Gratwanderung - Joan Halifax - E-Book

Gratwanderung E-Book

Joan Halifax

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Beschreibung

Die Zen-Meisterin und große Friedensaktivistin Joan Halifax hat die fünf Kerneigenschaften erforscht, die echte Charakterstärke und gelebte Spiritualität verkörpern: Altruismus, Empathie, Integrität, Respekt und Engagement. Doch werden diese Qualitäten falsch verstanden oder übertrieben, können sie auch die Ursache für persönliches und soziales Leiden sein. Deswegen ist ihre Entwicklung immer auch eine "Gratwanderung". Es gilt, die Balance zu finden zwischen unserem eigenen Wohl und dem der anderen. Ein einfühlsames Praxisbuch, das uns verstehen lässt, wie unsere größten Herausforderungen zur wertvollsten Quelle unserer Weisheit werden können. Joan Halifax hat durch ihre Arbeit als soziale Aktivistin, Anthropologin und buddhistische Lehrerin unzählige Leben auf der ganzen Welt bereichert. Über viele Jahrzehnte hinweg hat sie auch mit Neurowissenschaftlern, Klinikern und Psychologen zusammengearbeitet, um zu verstehen, wie kontemplative Praxis ein Mittel zur persönlichen und sozialen Transformation sein kann. Ein kraftvoller Leitfaden, wie wir die Freiheit finden können, die wir für andere und für uns selbst suchen.

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Joan Halifax

Gratwanderung

Achtsame Ethik für ein nachhaltig bewusstes Leben

Aus dem Englischen von Bernhard Kleinschmidt

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die Zen-Meisterin und große Friedensaktivistin Joan Halifax hat die fünf Kerneigenschaften erforscht, die echte Charakterstärke und gelebte Spiritualität verkörpern: Altruismus, Empathie, Integrität, Respekt und Engagement. Doch werden diese Qualitäten falsch verstanden oder übertrieben, können sie auch die Ursache für persönliches und soziales Leiden sein. Deswegen ist ihre Entwicklung immer auch eine „Gratwanderung“. Es gilt, die Balance zu finden zwischen unserem eigenen Wohl und dem der anderen. Ein einfühlsames Praxisbuch, das uns verstehen lässt, wie unsere größten Herausforderungen zur wertvollsten Quelle unserer Weisheit werden können.

Joan Halifax hat durch ihre Arbeit als soziale Aktivistin, Anthropologin und buddhistische Lehrerin unzählige Leben auf der ganzen Welt bereichert. Über viele Jahrzehnte hinweg hat sie auch mit Neurowissenschaftlern, Klinikern und Psychologen zusammengearbeitet, um zu verstehen, wie kontemplative Praxis ein Mittel zur persönlichen und sozialen Transformation sein kann.

Ein kraftvoller Leitfaden, wie wir die Freiheit finden können, die wir für andere und für uns selbst suchen.

Inhaltsübersicht

WidmungVorwortEinführung – Ein Blick vom GratGrat-ZuständeOhne Schlamm kein LotosEin weiter BlickGegenseitige AbhängigkeitVergeblichkeit und Mut1. AltruismusAuf dem hohen Grat des AltruismusIst das Selbst selbstsüchtig oder selbstlos?Das Selbst vergessenAbsturz vom Grat des Altruismus: pathologischer AltruismusHilfe, die schadetGesund oder nicht?Der FeuerlotosAltruistische VoreingenommenheitAltruismus und die anderen Grat-ZuständeMethoden zur Unterstützung von AltruismusDie Praxis des Nicht-WissensDie Praxis, Zeugnis abzulegenMitfühlendes HandelnEntdeckungen auf dem Grat des AltruismusDie Marionette und der verwundete HeilerLiebe2. EmpathieAuf dem hohen Grat der EmpathieSomatische EmpathieEmotionale EmpathieKognitive EmpathieAuf ein Knie gehenDurch und durchAbsturz vom Grat der Empathie: empathischer StressEmpathie ist nicht MitgefühlEmpathische ErregungEmotionale Abstumpfung und BlindheitZwischen Geschenk und ÜbergriffigkeitEmpathie und die anderen Grat-ZuständeMethoden zur Unterstützung von EmpathieIntensives ZuhörenDie Empathie lenkenDen anderen wieder zum Menschen machenEntdeckungen auf dem Grat der Empathie3. IntegritätAuf dem hohen Grat der IntegritätMoralische Kraft und radikaler RealismusNach den eigenen Gelübden lebenAbsturz vom Grat der Integrität: moralisches LeidenMoralischer StressSchmerz durch moralische VerletzungMoralische Empörung und das klebrige Gefühl von Zorn und AbscheuMoralische Apathie und der Tod des HerzensIntegrität und die anderen Grat-ZuständeMethoden zur Unterstützung von IntegritätDen Kreis der Fragen ausweitenGelübde, nach denen wir leben könnenDankbarkeit praktizierenEntdeckungen auf dem Grat der Integrität4. RespektAuf dem hohen Grat des RespektsRespekt für andere, für Prinzipien und für uns selbstDie Hände zusammenlegenAnderen die Füße waschenWasser ist LebenAbsturz vom Grat des Respekts: RespektlosigkeitSchikaneHorizontale FeindseligkeitVerinnerlichte UnterdrückungVertikale GewaltGemeinsame Macht und Macht über jemandenDer Würde beraubtAngulimalaUrsachen und WirkungenRespekt und die anderen Grat-ZuständeMethoden zur Unterstützung von RespektDas Drama-DreieckDie fünf Wächter der RedeDas Selbst mit den anderen austauschenEntdeckungen auf dem Grat des Respekts5. EngagementAuf dem hohen Grat des EngagementsEnergie, innere Beteiligung, EffizienzDas Geschenk, geschäftig zu seinAbsturz vom Grat des Engagements: BurnoutWer brennt da aus?Süchtig nach GeschäftigkeitGiftiger ArbeitsstressEngagement und die anderen Grat-ZuständeMethoden zur Unterstützung von EngagementArbeit als PraxisRechten Lebensunterhalt praktizierenDie Praxis, nicht zu arbeitenEntdeckungen auf dem Grat des EngagementsSpielVerbundenheit6. MitgefühlDas Überleben der WohlwollendstenMitgefühl im Spiegel der WissenschaftDrei Gesichter des MitgefühlsReferenzielles MitgefühlAuf Einsicht gegründetes MitgefühlNichtreferenzielles MitgefühlAsanga und der rote HundDie sechs VollkommenheitenDie Feinde von MitgefühlDie Arithmetik des MitgefühlsMitgefühl empfinden und verlierenMitgefühl unter der LupeMitgefühl besteht aus verschiedenen ElementenMitgefühl einübenMitgefühl – eine Methode zur PraxisMitgefühl an Orten großen LeidensDer Weg aus der HölleDer magische SpiegelDank
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Für Eve Marko und Bernie Glassman,

Mayumi Oda und Kazuaki Tanahashi

in grenzenloser Dankbarkeit

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Vorwort

Ich bin mit Roshi Joan Halifax auf alten Handelspfaden über die tibetische Hochebene gewandert und mit ihr in New Mexico auf weglosen Berghängen in ein Land mit klaren Bächen und Sommergewittern hinaufgestiegen. Den großen Wallfahrtsberg Kailash hat sie, wie ich weiß, viele Male umwandert, sie ist alleine durch die Wüsten von Nordafrika und Mexiko gestreift, zu Fuß durch ganz Manhattan gegangen, hat in ihrem eigenen Zen-Zentrum und in vielen Tempeln an beiden Küsten Nordamerikas und in Asien Gehmeditation gemacht. Auf ihrem Lebensweg als medizinische Anthropologin, buddhistische Lehrerin und Ehrenamtliche hat sie unsichtbare Barrieren durchbrochen und viele Menschen mitgenommen. Sie ist eine klar denkende und furchtlose Reisende, und in diesem Buch berichtet sie, was sie auf Reisen durch Gebiete erfahren hat, die viele von uns gerade erst erforschen oder am Horizont der individuellen und gesellschaftlichen Veränderung erblicken.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich unser Verständnis der menschlichen Natur revolutionär verändert. Die in vielen Wissenschaften vorherrschende Annahme, der Mensch sei im Grunde egoistisch und habe in erster Linie private Bedürfnisse – nach materiellen Gütern, erotischem Genuss und Familienbeziehungen –, ist umgestoßen worden. In so unterschiedlichen Disziplinen wie der Wirtschaftswissenschaft, der Soziologie, den Neurowissenschaften und der Psychologie haben neuere Forschungen ergeben, dass wir als mitfühlende Wesen geboren werden, die auf die Bedürfnisse und das Leiden von anderen eingestimmt sind. Während man in den 1960er Jahren nach dem Modell der »Tragik der Allmende« meinte, wir wären zu egoistisch, als dass wir uns um in gemeinsamem Besitz befindliche Systeme, Ländereien und Güter kümmern könnten, stellt man heute fest, dass Variationen solcher Systeme – von Weiderechten in landwirtschaftlichen Gesellschaften bis hin zur Sozialversicherung in den USA – durchaus gut funktionieren können und das vielerorts auch tun. Elinor Ostrom, die sich mit erfolgreicher ökonomischer Kooperation beschäftigt hat, ist die bislang einzige Frau, die den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat.

In der Katastrophensoziologie wiederum hat man dokumentiert und demonstriert, dass sich ganz normale Menschen bei plötzlichen Katastrophen wie Erdbeben und Wirbelstürmen tapfer, improvisationsfähig und zutiefst altruistisch verhalten. Oft finden sie Freude und Sinn in der Rettungs- und Wiederaufbautätigkeit, der sie sich als begeisterte, selbstorganisierte Freiwillige widmen. Andere Untersuchungen zeigen, dass es schwer ist, Soldaten das Töten beizubringen; viele von ihnen leisten unterschwellig oder offen Widerstand oder erleiden durch diese Erfahrung schweren Schaden. In der Evolutionsbiologie, der Soziologie, den Neurowissenschaften und vielen anderen Fachgebieten finden sich Hinweise darauf, dass wir unsere alten misanthropischen (und misogynen) Vorstellungen aufgeben und einen völlig neuen Blick auf die menschliche Natur werfen müssen.

Es gibt immer mehr Argumente für diesen anderen Sinn dafür, wer wir wirklich sind, und die möglichen Konsequenzen sind ebenso gewaltig wie ermutigend. Aufgrund der neuen Perspektive darauf, wer wir sind und wozu wir fähig sind, können wir großzügigere Pläne für uns selbst, unsere Gesellschaft und die ganze Erde schmieden. Es ist, als hätten wir eine neue Landkarte der menschlichen Natur geschaffen, die durch erlebte Erfahrungen und spirituelle Lehren bereits teilweise bekannt war. Was sie bisher verdeckt hat, war die westliche Vorstellung, wir seien hartherzig, selbstsüchtig und unkooperativ, weshalb es uns beim Überleben um Konkurrenz statt um Zusammenwirken gehe. Diese allmählich zum Vorschein kommende Landkarte ist von großer Bedeutung. Sie legt das Fundament dafür, uns und unsere Möglichkeiten auf neue, hoffnungsvolle Weise zu betrachten; und sie weist darauf hin, dass viel von unserer Unbarmherzigkeit und unserem Elend erlernt ist und nicht angeboren oder unvermeidlich. Großteils ist diese Landkarte bisher allerdings erst ein vorläufiger Entwurf oder ein Überblick, keine Schritt-für-Schritt-Anleitung für die Reise.

Was wir vor uns haben, ist also in erster Linie ein Wegweiser zu einer Zukunft, in der wir über ein idealistischeres, großzügigeres, mitfühlenderes und mutigeres Selbst verfügen. Die Hoffnung, es würde ausreichen, einfach zu diesem besseren Selbst zu werden, dürfte allerdings naiv sein. Auch an unseren besten Tagen stoßen wir auf Hindernisse, darunter empathischer Stress, moralische Verletzungen und viele andere Herausforderungen, die Joan Halifax in diesem Buch so kenntnisreich beschreibt. Gut zu sein ist, wie sie uns zeigt, kein glückseliger Zustand, sondern ein komplexes Projekt, zu dem die gesamte Landschaft unseres Lebens samt ihren Verwerfungen und Misserfolgen gehört.

Joan schenkt uns etwas außerordentlich Wertvolles. Sie hat diese Gegenden erforscht und viel von ihren eigenen Erfahrungen wie auch von denen anderer gelernt, von leidenden Menschen und von jenen, die Leiden zu lindern versuchten. Dabei hat sie erfahren, dass das Bemühen, Leiden zu lindern, mit eigenen Schmerzen verbunden sein kann. Sie weiß, wie wir dieser Misere, die uns unsere Lebensfreude raubt, entkommen können. Auf der Reise durch die komplexen menschlichen Landschaften hat sie erlebt, dass uns kein reines Paradies erwartet. Sie hat gesehen, worauf viele nur aus der Ferne zeigen – die Gefahren, Tücken, Fallstricke und Niederungen ebenso wie die Gipfel und Möglichkeiten. In diesem Buch weist sie uns einen Weg, den wir mutig und fruchtbringend beschreiten können, zu unserem eigenen Wohle und zu dem aller Wesen.

 

Rebecca Solnit

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Einführung – Ein Blick vom Grat

In den Bergen von New Mexico steht eine kleine Blockhütte, in der ich so viel Zeit verbringe, wie mir möglich ist. Sie befindet sich in einem tiefen Tal im Herzen der Sangre de Cristo Mountains. Eine anstrengende Wanderung führt zu dem über dreitausendsechshundert Meter hohen Bergkamm hinauf, von wo ich die tiefe Schlucht des Rio Grande, den Rand der vulkanischen Valles-Caldera und den markanten Tafelberg Pedernal sehen kann, wo nach der Überlieferung der Diné der Erste Mann und die Erste Frau geboren wurden.

Wenn ich auf dem Bergkamm entlanggehe, denke ich immer darüber nach, was so eine Gratwanderung bedeutet. Es gibt Stellen am Kamm, an denen ich besonders gut aufpassen muss, wo ich hintrete. Im Westen erstreckt sich eine schroffe Geröllhalde bis ins üppige bewachsene, schmale Tal des San Leonardo River hinein, im Osten fällt eine steile Felswand zum dichten Wald am Trampas River ab. Mir ist bewusst, dass ein falscher Schritt auf diesem Grat mein Leben verändern könnte. Unter mir und in der Ferne breitet sich eine stellenweise von Bränden verwüstete Landschaft aus, in der reihenweise Bäume sterben, weil sie zu wenig Sonnenlicht bekommen. Zwischen solchen geschädigten Bereichen und den gesunden Waldstücken ist teils eine scharfe Grenze sichtbar und teils ein breiter Übergang. Ich habe gehört, dass alle Dinge von ihren Rändern her wachsen. Zum Beispiel entwickeln Ökosysteme sich von ihren Grenzen her, wo meist eine größere Artenvielfalt herrscht.

Meine Hütte steht an der Grenze zwischen einem vom Schmelzwasser des tiefen Schnees genährten Feuchtgebiet und einem dichten Fichtenwald, in dem es ein Jahrhundert lang nicht gebrannt hat. Zu der üppigen Natur an dieser Grenze gehören Zitterpappeln mit weißer Rinde, wilde Veilchen und violette Akelei ebenso wie der kecke Diademhäher, der Raufußkauz, das Schneehuhn und der wilde Truthahn. Im hohen Feuchtgras leben Mäuse, Buschratten und andere Nager, die als Beute für Raubvögel und Rotluchse dienen. Außerdem ist das Gras die Nahrung von Wapitis und Rehen, die in der Morgen- und Abenddämmerung auf die Wiesen kommen. Saftige Himbeeren, winzige wilde Erdbeeren und leckere purpurrote Preiselbeeren bedecken die Hänge unseres Tals und werden Ende Juli von den Bären genauso gern verzehrt wie von mir.

Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass es sich auch bei mentalen Zuständen um Ökosysteme handelt. Diese manchmal angenehmen und manchmal gefährlichen Bereiche sind Biotope, eingebettet in das größere System unseres Charakters. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir uns mit unserer inneren Ökologie beschäftigen, um zu erkennen, wann wir auf einem Grat stehen und in Gefahr sind, aus einem gesunden in einen pathologischen Zustand zu geraten. Wenn wir dann doch in jene weniger wohnlichen Regionen unseres Geistes hinunterstürzen, können wir von diesem gefährlichen Gelände lernen. Ein Grat ist ein Ort, an dem sich Gegensätze begegnen. Hier trifft Furcht auf Mut und Leiden auf Freiheit. Hier endet der feste Boden an einer schroffen Klippe. Hier ergibt sich ein Blick, mit dem wir wesentlich mehr von der Welt erfassen als sonst. Und hier müssen wir unsere ganze Achtsamkeit walten lassen, damit wir nicht stolpern und fallen.

Unsere Reise durchs Leben bietet Gefahren und Möglichkeiten – und manchmal beides zugleich. Wie können wir auf der Schwelle zwischen Leiden und Freiheit stehen und mit beiden Seiten in Kontakt bleiben? Mit unserer Neigung zu Gegensätzen identifizieren wir uns gern entweder mit der schrecklichen Wahrheit des Leidens oder mit der Freiheit vom Leiden. Ich glaube jedoch, dass es die Reichweite unseres Verständnisses vermindert, wenn wir einen Teil der größeren Landschaft unseres Lebens ausschließen.

Das Leben hat mich in geographisch, emotional und sozial komplexe Bereiche geführt. Ich war organisatorisch in der Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung der Sechzigerjahre tätig, habe in einem großen Krankenhaus als medizinische Anthropologin gearbeitet, zwei der Praxis und der Bildung gewidmete Gemeinschaften gegründet und geleitet, am Bett von Sterbenden gesessen, ehrenamtlich in einem Hochsicherheitsgefängnis gearbeitet, längere Perioden meditiert, mit Neurowissenschaftlern und Sozialpsychologen Projekte über Mitgefühl durchgeführt und mich in entlegenen Gebieten des Himalaja um medizinische Ambulanzen gekümmert. Dies alles hat mich vor komplexe Herausforderungen gestellt und zeitweise überfordert. Was ich jedoch durch diese Erfahrungen gelernt habe – besonders durch meine inneren Kämpfe und Misserfolge –, hat mir eine völlig unerwartete Perspektive vermittelt. Ich habe erkannt, wie wertvoll es ist, die gesamte Landschaft des Lebens anzunehmen, statt das, was uns geschenkt wurde, abzulehnen oder zu verleugnen. Erkannt habe ich außerdem, dass unsere Launenhaftigkeit, unsere Schwierigkeiten und unsere »Krisen« keine unüberwindlichen Hindernisse sein müssen. Vielmehr können sie einen Zugang zu einer breiteren und reicheren inneren wie äußeren Landschaft darstellen. Wenn wir unsere Schwierigkeiten bereitwillig erforschen, können wir sie in eine Perspektive auf die Realität integrieren, die mutiger, umfassender, kreativer und weiser ist – so wie es viele andere getan haben, die einmal von einem Grat gefallen sind.

Grat-Zustände

Im Lauf der Jahre sind mir fünf innere und zwischenmenschliche Eigenschaften bewusst geworden, die den Schlüssel zu einem mitfühlenden und mutigen Leben darstellen und ohne die wir weder etwas Gutes tun noch überleben können. Wenn diese wertvollen Ressourcen an Kraft verlieren, können gefährliche Landschaften entstehen, die Schaden verursachen. Diese zweiwertigen Eigenschaften bezeichne ich als Grat-Zustände.

Die fünf Grat-Zustände sind Altruismus, Empathie, Integrität, Respekt und Engagement. Das sind Eigenschaften von Geist und Herz, die Fürsorge, Verbundenheit, Güte und Kraft verkörpern. Auf dem hohen Niveau, auf dem wir uns hier befinden, können wir jedoch den sicheren Halt verlieren und in einen giftigen, chaotischen Morast aus Leiden geraten, in dem die schädlichen Aspekte der Grat-Zustände zum Vorschein kommen.

Altruismus kann sich in pathologischen Altruismus verwandeln. Ein selbstloses Handeln im Dienste von anderen ist für das Wohl von Gesellschaft und Natur notwendig. Manchmal jedoch fügt unser scheinbar altruistisches Verhalten nicht nur uns selbst Schaden zu, sondern auch den Menschen, denen wir helfen wollen, und den Institutionen, in deren Rahmen wir das tun.

Empathie kann zu empathischem Leiden werden. Wenn wir fähig sind, uns in das Leiden eines anderen Menschen einzufühlen, bringt Empathie uns einander näher, kann uns zu karitativem Handeln anregen und unser Verständnis der Welt erweitern. Nehmen wir von einem solchen Leiden jedoch zu viel in uns auf und identifizieren wir uns zu stark damit, kann uns das schädigen und handlungsunfähig machen.

Integrität bedeutet, starke moralische Prinzipien zu besitzen. Wenn wir jedoch etwas tun oder beobachten, was unseren Sinn für Integrität, Gerechtigkeit oder Güte verletzt, kommt es womöglich zu moralischem Leiden.

Respekt bedeutet, dass wir große Achtung vor allen Lebewesen und Dingen haben. Er kann jedoch in einem Sumpf aus schädlicher Respektlosigkeit versinken, wenn wir gegen unsere Werte und die Prinzipien des Anstands handeln und andere oder uns selbst herabwürdigen.

Engagement in unserem Tun kann unserem Leben ein Gefühl von Zweckhaftigkeit und Bedeutung verleihen, vor allem, wenn wir damit anderen dienen. Überarbeitung, ein uns schädigender Arbeitsplatz und der Eindruck mangelnder Effizienz führen jedoch eventuell zu einem Burnout, der einen körperlichen und psychischen Zusammenbruch verursachen kann.

Wie ein Arzt, der eine Erkrankung diagnostiziert, bevor er eine Behandlung empfiehlt, war ich gezwungen, den destruktiven Aspekt dieser fünf tugendhaften menschlichen Eigenschaften zu erforschen. Dabei habe ich überrascht erfahren, dass Grat-Zustände selbst in ihrer problematischen Form uns etwas lehren und uns stärken können, so wie Knochen und Muskeln durch Beanspruchung gestärkt werden. Brechen oder reißen sie, so können sie unter den richtigen Umständen heilen und kräftiger werden, weil sie verletzt waren.

Anders gesagt, muss es keine endgültige Katastrophe darstellen, wenn wir den Halt verlieren und einen steinigen Hang hinunterrutschen. In unseren größten Schwierigkeiten können wir Demut, Einblick und Weisheit erwerben. Iris Murdoch hat Demut als »selbstlosen Respekt vor der Realität« bezeichnet. Sie schreibt, »unser Bild von uns selbst« sei »zu grandios« geworden.[1] Das habe auch ich entdeckt, als ich am Bett von Sterbenden saß und das medizinische Personal beobachtete. Der enge Kontakt mit solchen Menschen hat mir gezeigt, wie hoch die Kosten des Leidens für Patienten wie für ihre Pfleger sein können. Seither habe ich immer wieder von Lehrern, Rechtsanwälten, Managern, Menschenrechtsaktivisten und Eltern erfahren, dass sie dasselbe erlebt haben. Dabei wurde ich an etwas ungemein Wichtiges und doch völlig Offensichtliches erinnert: Der Weg aus dem Unwetter und dem Sumpf des Leides, der Weg zurück zu einer Freiheit voller Stärke und Mut ergibt sich durch die Kraft des Mitgefühls. Aus diesem Grund habe ich zu begreifen versucht, was Grat-Zustände sind und wie sie unser Leben und das der ganzen Welt prägen.

Ohne Schlamm kein Lotos

Wenn ich über den destruktiven Aspekt von Grat-Zuständen nachdenke, erinnere ich mich oft an das Werk von Kazimierz Dąbrowski, dem polnischen Psychiater und Psychologen, der eine Theorie der Persönlichkeitsentwicklung mit dem Titel positive Desintegration entwickelt hat. Gemeint ist eine transformative Methode des psychischen Wachstums, die auf der Idee basiert, dass Krisen wichtig für unser persönliches Reifen sind. Dieses Konzept ähnelt einem Grundsatz der Systemtheorie: Wenn lebende Systeme zusammenbrechen, können sie sich auf einer höheren, robusteren Ebene neu organisieren – sofern sie von der Erfahrung des Zusammenbruchs lernen.

Bei meiner anthropologischen Tätigkeit in Mali und Mexiko habe ich eine solche positive Desintegration als Kernstück von Übergangsriten beobachtet. Das sind Initiationszeremonien, die an wichtigen Übergängen im Leben stattfinden und dazu gedacht sind, den Reifungsprozess zu vertiefen und zu stärken. Eine ähnliche Rolle hat positive Desintegration bei meiner Zusammenarbeit mit dem Psychiater Stanislav Grof gespielt, der LSD als Ergänzung von Psychotherapie bei im Sterben liegenden Krebspatienten einsetzte. Im Verlauf dieses modernen Übergangsritus habe ich viel darüber erfahren, wie wertvoll es ist, zum Zweck der psychologischen Transformation einen direkten Kontakt mit dem eigenen Leiden herzustellen.

Jahre später hörte ich, wie der vietnamesische Lehrer Thich Nhat Hanh – oder Thay, wie ihn seine Schüler nennen – dieselbe Weisheit ausdrückte, als er von seinem Leiden inmitten des Vietnamkriegs und später als Flüchtling erzählte. Ruhig sagte er: »Ohne Schlamm kein Lotos.«

Wenn wir über die Schwierigkeiten nachdenken, auf die wir beim Dienst an anderen stoßen können, von pathologischem Altruismus bis hin zu Burnout, können wir den problematischen Aspekt von Grat-Zuständen aus der Perspektive der positiven Desintegration betrachten. Der faulige Schlamm am Grund eines alten Teiches dient auch als Nahrung für die Lotosblüte. Dąbrowski, Grof und Thay erinnern uns daran, dass unsere Leiden unser Verständnis fördern und eine große Ressource für unsere Weisheit und unser Mitgefühl darstellen können.

Ein weiteres Sinnbild für positive Desintegration sind Stürme. Ich bin im Süden von Florida aufgewachsen, und in meiner Kindheit haben Hurrikane jedes Jahr Chaos in unserem Wohnviertel angerichtet. Auf den nassen Straßen lagen knisternde Stromleitungen, alte Banyanbäume wurden aus der festen Erde gerissen, von den im spanischen Stil errichteten Häusern wurden sämtliche Dachziegel geweht. Manchmal gingen meine Eltern mit meiner Schwester und mir zum Strand, um zu beobachten, wie ein Hurrikan anrollte. Am Wasser stehend, spürten wir die Kraft des Windes und den prasselnden Regen. Dann kehrten wir schnell nach Hause zurück und öffneten sämtliche Fenster und Türen, damit der Sturm hindurchwehen konnte.

Ein Geologe, der sich wissenschaftlich mit Stränden beschäftigte, wurde einmal interviewt, während ein gewaltiger Hurrikan auf das Ufer von North Carolina aufprallte. »Wissen Sie«, sagte der Geologe zu dem Journalisten, »ich will unbedingt so schnell wie möglich zu dem Strand da rauskommen.«

Nach einer Pause fragte der Journalist: »Was meinen Sie denn, was Sie dort erwartet?«

Als ich das las, wurde meine Aufmerksamkeit geweckt. Ich hätte gedacht, dass der Geologe eine Szene totaler Zerstörung beschrieb. Er sagte jedoch schlicht: »Wahrscheinlich ist ein neuer Strand entstanden.«

Ein neuer Strand, eine neue Küstenlinie – Geschenke des Sturms. An jedem Grat besteht die Möglichkeit von Zerstörung und Leiden, aber auch grenzenlose Hoffnung.

In Grat-Zuständen ist großes Potenzial enthalten, und wenn wir geschickt mit ihnen umgehen, begreifen wir sie schneller. Allerdings stellen sie ein heikles Gelände dar, auf dem die Dinge sich in jede Richtung entwickeln können. Freier Fall oder fester Boden. Wasser oder Sand. Schlamm oder Lotos. Wenn uns am Strand oder auf einer Bergkuppe ein starker Wind erfasst, können wir versuchen, standzuhalten und den Anblick zu genießen. Wenn wir vom Grat unseres Verständnisses fallen, kann der Absturz uns vielleicht lehren, wie wichtig es ist, unser Leben im Gleichgewicht zu halten. Wenn wir im Schlamm des Leidens stecken, können wir daran denken, dass die Lotosblume von verwester Materie genährt wird. Wenn wir aufs Meer hinausgezogen werden, können wir vielleicht inmitten des Ozeans, ja inmitten eines Sturms schwimmen lernen. Dabei entdecken wir womöglich sogar, wie wir auf den wogenden Wellen von Geburt und Tod reiten können, begleitet von Avalokiteshvara, dem Bodhisattva des Mitgefühls.

Ein weiter Blick

Manchmal stelle ich mir die Grat-Zustände als einen Tafelberg aus rotem Fels vor. Von der stabilen Oberseite bietet sich uns ein weiter Blick, aber die Wände fallen senkrecht ab, ohne Felsen oder Bäume, die unseren Sturz aufhalten könnten. Die Kante ist ein ausgesetzter Ort, an dem mangelnde Konzentration dazu führen kann, dass wir den Halt verlieren. Unten erwartet uns der harte Boden der Realität, und beim Sturz können wir uns verletzen. Oder stellen wir uns vor, dass wir in einen dunklen Sumpf gefallen sind, in dem wir womöglich lange feststecken. Immer wenn wir versuchen, uns herauszuziehen, versinken wir nur tiefer und tiefer im Schlamm des Leidens. Aber egal, ob unser Sturz auf hartem Fels oder in einem ekligen Morast endet, sind wir weit von der Höhe unseres besten Selbst entfernt, und die Landung geht nicht spurlos an uns vorüber.

Wenn wir uns an einem Abgrund befinden – auf der Höhe von Altruismus, Empathie, Integrität, Respekt und Engagement –, können wir dort durchaus einen festen Stand behalten, vor allem dann, wenn wir uns bewusst sind, was passieren könnte, wenn wir den Halt verlieren. Diese Erkenntnis kann unsere Entschlossenheit stärken, nach unseren Werten zu handeln, aber auch unsere Demut, weil es so leicht ist, Fehler zu machen. Wenn wir dann doch stolpern und fallen, oder wenn der Boden unter unseren Füßen zusammenbricht, müssen wir irgendwie den Weg zurück nach oben finden, wo unser Gleichgewicht und unser Fundament uns fest verwurzelt halten und wo unser Blick auf die gesamte Landschaft fällt. Im Idealfall können wir lernen, den Absturz zu vermeiden – meistens jedenfalls. Da unser Weg jedoch der Wirklichkeit unterworfen ist, stürzen die meisten von uns früher oder später doch einmal ab. Es ist wichtig, dass wir uns das nicht übelnehmen. Es kommt nur darauf an, was wir mit dieser Erfahrung anfangen und ob wir den Sturz als Gelegenheit zur Transformation nützen.

Ich bin der Überzeugung, dass wir mit solchen Situationen umgehen, ihre Grenzen erforschen und in den verschiedenen Ökosystemen der Grat-Zustände das Geschenk des Gleichgewichts finden müssen, damit uns ein breiteres Spektrum an menschlicher Erfahrung zugänglich wird. Oben auf dem Grat können wir Mut und Freiheit entdecken. Egal, ob wir den Ängsten und Schmerzen von anderen begegnen oder unseren eigenen Schwierigkeiten, bietet sich uns dadurch die Möglichkeit, das Leiden direkt zu konfrontieren, damit wir hoffentlich daraus lernen können. Das geschieht, indem wir unsere Perspektive und unser Belastbarkeit kultivieren und dabei auch die große Gabe des Mitgefühls entdecken.

In gewissem Sinne geht es bei den Grat-Zuständen nur darum, wie wir die Dinge sehen. Sie bieten einen frischen Blick darauf, wie wir Altruismus, Empathie, Integrität, Respekt und Engagement – und deren Schattenseiten – erfahren und interpretieren. Indem wie eine breitere, umfassendere Perspektive in uns fördern und diese ebenso kraftvollen wie reichen menschlichen Eigenschaften in einen Zusammenhang stellen, können wir lernen zu erkennen, wann wir in Gefahr sind abzustürzen. Ebenso können wir erkennen, wenn das bereits passiert ist und wie wir es dann auf die Höhe unseres besten Selbst zurückschaffen.

Von dort aus können wir entdecken, in welcher Weise wir einen umfassenden Blick kultivieren können, einen Blick in unser Inneres. Er entsteht durch ein tiefes Gewahrsein dafür, wie sich unser Herz und unser Geist inmitten der großen Schwierigkeiten des Lebens verhalten. Außerdem müssen wir die Wahrheit der Unbeständigkeit und der gegenseitigen Verbundenheit von allem erkennen und die Tatsache, dass es keinen festen Boden gibt.

Ein solcher weiter Blick kann sich öffnen, wenn wir mit einem Sterbenden über seine Wünsche sprechen, wenn wir eine Gefängnistür zuschlagen hören und wenn wir aufmerksam unseren Kindern lauschen. Er kann sich öffnen, wenn wir auf der Straße Kontakt mit einem Obdachlosen aufnehmen, wenn wir das feuchte Zelt eines syrischen Flüchtlings aufsuchen, der in Griechenland hängengeblieben ist, und wenn wir uns zu einem Folteropfer setzen. Öffnen kann er sich aber auch, indem wir unsere eigenen Seelenqualen erfahren. Eigentlich kann er sich beinahe überall öffnen; ohne ihn sind wir nicht fähig, die Felskante vor uns, den Sumpf unter uns und den Raum in uns und um uns herum zu sehen. Zudem erinnert uns dieser Blick daran, dass das Leiden unser größter Lehrer sein kann.

Gegenseitige Abhängigkeit

Viele Einflüsse haben meine Weltsicht geformt und zu meiner Perspektive auf die Grat-Zustände beigetragen. In den Sechzigerjahren war ich jung und idealistisch; für viele von uns war das eine zugleich schwierige und aufregende Zeit. Wir waren zornig über die systemische Unterdrückung in unserer Gesellschaft, über Rassismus, Sexismus, Klassendenken, die Diskriminierung von alten Menschen. Wir sahen, wie diese Unterdrückung zu Krieg, sozialer Ausgrenzung und Konsumdenken, aber auch zur Zerstörung der Umwelt führte.

Daher wollten wir die Welt verändern. Außerdem wollten wir eine Möglichkeit finden, mit unseren guten Bestrebungen umzugehen, um sie weder zu verlieren noch in ihnen verloren zu gehen. In dieser Atmosphäre aus gesellschaftlichem und politischem Konflikt fing ich an, Bücher über Buddhismus zu lesen und mir selbst das Meditieren beizubringen. Mitte der Sechziger war ich dem vietnamesischen Zen-Meister Thich Nhat Hanh begegnet und durch sein Beispiel vom Buddhismus angezogen worden, weil dieser direkt die Ursachen von individuellem wie sozialem Leiden angeht und weil seine Lehre im Kern besagt, dass der Weg zu Freiheit und zum Wohlergehen unserer Welt darin besteht, unser Leiden zu transformieren. Zudem gefiel mir, dass der Buddha das Stellen von Fragen, Neugier und Forschergeist als Werkzeuge beim Beschreiten des Weges bezeichnet und dass er nicht empfiehlt, Leiden zu vermeiden, zu verleugnen oder aufzuwerten.

Die buddhistische Vorstellung des bedingten oder abhängigen Entstehens zeigte mir eine neue Möglichkeit, die Welt zu betrachten, indem ich die komplexen Verbindungen zwischen scheinbar getrennten Dingen sah. Der Buddha hat das so erklärt: »Dies ist vorhanden, weil jenes vorhanden ist. Das ist nicht vorhanden, weil jenes nicht vorhanden ist. Dies entsteht, weil jenes entsteht. Das hört zu bestehen auf, weil jenes zu bestehen aufhört.« Wenn ich eine Schale Reis betrachte, kann ich Sonnenschein und Regen sehen, Bauern und Lastwagen, die über Straßen fahren.

In gewissem Sinne stellt eine Schale Reis ein System dar. Bald nachdem ich begonnen hatte, mich mit dem Buddhismus zu beschäftigen, stieß ich auf die Systemtheorie, eine Sichtweise, bei der die Welt als eine Ansammlung aus miteinander verbundenen Systemen betrachtet wird. Jedes System hat einen Zweck; zum Beispiel ist der menschliche Körper ein System, dessen Zweck (auf der fundamentalsten Ebene) darin besteht, am Leben zu bleiben. Damit ein System optimal funktioniert, müssen alle Teile vorhanden sein – ohne Herz, Gehirn oder Lunge sterben wir. Von Bedeutung ist auch, wie die Teile angeordnet sind; man kann die Position von Körperorganen also nicht einfach austauschen.

Systeme gibt es im Mikro- und Makrobereich, sie können einfach und komplex sein. Unter anderem sind das biologische Systeme (wie der Blutkreislauf), mechanische Systeme (wie ein Fahrrad), Ökosysteme (wie ein Korallenriff), soziale Systeme (wie Freundschaften, Familien, Gesellschaften), institutionelle Systeme (wie Firmen, religiöse Organisationen, Regierungen) und astronomische Systeme (wie unser Sonnensystem). Komplexe Systeme sind normalerweise aus zahlreichen Teilsystemen zusammengesetzt. Sie erleben einen Höhepunkt, gefolgt von einem Niedergang und schließlich dem Zusammenbruch, wodurch sich Raum für das Entstehen anderer Systeme ergibt.

Dies habe ich kurz beschrieben, weil die Grat-Zustände in ihrer Gesamtheit ebenfalls ein solches System aus voneinander abhängigen Einheiten darstellen, die sich gegenseitig beeinflussen und unseren Charakter formen. Die Grat-Zustände wiederum entwickeln sich innerhalb von anderen Systemen – in zwischenmenschlichen Beziehungen, am Arbeitsplatz, in Institutionen, in der Gesellschaft und in unserem eigenen Körper und Geist. So, wie Systeme einen Niedergang erleben, können auch wir vor dem Zusammenbruch stehen. Aus dem Zusammenbruch aber entsteht oft eine neue, tragfähigere Haltung zur Wirklichkeit.

Vergeblichkeit und Mut

Ein engagierter, erfahrener Psychologe, mit dem ich befreundet bin, kapitulierte nach jahrelanger Praxis vor der Vergeblichkeit seines Tuns. In einem Gespräch gestand er mir: »Ich halte es einfach nicht mehr aus, meinen Patienten zuzuhören.« Ab einem bestimmten Punkt in seinem Berufsleben, erklärte er mir, habe er jede Emotion mitempfunden, die seine Patienten erlebten, und sei von deren Leidenserfahrung völlig überwältigt worden. Dem ständig ausgesetzt zu sein, hatte ihn schließlich zur Strecke gebracht. Irgendwann konnte er nicht mehr schlafen und stopfte sich mit Essen voll, um seinen Stress zu lindern. Allmählich geriet er in einen Zustand der Hilflosigkeit, in dem er emotional abschaltete. »Inzwischen ist mir alles völlig egal«, sagte er. »Ich fühle mich innerlich grau und leer.« Am schlimmsten war, dass er sich über seine Klienten ärgerte, und er wusste, was das bedeutete: Er musste seinen Beruf aufgeben.

Diese Geschichte verdeutlicht das negative Resultat, wenn alle Grat-Zustände zusammen auftreten. Sie zeigt, was geschieht, wenn Altruismus uns schadet, wenn Empathie zu empathischem Leiden führt, wenn Respekt unter der Last von Sensibilität und Vergeblichkeit zusammenbricht und sich in Missachtung und Integritätsverlust verwandelt, und wenn Engagement zu Burnout führt. Der Psychologe konnte seinen Schmerz nicht mehr ertragen und so transformieren, dass er in seiner Arbeit und seiner Welt Sinn fand.

Mit diesem Leiden ist er keineswegs allein. Viele in Pflegeberufen tätige Menschen, viele Eltern und Lehrer haben mir ähnliche Gefühle anvertraut. Zum Teil besteht meine Tätigkeit darin, gegen die verheerende Epidemie der Vergeblichkeit anzugehen, die bei Menschen, von denen Fürsorglichkeit erwartet wird, einen Mangel an Mitgefühl hervorruft.

Befreundet bin ich auch mit einer jungen Nepalesin, die allen Widrigkeiten getrotzt und sie in Stärke verwandelt hat. Sie heißt Pasang Lhamu Sherpa Akita und gehört zu den versiertesten Bergsteigerinnen der Welt. Im April 2015 war sie eine Wegstunde vom Basislager am Mount Everest entfernt, als sich ein Erdbeben mit einer Stärke von 7,8 ereignete. Sie hörte das Donnern der Lawine, durch die viele im Basislager ums Leben kamen. Sofort machte sie sich auf den Weg dorthin, um zu helfen, war jedoch gezwungen umzukehren, als ein Nachbeben eintrat.

Pasangs Haus in Kathmandu war von dem Beben zerstört worden, aber dennoch wussten sie und ihr Mann Tora Akita, dass sie etwas für die vielen Menschen in Nepal tun mussten, die ihre Angehörigen, ihr Heim und ihre Existenzgrundlage verloren hatten. »Ich hätte im Basislager sterben können«, sagte Pasang, »aber mir ist nichts passiert. Ich habe überlebt, und dafür musste es einen Grund geben. Deshalb habe ich zu meinem Mann gesagt: ›Wir müssen etwas für die Menschen, denen es schlecht geht, tun.‹«

In Kathmandu organisierten Pasang und Tora eine Gruppe junger Leute und mieteten Lastwagen an, um Reis, Linsen, Öl, Salz und Abdeckplanen nach Sindhupalchok zu bringen. In dieser Region hatte das Epizentrum des Erdbebens gelegen. Woche für Woche fuhr Pasang zudem in mehrere Dörfer von Gorkha, um die Überlebenden mit Wellblech zum Dachdecken, mit Zelten, Medikamenten und Planen zu versorgen. Sie stellte Einheimische ein, um dort neue Wege zu bauen, wo die alten durch einen Erdrutsch verschüttet worden waren. Mehrere hundert Dorfbewohner brachten in ihrem Auftrag Nahrungsmittel und notwendiges Material zu Menschen, die durch das Beben von der Umwelt völlig abgeschnitten waren und den Monsun sonst ohne Nahrung und Obdach hätten überstehen müssen.

Pasang handelte aus Altruismus und damit aus einem Grat-Zustand heraus, der sich leicht ins Negative verkehren kann. Doch wenn ich in den Monaten nach dem Erdbeben mit ihr sprach, hörte ich in ihrer Stimme nichts als grenzenlose Güte, Energie und Hingebung. Außerdem drückte sie ein gewaltiges Gefühl der Erleichterung darüber aus, dass sie und ihr Mann helfen konnten.

Jener mit mir befreundete Psychologe ist vom Grat gestürzt und hat nie den Weg zurück gefunden. Meine nepalesische Freundin hat auf dem Grat ihrer größten Menschlichkeit standgehalten. Wie kommt es, dass manche Menschen von der Welt nicht niedergedrückt werden, sondern von dem tiefen Wunsch zu dienen beseelt sind?

Entscheidend ist meiner Meinung nach das Mitgefühl. Der Psychologe hatte die Verbindung zu seinem mitfühlenden Herzen verloren; seine Gefühle waren vom Burnout abgetötet worden. Daraufhin hat sich Zynismus in ihm breitgemacht. Pasang hingegen war in der Lage, im Mitgefühl verwurzelt zu bleiben und sich von den damit verbundenen Gefühlen leiten zu lassen. Deshalb sehe ich Mitgefühl als Mittel, stabil und fest am Abgrund zu stehen, ohne abzustürzen – und falls das doch geschehen sollte, kann Mitgefühl uns aus dem Sumpf führen.

Wenn wir lernen, die Grat-Zustände in unserem Leben zu erkennen, können wir an der Schwelle der Veränderung stehen und eine Landschaft betrachten, die voll Weisheit, Zärtlichkeit und schlichter menschlicher Güte ist. Zugleich fällt unser Blick auf ein ödes Gelände voll Gewalt, Scheitern und Vergeblichkeit. Besitzen wir die Kraft, auf dem Grat zu stehen, können wir etwas von Orten großen Leidens lernen, von Flüchtlingslagern, Erdbebengebieten, Gefängnissen, Krebsstationen, Obdachlosenlagern und Kriegsgebieten. Was uns dabei stützt, ist unsere elementare Güte und die von anderen. Die Voraussetzung dafür, uns mit den Grat-Zuständen vertraut zu machen, sind diese Fragen: Wie entwickeln wir die Kraft, am Abgrund zu stehen, um einen weiten Blick zu haben, der alle Aspekte des Lebens umfasst? Wie stellen wir ein lebenspendendes Gleichgewicht zwischen gegensätzlichen Kräften her? Wie finden wir in dieser ausgesetzten Lage Freiheit, und wie entdecken wir, dass die Alchemie von Leiden und Mitgefühl das Gold unseres Wesens zum Vorschein bringt, das Gold unseres Herzens?

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1. Altruismus

Möge ich viel Gutes tun, ohne es je zu wissen.

Wilbur Wilson Thoburn[2]

In den frühen Siebzigerjahren hat meine Leidenschaft für die Biologie und das Meer mich dazu gebracht, ehrenamtlich am Lerner Marine Laboratory auf den Bahamas zu arbeiten. Ich unterstützte einen Biologen von der Brandeis University dabei, den kurzen Lebenszyklus des ebenso intelligenten wie wundersamen Octopus vulgaris zu erforschen, auch als Gewöhnlicher Krake bekannt.

Bei dieser Tätigkeit hatte ich die seltene Chance zu beobachten, wie ein gefangener weiblicher Oktopus nach der Befruchtung seine Eier ablegte. Mehrere hunderttausend durchsichtige, tropfenförmige Eier, jeweils so groß wie ein Reiskorn, ergossen sich aus ihrem Mantel und bildeten lange, seidige Fäden, die im Wasser des Aquariums hingen. Im Lauf der folgenden Wochen schwebte das Tier wie eine Wolke darüber, ohne zu jagen und zu fressen. Es bewegte nur sanft das Wasser, in dem die miteinander verschlungenen Eierfäden langsam reiften. Während es sie mit Sauerstoff versorgte, veränderte es seinen Standort kaum, bis sein Körper sich allmählich auflöste und schließlich zur Nahrung der ausgeschlüpften Brut wurde. So starb die Oktopusmutter, um ihre Nachkommen zu füttern, zu deren erster Mahlzeit ihr Fleisch wurde.

Der merkwürdige Anblick, wie diese wunderschöne Kreatur sich vor meinen Augen auflöste, erfüllte mich mit Staunen. Obgleich das Opfer der Oktopusmutter kein Altruismus als solcher war, sondern zum natürlichen Lebenszyklus ihrer Spezies gehörte, stellten sich mir viele Fragen über das menschliche Verhalten – Fragen zu Altruismus, Selbstaufopferung und möglichem Schaden. Wann ist menschlicher Altruismus gesund? Wann schenken wir anderen so viel von uns, dass wir uns dabei womöglich Schaden zufügen? Wie erkennen wir, wann unser Altruismus egozentrisch und ungesund ist? Wie fördern wir die Samen eines gesunden Altruismus in einer Welt, in der es so oft üblich ist, sich gehetzt und gleichgültig zu verhalten? Wie kann Altruismus entgleisen und abstürzen?

Als ich mich später um Sterbende und Häftlinge kümmerte und als ich in meiner Eigenschaft als buddhistische Lehrerin den Geschichten von Eltern, Lehrern, Rechtsanwälten und pflegerisch tätigen Menschen zuhörte, begriff ich allmählich, dass Altruismus ein Grat-Zustand ist. Er ist wie die schmale Kante einer hohen Klippe, von der sich ein weiter Blick bietet, die jedoch unter unseren Füßen erodieren kann.

Sich altruistisch zu verhalten bedeutet, selbstlos zu handeln, um das Wohlergehen von anderen zu fördern, normalerweise mit gewissen Kosten oder Risiken für unser eigenes Wohlergehen. Sind wir zu einem konsequenten Altruismus fähig, so begegnen wir einander, ohne dass der Schatten von Erwartungen und Bedürfnissen dazwischentritt. Wer unsere Unterstützung empfängt, kann den Glauben an menschliche Güte entdecken, während wir von der Güte des Gebens bereichert werden.

Ist hingegen unsere körperliche und emotionale Sicherheit in Gefahr, kann es schwierig sein, fest mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen. Dann verlieren wir nur allzu leicht den Halt und stürzen in schädliche Formen des Dienens. Womöglich helfen wir auf eine Weise, die unseren eigenen Bedürfnissen zuwiderläuft. Vielleicht schaden wir unabsichtlich der Person, der wir zu helfen versuchen, indem wir ihr das Heft aus der Hand nehmen und sie ihrer Handlungsfähigkeit berauben. Und eventuell verhalten wir uns zwar scheinbar altruistisch, haben aber keine fundierte Motivation. Das sind Formen des pathologischen Altruismus, mit denen wir uns hier beschäftigen werden.

Wenn wir auf dem Grat des Altruismus stehen, gewinnen wir einen Blick auf den weiten Horizont von menschlicher Güte und Weisheit – solange wir es vermeiden, in den Sumpf aus Egoismus und Bedürftigkeit zu stürzen. Stecken wir jedoch unvermutet in diesem Sumpf, muss unser Bemühen nicht vergeblich gewesen sein. Wenn wir mit unseren Schwierigkeiten umgehen können, bekommen wir vielleicht heraus, wie wir in diese Lage geraten sind und wie wir es vermeiden können, noch einmal abzustürzen. Außerdem kann es uns eine gute Lektion in Demut erteilen. Das bedeutet harte Arbeit, aber eine, die den Charakter stärkt und uns dabei hilft, klüger, weiser und belastbarer zu werden.

Auf dem hohen Grat des Altruismus

Geprägt wurde der Begriff Altruismus im Jahre 1830 von dem französischen Philosophen Auguste Comte, der ihn von vivre pour autrui (»leben für andere«) ableitete. Als Mittel gegen den Egoismus, nur für sich selbst zu leben, wurde der Altruismus zu einer neuen gesellschaftlichen Doktrin, gegründet auf Humanismus statt auf Religion. Nicht religiös motivierten Menschen bot er einen ethischen Kodex, der von Dogmen frei war.

Wer aus der reinsten Form von Altruismus heraus handelt, strebt nicht nach gesellschaftlicher Zustimmung oder Anerkennung, und er will sich nicht besser in der eigenen Haut fühlen. Wenn eine Frau sieht, wie ein ihr völlig unbekanntes Kind vor ein Auto läuft, denkt sie nicht: Dieses Kind zu retten, macht mich zu einem guten Menschen. Sie rennt einfach auf die Straße, ergreift das Kind und setzt dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel. Anschließend rühmt sie sich wahrscheinlich nicht besonders, sondern denkt: Ich habe getan, was ich tun musste. Jeder andere hätte genauso gehandelt. Sie ist erleichtert, weil das Kind am Leben und unverletzt ist. Wie dieses Beispiel demonstriert, ist Altruismus ein Schritt über gewöhnlichen Großmut hinaus; er bringt ein Selbstopfer oder eine Gefahr für Leib und Leben mit sich.

Man schrieb 2007, als der Bauarbeiter Wesley Autrey in Manhattan auf die Gleise der U-Bahn sprang, um Cameron Hollopeter zu retten, einen Filmstudenten, der einen epileptischen Anfall hatte und vom Bahnsteig gestürzt war. Als Autrey einen Zug kommen sah, sprang er hinunter und wollte Hollopeter aus dem Weg ziehen, aber dazu war keine Zeit mehr. Deshalb warf er sich in dem keinen halben Meter tiefen Entwässerungsgraben zwischen den Gleisen über den Gestürzten. Während er diesen nach unten drückte, raste der Zug so dicht an ihm vorbei, dass er ihn an der Wollmütze streifte. An sich selbst dachte Autrey dabei nicht, er spürte nur den unmittelbaren Impuls, einem Mitmenschen das Leben zu retten.

Über die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die Autrey daraufhin zuteilwurden, war er verblüfft. Zu einem Reporter der New York Times sagte er: »Ich habe nicht das Gefühl, etwas Spektakuläres getan zu haben; ich habe bloß jemanden gesehen, der Hilfe brauchte. Da habe ich getan, was ich für richtig hielt.«[3]

Ich sehe diese Geschichte als Beispiel für reinen Altruismus. Wir alle haben altruistische Impulse, handeln jedoch nicht immer danach. Zweifellos haben auch andere Leute auf dem Bahnsteig gesehen, wie Hollopeter zusammenbrach. Sie haben die Notwendigkeit zu helfen erkannt, aber auch begriffen, dass sie dabei ums Leben kommen könnten. Altruismus ereignet sich, wenn unser Impuls zu dienen sich über unsere Angst und unseren Selbsterhaltungstrieb hinwegsetzt. Glücklicherweise hat Autrey sich so geschickt verhalten, dass er ein Leben retten und dabei selbst überleben konnte.

Auf der ganzen Welt handeln Menschen täglich aus einem unmittelbaren Altruismus heraus, um sich gegenseitig zu unterstützen. Wie der anonyme chinesische Demonstrant, der sich entschlossen den zum Tian’anmen-Platz fahrenden Panzern in den Weg stellte. Wie die Ärzte in Afrika, die mit viel Mut an Ebola Erkrankte behandelt haben. Wie jene Einwohner von Paris, die nach den Terroranschlägen im November 2015 ihre Türen öffneten, um Schutzsuchende einzulassen. Wie die dreitausend tapferen syrischen Freiwilligen, die sich nach der Bombardierung von Wohnvierteln um die Überlebenden kümmerten.[4] Wie Adel Termos, der am Tag vor den Pariser Anschlägen in Beirut einen Selbstmordattentäter daran hinderte, sich in einer überfüllten Moschee in die Luft zu sprengen.[5] Als Termos dafür sorgte, dass die Bombe abseits der Menge detonierte, verlor er sein Leben, rettete jedoch das Leben zahlloser anderer. Wie Ricky John Best, Taliesin Myrddin Namkai-Meche und Micah David-Cole Fletcher, die im Mai 2017 furchtlos einschritten, als zwei jugendliche Mädchen in einem Zug in Portland aus rassistischen Gründen angegriffen wurden.[6] Ricky und Taliesin verloren dabei das Leben, Micah hat überlebt. Während Taliesin verblutete, sagte er diese Worte: »Sagt allen in diesem Zug, dass ich sie liebe.« Ich finde, in unserer konfliktreichen Welt ist es wichtig, solche Geschichten zu hören, um sich den Glauben an die Schönheit und Kraft des menschlichen Herzens zu bewahren und sich daran zu erinnern, welch eine natürliche Regung der Altruismus ist.

Ist das Selbst selbstsüchtig oder selbstlos?

Kehren wir einen Moment zu der Frau zurück, die ein Kind davor rettet, überfahren zu werden. Wenn sie anschließend denkt: Weil ich das getan habe, bin ich ein guter Mensch, macht diese selbstgefällige Anwandlung dann den Altruismus ihres Handelns zunichte? Nach den strengsten Definitionen dieses Begriffs darf das Ego weder vor noch nach der Handlung beteiligt sein. Altruismus wird charakterisiert als Akt der Selbstlosigkeit zum Wohle anderer, sowohl frei von jeglicher Erwartung einer äußeren Belohnung (wie etwa Dankbarkeit oder eine Gegenleistung) als auch frei von inneren Belohnungen wie einem gesteigerten Selbstwertgefühl oder besserer emotionaler Gesundheit. Reine Altruisten haben, um den Zen-Meister Shunryu Suzuki zu zitieren, »keine Gewinnabsichten« – sie gewinnen durch ihr segensreiches Handeln nichts. Sie sind von Grund auf uneigennützig.

Große spirituelle Persönlichkeiten und manche von Natur aus mitfühlenden Personen besitzen solch ein grenzenloses Herz, das offen dafür ist, in allen Umständen zu dienen. Dann ist keine Unterscheidung zwischen dem Selbst und den anderen vorhanden, nur unvoreingenommene Güte allen gegenüber. Die meisten von uns sind jedoch ganz normale Menschen, und es ist sehr menschlich, Befriedigung zu empfinden, wenn wir anderen helfen.

Die Frage, ob reiner Altruismus überhaupt existiert, wird von Psychologen und Philosophen kontrovers diskutiert. Nach der Theorie des psychologischen Egoismus sind keine karitative Handlung und kein Opfer vollkommen altruistisch, weil wir zumindest von einem schwachen Gefühl der persönlichen Befriedigung motiviert sind oder weil unser Ego sich ein bisschen gestärkt fühlt, nachdem wir anderen geholfen haben. Demzufolge gibt es in der realen Welt der menschlichen Psyche und des menschlichen Verhaltens keinen reinen Altruismus.

Der Buddhismus nimmt eine radikalere Position ein; er sagt, dass Altruismus und das mit ihm verwandte Mitgefühl völlig frei vom Ego – von dem kleinen Selbst – sein kann. Altruismus kann spontan und bedingungslos als Reaktion auf das Leiden von anderen entstehen wie im Falle von Wesley Autrey. Zudem behauptet der Buddhismus, eine selbstlose Sorge für das Wohlergehen anderer gehöre zu unserer wahren Natur. Durch kontemplative Praxis und ethische Lebensführung könnten wir uns daher dem Sog des Egoismus entziehen und an den Ort in unserem Inneren heimkehren, wo wir alle Wesen lieben und gleichermaßen schätzen, ein Ort, an dem wir furchtlos und vorurteilsfrei danach streben, das Leiden der Wesen zu beenden.

Thich Nhat Hanh schreibt: »Wenn die linke Hand verletzt wird, kümmert die rechte sich sofort darum. Sie hält nicht inne, um zu sagen: ›Ich kümmere mich jetzt um dich. Du profitierst von meinem Mitgefühl.‹ Die rechte Hand weiß sehr gut, dass die linke Hand auch die rechte Hand ist. Es gibt keinen Unterschied zwischen den beiden.«[7] Diese Art Altruismus ist nicht-referenziell, was bedeutet, dass er keine parteiische Haltung gegenüber Familienmitgliedern, Freunden und anderen Mitgliedern einer Gruppe, der wir angehören, einnimmt.

Ein Gedicht von Joseph Bruchac vermittelt diesen tiefen, demütigen Wunsch, für alle Wesen gleichermaßen zu sorgen:

Birdfoots Opa

Bestimmt hielt der Alte

unseren Wagen zwei Dutzend Male an,

um auszusteigen und mit den Händen

die kleinen Kröten einzusammeln,

die, von unseren Scheinwerfern geblendet,

umherhüpften wie lebendige Regentropfen.

 

Der Regen fiel

als feiner Nebel um seine weißen Haare

und ich sagte immer wieder:

Du kannst sie nicht alle retten,

finde dich damit ab und steig wieder ein,

wir müssen doch wo hin.

Doch er stand knietief im Sommergras

am Straßenrand, die ledrigen Hände voll

nassem braunem Leben,

lächelte nur und sagte:

Die müssen auch

wo hin.[8]

Dieser Großvater ist ein gutes Beispiel für einen lebenden Bodhisattva, wie man im Buddhismus jemanden nennt, der großherzig alle Wesen vom Leiden errettet. Er hält immer wieder an, um die Kröten zu retten, obwohl er dafür auf die regennasse, dunkle Straße hinaus muss. Lächelnd scheint er zu erleben, was Buddhisten als »altruistische Freude« bezeichnen, die Freude am Glück von anderen.

Altruistische Freude gilt als wahrhaft förderliche Eigenschaft des Geistes. In diesem Sinne stimmt der Buddhismus mit der westlichen Psychologie darin überein, dass es gut für uns ist, Freude über das Glück von anderen zu empfinden. Ich weiß, dass ich mich mental wie körperlich besser fühle, wenn ich etwas Gutes für andere tue, obgleich es nicht das ist, was mich motiviert. Neuere sozialpsychologische Studien lassen darauf schließen, dass es eine Quelle von Glück und Zufriedenheit darstellt, wenn wir weniger ichbezogen und dafür großzügiger sind. Laut einer solchen Studie haben ganz kleine Kinder, selbst unter Zweijährige, ein stärkeres Gefühl des Wohlbefindens, wenn sie Leckereien verteilen als wenn sie welche empfangen.[9] In einer anderen Studie stellte man fest, dass Erwachsene, die Geld für andere ausgaben, mehr Befriedigung empfanden als jene Teilnehmer, die Geld für sich selbst ausgegeben hatten.[10] Die Neurowissenschaftlerin Tania Singer[11] wiederum hat entdeckt, dass das mit Altruismus eng verwandte Mitgefühl die Belohnungszentren im Gehirn aktiviert. Singer ist der Meinung, dass der Mensch auf Güte programmiert ist. Wenn wir aus Güte heraus handeln, fühlen wir uns daher im Einklang mit unseren tiefsten menschlichen Werten. Wir freuen uns über das, was wir tun, und das Leben kommt uns sinnvoller vor.

Fügen wir hingegen mit unserem Handeln anderen Schaden zu, so fühlen wir uns nicht wohl; oft schlafen wir schlecht, werden reizbar und Schlimmeres. Nachdem immer mehr Studien[12] dokumentieren, welche gesundheitlichen Vorteile es hat, zu helfen (unter anderem hat man eine bessere Immunreaktion und ein längeres Leben), werden wir womöglich bald mit einer Welle von Pseudo-Altruisten konfrontiert sein, die anderen nur deshalb helfen, weil sie länger und gesünder leben wollen. Glücklicherweise dürfte das kein besonders schlimmes Problem darstellen.

Das Selbst vergessen

Ein besonders bewegendes Beispiel von Altruismus ist für mich die Geschichte des Engländers Nicholas Winton. Als die Nazis 1938 die Tschechoslowakei besetzten, organisierte er den Transport von 669 jüdischen Kindern von dort nach Großbritannien. Er sorgte dafür, dass sie ungefährdet mit dem Zug durch Europa reisen konnten, und fand für jeden einzelnen Flüchtling ein Zuhause. Das war eine unglaublich riskante, selbstlose Tat, von der er fünfzig Jahre lang nicht einmal seiner Frau erzählte. Er hatte kein Interesse an Ruhm, wurde schließlich aber doch berühmt, als seine Frau 1988 beim Aufräumen auf dem Dachboden seine Notizbücher entdeckte und Journalisten von der BBC davon berichtete.

Im selben Jahr lud die BBC Winton zu einer Ausgabe der Fernsehshow That’s Life! ein. Ohne dass er es wusste, waren auch Menschen anwesend, die er gerettet hatte und die jetzt in den Fünfzigern und Sechzigern waren. Der Moderator fragte: »Ist heute jemand im Publikum, der Nicholas Winton sein Leben verdankt? Falls ja, könnten Sie bitte aufstehen?« Das gesamte Publikum im Studio erhob sich. Winton umarmte die Frau neben sich und wischte sich Tränen aus den Augen.[13]

Können wir wirklich wissen, was Winton motiviert hat und ob seine Handlungen auf irgendeine Weise sein Selbstwertgefühl beeinflusst haben? Als ein Journalist von der New York Times ihn 2001 nach den Gründen seines Handelns fragte, antwortete er bescheiden: »Es war klar, dass es ein Problem gab und dass viele von diesen Kindern in Gefahr waren. Deshalb musste man sie an einen sicheren Ort bringen, und es gab keine Organisation, die das hätte tun können. Weshalb ich es getan habe? Wieso tun die einen Menschen dies und die anderen jenes? Manche gehen gern Risiken ein, und mache gehen durchs Leben, ohne das auch nur ein einziges Mal zu tun.«[14] Eine interessante persönliche Einschätzung der außerordentlichen Courage, die Winton gezeigt hat.

Winton hat also eine Notwendigkeit erkannt, er hat gesehen, dass er anderen dienen konnte, und er hatte Lust auf ein positives Risiko. Wenn er durch sein Handeln irgendeine »Erfüllung« empfunden hat, würde das dann etwas daran ändern, wie wir ihn sehen? Ich glaube nicht. Das Leben von 669 Kindern zu retten, verdient unsere uneingeschränkte Anerkennung. Wintons Handeln hatte eine so starke, langfristige Wirkung, über Generationen hinweg, dass wir einfach nur über dieses Wunder staunen und darüber, wie vielen es geholfen hat. Nach einem langen Leben ist Nicholas Winton 2015 im Alter von 106 Jahren gestorben.

Der Psychiater Viktor Frankl, der Auschwitz überlebte, spricht von einem »grundlegenden anthropologischen Tatbestand, dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf mitmenschliches Sein, dem er da begegnet. … ganz Mensch ist der Mensch eigentlich nur dort, wo er ganz aufgeht in einer Sache, ganz hingegeben ist an eine andere Person. Und ganz er selbst wird er, wo er sich selbst – übersieht und vergisst«.[15]

Quelle: Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge, Paul Zsolnay Verlag, 2005 Wien, S. 471 f., mit freundlicher Genehmigung des Paul Zsolnay Verlags.

Absturz vom Grat des Altruismus: pathologischer Altruismus

Manchmal ist es schwierig, einen gesunden Altruismus beizubehalten; während wir am Rand des Abhangs stehen, sind wir in Gefahr, abzustürzen und uns zu schaden. Wenn wir auf übertriebene Weise helfen und dabei unsere eigenen Bedürfnisse ignorieren, empfinden wir womöglich Groll gegenüber der Person, die wir unterstützen, und gegenüber der gesamten Situation. Ich kannte eine Frau, die rund um die Uhr für ihre krebskranke Mutter gesorgt hat. Ausgebrannt und frustriert davon, dass sie nicht mehr tun konnte, um die Schmerzen der Kranken zu lindern, fühlte sie sich auch noch schuldig, weil sie so frustriert war. Am Ende richtete sie ihren Groll erst gegen ihre Mutter und später gegen sich selbst. Sie hatte das Gefühl, den Mut verloren und sowohl im Hinblick auf ihre Mutter als auch sich selbst gegenüber versagt zu haben.