Göttin und Held - Gustaaf Peek - E-Book

Göttin und Held E-Book

Gustaaf Peek

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Beschreibung

Am Puls einer Liebe – unmittelbar, ehrlich, leidenschaftlich

Was ist Liebe? Was ist Intimität? Ist es Selbstbetrug? Das Herz lässt sich nicht betrügen, aber der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen – und nichts ist komplizierter als die Beziehung zwischen Mann und Frau.

Dies ist die Geschichte von Tessa und Marius. Sie kennen sich ein ganzes Leben lang, manchmal sind sie zusammen, manchmal nicht; über Jahre hinweg treffen sie sich heimlich in Hotelzimmern. Ihre Beziehung hat viele Namen: Romanze, Affäre, Obsession. Göttin und Held erzählt ihre Liebe unverhüllt, vom Ende zurück zum Anfang – von der letzten Berührung zum ersten Treffen, vom letzten Wort zum ersten Blick. Ein offenherziger, ergreifender Roman über das mysteriöse Wesen der Liebe, in den Niederlanden ein Bestseller.

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Seitenzahl: 362

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Zum Buch

Was ist Liebe? Was ist Intimität? Ist es Selbstbetrug? Das Herz lässt sich nicht betrügen, aber der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen – und nichts ist komplizierter als die Beziehung zwischen Mann und Frau.

Dies ist die Geschichte von Tessa und Marius. Sie kennen sich ein ganzes Leben lang, manchmal sind sie zusammen, manchmal nicht; über Jahre hinweg treffen sie sich heimlich in Hotelzimmern. Ihre Beziehung hat viele Namen: Romanze, Affäre, Obsession. Göttin und Held erzählt ihre Liebe unverhüllt, vom Ende zurück zum Anfang – von der letzten Berührung zum ersten Treffen, vom letzten Wort zum ersten Blick. Ein offenherziger, ergreifender Roman über das mysteriöse Wesen der Liebe, in den Niederlanden ein Bestseller.

»In der Komposition liegt eine große Eleganz: Durch das Rückwärtserzählen liegt der Fokus nicht auf dem unvermeidlichen Niedergang der Liebe, sondern auf dem Moment, in dem alles begann.« NRC Handelsblad

Zum Autor

Gustaaf Peek, 1975 geboren, studierte Anglistik in Leiden. Zurzeit wohnt und arbeitet er in Amsterdam. Für seinen dritten Roman Ich war Amerika erhielt er den BNG Nieuwe Literaturprijs sowie den prestigeträchtigen F.-Bordewijk-Preis. Göttin und Held, ein Bestseller in den Niederlanden, ist sein vierter Roman und wurde für den Libris Literatuur Prijs nominiert.

Gustaaf Peek

GÖTTINUNDHELD

Roman

Aus dem Niederländischen von Nathalie Lemmens

Deutsche Verlags-Anstalt

Inhalt

V

50

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IV

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III

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II

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I

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3

2

1

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Nachweis der im Roman zitierten Texte

Impressum

Für Maaike Tess

Mein warst du nur in holder Träume Reich,Da war ich König; wach – dem Bettler gleich!

Sonett LXXXVII, William Shakespeare

V

50

Es war eines dieser neuen Gebäude, einer Kirche nachempfunden und ein Stück außerhalb der Stadt in einem Autobahnbogen gelegen. Dunkle Fenster, die zu hoch ansetzten, um hineinschauen zu können, weiß verputzte Mauern, ein schlanker, flacher Turm. Zäune, die Besucher von der Rückseite fernhielten. Keine Vögel, denn es gab keine Bäume.

Sie lag am Ende des Mittelgangs. Fotos von ihrer Kindheit bis zu ihren letzten Lebensjahren wechselten sich ab auf dem Bildschirm über ihrem Sarg.

Der Mann beim Vorhang sah auf seine Armbanduhr, immer noch kamen Leute herein, er würde noch einen Moment warten. Er übte seine Ansprache, bemühte sich, dabei nicht vor sich hin zu murmeln.

Die Trauergäste saßen verstreut wie Zuschauer in einem Kinosaal. Die harten, schlichten Stühle waren in großzügigen Reihen angeordnet. Ab und zu wehte das Sonnenlicht die Farben der hohen Fensterscheiben herein, und einige Besucher rückten ein paar Plätze auf, um nicht in den blendenden Streifen Rot und Blau zu sitzen.

Es war so weit. Die Türen glitten zu, er trat hinter das Pult und begrüßte die Anwesenden. Zum ersten Mal nannte er den Namen der Verstorbenen, immer wichtig, ein einschneidender Moment, niemand außer ihm würde an diesem Nachmittag sprechen.

Es war ein Brief, ein Liebesbrief. Bestimmt nicht das Ausgefallenste, was er je vorgelesen hatte, aber auch nicht gerade üblich. Dies hier war ein Ort der Zeit, nicht des Körpers, selten starb ein Geliebter. Stets war der Verstorbene jemandes Vater oder Mutter, jemandes Kind oder Freund; Tränen leidenschaftsloser Erinnerung, der Reue, auch Erleichterung hatte er schon erlebt. Er hatte den Text leicht umgeschrieben, einige unschickliche Passagen gestrichen und ihren Namen hier und da herausgenommen.

Nachdem er die ersten Sätze in dem gefasst widerhallenden Saal vorgetragen hatte, entdeckte er in dem Brief einen Rhythmus. Von Zeit zu Zeit blickte er forschend in die Gesichter vor sich. Eine kleine graue Schulklasse hatte sie auf die Beine gebracht, Männer und Frauen in ihrem Alter, aus ihrer Generation, keine Kinder oder Enkel. Von den Trauerfeiern, die er leitete, blieb ihm nur wenig im Gedächtnis, manchmal hatte er Mitleid mit den Toten, weil sie die Herrschaft über ihre Erinnerungen verloren hatten. Und plötzlich verspürte er das Bedürfnis, dem Verfasser der Zeilen Ehre zu erweisen, er gab ihm nach und las ein wenig sorgfältiger, langsamer und volltönender.

Auf halbem Wege glückte ihm, worauf er stets hoffte: beim Arbeiten gleichzeitig seine Gedanken schweifen zu lassen. Jetzt, wo er den Rhythmus des Briefes verinnerlicht hatte und die Worte seinen Mund wie von selbst bewegten, wurde ihm warm, Ruhe erfüllte ihn, und er dachte an seine Frau. Sie stand hinter ihm und hauchte ihm sanft in den Nacken. Ihr Atem strich über die kurzen Haare, die dort wuchsen, ließ die Haut darunter erschauern. Um solche Dinge bat er sie manchmal. Kleinigkeiten, mit den Lippen über seine Finger zu streichen etwa oder, unaufgefordert, mit neckenden Fingernägeln über seine Narbe. Jetzt floss ihr Atem über die zarte Haut oberhalb seines Kragens. Er beherrschte sich und las weiter und freute sich auf die Autofahrt, auf den Geruch im Flur seines Hauses.

Nach dem Brief blieben zehn Minuten für einen letzten Abschied. Er dimmte das Licht und kehrte an seinen Platz beim Vorhang zurück. Die meisten Trauergäste zogen ihre Jacke wieder an und wandten sich zögernd den Schiebetüren zu, manche schauten sich noch einmal kurz um und nickten in Richtung des Sargs.

Eine breitschultrige Frau ging als Einzige nach vorn. Schwarze Spitze auf Seide, tränennasse Wangen und ein zerfallendes Lächeln. Sie berührte mit einer Hand das Furnier, streichelte auf Höhe des Gesichts.

Dann drückte sie einen Kuss auf ihre Handfläche und legte sie wieder auf den Sarg. Am Ausgang schien niemand auf sie zu warten.

Manchmal zogen sich die Trauerfeiern in die Länge, dann warteten die Reinigungskräfte in der Spülküche der Cafeteria. Der Neue, ein sechzehnjähriger Junge, öffnete die Tür einen Spalt und schaute hinaus in den Flur. Es war niemand mehr da, und so nahmen sie ihre Sachen und machten sich ans Werk.

Im großen Saal stand noch ein Sarg. Sie versammelten sich darum. Der Junge wurde losgeschickt, um Hilfe zu holen, doch er kam allein zurück, sie waren die Einzigen im Gebäude. Jemand hatte eine Flasche dabei, und sie ließen sie herumgehen, alle tranken, auch die Frauen, und sie prosteten dem Sarg zu. Danach stapelten sie die Stühle aufeinander und weckten mit einem Tritt ihre Staubsauger.

Später würde der Junge sagen, dass es vom Alkohol gekommen sei, von den Flaschen, die jemand irgendwo im Gebäude vergessen habe, und von der Freude darüber, endlich Feierabend zu haben, jedenfalls schoben sie nach getaner Arbeit den Sarg ins Freie. Sie wussten nicht, ob ein Mann darin lag oder eine Frau, aber jeder Tote verdiente einen letzten Gang. Sie sangen, jeder in einer anderen Sprache, wegen des Autolärms reichten ihre Stimmen nicht weit, es war ihre eigene Feier.

Die krummen Weiden am Straßenrand wurden zu einem Ehrenspalier, und sie alle spürten die Erregung und Freiheit eines festlichen Umzugs. Sie wechselten sich neben dem Sarg ab, schienen zu tanzen, und der Junge hoffte, es möge immer so sein.

Zwei Frauen zwischen dreißig und vierzig, so genau konnte er das noch nicht schätzen, zogen ihn an sich, holten ihn aus der Gruppe heraus, umarmten ihn, ließen ihn ausgelassen ihre Körper fühlen, und der Junge, benommen vom Alkohol, doch dann gierig erwachend, überließ sich ihrem Reiben und Streicheln, er spürte einen Kuss, den Hauch einer Zunge, er hatte schon vieles gesehen, doch nur wenig berührt, erlebte seine Lust vor allem in Träumen, Träumen, die ihn später in seinem Zimmer wieder zu den üppigen Körpern dieser beiden Frauen treiben sollten, um sie endlich zu besitzen, schamlos, mit dem Mut der Träume, und so speicherte er Bild und Geruch, von Hals und Haar, von ihren glänzenden Lippen und geschminkten Augen, die Freimütigkeit ihrer unerwarteten Griffe, ihre Brüste, die von seinen Armen hochgedrückt wurden, das Stöhnen in seinem Ohr, wenn auch er fest zupackte, ihre Bäuche und Hüften, die wie Mütterhände über seine Erektion rieben, und er achtete darauf, dass ihre Aufmerksamkeit nicht nachließ, dass er ihr Spiel richtig deutete, doch sie gaben ihn diesen ganzen langen Moment nicht frei, weder die Dunkelhäutige mit dem hochgesteckten Haar, die seine Hände an ihren Hintern führte, noch die Ältere, die sich ihm lächelnd anbot für einen der kommenden Tage und seine Wangen streichelte, ein Versprechen so viel bindender als jede Tat.

Die Zeit verging, doch nichts verlosch, die Stadt, in der allmählich die Lichter aufleuchteten, war immer näher gekommen. Sie gingen die Straße entlang, vorbei an den letzten Feldern, dem Kanal und den ersten Häusern, bis sie durch Passanten und einen zufällig entgegenkommenden Polizisten aufgehalten wurden.

Aber ihre Tote hatte noch ein Mal den Mond gesehen, noch ein Mal die Menschen draußen auf der Straße gehört.

49

Dieser letzte Brief.

Er schrieb, dass er danach immer noch im Hotelzimmer geblieben sei – warum er ihr das nie zuvor erzählt habe, wisse er nicht – und dort inmitten ihrer Flecken und sonstigen Spuren die Nacht verbracht habe. Das Bad, wo die weißen Handtücher zusammengeknüllt auf dem Boden lagen, der Spiegel, von dem er sich nicht trennen konnte, als hätte er noch nicht genug geredet, noch nicht genug gehabt von der Gegenwart eines anderen im Raum. Er sog den Duft der Laken, der Kissenbezüge ein.

Säuberliche, gerade Zeilen und eine ebenso ordentliche Handschrift, so rund und deutlich für einen Mann. Dass er mit geschlossenen Augen auf ihr Kissen ejakulierte, über den Traumresten ihrer Brüste, Achseln und Haare.

Dieser späte Brief, so lange nach jener Zeit.

Tessa und Marius.

Marius und Tessa.

48

Jedes Jahr mehr Körper, jedes Jahr mehr gefangen. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie lag bequem und still, und was machte es schon aus, wie sie die Hände hielt oder welche Farbe die Decke hatte. Es war hell, ein Fenster stand offen, sie roch Metall in der Luft, Sonne auf Teer, auf dunklen, heißen Dächern.

Über alles zu lange nachgedacht. Eine Situation, die nicht mehr ohne Zweifel oder Widerspruch existieren konnte. Liegen, vielleicht doch jemanden rufen, die Zeit falsch eingeschätzt, nicht immer auf die Uhr sehen, an Marius denken und an Onno, wie ein Kind, das Kind, das sie zu werden drohte.

Sie trank einen Schluck Wasser, stilles, kaltes Wasser, das hatte sie so vereinbart; was sie trinken wollte und noch vieles mehr hatte sie angekreuzt, der letzte Anblick, die letzte Mahlzeit. Wie hatte man das früher gemacht? Bei ihrem Vater hatte sie es miterlebt, sein Mund, der plötzlich wie gebrochen herabhing, die gelbliche Hautfarbe. Sie hatte um offene Vorhänge gebeten und um Musik, aber sie wartete auf den richtigen Zeitpunkt, sie würde etwas spüren, und dann bliebe ihr noch ein Moment, lange genug.

Ihr Vater hatte nach dem Tod ihrer Mutter noch neun Jahre gelebt. Mit jedem Jahr mehr die Bürde des Einzelkinds. Zum Glück war er reich, sie nahm an, dass er hin und wieder Gesellschaft suchte, aber er versicherte ihr, dass ihre Gesellschaft für ihn das Wichtigste blieb. Über seine ersten Aussetzer hatte sie hinweggesehen, bis sie endlich anders mit ihm umzugehen wagte, ihn nicht mehr als ihren Vater sah, sondern als einen armen, alten Mann. Er ging verloren, wurde zu einem Gast in seinem eigenen Haus. Betreuung, Pflege, immer wieder andere Namen und Gesichter, sie half beim Einrichten seines neuen Zimmers. Während sie ihren Vater besuchte, dachte sie an Marius. Sie nahm Fotos mit und später nicht mehr, sie erzählte Geschichten – über seinen Urlaub mit Freunden damals in Nizza, darüber, wie er seine Frau kennengelernt hatte – und später nicht mehr.

Ihre Betreuerin kam ins Zimmer, sie kannten einander seit fast einem Jahr, hatten sich beraten in gemütlichen Besprechungsräumen, die in gedeckten Farben gestrichen waren, ein Mal sogar bei ihr zu Hause. Amy hieß sie, und mit Amy hatte sie den Vertrag für dieses Eckzimmer mit der hohen Decke und dem Blick auf die Bäume abgeschlossen. Eine Frau mit klaren Konzepten im Umgang mit anderen und einer Wohnung, die jederzeit auf Gäste eingerichtet war, oder eine stets freundliche, positive Frau, die sich nicht im stillen Ignorieren ihrer Gegner gefiel und zu viel ungetragene Kleidung im Schrank hatte – so hätte sie Amy beschrieben.

Liegst du bequem, Tessa? Ist alles gut so?

Ja.

Ich mache gleich die Flurschleuse zu, dann kannst du …

Amy flatterte mit zwei Fingern vor den gespitzten Lippen, es auszusprechen wäre obszöner gewesen als die Geste.

Sie wusste, dass nur wenige Menschen dies allein taten, erst recht in solch teuren Zimmern, und sie merkte, wie auch Amy allmählich begriff, dass sie die letzte Person war, die ihre Klientin sehen würde. Amy wurde rot, lächelte, sie schien etwas sagen zu wollen, unterdrückte den Impuls jedoch genauso schnell wieder. Noch ein Lächeln, eine unbeholfene Geste – ein Winken vielleicht –, dann fiel die Tür mit einem Klicken ins Schloss.

Die Lüftungsgitter begannen zu summen. Sie seufzte, setzte sich ein wenig aufrechter gegen das Kissen in ihrem Rücken und nahm Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche ihres Morgenmantels. Die letzte Zigarette, von all ihren Entscheidungen für diesen Tag das teuerste Extra. Und wenn sie mit ihren Kippen den ganzen Laden in Brand steckte, sie würde rauchen, bis sie umfiel. Sie lachte laut auf und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Der erste tiefe Zug ließ sie hochfahren, jagte ein Kribbeln durch ihre Fingerspitzen und Zehen. Es konnte losgehen.

Ein Vierteljahrhundert nach Marius. Sie mochte die Zahlen Sieben und Neun, und so wurde es der 7. September 2039. Irgendwo überwachte ein Monitor, ob sie noch atmete, sie wusste nicht genau, ob sie sie auch hören konnten.

Schwanz. Möse. Blasen. Fi-cken.

Wieder musste sie lachen, vielleicht eine Nebenwirkung des Mittels, vielleicht war das alles ja eine Halluzination, das Zimmer, das Bett, die Aussicht, Amy und ihr blasses Lächeln. Sie bereute, nicht doch einen jungen Mann genommen zu haben. Man, woman or beast. Nun kicherte sie wirklich. Sie hätte einen jungen Mann nehmen sollen, eine Stunde lang nur für sich. Er hätte sie in den Schlaf reiben, jetzt neben ihr liegen können, sein junger Kopf auf ihrer Brust. Sie hätte ihn dann noch kurz nackt sehen wollen, beim Baden oder hier im Zimmer, hätte seine Hüften berührt, auf beiden Seiten die flache, abfallende Kuhle zwischen Bein und Bauch. Zum letzten Mal ein Schwanz, die zarte Haut, die Erregung, dieses pralle Leben. Sie fragte sich, wann sie einschlafen würde.

Noch eine Zigarette. Sie schaltete das Gerät ein, suchte nach Marius’ Stimme. Eine seiner Kolumnen, vor vierzig Jahren im Radio gesendet. Sie wusste, wann seine Stimme zu trocken wurde, wann er stockte, wann er, froh darüber, dass der Text bald zu Ende war, kraftvoller und besser zu lesen begann. Sie lauschte, die ersten Worte, die nervöse Einleitung, die Anekdoten, die sie immer so streng kritisiert hatte, er atmete nicht tief genug ein, wodurch der nächste Satz ins Stolpern zu geraten drohte, sie drehte den Ton leise, schaltete das Gerät wieder aus.

Still, trotz der offenen Fenster. Sie wurde müde. Sie hatte keine Fotos mitgebracht. Niemand sollte ihr zusehen. Wenn man sich an Licht festhalten konnte, an dem Licht, das sich über die Buckel ihrer Füße, über die Decke breitete, dann hielt sie sich jetzt an Licht fest.

Marius schlafend an einem Tisch, den Kopf auf den Armen, ein junger Mann, ein junger Marius mit grauem Haar und Falten um den Mund, jung und alt, zu Hause und nicht zu Hause, vertraut und fremd, sie merkte, dass sie einen Traum betreten hatte, und Marius schlief, und alles an ihm war ruhig, wenn er zu lange so liegen blieb, würden seine Arme zu gefühllosen Stöcken werden, aber sie konnte ihn nicht wecken, denn dann würde er erschrecken, sie ließ ihn ausruhen, ließ ihn weiterschlafen, dann war da ein Fenster, und Onno winkte, es schien ihr die Moddermanstraat zu sein, die alte Wohnung, sie ging hinauf zu Onno, Treppen und Flure, es dauerte zu lange, schleppende Schritte und immer weniger Licht, sie war wieder draußen auf der Straße, fuhr Fahrrad, vorbei an den am Bürgersteig parkenden Autos, fuhr unter den Bäumen der Stadt dahin, dann die Angst, von etwas wegzufahren, das übermächtige Gefühl, dass sie zurückmusste, umkehren, zurück zu dem Fenster und zu Onno, selbst wenn sie nur zurückwinken könnte, doch was sie auch versuchte, es schien unmöglich, das Fenster war unauffindbar geworden, in einen Traum eingreifen, das wusste sie, das wusste jeder, in einen Traum eingreifen bedeutet wach werden, die Augen zukneifen und im Bett hochschrecken oder weiterfahren, so klar war ihre Überlegung, und sie beschloss, ein Risiko einzugehen, fuhr, ohne die Pedale zu berühren, glitt weiter unter den Bäumen dahin, löste die linke Hand vom Lenker, griff nach hinten, und sie schlief weiter, schwebte weiter über die Straße, und sie erkannte, dass sie es schaffen würde, dass sie genug Zeit hatte oder bekommen hatte. Sie tastete nach hinten, bis sie ein Kinderbein spürte, Onnos Bein in dem kleinen Fahrradsitz hinter ihr, den gerippten Stoff seiner Hose, sie fühlte, dass er seine Gummistiefel trug, streichelte das Knie, die Wade, es dauerte alles lange, so lange, und nachdem sie durch ein Schlagloch gefahren waren, konnte sie ihn endlich hören, er kicherte aufgeregt hinter ihr, während sie sein Bein festhielt, da kommt noch eins, rief sie, und es kam noch eins, und danach sah sie eine Steigung, und sie spürte Onnos kleine Hände in ihrem Rücken, es funktionierte tatsächlich, seine Hände schoben sie an, sie wurde schnell und stark, und sie erreichten die Kuppe, dann die Abfahrt, und sie blickte sich nicht um, sondern fasste nach hinten, der Stoff seiner Winterjacke, der Bauch darunter.

Alles zu gelenkt, zu zielgerichtet. Hustend wurde sie wach. Es lag an diesem Zeug, das sie ihr gegeben hatten. Sie hatte es angekreuzt, weil sie dachte, dass es nicht wirken würde. Und jetzt hatte sie sowohl Marius als auch Onno gesehen. Sie ärgerte sich über die Bequemlichkeit ihrer Sehnsüchte, sie zitterte und schluchzte, doch dann die Erkenntnis, dass dies ihre letzten Tränen waren, und sie atmete tief durch und trocknete sich die Augen. Irgendwo neben ihrer rechten Hand war ein Alarmknopf in den Bettrahmen eingelassen. Sie hörte einen Vogel, den suchenden, zwitschernden Kinderruf einer Amsel nicht weit von ihr entfernt, vielleicht sang sie vom Dach herab. Orangefarbener Schnabel, gläserne Augen. Der Schwarzkopf singt. Wurmfresser.

Die Baumwipfel waren noch grün, borstige, zur Sonne hin gekrümmte Zweige mit jungen, geschlossenen Tannenzapfen, aber schon dicht darunter verdorrten die Stämme rasch, bis sie von unten kaum mehr Bäumen glichen, sondern versengten Pfählen. Hier und dort standen niedrige, ungleichmäßig abgehackte Stümpfe. Auf den braunen Waldboden fiel nur wenig Licht.

Sie war allein. Sie versuchte, etwas zu riechen, doch nichts drang zu ihr durch. Sie bückte sich, fuhr mit den Fingern durch die trockene Nadeldecke, spürte das Piken und war beruhigt, doch mehr wollte sie nicht ausprobieren. Sie richtete sich wieder auf und lief los. Ein Verlangen nach Licht, danach, den Himmel zu sehen.

Es war nicht weit. Die Sonnenstrahlen flackerten immer weniger, fielen immer gleißender zwischen Zweigen und Stämmen hindurch, bis sie vor sich eine freie Fläche sah und merkte, dass sie plötzlich schneller lief. Sie erreichte den Waldsaum und blickte über eine Sandverwehung. Niedrigere, noch trockenere Bäume lagen in ausgedörrten Kreisen über den sanften gelben Hügeln verstreut. Dunkle Büschel Silbergras, dunkle Flecken abgestorbenen Heidekrauts. Sie hatte keinen Durst, verspürte weder Hunger noch Schmerz. Sie lief weiter.

Die Sonne stand hoch, ihr Schatten war kurz und scharf umrissen. Sie wusste, wo sie war, und fragte sich, ob sie noch Menschen sehen würde. Ihre Eltern, umringt von Essen und Trinken auf einer alten Decke im Schatten eines verdorrten Baums. Sie hielt nach ihrem Vater Ausschau, der zum blauen Himmel hinaufwies, wo eine Lerche sein sollte. Sie horchte. Aber sie konnte niemanden entdecken, die Landschaft blieb frei von Menschen und Stimmen. Ihre nackten Füße hinterließen Spuren, sie schaute sich um und sah den Weg, den sie vom Waldrand her zurückgelegt hatte.

Im Zickzack lief sie von Schatten zu Schatten, doch sie hörte damit auf, als sie merkte, dass die vom Himmel herabstrahlende Hitze sie nicht erreichte, sie nicht so benommen machte wie sonst. Sie ging wieder geradeaus, vermisste den Geruch von Sonne auf Harz.

Es war kein zielloses Umherirren. Hinter dem Sand kam ein breiter Streifen niedriger Bäume in Sicht, die weniger dicht standen als zu Beginn. Ihre Schritte trafen auf festeren Boden, zerdrückten Heidekraut.

Wind. Weiße Birkenrinde, Grün tauchte zwischen den Bäumen auf, hohe, wiegende Halme. Der Boden wurde feuchter, gab federnd nach. Sie ging weiter, an kleinen Senken und Baumstümpfen vorbei, dann an einem Gerüst aus Zweigen, das an einem Baum lehnte, das längst verlassene Werk von Kindern, hier war seit Langem niemand mehr gewesen, auch sie nicht, und die Sonne und das Blau des Himmels, die zuvor fast ungehindert durch das Blätterdach gedrungen waren, schimmerten nur noch undeutlich, bis sie auch das Ende dieses Waldes erreichte, die Birken endeten, Heidekraut und Schilf einen neuen Saum bildeten und sie auf das erste Wasser blickte. Ihre Füße versanken in warmem, sumpfigem Gras.

Der Horizont lag hinter den Bäumen, aber er war da, direkt vor ihr, wo sich die Wolken grau und dunkel auftürmten. Sie ging weiter, hinein ins Wasser. An dieser Stelle war es nicht tief, der weiche Boden verlangsamte ihre Schritte, ihre Bewegungen wirbelten Schlamm auf, und sie konnte ihre Beine nicht mehr sehen. Sie wollte die Mitte des kleinen Sees erreichen.

Die dichten Wolken näherten sich dem Ufer. Sie hatte es fast geschafft.

Der Apparat gab ein Geräusch von sich, aber nicht hier, das Signal für ein versagendes Herz erschallte in einem fensterlosen Raum irgendwo im Keller. Eine junge Frau notierte die Uhrzeit, wartete noch fünf Minuten. Dann schob sie den Stuhl zurück und streckte sich. Ihre langen knochigen Arme reckten sich nach der niedrigen Decke, ihre Ellbogen knackten. Sie gähnte geräuschvoll, spürte ihre trockene Kehle.

Jeden Tag im Dunkeln unter diesen Lampen, ihre Haut fühlte sich matt und trocken an, zu Hause in ihrem unbarmherzigen Spiegel schien sie das Fahle nicht mehr loszuwerden. Sie stand vom Tisch auf und dachte an das Wetter draußen, an die kürzer werdenden Tage, hier drinnen hatte sie nichts von der trügerischen Jahreszeit, diesem späten Sommer. Sie freute sich auf den Winter, ertrug ihre Arbeit im Düsteren leichter, wenn es keine Sonne mehr gab, die sie vermissen konnte, wenn es allen gleich erging an dem langen, trüben Tag. Sie sah sich selbst draußen auf der Straße.

Die Lichterketten vor den Geschäften, die Wärme, die aus offenen Türen drang.

47

Für eine alte Frau war es schwer, etwas zu verbrennen. Drinnen war es unmöglich, erst recht im luxuriösen Ambiente ihrer letzten Unterkunft. Sie hatte zu lange gewartet, jetzt musste sie das Risiko eben in Kauf nehmen.

Sie ging in den Park, in ihrer Umhängetasche das Manuskript und ein dermaßen altes Feuerzeug, dass es mittlerweile schon nicht mehr legal war. Sie hatte alle Dateien gelöscht oder vernichtet, dieser dicke Stapel Papier war das Letzte, was noch übrig blieb. Die Sonne schien, ein Loch im Boden würde genügen. Aber das schöne Wetter hatte die Leute in den Park gelockt, nirgends war es ruhig und einsam genug für ein unauffälliges Feuer.

Es war zu spät Sommer geworden, die halb nackten Körper auf den Decken oder im bleichen Gras hatten etwas Getriebenes, Verzweifeltes. Sie betrachtete die jungen Mädchen, manche mollig, andere schlank, die in Jeans und Bikinioberteil Wein tranken, etwas aßen oder neben ihrem Freund lagen, einen Arm über seinen nackten Bauch gebreitet. Manche von ihnen hatten schwere Brüste, die im Takt lebhafter Gespräche hin und her schwangen, sie war neidisch, und doch schaute sie unverwandt hin, versuchte junge Männer zu ertappen, die mit leicht geöffneten Lippen reglos und grimmig starrten und zornig vor sich hin träumten.

Sie saß auf einer Bank und begann sich Sorgen zu machen, dass der Fußweg zurück zu anstrengend werden könnte. Vor ihr trat ein Vater einen aufblasbaren Ball zu seiner vier- oder fünfjährigen Tochter. Sie hoffte, der Ball würde nach einem Fehlschuss auch einmal in ihre Richtung rollen, damit sie dem Mädchen ein Lächeln oder eine andere schüchterne Reaktion entlocken könnte. Aber das Spiel der beiden war ruhig und heiter, und nach ein paar Minuten setzten sie sich auf eine Decke, und der Vater öffnete eine Tüte mit belegten Broten. Sie sah zu, wie der Mann und das Mädchen aßen und danach etwas tranken und inmitten von Büchern und Spielzeug im Schatten eines Kastanienbaums vor sich hin dösten.

Noch ein letztes Stück zu der hoffentlich verlassenen Wiese hinter dem Spielplatz, dann würde sie aufgeben. Auf halber Strecke kam sie an einem Mülleimer vorbei, und ihr geplantes Opfer erschien ihr auf einmal albern, dunkel und primitiv. Sie lachte und öffnete ihre Tasche.

Sie quetschte das Manuskript zwischen zerdrückte Becher und feuchte Verpackungen. Da lag es gut, niemand würde es herausfischen. Ein Mal energisch die Hände reiben, das war das einzige Ritual, das sie sich zugestand. Dann folgte sie dem Weg zum Ausgang, vorbei an den Möwen am Wasser und den Kindern, die das Radfahren lernten, und sie überlegte, was sie an diesem Abend essen sollte.

46

Niemand wollte ihre Bücher haben, auch Billie nicht. Meter um Meter hatten sie sich in ihrem kleinsten Zimmer angesammelt. Es war lange her, seit sie zum letzten Mal in eines davon hineingeschaut hatte. Aber sie durften nicht weg, sie gehörten dorthin.

Sie hatte beschlossen, ihre letzte Woche in einem Hotel zu verbringen, in einer Suite mit Balkon. In einem flauschigen Herrenbademantel, der bis auf den Boden reichte, blickte sie mit nassem Haar rauchend über die Stadt. Die Hände auf der kühlen Balustrade, unter ihr Straße und Wasser, das metallische Klingeln vorbeischeppernder Straßenbahnen, gestikulierende Passanten, der sanft wogende Fluss, Straßencafédüfte und unerwartete Kinderstimmen. Jemand schaute hoch, sah sie und winkte, sie winkte zurück. Dann drückte sie den Stummel aus und ging hinein, um sich anzuziehen.

Billie saß ihr gegenüber, auf dem Tisch zwischen ihnen stand eine geöffnete Flasche. Champagner, sonst nichts. Sie trank krampfhaft, genau wie Billie nahm sie tiefe Züge aus hohen Wassergläsern. Billies Vorderzimmer mit Blick auf die einsame Gracht.

Ein Fremder wird dich anfassen. An dir herumhantieren. Die brechen einem die Arme, wenn sie einen aus den Kleidern zerren.

Ich kann mich noch sehr gut selbst ausziehen.

Danach meine ich.

Danach merke ich nichts mehr davon.

Dann liegst du da allein, mit offenen Augen. Niemand wird sie schließen.

Die brauchen auch nicht geschlossen zu werden. Ich habe keine Angst.

Ich schon, und ich zähle doch auch.

Sie erschrak, wollte es sich jedoch nicht anmerken lassen, und sofort überkam sie die Rührung, weil Billie so freiheraus gesprochen hatte. Der Unterschied, der dadurch offenbar wurde. Mehr als sie hatte sich Billie für einen anderen Menschen geöffnet. Nach der Überraschung das Bedürfnis, Billie für ihre Freundschaft zu danken, für all ihre Geduld und den Trost, die sie einer garstigen Frau schenkte, die so wenig von beidem zurückgab. Aber sie riss sich zusammen, schützte sich, verengte den Raum für Reue. Billie hatte recht, doch alles war schon zu weit gediehen, um das zuzugeben. Dumpfe Geräusche drangen durch die Wände, das leise Dröhnen von Musik.

Hatten die Leute nebenan etwa Kinder?

Bleib hier. Du kannst bei mir übernachten. Ich lasse deine Koffer holen, und dann schläfst du einfach hier, im Wohnzimmer, auf dem Speicher, in der Küche, wo du willst. In meinem Zimmer.

Nicht in der Küche. Das ist lieb von dir, aber ich bleibe, wo ich bin. Es ist ganz in der Nähe.

Da bist du allein, hier nicht.

Ich lebe seit fünfundzwanzig Jahren allein. Moment mal, darf ich dann hier rauchen?

Tessa, du blöde alte Kuh.

Nicht einmal jetzt willst du mit mir rauchen?

Nein, nicht einmal jetzt.

Wir müssen mehr trinken.

Sie hob die Flasche, und Billie streckte ihr das Glas entgegen. Danach schenkte sie sich selbst nach.

Wo sollen wir heute Abend essen gehen?

Zu schade, dass ich Marius nie kennengelernt habe.

Das hast du schon öfter gesagt. Du hast viele Leute nie kennengelernt. Marius nicht, Onno nicht. Paul. Ich kenne deine Eltern nicht. Als wir uns begegnet sind, lebten sie noch. Und dein Bruder. Keine Ahnung, wie der aussieht.

Da hast du nicht viel verpasst.

Ein Krankenwagen fuhr vorbei. Sie sah zu Billie auf, die zurückstarrte, den Blick nicht abwandte. Danach Trinken, Schweigen, Sehen, wie entlang der Gracht die Lampen angingen.

Ich habe etwas für dich.

Billie stand auf, vorsichtig wegen des Champagners, sie stützte sich mit einer Hand auf dem Tisch ab und atmete durch die Zähne ein. Dann zog sie ihre Kleidung gerade und richtete die Klammern in ihrem glatten Haar.

Ich werde kahl. Das hätte ich mir denken können, mein Großvater mütterlicherseits hatte mit vierzig schon keine Haare mehr. Die Hormone haben es zum Glück noch eine ganze Weile hinausgezögert.

Hör auf zu jammern. Mir sind schon die ersten Haare ausgefallen, bevor ich sechzig war, und ich war nie ein Mann.

Sie hievte sich nun ebenfalls aus ihrem Sessel hoch und lachte darüber, wie viel Mühe es sie kostete, lachte über ihre zitternden Arme auf den Lehnen, ihr Ächzen. Als sie endlich aufrecht stand, breitete sie die Arme aus wie ein Athlet nach dem Sprung. Billie klatschte.

Komm, du verrücktes Huhn, wir gehen in den Keller.

Im Souterrain lag Billies Arbeitsraum, das Wort Atelier erschien ihr dafür übertrieben. An der schmalen Treppe nach unten bemerkten beide, wie auch die andere zögerte, und sie lachten.

Ich gehe vor, stütz dich ruhig ein bisschen auf mich.

Sie legte eine Hand auf Billies breite Schulter, und gemeinsam knarzten sie Stufe für Stufe nach unten.

Es roch nach einer chemischen Substanz, Billie knipste das Licht an, und flackernd kamen Gestelle mit Gemälden darauf zum Vorschein.

So viele. Du arbeitest zu viel.

Die meisten müssen nur gereinigt werden.

Arbeitest du immer noch abends?

Morgens schlafe ich.

Du bist sechsundsechzig.

Und du achtzig …

Neunundsiebzig. In keinem Traum ist man je achtzig.

Wann hast du denn jemals aufgehört zu arbeiten? Und jetzt sei still, sonst war’s das mit der Überraschung.

Einige der Arrangements hatten etwas Medizinisches, ein Labor mit Lampen und Mikroskopen. Sie betrachtete die Leinwände, die ungerahmt an Staffeleien lehnten und auf Tischen lagen. Nichts Großes, alles hatte Zimmerformat. Ein Seestück, ein Stillleben mit Glas und Damast, ein breites Gemälde in biederen roten, braunen und blauen Pinselstrichen.

Welches ist schwieriger, das oder das?

Tu nicht so, als wärst du noch nie hier gewesen. Das meiste sind Erbstücke, das weißt du doch. Ein bisschen was für Museen. Die Erben wollen es billig haben. Das Braun-Blaue da gehörte einer Oma und muss nur für die Schätzung ein bisschen aufgefrischt werden.

In einem freien Bereich im hinteren Teil des Souterrains stand eine von ihnen abgewandte Staffelei mit dem größten Gemälde im Raum. Sie ging darauf zu und entdeckte Vermerke auf dem Rahmen und der rohen Leinwand.

Das ist Deutsch.

Das ist die Überraschung.

Sie warf Billie einen Blick zu und ging um die Staffelei herum.

Billie, du Miststück.

1907 starb Paula Modersohn-Becker, neunzehn Tage nachdem sie ihr einziges Kind, eine Tochter namens Mathilde, zur Welt gebracht hatte. Sie klagte über Schmerzen in den Beinen, der Arzt riet ihr zu Bettruhe. Auf einem Foto vom Wochenbett liegt Mathilde, klein, zerbrechlich und mit geschlossenen Augen wie jedes andere Baby, auf der Brust ihrer Mutter. Da war Paula einunddreißig. Sie gehörte zu den großen Malern am Beginn dieses großen, toten Jahrhunderts. Neunzehn Tage lag sie unter den klammen Decken, ohne die Beine zu bewegen, bis der Arzt ihr endlich erlaubte aufzustehen. Paula stand auf, doch eine plötzliche Embolie zwang sie, sich wieder hinzusetzen. Sie spürte, dass ihr nur wenig Zeit blieb. Und verlangte nach Mathilde.

1906, ein Jahr vor ihrem Tod. Eine nackte Frau, seitlich auf dem Boden liegend, die Arme um einen Säugling geschlungen. Ihre Augen sind geschlossen, sie scheint zu schlafen, von dem Kind sieht man einen Teil des Hinterkopfs, es liegt behütet, geborgen. Klobige, schlichte Figuren, eine Mutter mit ihrem Kind.

Unverwandt starrte sie das Gemälde an, den Nabel, den breiten Warzenhof, die Initialen in der Ecke.

Ist das echt?

Ich kenne den Direktor. Wir sind einmal bei einem Empfang in Bremen als Letzte übrig geblieben. Daran hat er sich erinnert, und irgendwann haben sie dann dieses Bild vorbeigebracht. Weißt du noch, wie ich damals den de Hondecoeter machen musste? Das hier macht mir viel mehr Angst.

Kann ich mir vorstellen.

Billie trat hinter sie.

Ich habe noch nichts daran gemacht. Alles, was jetzt damit passiert, bekomme ich leicht wieder weg.

Was meinst du damit?

Aufgehängte Gemälde, unerreichbar an hohen weißen Museumswänden, waren in ihren Augen schon immer Farbverschwendung gewesen. Billie wusste das. Warum sollte ein Maler Materialien verwenden, die sich wölben und rollen, die Risse bekommen und trockene Falten werfen, wenn nicht, damit man sie berührt?

Nachweis der im Roman zitierten Texte

Simone de Beauvoir, Eine transatlantische Liebe. Briefe an Nelson Algren. 1947–1964. Herausgegeben von Sylvie Le Bon de Beauvoir. Deutsche Übersetzung von Judith Klein. Copyright © 1999 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Copyright der französischen Originalausgabe © Editions Gallimard, Paris 1997.

William Somerset Maugham, Der bunte Schleier. Aus dem Englischen von Anna Kellner und Irmgard Andrae. © der deutschsprachigen Ausgabe Diogenes Verlag AG, Zürich, 1986.

William Somerset Maugham, Der Besessene. Übersetzt v. Rosalind Copping. Leipzig / Wien: Tal 1927.

The Journals of Sylvia Plath. 1950–1962. Transcribed from the original manuscripts at Smith College. Edited by Karen V. Kukil, London: Faber and Faber 2000. (27. März 1965): Übersetzt v. Nathalie Lemmens.

Anne Sexton, Alle meine Lieben / Lebe oder stirb. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Elisabeth Bronfen. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. © 1996 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.

Anne Sexton, »Brief an Mary Gray Harvey, 40 Clearwater Road, Weihnachtstag 1957«, in: Dies.: Selbstporträt in Briefen. Hrsg. von Elisabeth Bronfen. Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1997.

Anne Sexton, »For Johnny Pole on the forgotten beach«, in Dies.: To Bedlam and part way back. Boston: Houghton Mifflin, 1960. Übersetzt v. Nathalie Lemmens.

Shakespeares Sonette. Übersetzt v. Max J. Wolff. Berlin: Behr 1903.

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Originaltitel: Godin, held

Originalverlag: Em. Querido’s Uitgeverij B.V., Amsterdam

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Die Deutsche Verlags-Anstalt dankt der Dutch Foundation for Literature für die Förderung dieser Übersetzung.

Copyright © 2014 by Gustaaf Peek

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Umschlag: Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln,

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ISBN 978-3-641-17424-8V001

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