahren. Vielleicht leben wir in der Vergangenheit, lecken alte Wunden, projizieren uns in die Zukunft, umkreisen unser Leben oder sind einfach zu beschäftigt. Doch manchmal werden wir wachgerüttelt. Liebe, eine Tragödie, ein atemberaubender Sonnenaufgang oder der Duft einer Blume können uns dazu bringen, innezuhalten, zu atmen, uns in unseren Körper fallen zu lassen und aufmerksam zu sein. In diesen entscheidenden Momenten gibt es eine Lücke, in der wir vom Verkehr auf den gepflasterten Weg abweichen und uns in Richtung des Unbekannten bewegen können, wo Wunder und Heilung auf uns warten.

Beifuß

Artemisia vulgaris

Familie: Asteraceae

Der botanische Name des Beifußes ehrt die griechische Göttin Artemis, die Jägerin, die sich an denen rächte, die Tiere oder Frauen schlecht behandeln, und die die Gesellschaft von Waldtieren und Pflanzen den Menschen vorzog. Für viele Kräuterkundige konzentrieren sich starker Schutz und die göttliche Präsenz der Artemis in den Wurzeln, Blättern und Stängeln dieser fruchtbaren Pflanze.

Beifuß ist ein Bitterstoff, ein Nervenmittel, ein Emmenagogum und starkes Onregium. Als Bitterstoff regt Beifuß die Galle in unserem Verdauungssystem an und hilft uns, Nahrung, Emotionen und Erfahrungen zu verarbeiten, um Nährstoffe aufzunehmen und loszulassen, was uns nicht nützt. Als Nervenmittel saniert Beifuß ausgefranste Verschaltungen in unserem Körper, unsere überreizten Nerven. Es hilft uns, auf Stress mit mehr Ruhe und Präsenz zu reagieren. Als Emmenagogum lindert der Beifuß die Schmerzen bei der Geburt und fördert die Menstruation bei ausbleibenden Blutungen. Und als starkes Onregium lässt er uns nachts mehr und intensiver träumen. So hilft uns der Beifuß, in unseren Traumwelten unser Unterbewusstsein zum Vorschein kommen zu lassen. Somit können wir erkennen, was es in uns zu heilen gilt. Als eine meiner ersten pflanzlichen Verbündeten auf dem Weg zur Kräuterkundigen hat mir Artemisia vulgaris geholfen, Grenzen zu wahren und mit der Freilegung tiefer Wunden bittere Erfahrungen zu verarbeiten.

DIE INNERE WILDNIS

So wie sich eine Schlange häutet, müssen wir unsere Vergangenheit immer wieder abstreifen.

Buddha

Ich fahre mit den Fingern über die silbrige Rückseite der Beifußblätter, während die Wölfe heulen. Es ist Ende September, Erntezeit, und das naturbelassene Land im Wolf Conservation Center in South Salem, New York, ist üppig mit hohen Stauden, blühender Goldrute und Teppichen aus verschiedenen Bodendeckern bewachsen. Die Stunden vergehen wie im Flug, während ich Studien über die einzigartigen Formen, Strukturen und Farben der Pflanzen betreibe – unter anderem Vogelmiere, Veilchen, Beifuß, Lobelien, Kletten und verworrene Königskerzenblätter, deren Haare sie wie die Flimmerhärchen in unserem Atmungssystem vor rauen und austrocknenden Winden schützen. Das Studium und die Praxis der Kräuterkunde haben einen Schleier gelüftet, der sich zwischen mir und der natürlichen Welt befand. Was früher für mich wie grüne Flecken in der Landschaft aussah, erlebe ich jetzt als lebendig, beseelt und voller Wunder. Während ich dort zwischen den Pflanzen hocke, nehme ich ein Beifußblatt in den Mund, um die vertraute Bitterkeit der speerartigen Blätter zu kosten. Diese wilde Pflanze gedeiht gut bei den Wölfen. Sie bewacht wie Artemis die Grenze zwischen der freien Natur und der domestizierten Welt. Ich atme im Austausch mit den Pflanzen und bin dankbar für alles, was sie zu meiner Heilung beigetragen haben.

Die ersten zwanzig Jahre meines Lebens war das Atmen für mich ein Kampf. Seit man bei mir im Alter von zwei Jahren schweres Asthma diagnostiziert hatte, lernte ich, dass meine Lunge schwach und unberechenbar sei. Meinen Rettungsanker, den Inhalator, trug ich immer bei mir. Wenn ich ihn nicht finden konnte, geriet ich in Panik. Als würde ich eine illegale Droge nehmen, schlich ich mich in Toiletten oder dunkle Ecken, um meine lebensrettenden Inhalationen zu nehmen, wenn sich bei Freunden meine Bronchien verkrampften. Es war mir peinlich, so kaputt zu sein. Ich bekam eine tägliche Dosis Tabletten, wöchentliche Spritzen, unternahm monatliche Besuche bei einem Spezialisten und bekam häufige Behandlungen zu Hause durch meine Mutter, wenn ich mitten in der Nacht keuchend aufwachte. Sie verwandelte unser Badezimmer in ein Dampfbad, klopfte mir auf den Rücken, um den Schleim zu lösen, und saß mit mir zusammen, bis wir beide erschöpft waren, aber ich wieder atmen konnte. Nacht für Nacht schlief ich ein und lauschte dem beruhigenden Klang ihrer Stimme, die sagte: »Es ist in Ordnung, Schatz, du wirst das durchstehen.«

Da ich wochen- und manchmal monatelang in der Schule fehlte, fing ich an, mich allein wohler zu fühlen als in Gesellschaft. Ich genoss es sogar. Mit einem Stück Papier und einem Stift tauchte ich in imaginäre Welten ein, wo Pilzzwerge und weise alte Bäume meine Schmerzen linderten.

Bis zu meinem zwölften Lebensjahr lebten wir in einem grünen Doppelhaus in Western Massachusetts mit zwei heiß geliebten Hunden – einem Neufundländer und einem Terrier. Das Mill-River-Naturschutzgebiet lag gleich hinter unserem Garten. Wilde Himbeersträucher säumten den Waldrand, und am anderen Ende führte ein schmaler Pfad durch das dichte Dornengestrüpp in eine Welt voller Waldwege, Bäche und geheimnisvoller Geschöpfe. Möglichst jeden Tag spazierte ich in diesen Wald, lauschte dem Bach und suchte nach Hinweisen auf eine mystische Welt, die zum Greifen nah und doch unerreichbar schien.

In der Abenddämmerung rief ich mit hohen Klick- und Quietschlauten die Fledermäuse, die in der Nähe lebten. Dann segelten sie herab und kreisten über mir. Wer weiß, wie ich auf die Idee kam, Fledermäuse zu rufen, aber in meinem Herzen gab es schon immer einen besonderen Platz für die Grenzbereiche unseres Daseins und missverstandene Lebewesen. Im Sommer drehte ich meine Runden entlang des Waldrandes und pflückte reife Himbeeren, und im Herbst vergrub ich mich in den feurigen Farben der gefallenen Blätter. In dieser frühen Phase meiner Kindheit war ich nie einsam, weil es draußen in der Natur so viel gab, womit ich mich anfreundete.

Damals wusste ich noch nicht, dass in den Wäldern von Western Massachusetts Beifuß wächst. Erst später in New York, in Brooklyn, ergab es sich, dass ich mit dieser wilden bitteren Medizin zu arbeiten begann, fünfzehn Jahre nach einem schrecklichen Autounfall, den ich während meiner Highschool-Zeit erlitt. Als meine Wirbelsäule und mein Genick bei dem Unfall brachen, war es, als ob auch in mir etwas aufbrach. Das Trauma, das ich während meiner Kindheit unbewusst in meinen Körper eingeschlossen hatte, wurde plötzlich freigesetzt. Fünfzehn Jahre später, als ich dann in Brooklyn den Beifuß entdeckte, gab es in mir immer noch viel, das geheilt werden musste.

Ende Oktober, zu Beginn meines dritten Highschool-Jahres, war ich mit Ian, meiner Highschool-Liebe, und meiner besten Freundin Tonya auf dem Weg zu einer Party in den Hinterwäldern von Belchertown. Ian saß am Steuer, und ich saß dicht an ihn angelehnt auf dem Beifahrersitz. Ich drehte mich um, um mit Tonya zu sprechen. Wir fuhren hinter einem Freund her, dessen Rücklichter wir auf der dunklen Landstraße immer wieder aus dem Blick verloren. Es fing an zu regnen. Ian beschleunigte, um immer wieder zu dem Wohnmobil unserer Freunde aufzuschließen, als sich der Regen zu einem sintflutartigen Wolkenbruch entwickelte. In den Wassermassen sah man nicht mehr, wohin wir fuhren, und plötzlich riss Ian das Lenkrad des Autos herum, um nicht in die Böschung zu fahren. Dabei kam der Wagen auf dem nassen Herbstlaub ins Schleudern und überschlug sich. Ich selbst kann mich daran nicht erinnern. Aber Tonya sagte mir, dass sie sich an den Augenblick erinnerte, in dem es geschah: »Ich schaute auf und sah nur einen Baum, der auf uns zuraste.«

Sie wurde durch den Aufprall bewusstlos. Als sie langsam aufwachte, hörte sie, wie Ian erst zaghaft, dann immer eindringlicher rief: »Steigt aus! Das Auto fliegt in die Luft!« Sie versuchte, mich wieder zu Bewusstsein zu bringen, aber es gelang ihr nicht. Ich war neben ihr auf den Rücksitz geschleudert worden. Dort lag ich kopfüber und bewusstlos, in einem Auto, das jetzt wie eine zerquetschte Blechdose aussah. Rauch stieg auf, und sie wusste, dass sie mich herausholen musste. Tonya erzählte mir später, dass sie Angst hatte, bei mir eine Lähmung zu verursachen, als sie mich bewegte.

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, war mir erst, als würde ich meinen Körper aus großer Höhe sehen. Ich sah mich an ein Polizeiauto angelehnt. Sie stellten mir Fragen, und obwohl ich sprechen konnte, erinnerte ich mich nicht an meinen Namen, wer ich war, wo ich wohnte, an gar nichts. Ich fühlte, wie mein Bewusstsein mal da und mal weg war, und ich nahm meinen Körper mal von innen und mal von außen wahr. Das ging so, bis ich mich schließlich im Krankenhaus wiederfand, wo ich an Maschinen angeschlossen war, in das grelle Licht von Neonröhren blinzelte und nach oben starrte, während besorgte Gesichter auf mich herabblickten. Diese Szene war mir nach all den Krankenhausaufenthalten wegen meines Asthmas keinesfalls unvertraut. Dieses Mal war es jedoch anders. Es hatte mich aus meinem Körper herausgeschleudert. Als ich in ihn zurückkehrte, war dieser Körper beschädigt. An drei Stellen war meine Wirbelsäule gebrochen. Ian und Tonya verließen in dieser Nacht das Krankenhaus. Sie hatten Glassplitter in der Kopfhaut und eine Reihe von Prellungen, aber ansonsten ging es ihnen gut. Ich hingegen hatte eine längere Reise vor mir.

Die Wochen im Krankenhaus erlebte ich in einem von den Medikamenten verursachten Nebel. Sie schnallten mich im Bett fest, bevor sie mir eine Glasfaser-Rückenstütze verpassten, weil sie befürchteten, dass sich die Brüche verschlimmern würden, wenn ich mich auch nur ein bisschen bewegte. Also lag ich wie erstarrt da. Obwohl ich wusste, dass ich nahezu gelähmt war, fürchtete ich vor allem eines: während meines Krankenhausaufenthalts und meiner Genesung dick zu werden. Laut Tonya versuchten sie, mich mit einer Magensonde zwangszuernähren, weil ich mich weigerte zu essen. Daran kann ich mich gar nicht erinnern. In jener Zeit war ich gut im Vergessen.

* * *

Meine fleischigen weiblichen Rundungen zeigten sich bereits im Alter von elf Jahren, und ich hatte den unwillkürlichen Drang, diese so weit wie möglich abzuflachen. Mein neuer Körper war eine Landschaft, die sich meiner Kontrolle zu entziehen schien. Sie bescherte mir die falsche Art von Aufmerksamkeit. Ich reagierte überempfindlich auf die Blicke älterer Männer, die in mir emotionale Unruhe triggerten. Ich hasste diese Männer und wollte um mich schlagen, aber stattdessen lenkte ich meine Wut nach innen. Im Alter von vierzehn Jahren beschloss ich, meinen Körper zu zähmen. Mein stärkster Impuls, den ich selbst kontrollieren konnte, war mein Hunger. Ich richtete meine Tage erfolgreich darauf aus, Essen zu vermeiden, und war besessen von den sorgfältig zusammengestellten »Mahlzeiten«, die ich zu mir nahm. Wenn ich nachts wach lag, erstellte ich Listen und zählte Kalorien: der Apfel, 100 Kalorien, ein Viertel von einem Kleie-Muffin, 75, die Erdbeermarmelade auf dem Muffin, 30, der Salat mit Essig, etwa 175 … Hunger zu leugnen, ist sehr ablenkend, und jeden Tag das intensive Verlangen nach Essen zu überwinden, erfüllte mich mit einem verdrehten Gefühl, das ich für Stärke hielt. Irgendwie fühlte ich mich sicherer, wenn ich die feste Struktur meiner Knochen dicht unter meiner Haut spüren konnte.

* * *

In dem Buch Die Wolfsfrau. Die Kraft der weiblichen Urinstinkte der Jung'schen Psychoanalytikerin Clarissa Pinkola Estés gibt es die Geschichte von La Loba,1 einer alten Frau, die an einem verborgenen Ort lebt, den »alle kennen, der aber nur wenigen Menschen zugänglich ist«. Diese Geschichte trägt sich in den Wüsten und Bergen Nordmexikos zu. La Loba sammelt das, von dem sie glaubt, es enthalte die unzerstörbare Kraft aller Tiere – die Knochen. Tag für Tag streift sie durch die Landschaft, um nach Schädeln, Gliedmaßen, Rippen, Wirbeln und Klauen zu stöbern. In ihrer Höhle sind die Überreste aller möglichen Tiere angehäuft. Am liebsten aber mag sie Wolfsknochen. An bestimmten Tagen, wenn alle nötigen Teile zusammengetragen sind, der Mond voll am Himmel steht und der Wind günstig ist, zieht sich La Loba tief in ihre Höhle zurück und macht sich an die Arbeit. Sie setzt Skelette zusammen. Besonders wichtig ist das Lied, mit dem sie ihr Werk begleitet: ein uraltes, gutturales Heulen, mit dem sie das Fleisch zurück auf die Knochen singt. Während sie singt, bildet sich auf Rippen, Gliedmaßen, Schädel und Wirbelsäule des Tieres neues Fleisch. Der Körper nimmt Gestalt an – es entsteht eine Wölfin mit dichtem Fell. Ihr Schwanz zuckt, die Wölfin beginnt zu atmen. Mit einem Mal erzittert der Boden, und das Tier öffnet die Augen. Die Wölfin lässt die Dunkelheit der Höhle hinter sich und rennt hinaus in die endlose Weite der Wildnis. Sie läuft dem Horizont entgegen und verwandelt sich in eine lachende Frau – ungezähmt und frei, mit vollkommen erwachten animalischen Instinkten.

* * *

Als ich in meiner Rücken- und Halsstütze aus Glasfaser wieder nach Hause durfte, bewegte ich mich nur langsam und zaghaft. Wenn ich mich aufsetzen oder aufstehen wollte, war ich auf die Hilfe anderer angewiesen. Ich fühlte mich wie ein schlecht funktionierender Roboter – steif und mit einer Außenhülle aus Plastik. Besorgte Freunde und Verwandte taten sich zusammen und kochten Essen, um mir zu helfen. Zur Befriedigung meiner Grundbedürfnisse war ich von anderen abhängig und damit nun zum Essen gezwungen. Die Nahrungsaufnahme löste in mir unangenehme Gefühle aus. Ich lebte in einem Zustand intensiven unterschwelligen Unwohlseins.

Unfähig mich zu bewegen oder abzulenken, stiegen Erinnerungen an sexuelle Übergriffe in mir hoch, die ich verdrängt hatte, indem ich mich auf die Ablehnung meines Hungers fixierte und mich mit meiner jungen Liebe zu Ian ablenkte. Doch meine Albträume waren brutal. Nacht für Nacht stellten mir Männer nach, von denen ich gedacht hatte, ich könnte ihnen vertrauen. Die Erinnerungen kehrten zurück. Die Macht dieser Erinnerungen war entsetzlich. Ich wandte mich der Kunst zu – sie empfand ich instinktiv als meinen Weg der Befreiung. Und so schrieb und zeichnete ich, um die Flutwellen loszuwerden, die mich durchströmten. Ich konnte die Worte und Bilder gar nicht schnell genug zu Papier bringen. Mein inneres Ökosystem war bis ins Mark erschüttert. Ich ließ jetzt alles heraus und versuchte, mich davon zu lösen – hatte aber keine Ahnung, wohin mit all diesem Schmerz. Der Schmerz meiner gebrochenen Knochen war nichts im Vergleich zu der Wucht der Erinnerungen, in deren Kielwasser Scham und Selbsthass an die Oberfläche stiegen. Dadurch, dass ich die traumatischen Erfahrungen so tief in mir vergraben hatte, waren ihre Wunden noch tückischer geworden. Der Traumatherapeut Dr. Peter Levine schreibt: »Trauma ist nicht das, was uns passiert, sondern das, was wir in der Abwesenheit eines empathischen Zeugen in uns festhalten.«2 Vielleicht wäre diese Konfrontation mit meinen Erlebnissen nicht mit solcher Wucht über mich hereingebrochen, wenn ich in der Lage gewesen wäre, über den Missbrauch zu sprechen, statt ihn sogar vor mir selbst zu verheimlichen. Ich hatte getan, was mein junger Verstand für sicher und richtig gehalten hatte. Ich hatte geglaubt, das Schreckliche würde verschwinden, wenn ich nicht darüber sprach.

* * *

Wochenlang kam jeden Abend jemand vorbei und brachte ein köstliches, selbst gekochtes Abendessen, und meine Familie und ich aßen gemeinsam. Das hört sich jetzt fantastisch an, aber damals war es für mich die totale Folter. Also entdeckte ich eine neue Methode der Kontrolle. Sobald ich so weit genesen war, dass ich von meinem Zimmer ins Bad schlurfen konnte, begann ich mich zu erbrechen. Ich dachte mir, wenn ich das meiste von dem, was ich zu mir nahm, wieder auskotzte, würde ich nicht dick werden. Ich wollte mich nicht fleischig fühlen. Ich wollte dahinschwinden. Ich wollte Selbstbeherrschung. Nachdem ich meinen Körper darauf trainiert hatte, zu erbrechen wie eine Wolfsmutter, die ihre Jungen füttert, konnte ich nach einiger Zeit kaum noch etwas bei mir behalten. Mein Verdauungssystem war ein einziges Chaos. Ich hatte keine Ahnung, wonach ich eigentlich hungerte.

Allein mein Freund hielt mich über Wasser. Er kam jeden Tag gleich nach der Schule zu mir und brachte mir die Schularbeiten mit, die ich nachholen musste. Er blieb so lange wie möglich bei mir, und spätabends, wenn er bei sich zu Hause ins Bett ging, rief er mich an, damit wir zusammen am Telefon einschlafen konnten. Er war mein Rettungsanker. In den ersten Monaten nach dem Unfall wartete ich Tag für Tag auf ihn. Bis er kam, schlief ich viel und betäubte meine Schmerzen mehr schlecht als recht mit dem Codein, das mir verschrieben wurde. Das ging über Monate so, bis ich mit meiner Schiene wieder zur Schule gehen konnte. Ich ging sehr vorsichtig. Einige Lehrer nörgelten, weil ich zu spät zum Unterricht kam, obwohl allein der Weg dorthin für mich schon Schwerstarbeit war. Ich mochte es nie, die Opferkarte auszuspielen, und so saß ich einfach da und kochte innerlich vor Wut. Aufgrund der Schmerzen kam ich mit der Arbeit kaum hinterher. Ich schaffte es nur mit größter Mühe, mich zusammenzureißen. Doch langsam, aber sicher wurde ich wieder gesund, und ich hatte ja meinen Liebsten. Bis das bei einer Teenagerliebe Unvermeidliche eintrat: Er machte Schluss mit mir. Seit dem Autounfall plagten ihn Schuldgefühle, und er lebte nicht sein eigenes Leben. Er sagte, er müsse sich »befreien«. Und es stimmte. Er hatte recht. Aber unsere Verbindung zu verlieren bedeutete für mich den endgültigen Absturz. Es zerriss mich völlig.

Meine bisherigen Ablenkungen – mein Freund, das Hungern oder das Erbrechen – waren entweder nicht mehr da oder funktionierten nicht mehr. Was meine Mätzchen beim Essen betraf, so waren mir alle inzwischen auf die Schliche gekommen. Tonya konfrontierte sowohl mich als auch meine Mutter mit meiner Essstörung, aber ich stritt alles ab. Es dauerte eine Weile, bis meine Mutter einsah, dass Tonya recht hatte. Ich verbrachte viel zu viel Zeit im Badezimmer, das sich leider im Flur befand, wo mich jeder hören konnte. Ich ließ das Wasser laufen, den Lüfter, alles, was ich konnte, um das Geräusch des Erbrechens zu übertönen. Ich tat so seltsame Dinge, wie jedes Mal, wenn ich ins Bad ging, mein Gesicht zu waschen und tropfend wieder herauszukommen. Ich schob das Essen auf meinem Teller hin und her. Mein unglaublicher Widerwille war offensichtlich. Ich trug immer noch die Rückenstütze und musste bei jeder Bewegung extrem vorsichtig sein. Ich fühlte mich gefangen. Nachts tauchten immer wieder Bilder auf, die mir zeigten, was ich nicht sehen wollte. Doch irgendwo in meiner Psyche wusste ich, dass ich meine innere Welt genauer erforschen musste. Wenn ich dann aufwachte, begann ich nun endlich, meine Träume durch Schreiben oder bildnerisches Gestalten zu verarbeiten, um sie so aus meinem System zu vertreiben. Das tat ich Nacht für Nacht, Tag für Tag. Ich schrieb und zeichnete unaufhörlich, und dadurch fand ich ein wenig Frieden und Klarheit. Meine liebe und fürsorgliche Mutter war auch immer da, stärkte mir den Rücken. Ich spielte mit Selbstmordgedanken. Doch wenn ich an meine Mutter dachte, daran, wie sehr wir uns liebten und was wir gemeinsam durchgemacht hatten, verschwanden all diese Gedanken. Mit ihrer und Tonyas Hilfe durchstöberte ich die örtlichen Buchläden und fand Selbsthilfebücher, unter anderem auch über Essstörungen. Endlich war ich bereit zuzugeben, dass ich daran litt.

Eingezwängt in den Kokon meiner Glasfaser-Rückenstütze, hatte ich keine andere Wahl, als zu essen, in meinem Körper zu sein und mich den Schatten zu stellen, die ich verzweifelt zu vermeiden versucht hatte. Ich hatte zugegeben, dass ich in großen Schwierigkeiten steckte. Ich lag mit einer zertrümmerten Wirbelsäule im Bett, fühlte mich überwältigt, ausgeliefert und in Panik. Überleben wurde meine Vollzeitbeschäftigung. Ich brach die Highschool ab und begann, alles infrage zu stellen.

Das war der wirkliche Beginn meiner Heilreise.

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Im Puppenstadium stülpt eine Raupe ihr Inneres nach außen und wird flüssig, bevor sie sich in einen Schmetterling verwandelt. Genauso fühlte ich mich während meines Jahres der scheinbaren äußerlichen Ruhe, aber intensiven inneren Transformation: wie Glibber. Jeden Morgen wachte ich auf und schüttete mein Inneres aus, indem ich einfach drauflosschrieb und zeichnete. Ich malte Bilder von mir selbst, wie ich in Käfigen gefangen war, mich in den Ecken dunkler Räume verkroch, während die Wände um mich herum weinten. Ich studierte die Wildtierfotos im National Geographic und verbrachte Tage damit, Details von wilden Wölfen, selbstbewussten Löwinnen und nervösen Kaninchen zu zeichnen. Ich versuchte dabei, ihre Körpersprache, die Beschaffenheit des Fells und das Feuer in ihren Augen zu erfassen. Kunst und Schreiben wandelten meinen Schmerz um, befreiten mich und brachten mich auf eine neue Bewusstseinsebene, durch die ich mich regelmäßig entleeren konnte und – in einen Zustand der Zeitlosigkeit eintrat. Damals wusste ich es noch nicht, aber diese kreative Befreiung half mir, die Ursachen für meine geistigen, körperlichen, spirituellen und emotionalen Herausforderungen zu erkennen. Mithilfe einer Gesprächstherapie und fortgesetzter kreativer Erkundung schuf ich Raum in mir selbst und kümmerte mich um diese äußerst unangenehmen verwundeten Stellen. Irgendwo in den Abgründen meines zerbrochenen Körpers war meine innere Weise Frau am Werk und sammelte die verstreuten, aber unzerstörbaren Fragmente meines Geistes auf.

ARTEMISIA

Meine Heilreise ist ein bis heute andauernder spiralförmiger Weg zurück in den Naturzustand – ein Rewilding. Ich trage die Schichten meiner sozialen Konditionierung ab, meine einschränkenden persönlichen Erzählungen und tiefen Traumata. So spiralförmig wie Pflanzen wachsen, verläuft auch unser Heilungsprozess – der Erdrotation folgend, dem Licht der Sonne entgegenstrebend, in der Dunkelheit der Nacht ruhend, mit der Anziehungskraft des Mondes schwankend und fließend. Wenn wir uns nach innen wenden, um die Ursachen einer geistigen, körperlichen oder emotionalen Belastung aufzudecken und sie hinter uns zu lassen, schaffen wir in uns Raum und dehnen uns gleichzeitig nach außen aus. Schließlich werden wir stärker und sind bereit, erneut in unser Inneres hinabzutauchen … noch tiefer, und dann können wir uns anschließend umso weiter nach außen ausdehnen. Diese Reise des Eintauchens in die innere Tiefe und der anschließenden Ausdehnung geht weiter und weiter. Auf dem Weg müssen wir uns vielleicht erneut unserem Schmerz stellen, von dem wir dachten, wir hätten ihn längst überwunden. Nur um festzustellen, dass es eine weitere Schicht desselben Traumas gibt, die noch nicht überwunden ist. Wir müssen unsere Wunden pflegen und aufmerksam hinhören, was sie uns zu sagen haben.

Bitter nennen wir schwierige Erfahrungen, aber auch einen Geschmack, den die meisten von uns nicht mögen. Aber bittere Kräuter wie der Beifuß können, wie schwierige Erfahrungen, unsere Widerstandskraft erhöhen und uns stärker machen. Sie können uns vor schädlichen Mikroben schützen und gleichzeitig eine Reaktion des Sympathikus hervorrufen, die den Blutfluss zu unseren Bauchorganen erhöht und unseren Instinkt weckt. Serotonin – ein chemischer Stoff, der sich auf unsere Stimmung, unser Gedächtnis, unseren Schlaf und unsere Widerstandsfähigkeit bei Stress auswirkt – wird zu neunzig Prozent in unserem Verdauungssystem erzeugt. Es ist also offensichtlich, dass psychosoziale Faktoren von der Physiologie des Darms beeinflusst werden.3 Die einzigartige Bitterkeit des Beifußes entspannt auch die Nerven, beruhigt Entzündungsherde und lindert Ängste, was uns in einen Zustand der Präsenz und Empfänglichkeit versetzt. Wenn die Anspannung nachlässt und das Blut fließt, treten wir in einen entspannten Zustand ein, und unsere angeborene Weisheit – das, was Jungianer als das Unbewusste bezeichnen – ist leichter zugänglich.

In ihrem Buch Göttinnen in jeder Frau nimmt die Jung'sche Analytikerin Jean Shinoda Bolen eine feministische Revision von C. G. Jungs Theorie der Archetypen vor, indem sie diese Archetypen mit Göttinnen aus der griechischen Mythologie verknüpft. Für Jung sind Archetypen universelle Symbole, die dem kollektiven Unbewussten entstammen und nach Verwirklichung streben. Bolen kritisiert Jungs Theorie wegen der stereotypen und polarisierenden Beispiele des Weiblichen, die sich in den Figuren der Jungfrau oder der Mutter widerspiegeln. Stattdessen bietet sie Frauen andere Archetypen in Gestalt ganzheitlicher und komplexer Göttinnen an.4 Der Artemis-Archetyp ist die ursprüngliche, unzähmbare »Wilde Frau«. Sie ist eine Mondgöttin, eine wilde Beschützerin der Natur und eine Jungfrau gemäß der alten Definition dieses Begriffes – eine Frau, die ein selbstständiges und eigenverantwortliches Leben führt, mit oder ohne Partner. Frauen, die sich in missbräuchlichen Situationen befinden, rufen Artemis seit Jahrhunderten als Beschützerin an, und gebärende Frauen können die Göttin bitten, ihre Wehen zu erleichtern.

In der griechischen Mythologie war Leto, die schöne Titanin, Mutter der Artemis. In einigen Versionen des Mythos wurde sie zur Verkörperung der Mutterschaft, weil sie so viel erdulden musste, als sie Artemis und ihren Zwillingsbruder Apollo vor dem Zorn der Hera beschützte. Hera, die Göttin der Geburt und der Ehe, war mit Zeus verheiratet, dem untreuen olympischen Gott und Vater der Artemis. Leto wurde wegen ihrer Beziehung zu Zeus verurteilt, und es gab für sie auf Erden keinen sicheren Ort, wo sie ihre Kinder zur Welt bringen konnte. Also war Leto auf der Flucht. Eines Tages verwandelte sie sich in eine Wölfin und suchte Zuflucht bei einem Wolfsrudel. Auf diese Weise schaffte sie es bis nach Delos. Auf dieser schwimmenden Insel legte sie ihr Wolfskleid ab und gebar Artemis unter einer Palme. Als neun Tage später ihr Zwillingsbruder, der Sonnengott Apollo, geboren wurde, half Artemis dabei als Hebamme.

Artemis wählte die Wildnis als ihr Reich und machte es sich zur Aufgabe, Schwesternschaft zu kultivieren, bei Geburten aller Art zu helfen, Frauen, jungen Menschen und wilden Tieren Zuflucht zu gewähren und Rache an all jenen zu nehmen, die ihrer Mutter Schaden zufügten.

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Wie der Mond, der die Gezeiten bewegt, hat der Beifuß eine Beziehung zum Wasserelement. Er kann, wenn er eingenommen wird, in das Unterbewusstsein eintauchen und verschüttete Erfahrungen, Muster und Geschichten ans Licht bringen, welche wir anschauen müssen, um zu genesen. Als starkes Oneirogen liefert uns der Beifuß diese wichtigen Informationen durch unser Traumerleben. Wenn wir schlafen, regt sich das Unterbewusstsein. Als jemand, der sein ganzes Leben lang lebhafte Träume hatte, war ich anfangs skeptisch gegenüber dieser Medizin. Aber wenn ich mit Beifuß arbeitete, träumte ich von Dingen, von denen ich dachte, ich hätte sie längst verarbeitet. Ich entdeckte damit noch mehr, mit dem ich mich auseinandersetzen musste und das einer Heilung bedurfte.

Als ich in Brooklyn wohnte, schlief ich mit Beifuß neben meinem Bett, nahm Tropfen der Tinktur unter die Zunge und verbrannte getrockneten Beifuß vor dem Schlafengehen, um die Pflanze in meine Träume einzuladen. Jeden Abend fragte ich: »Was muss ich sehen, um heil zu werden?« Einmal träumte ich von mir als sieben- oder achtjährigem Mädchen. Ich stand auf einem hohen Turm, der in der Dunkelheit schwebte, und blickte auf mein Leben hinab. In der Traumwelt war ich sowohl das Kind wie auch das Traum-Ich, welches seinerseits hinunter auf dieses Kind-Ich schaute. Das ähnelte meiner Erfahrung nach dem Autounfall. Als dieses Kind war ich gar nicht so sehr verängstigt, sondern eher verwirrt und allein, was meine Reaktion auf die verwirrenden Erinnerungen war, die mich von mir selbst trennten. Als das träumende Ich fühlte ich tiefen Schmerz über diese langen Jahre der Einsamkeit. Ich wachte auf und trauerte um den wilden und verwirrten jungen Teil in mir, der so lange alleingelassen worden war. Obwohl ich jahrelang daran gearbeitet hatte, die Geheimnisse und die Scham des sexuellen Missbrauchs, den ich in diesem Alter erlebt hatte, zu heilen, wurde mir klar, dass es Teile von mir gab, die ich weder akzeptiert noch vollständig integriert hatte. Es war an der Zeit, die Überreste dieser Erfahrung, die immer noch in meinem Körper steckten, freizulegen und die notwendige Arbeit zu leisten, um mein junges Ich von dem Turm der Isolation herunterzuholen. Das tat ich, indem ich mit geliebten Menschen sprach, Tagebuch führte und den Emotionen erlaubte, sich mithilfe von Beifuß als Traumverbündetem und innerer Medizin durch meinen Körper zu bewegen. Auf diese Weise begannen sich Schmerzen und Spannungen in meinem Fortpflanzungssystem zu verändern, und ebenso auch die Unregelmäßigkeiten meiner Menstruation, von denen ich glaubte, sie nicht kontrollieren zu können, und für die es keine medizinische Erklärung gab.

Ob wir wollen oder nicht, wir müssen jeden Winkel des Dunklen und des Hellen in uns ehrlich anschauen, um heil werden zu können. Ich sehe, dass diese Dichotomie sich in den Blättern des Beifußes ausdrückt: Eine Seite ist silbrig und die andere dunkelgrün. Die silbrige flaumige Rückseite der Beifußblätter symbolisiert den Vollmond – die Menstruation, die Gezeiten hat wie das Meer, und das Aufsteigen unterbewusster Emotionen an die Oberfläche –, während die gegenüberliegende Seite der dunkelgrünen Blätter den Neumond symbolisiert – eine Zeit, sich seinem Inneren zu widmen, Samen zu pflanzen, Wurzeln zu ernten und zu empfangen. Dieser Kontrast wird mit zunehmendem Alter der Pflanze immer deutlicher. Für mich symbolisiert der Kontrast wesentliche Polaritäten – dunkel und hell, männlich und weiblich, träumend und wachend. Die Blätter verändern mit zunehmendem Alter ihre Form und stehen für die drei Stadien der Weiblichkeit: Jungfrau, Mutter und alte Frau. Aussehen, Gefühl und Geschmack der jungen Blätter zeigen die Unschuld der Jugend. Bitterkeit ist hier nur als schwacher Hauch vorhanden. In der Phase der alten Frau sind die Blätter zackig und wild wie dreizackige Speere. Die Farbe ist dunkler und der bittere Geschmack intensiver. In diesem Stadium, im Herbst, ist Beifuß eine Medizin der Selbstkonfrontation. Sie muss gleich zur Sache kommen, denn die Zeit ist knapp und kostbar.

Tinkturen, Tees, Öle, Dämpfe und andere Extrakte der Pflanze werden verwendet, um Spannungen zu lösen, die sich angesammelt haben, um uns zu schützen. Die Kraft des Beifußes, die Bitterkeit, ist eine bewegende Energie, die folglich für das Leben und die Heilung unerlässlich ist. Wenn die Dinge stagnieren, spalten sie sich schließlich ab. Als Emmenagogum bewegt der Beifuß das Wasser im Körper, um die Schmerzen bei der Geburt zu lindern. Auch der Blutfluss zwischen den Beinen wird wiederhergestellt, wenn die Menstruation unregelmäßig ist oder ausbleibt. Nach dem sexuellen Übergriff, den ich erlebt habe, litt ich jahrelang unter Periodenbeschwerden und starken Menstruationsschmerzen. Die Ärzte versicherten mir, dass alles in Ordnung sei, obwohl ich andere Erfahrungen machte. Beifuß half mir, Spannungen aufzulösen, die mein Körper bei dem Versuch aufgebaut hatte, das in mir festsitzende Trauma zu verarbeiten oder wenigstens unter Kontrolle zu halten. Clarissa Pinkola Estés sagt, dass es eine Tür gibt, wo eine Narbe ist. Ich möchte hinzufügen: Wo ein Ungleichgewicht ist, gibt es auch eine Tür.

DIE INNERE WILDHEIT

Wir können unsere Gefühle bis ins kleinste Detail für andere beschreiben, aber letztlich müssen wir unsere inneren Landschaften allein durchqueren. Sie werden durch unsere einzigartigen Erfahrungen und die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen, geformt und ebenso durch unsere Fähigkeit, Grenzen zu behaupten, sie in den richtigen Momenten aufzulösen und wieder aufzubauen, sollten sie ohne unsere Erlaubnis überschritten worden sein. Unsere innere Ökologie, unser Blick auf die Welt und wie wir mit allem, was sich darin befindet, umgehen, wird von unseren persönlichen Erzählungen und Geschichten geformt und beeinflusst. Unsere innere Welt wird durch Religion, Medien, Kultur, Erfahrungen, Erziehung und Familie geprägt. Dieser unendliche Raum im Inneren ist der Ort, an dem wir bewusst und unbewusst entscheiden, wie wir uns zu unserem Körper und zu anderen in Beziehung setzen. Tiefes in uns Hineinlauschen kann unser bestes Werkzeug zur Heilung sein. Durch konsequentes Üben können wir lernen, den Lärm an der Oberfläche von unserem unerschütterlichen wahren Kern zu unterscheiden. Während ich heile, nähere ich mich spiralförmig immer mehr meiner Wahrheit an und nehme die Hauptrolle in meiner eigenen Geschichte ein: vom Opfer zur Überlebenden zur Kriegerin.

Einer der ersten Arbeitsaufträge in meinen Kräuterkunde-Ausbildungen besteht darin, täglich in sich zu gehen, um sich mit dem eigenen inneren Terrain besser vertraut zu machen. Ich bitte die Teilnehmenden, sich täglich fünf Minuten Zeit zu nehmen, um sich auf den eigenen Körper einzustimmen und darüber zu berichten, welche Botschaften er übermittelt. Körperliche Symptome deuten darauf hin, dass etwas im Körper, im Geist, in der Seele oder im Gemüt aus dem Gleichgewicht geraten ist. Wenn wir nur die Symptome behandeln, können wir sie vielleicht überdecken, aber wir erreichen ihre Wurzel nicht. Um dieses Muster zu überwinden, empfehle ich immer die Meditation. Hier beginnen wir, unsere Gedanken zu beobachten und eine Praxis zu entwickeln, ihnen mit der Neugier zu begegnen, die wir brauchen, um auf neue Art mit den Symptomen in Beziehung zu treten. Es ist unsere Neugier, die unserem Körper die Chance gibt, akzeptiert und gehört zu werden. Einige meiner Schüler verwenden sensorische Erinnerungshilfen – Nathalie trägt Steine in ihren Taschen, verwendet Post-it-Zettel und schafft Mini-Altäre am Arbeitsplatz und zu Hause, die sie daran erinnern innezuhalten. Anstatt ihren Körper zu ignorieren, bis Symptome und Empfindungen nach Aufmerksamkeit schreien, hat sie mit der Zeit gelernt, sich auf die subtilen Impulse in ihrem Inneren einzustellen und zu reagieren, wenn ihr Körper ihr etwas zuflüstert.

Im Laufe der Jahre habe ich die Türen zu allen Ecken meines Verstandes, meines Geistes und meiner Seele geöffnet. Ich kam zurecht mit dem, was ich dort fand. Selbst entwickelte Praktiken halfen mir schließlich aufzublühen. Disziplinierte Meditation hat mir Gedankenmuster bewusst gemacht und meinen Geist beruhigt. Das Training als Profiboxerin setzte Wut frei und offenbarte mir eine angeborene Stärke, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte. Bildende Kunst und Schreiben halfen mir, durch kreativen Ausdruck Schichten abzustreifen. Das Studium und die Praxis der ganzheitlichen Kräuterkunde, in Zusammenarbeit mit der natürlichen Welt, veränderten meine Beziehung zu meinem Körper. Im Laufe der Jahre integrierte ich diese Praktiken. Sie helfen mir, den Weg zu meinen leeren, verlassenen oder beängstigenden inneren Orten zu finden. Von diesen Orten aus zeichne ich und stimme mich auf das ein, was dort lauert. Wenn wir versuchen, den Schmerz loszuwerden und zu verdrängen, gewinnen diese Wunden an Intensität und Sprengkraft. Etwas »loswerden« können wir sowieso nicht. Vielmehr wandelt sich der Schmerz in einen neuen Zustand um, nachdem er den Kreislauf des Kompostierens durchlaufen hat – von Holz über Holzkohle zu fruchtbarem Boden. Die Knochen allerdings – die unzerstörbare Lebenskraft – bleiben erhalten. Manchmal, wenn ich mich nach innen begebe, finde ich leere Räume, deren Türen vor Jahren geschlossen wurden. Der abgestandene Raum muss gelüftet werden. Es kann beängstigend sein, mehr Weite im Inneren zu schaffen, aber auf dem sich ständig vertiefenden und erweiternden spiralförmigen Pfad der Heilung wage ich mich weiter vor – ich dehne mich aus, ziehe mich zusammen, lerne und vergrößere meinen inneren Horizont.

Wenn ich jetzt Beifuß sehe, eine Pflanze, die meinen Körper kennt und mir zu einer tief greifenden Heilung verholfen hat, fühle ich Liebe und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Dies ist die Kraft der Wildpflanzen. Jede von ihnen bringt eine einflussreiche Medizin und eine Geschichte mit sich und die Verbindung zu einer jahrhundertelangen Beziehung zwischen Mensch und Pflanze, die viele von uns vergessen haben. Aber wir können uns wieder daran erinnern. Bewusste direkte Begegnungen mit der Natur sind nicht nur heilsam, sondern wir können dadurch unseren Sinn für das Heilige entwickeln und Entscheidungen für eine nachhaltigere Lebensweise treffen. Es fällt uns nicht so leicht, uns um etwas zu kümmern, das wir als von uns getrennt wahrnehmen. Das Erleben von Verbundenheit und Beziehung macht uns zu Öko-Aktivisten und heiligen Kriegerinnen – Rollen, die in dieser Zeit so notwendig sind.

Die Rhizome des Beifußes sind unermüdlich. Ihre kontinuierlich wachsenden unterirdischen Stängel ermöglichen es dieser Staude, sich in dichten, schützenden Heerscharen auszubreiten, was sie eine natürliche Schwelle bilden lässt. Sie gedeihen um Wälder herum und bieten schützende Dickichte für Tiere, zum Beispiel für Kaninchen, die sich an den bitteren Blättern laben. Der Beifuß, Artemisia vulgaris, gedeiht an der Grenze zwischen wildem und bewirtschaftetem Raum und ist an Meeresufern, an Waldrändern, in Stadtparks und auf landwirtschaftlichen Flächen ebenso verbreitet wie auf unbebauten Grundstücken und sogar in Rissen im Beton.

Wie der Kreislauf der Jahreszeiten und die Mondphasen ist auch das Leben ein Auf und Ab von Freude und Schmerz. »Das, was über dem Boden sichtbar wird«, schreibt C. G. Jung, »hält nur einen Sommer. Dann verwelkt es – eine ephemere Erscheinung.«5 Unverwüstliche Rhizome unter der Oberfläche sind beharrlich und warten nur darauf emporzudringen. Das ist die Kraft des Beifußes. Ich habe gelernt, dass wahres, ewiges Leben unter der Oberfläche existiert. Es ist unzerstörbar – ähnlich wie die Beharrlichkeit unserer wilden Seele.

Eibe

Taxus spp.

Familie: Taxaceae

Eiben können Jahrtausende alt werden. Dort, wo ihre Äste den Boden berühren, bilden sie Wurzeln, und es entstehen neue Stämme. In vielen erdverbundenen Traditionen steht dieser Baum für Tod, Auferstehung und Unsterblichkeit. Die amerikanischen Ureinwohner der Nordwestküste nutzten die Pazifische Eibe (Taxus brevifolia) als Medizin und ernteten Zweige und Stangenholz, das sie für Bögen und Kanupaddel verwendeten. Wann immer möglich, sammelten sie so, dass die Bäume nicht gefällt wurden, sondern weiterlebten. Sie betrachteten die Eibe als heilig. Aus dem Holz fertigten sie Totempfähle, Totenmasken, Schamanenstäbe und andere Zeremoniengegenstände. Einige Stämme nennen die Eibe den »Häuptling des Waldes«.1

Die Europäische Eibe, Taxus baccata, war den Kelten heilig, und es heißt, dieser Baum habe die Erfahrungen und das Wissen der keltischen Ahnen gespeichert. Im Ogham, dem keltischen Schriftsystem, ist die Eibe iodhad, der zwanzigste Buchstabe des Alphabets, und in der gesprochenen gälischen Sprache ist die Eibe der neunte Buchstabe, iogh. Beide Sprachen sind aus der natürlichen Welt entlehnt, und bei beiden dienen Bäume als Grundlage für das Alphabet.

ZUGEHÖRIGKEIT

Alte Eibe, du umgreifst Grabes Stein,

Mit dem Namen des Toten, der unter ihm ruht,

Das traumlose Haupt umklammerst du gut,

Deine Wurzel hält das Gebein.

Alfred, Lord Tennyson:

In Memoriam A. H. H. OBIIT MDCCCXXXIII: 2

Ich komme in meiner Hütte an, Eagle’s Crag. Stille wie in einer gewaltigen Höhle bricht sich an der Weite der Landschaft. Es ist Anfang März, und ich befinde mich zwei Stunden nördlich von Inverness im Alladale Wilderness Reserve. Inmitten von schroffen schneebedeckten Bergen, Flüssen und Seen bin ich der einzige Mensch in der 9300 Hektar großen Wildnis. Aber ich bin nicht allein.

Vereinzelte Waldkiefern stehen in der Ferne. Ein willkommener Anblick inmitten der nackten, von Heidekraut und Stechginster durchsetzten Grasflächen. Die Kiefern sehen aus wie riesige Moyogi-Bonsai-Bäume mit gebogenen Stämmen, die sich in den Himmel strecken. Sie sind die ältesten lebenden Bewohner dieses Landes. Diese Kiefern waren »zu krumm, um sie zu fällen«, erzählt mir Innes MacNeill, gebürtiger Highlander und leitender Ranger in Alladale. Ihre Verwandten, die gerade und schmal aufwuchsen, wie es vorgesehen war, wurden gefällt und unter anderem als Masten für englische Kriegsschiffe verwendet.

Ich gehe von meinem Cottage aus den Kiesweg entlang und einen mit Frost bedeckten Hügel hinunter, um die Waldkiefern zu besuchen – Nachfahren der ersten Kiefern, die etwa 7000 v. Chr. nach Schottland kamen. Einst lebten sie in einer blühenden artenreichen Gemeinschaft, bestehend aus Espen, Wacholder, Eichen, Vogelbeeren, Weißdorn, unzähligen Pilzarten, Flechten und Heilkräutern. Damals kletterten gewiss Bären und Luchse auf ihre Äste, und Wölfe durchstreiften das Land. Kaledonischen Wald nannte der römische Naturforscher und Heerführer Plinius der Ältere diesen dichten gemäßigten Regenwald – jener Plinius, dessen berühmt-berüchtigtes Buch Naturalis Historia, das er in den Jahren 77–79 n. Chr. verfasste, Mythen und Folklore, aber auch Informationen über Bäume und Heilpflanzen enthält.2 Die römische Armee versuchte vergeblich, in diese Wildnis vorzudringen, deren Umland von einem wilden kriegerischen Stamm bevölkert wurde, den die Römer Kaledonier nannten. Der Autor und Historiker James Hunter schreibt in The Last of The Free: A History of the Highlands and Islands of Scotland, dass die einheimischen Highlander unter dem Kriegerhäuptling Calgacus dem Römischen Reich Widerstand leisteten. Er bezeichnete sein Volk als »die letzten der Freien« und sagte über die römische Armee: »Sie verwüsten alles und nennen das Frieden.«3

Doch die Kaledonier konnten das Land nicht lange verteidigen, und im Laufe der Jahrhunderte drangen die Menschen in das dichte Waldgebiet ein, und die Pflanzengemeinschaft, in der die Kiefern gediehen, wurde vernichtet. Wölfe, Bären und Luchse wurden bis zur Ausrottung gejagt, Bäume wurden zu Bauzwecken gefällt und der Wald gerodet, um Platz für Ackerland zu schaffen. Und die einheimischen Highlander wurden aus ihren Häusern vertrieben, und Weidevieh nahm nun den Platz ein, wo zuvor ihr Zuhause gewesen war. Die Highlander mussten ihre Dörfer verlassen. Ihnen wurde Pachtland mit einzeln stehenden kleinen Bauernhöfen zugewiesen, denn das Land gehörte nun nicht anwesenden Grundbesitzern aus England. Diese kleinen Bauernhöfe waren, was von den traditionellen Dorfgemeinschaften oder Bailtean blieb, in denen es gemeinsames Weideland, Ackerflächen für alle und eine nachhaltige Subsistenzlandwirtschaft gab. Die Menschen wurden von der Isle of Harris vertrieben. Sie mussten das sehr fruchtbare Land dort verlassen und zogen an die Ostseite der Insel, deren Landschaft so karg war, dass man sie mit der Mondoberfläche verglich.

Im Laufe der jahrhundertelangen britischen Besatzung und vor allem während der sogenannten Highland Clearances, der Räumung des Hochlands, wurden die Highlander aus ihrem Land vertrieben. Jenes Land, in dem ihre Geschichten und ihre Volksmedizin gewurzelt hatten und das sie ernährt hatte. Sogar ihre Sprache wurde nach und nach gänzlich zum Schweigen gebracht. Sie wäre beinahe ausgestorben und damit verbunden auch die in ihr enthaltenen philosophischen Grundlagen sowie die tiefe Verehrung für ihre heimatliche Natur. Die Engländer wollten erreichen, dass die Menschen sich schämten, Gälisch zu sprechen – eine Sprache, durch die sie in den Rhythmus der natürlichen Welt eingebettet waren. Die Sprache bestimmte, wie sie sich selbst, ihre Gemeinschaften und ihre Vorstellungen von Besitz wahrnahmen. Es gibt kein gälisches Wort, das einfach mit »Eigentum« gleichgesetzt werden kann.

Die Kolonisierung Schottlands verlief schleichend. Die Gälen sind weiße Westeuropäer und sehen für den zufälligen Beobachter nicht anders aus als die Tieflandschotten oder die Engländer. Die Assimilation erfolgte daher relativ reibungslos – jedenfalls im Vergleich zu anderen Weltgegenden, wo die marginalisierten Gruppen der Gesellschaft an äußeren Merkmalen zu erkennen waren. Bei den Schotten war die gälische Sprache das auffällige Merkmal, das sie unterscheidbar und potenziell rebellisch machte. Die Kolonialisierung beinhaltete die Auslöschung der Muttersprache, die von den Engländern im Zuge der »Zivilisierung« der Menschen systematisch erzwungen wurde. Das Waffenarsenal der Lehrer umfasste Lineale, Gürtel, Seife für den Mund und sogar Totenköpfe, die den Kindern um den Hals gehängt wurden. Auf heimtückische Weise wurde eine »Selbstüberwachung« unter den Kindern erreicht. Das Kind, das als Letztes etwas auf Gälisch gesagt hatte, musste die letzte, den Tag abschließende Tracht Prügel des Lehrers erleiden. Und Mitschülerinnen und Mitschüler waren genötigt, dieses Kind zu denunzieren. Diese Methode gab es auch in Irland, wo sie mit dem sogenannten »Tally Stick«, dem Kerbholz, praktiziert wurde. Der irische Dichter und Philosoph John O’Donohue schrieb dazu: »Wenn man einem Volk die Sprache raubt, lässt man dessen Seele fassungslos zurück.«4

* * *

Im Gälischen ist es nicht üblich, Menschen zu fragen, »woher« sie kommen, sondern »von wem« sie kommen: Có ás a tha sibh? Von wem kommst du? Hätte man mir diese Frage vor zehn Jahren gestellt, hätte ich nicht gewusst, wie ich antworten sollte. Es gab Zeiten, in denen ich, wie so viele Einwanderer mit verschiedenen ethnischen Hintergründen – aus mangelndem Verständnis –, dachte, es spiele keine Rolle, woher meine Vorfahren stammen. Meine Vorfahren – schottische und russisch-jüdische Einwanderer mit einer Mischung aus irischen, englischen und osteuropäischen Familienangehörigen – hatten den Wunsch, ihre Leiden hinter sich zu lassen und sich einzufügen, als sie den sogenannten amerikanischen Boden betraten. Einige waren Farmer, die das Land bearbeiteten und sich ein vermeintlich besseres Leben wünschten. Andere entkamen der Verfolgung, und wieder andere wurden, wie die Gälen, von ihrem Land vertrieben. Doch während sie sich selbst neu erfanden, verloren sich ihre mitgebrachten kulturellen Traditionen und Erfahrungen in dem homogenen Schmelztiegel der amerikanischen Kultur und gerieten in Vergessenheit.

Meine Eltern beschlossen, mich in der liberalen Universitätsstadt Amherst, Massachusetts, aufzuziehen. Die Stadt war für ihr gutes Schulsystem und die reiche Musikszene der frühen 1970er-Jahre bekannt und entsprach damit der progressiven Einstellung meiner Eltern. Unterstützt durch den Bruder meines Vaters, kauften sie ein großes Haus, das nach der Scheidung meiner Eltern zu einer Hippie-Kommune wurde. Um die Hypothek bezahlen zu können, vermietete meine Mutter Zimmer an Musiker aus der Gegend, aber auch – wenn gerade Zimmer frei waren – an durchreisende Gastmusiker. Wir hatten eine eigene Wohnung im Keller, zwei weitere Zimmer im Obergeschoss, und meine Mutter und ich schliefen im Erdgeschoss. Die Musik brachte Menschen aus allen Gesellschaftsschichten zu uns – Menschen, die den Status quo durch ihre künstlerische Selbstentfaltung aufbrechen wollten. Musik besitzt eine einende Kraft und ließ uns am unmittelbarsten mit Kultur in Berührung kommen. In dieser Szene lernte meine Mutter meinen Stiefvater Mitch Chakour kennen. Er spielte als Opener für James Brown im Rusty Nail und trat mit Künstlern wie Howlin’ Wolf, BB King und Joe Cocker auf. Ich wuchs also in einem faszinierenden musikalischen Umfeld auf, das von Stevie Wonder, Donny Hathaway, den Beatles, Minnie Ripperton, Joni Mitchell und Jimi Hendrix geprägt war. Ich durfte oft früher aus der Grundschule nach Hause gehen, weil wir zu einem Konzert fahren mussten. Auf dem kleinen Plattenspieler in meinem Zimmer hörte ich Songs wie »Mercy, Mercy Me: The Ecology« von Marvin Gayes grandiosem Album What’s Going On. Während er darüber sang, wie wir die Erde missbrauchen, setzte ich mich mit den heftigen Gefühlen auseinander, die das Album in mir auslöste. Die Künstler wie Marvin Gaye sagten die Wahrheit, anders als viele meiner Lehrer und die Schulbücher – Wissen, das ich besser wieder verlernte.

Ich erinnere mich, dass ich Maya Angelous Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt las, als ich zehn Jahre alt war. Ich fand das Buch in unserem Haus und nahm es überallhin mit, bis ich es zu Ende gelesen hatte. Ich begriff damals durchaus schon einiges von dem, worüber sie berichtete – Rassismus, Vergewaltigung, das Erwachsenwerden einer Frau in einer von Männern dominierten Welt –, doch niemand von den Erwachsenen sprach offen über diese Dinge. Aber selbst als Kind erkannte ich, was es bedeutete, die Wahrheit zu sehen und zu hören, mit ihr in körperliche Resonanz zu gehen, auch wenn ich meine Erkenntnisse damals noch nicht klar artikulieren konnte.

Obwohl ich in einer scheinbar multikulturellen Umgebung aufwuchs (soweit das in einer mehrheitlich weißen liberalen Universitätsstadt möglich war) und mich der Natur zutiefst verbunden fühlte, wusste ich sehr lange nichts über die schwärenden Wunden der Erde – des Landes – und über das Trauma seiner Ureinwohner. Wie viele Kinder, die in den 1970er- und 1980er-Jahren aufwuchsen, lernte ich schädliche Mythen wie »Kolumbus entdeckte Amerika« und »Thanksgiving war ein fröhliches Treffen zwischen Europäern und Ureinwohnern, bei dem sie Truthahn und Kürbiskuchen teilten«. Selbst in einer angeblich so fortschrittlichen Stadt wie Amherst wurde über die amerikanischen Ureinwohner in der Regel in der Vergangenheitsform gesprochen. Ich tauschte mich darüber kürzlich mit meiner Jugendfreundin Tonya aus, um sicherzugehen, dass ich mich richtig erinnere, und sie sagte: »Ja, das stimmt. Ich habe nichts über die Kultur der amerikanischen Ureinwohner gelernt, bis ich aufs College ging.« Wie die meisten Schullehrpläne in den Vereinigten Staaten damals (und wahrscheinlich auch heute noch) wurden unsere Geschichtsbücher von weißen Männern bevölkert, die Dinge entdeckten, die bereits existierten. Die Stimmen von Frauen und People of Color schimmerten kaum durch und waren stark zensiert, wenn sie überhaupt gehört wurden.