Grayson Steel und der Verhangene Rat von London - Torsten Weitze - E-Book

Grayson Steel und der Verhangene Rat von London E-Book

Torsten Weitze

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Beschreibung

"Mr. Steel, hören Sie mir jetzt gut zu. Das Wesen, das Sie angegriffen hat, war eine Banshee." Detective Grayson Steel bearbeitet im modernen London die unbequemen Fälle des Scotland Yard. Als er den rätselhaften Tod einer jungen Frau untersucht, stößt er auf Geheimnisse, die normalen Menschen verborgen bleiben. Er wird in eine Gesellschaft hineingezogen, die verborgen neben der menschlichen Welt existiert; die Nebula Convicto ist durchsetzt von geheimen Räten, magischen Attentaten und Wesen, die eigentlich nur in Fabeln und Mythen existieren sollten. In der magischen Gemeinschaft soll Steel die Rolle eines Sonderermittlers übernehmen und binnen kürzester Zeit ein entführtes Mädchen finden. Rettet er das Kind nicht, bevor ein neuer Anführer der Nebula Convicto gewählt wird, droht die gesamte Welt in einem zweiten Mittelalter zu versinken. Nur mittels seiner Fähigkeiten als Ermittler und seiner neu entdeckten Kraft, Magie widerstehen zu können, kann sich Steel im Londoner Untergrund zwischen Ghulen, Vampiren und anderen magischen Wesen zurechtfinden.

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Seitenzahl: 549

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Torsten Weitze

NEBULA

Convicto

Grayson Steel

und der

Verhangene Rat

von London

© Torsten Weitze, Krefeld, 2017

Bild: Petra Rudolf / www.dracoliche.de

Lektorat: ds, acabus Verlag

Dieser Roman ist meiner Frau gewidmet, die mich mit ihrem kompromisslosen Glauben an mich dazu ermutigt hat, meinen Traum als Autor gegen alle Widrigkeiten weiterzuverfolgen. Siehe da, sie hatte wie immer Recht.

Ein Mord um drei Uhr früh

London, New Scotland Yard, City of Westminster, Mittwoch, 12. Oktober, 14.04 Uhr

Detective Grayson Steel starrte seine Erscheinung im verspiegelten Glas des Vernehmungszimmers an. Blaue Flecken verunzierten sein Gesicht, und die Wunden am Bauch brannten wie Feuer. Während er in Handschellen auf die Vernehmung durch seine Kollegen wartete, ging er gedanklich noch einmal die Ereignisse des letzten Tages durch und fragte sich, wie zur Hölle es soweit hatte kommen können.

London, Islington, Dienstag, 11. Oktober, 05.34 Uhr

Der Nebel bedeckte die nächtliche Stadt wie ein grob gewebtes Leichentuch. Aller Details und Farben beraubt, verschwamm das spärliche Nachtleben auf den Straßen zu flüchtigen Eindrücken. Allein die instinktive Bedrohung undeutlicher Bewegungen blieb.

Während Grayson mit seinem Dienstwagen in die St. John Street einbog, bemerkte er ein rostrotes Graffiti, das sich vom grauen Einerlei abhob. Mit wenig Talent und noch weniger Einfallsreichtum gemalt, sollte es wohl den Kopf einer rothaarigen Frau darstellen. Durch den Nebel wirkte das Ganze eher wie eine Stichwunde, so als wäre das Haus ermordet worden. Das wäre doch mal ein Fall, dachte Grayson trocken. Das erste Lächeln des Tages stahl sich auf sein Gesicht. Dies war eine der ersten Lektionen, die er als Ermittler gelernt hatte: Nimm jedes Lächeln mit, selbst wenn es von den eigenen Witzen stammt. Man weiß nie, wie lange man auf das nächste warten muss.

Zu dieser frühen Stunde war auf den Straßen noch wenig los. Erste Pendler mit Anfahrtsstrecken von weit über zwei Stunden quälten sich gerade aus dem Haus, um dem Sirenengesang der Arbeit zu folgen. Grayson sah mehrere Zeitungsboten, die ihre Schicht begannen, durch seine Scheinwerfer aus dem Schleier des Nebels herausgerissen.

Eine Minute später ließ ihn eine rote Ampel anhalten – als einzigen Fahrer an einer großen Kreuzung, die still und menschenleer dalag. Grayson hasste es, wenn das passierte. Denn wie immer focht er dann einen stummen Kampf zwischen Vernunft und Bequemlichkeit aus. Er könnte einfach die Sirene einschalten, anstatt nutzlos zu warten, oder er könnte den Anwohnern in Hörweite ihren Schlaf lassen, den sie so dringend brauchten. Still vor sich hin fluchend wartete er auf das grüne Licht. Grayson wusste, dass der Tatort schon gesichert war, es bestand also kein Grund zur Eile.

Das Opfer wird es schon nicht umbringen, wenn ich zwei Minuten später ankomme. Dieses Mal war sein Lächeln etwas gequält, als er sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Der fehlende Schlaf dieser Nacht schien von Graysons Humor Tribut gefordert zu haben. Besser keine weiteren Witze mehr heute früh. Die Kollegen haben es auch so schon schwer genug.

Während er auf die Ampel wartete, warf er einen kurzen Blick in den Rückspiegel, um seine Erscheinung zu prüfen. Müde blaue Augen starrten ihm unter kurzgeschnittenen schwarzen Haaren entgegen, die Wangenknochen stachen aus dem hageren Gesicht hervor. Er musste dringend daran denken, mehr zu essen. Wenigstens waren seine Kleidung und sein Mantel sauber und ordentlich, sonst würde man ihn noch für einen Obdachlosen halten. Endlich wurde es Grün, und er fuhr los, weiter hinauf ins nördliche London.

Langsam änderte sich die Gegend, weg von den gepflegten Vorgärten und den historischen Fassaden Londons, die man in jeder Werbebroschüre sehen konnte, und hinein in die harte Realität der fünfstöckigen Mietshäuser und kleinen Geschäfte. Die Nebenstraßen wurden enger, die Sackgassen häufiger, fast so, als passe sich die Umgebung den Lebensperspektiven ihrer Bewohner an. Nach wenigen Minuten nahm die Anzahl der Graffitis weiter zu, und die Qualität und Art der Geschäfte wurde zweifelhafter. In diese Gegend Islingtons verirrte sich kein Tourist, wenn er nicht gerade von einem zweitklassigen Reiseführer hierhergeschickt wurde, weil er unter der Rubrik »Alternative Geheimtipps« nachgeschlagen hatte.

In einer Seitenstraße rechts von ihm durchbrachen schließlich die vertrauten rot-blauen Lichtblitze alarmbereiter Streifenwagen den grauen Schleier dieses herbstlichen Dienstagmorgens. Grayson fuhr seinen Wagen langsam um die Ecke und stellte den Motor ab, ließ die Scheinwerfer aber noch an, um durch den Nebel hindurch einen besseren Blick auf den Tatort werfen zu können. Vor sich sah er zwei Streifenwagen und einen Dienstwagen von der Spurensicherung sowie den Leichenwagen des Gerichtsmediziners, alle hatten sich desselben Tricks wie Grayson bedient, und die Szene war hell erleuchtet. Also waren mindestens acht Kollegen vor Ort, vielleicht noch weitere in der Umgebung.

Das wird auf jeden Fall hässlich, dachte Grayson mit einem Seufzen. Aber sonst hätte man mich ja auch nicht angefordert.

Wobei angefordert nicht das richtige Wort war. Sein Vorgesetzter hatte ihn vielmehr hergeschickt, damit er auf andere Gedanken kam.

»Wir wissen doch, wohin zu viel Grübeln über ungelöste Fälle bei Ihnen führt, Inspector Steel. Hier, schauen Sie sich das mal an.«

Schwungvoll hatte Chief Biggs ihm die Akte in die Hand gedrückt. Ganz neu, nur ein einziges Blatt Papier darin. Nicht wie die Akten, die Grayson sonst bekam, überquellend vor Berichten von zwei oder mehr Abteilungen, die sich vor ihm die Zähne an den Fakten ausgebissen hatten.

Einer der Streifenpolizisten hatte die Hand gehoben, um sich gegen die Strahlen des Autoscheinwerfers abzuschirmen. Dieser blendete ihn jetzt schon eine ganze Weile, während Grayson seine Gedanken hatte schweifen lassen. Missmutig schaute der Polizist in Graysons Richtung.

»Na prima«, brummte der vor sich hin, während er das Licht ausschaltete. »Noch nicht ausgestiegen und schon den ersten Kollegen verärgert.« Mit einem Seufzen nahm er seine Dienstwaffe aus dem Handschuhfach und schob sie in das Achselholster, kramte schon mal seinen Dienstausweis hervor und stieg aus.

Der Polizist baute sich vor ihm auf, musterte seine Zivilkleidung und sagte in scharfem Tonfall: »Dies ist ein Tatort, Sir. Sie können hier nicht weiterfahren. Wenn Sie ein Anwohner sind …«

Grayson hob seinen Dienstausweis, den sein Gegenüber misstrauisch beäugte.

»Zeigen Sie mal her.« Herrisch schnappte er sich den Ausweis und starrte eine Weile darauf.

Ja, diese Dienstmarke sieht man eher selten, ich weiß., dachte Grayson und konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. Dummerweise sah der Polizist das und blickte nun noch finsterer drein.

Verdammt, soviel zur Kooperation, schoss es Grayson durch den Kopf. Dann eben auf die harte Tour.

»Detective Chief Inspector Grayson Steel von New Scotland Yard, Sonderermittler in der Abteilung für Schwerverbrechen. Wenn Sie wollen, können Sie gerne meine Dienstnummer überprüfen und meine Abteilung anrufen. Und jetzt her mit dem Ausweis, Police Constable.« Energisch winkte er mit seiner Hand, und widerwillig kam der andere seiner Aufforderung nach.

»Sonderermittler, huh. Naja, seltsam genug ist die ganze Sache ja.« Respektvoll gab er den Ausweis zurück und schaute sich fragend um.

»Wo ist denn Ihr Partner?«

»Ich arbeite zur Zeit allein«, antwortete Grayson. Mal wieder, fügte er in Gedanken hinzu.

Seine Arbeitsweise und die Natur seiner Fälle hatten schon weit über zehn Partner verschlissen. Sechs hatten sich in ruhigere Gefilde versetzen lassen, entweder um wieder schlafen zu können, oder um sich nicht weiter der Gefahr des politischen Selbstmordes auszusetzen. Die Hälfte seiner Fälle wäre nämlich recht leicht lösbar, wenn nicht irgendwelche einflussreichen Leute darin verwickelt wären. Allerdings war Grayson politischer Druck egal. Drei weitere Partner hatten sogar den Dienst quittiert, einer davon schon nach einer Woche. Von wegen Bester seines Jahrgangs. Den Rest hatte Grayson nicht leiden können. Die hielten nie lange durch.

»Also, was haben wir hier?«, fragte er nun laut. Dabei trat Grayson an dem Mann vorbei und betrachtete die Szenerie.

Eine kleine, wenig befahrene und daher völlig verdreckte Nebenstraße, die ins Dunkel führte, lag vor ihm. Die meisten der Straßenlaternen waren nicht in Betrieb. Ob absichtlich herbeigeführt oder durch Vernachlässigung konnte er nicht sagen, nicht hier in dieser Gegend. Nur eine einzige Laterne warf ein trübes oranges Licht auf den Tatort, und ohne die Scheinwerfer der Dienstwagen hätten sie ebenso gut raten können, was hier passiert war. Er sah ein weißes Tuch, ausgebreitet über einem Körper. Merkwürdig unpassend durch seinen Mangel an Grau und Schmutz schien es automatisch zum natürlichen Zentrum der Wahrnehmung zu werden.

Hinter ihm erklang die Stimme des Constables: »Es ging ein anonymer Anruf ein. Ein Autofahrer berichtete, hier wäre jemand zusammengebrochen. Es wurde noch eine zweite Person gesehen, die sofort flüchtete. Keine Beschreibung. Das Opfer selbst ist eine Frau, Ende zwanzig, keine äußeren Anzeichen für Gewalteinwirkung. Die Brieftasche fehlt. Bisher keine Möglichkeit zur Identifizierung des Opfers.« Ein kurzes Zögern. »Aber das Gesicht sollten Sie sich ansehen.« Man merkte, dass der Constable schon einige Jahre Dienst tat. Der sachliche Tonfall bewies, dass der Mann es geschafft hatte, die notwendige innere Mauer zu errichten, die diese Arbeit erforderte. Grayson fragte sich nach all den Jahren immer noch, ob das gut oder schlecht war.

Mit einem Achselzucken unterbrach er seine abermals beginnende Grübelei und kniete neben dem Tuch nieder. Wie immer wünschte er sich, das nicht tun zu müssen, einfach auf die Bilder der Spurensicherung warten zu können und dann im Büro aus sicherer Distanz Fotos zu betrachten, die auch aus einem schlechten Spielfilm hätten stammen können. Aber zu oft schon hatten Kleinigkeiten den entscheidenden Hinweis oder Zusammenhang geliefert, als dass er sich den Luxus erlauben könnte, den Anblick durch die gefilterten Augen eines Tatortfotos zu betrachten.

Er holte noch einmal tief Luft und hob das Tuch an. Mit einem leisen Flattern, fast wie ein Flüstern, hob sich das Gewebe vom Körper, und hinter sich hörte Grayson das leise, unterdrückte Würgen des Constables, als das Gesicht des Opfers entblößt wurde. Also eher ein guter Schauspieler als ein abgehärteter Scheißkerl, der nichts mehr fühlt. Gut. Das macht einen besseren Polizisten aus dir, Kumpel.

Sein Blick wanderte über den Körper der Toten, den Kopf aussparend. Es war besser, zuerst die normalen Dinge zu betrachten, bevor man sich mit den Auffälligkeiten auseinandersetzte. Die nahmen einem immer die Perspektive für den Rest des Tatorts. Das Opfer lag auf dem Rücken und war sehr gut gekleidet, vom Stil her ein teurer Businesslook. Keine offensichtlichen Abwehrverletzungen. Gepflegte Hände, sauber manikürt. Die Handtasche lag direkt neben dem Opfer, halb offen und durchwühlt, wahrscheinlich vom Täter auf der Suche nach der Brieftasche. Für Grayson sah es bis hierhin wie ein normaler Raub aus, bei dem etwas schief gegangen war. Als er sich dem Gesicht zuwandte, wusste Grayson, warum ausgerechnet er zu diesem Tatort geschickt worden war. Im Laufe seiner Karriere hatte Grayson schon viele Gesichter gesehen, die zeigten, in welchem gefühlsmäßigen Zustand sich die Opfer im Augenblick des Todes befunden hatten. Viele waren schmerzverzerrt, ängstlich und erschöpft, je nach Tathergang war mehr von einer und weniger von den anderen Emotionen zu sehen. Einige wenige wirkten auch überrascht oder sogar friedlich, wenn der Tod unerwartet gekommen war. Hier jedoch war jeder einzelne Gesichtsmuskel zu einem Ausdruck äußersten Entsetzens angespannt. Kein Schmerz, keine Überraschung oder Erschöpfung, nur pure Angst. Der Mund war weit aufgerissen, so grotesk, dass die Zähne komplett entblößt waren. Die Augen schienen aus den Höhlen zu quellen, derart weit waren die Lider geöffnet. An einigen Stellen schien die Haut bis über das natürliche Maß gedehnt worden zu sein, so dass Risse entstanden waren, durch die man einzelne Muskelstränge sehen konnte, die gespannt waren wie Drahtseile. Es war Grayson, als würde er ins personifizierte Antlitz der Furcht blicken.

Bestimmt kein normaler Raubüberfall. Sogar ihn erschreckte dieses reine Entsetzen, das ihm aus der Fratze der Toten entgegenschlug. Etwas hölzern ließ er das Tuch sinken und sammelte sich einige Sekunden. Er stand auf und drehte sich um, nur um einer vertrauten Gestalt gegenüberzustehen. Vertraut, aber nicht freundlich. Naja, man nimmt, was man kriegen kann, dachte Grayson.

Dr. Gilford war ein kompetenter Gerichtsmediziner, aber für Graysons Geschmack etwas zu enthusiastisch bei der Arbeit. Außerdem konnte er sich nie des Gedankens erwehren, dass die Opfer als letzte Gesellschaft vielleicht lieber jemand anderen als diesen dicklichen, kleinen Mann um sich gehabt hätten. Sein Gesicht mit den leicht vorstehenden Augen ließ ihn immer wie eine kranke Kröte erscheinen.

»Detective Steel, was für eine unerwartete Überraschung. Ich dachte, man hätte Sie mittlerweile suspendiert. Ihr letzter Fall war doch politisch recht brisant, oder nicht?« Der Tonfall des Mediziners schwankte zwischen ehrlicher Überraschung und etwas, das tatsächlich nach Sympathie klang.

Bei dieser Bemerkung hatten sich die Köpfe der anderen Uniformierten am Tatort umgedreht. Einige ganz offen, andere nur ein wenig, aber Grayson war klar, dass ihr Gespräch nun die ungeteilte Aufmerksamkeit der kompletten ermittelnden Truppe hatte.

Also schön, bringen wir es hinter uns. Er seufzte und setzte sein bestes gequältes Lächeln auf, um möglichst laut und deutlich klarzustellen: »Die meisten meiner Fälle sind heikel. Der letzte war nichts Besonderes. Der Täter war nur der Cousin zweiten Grades des Agrarministers. Nachdem ich ihn überführt hatte, habe ich mich mit den politisch Beteiligten zusammengesetzt und eine Lösung gefunden, mit der alle leben konnten. Alle, außer dem Cousin natürlich. Aber das hätte er sich überlegen sollen, bevor er diesem Mädchen derart übel mitgespielt hat.«

Die Ermittlungen waren im Laufe von zwei Jahren fast zum Erliegen gekommen. Massiver politischer Druck und die Trägheit des Alltags unter den zuständigen Kollegen hatten den Fall beinahe in Vergessenheit geraten lassen. Als Grayson sich angeboten hatte, die Ermittlungen zu übernehmen, hatte er plötzlich zwei neue Freunde, nämlich die beiden Kollegen, die den Fall los waren, und weit über zwei Dutzend neue Feinde.

Aber Grayson liebte Feinde, also war das in Ordnung. Zumindest wenn sie bedeuteten, dass er seine Arbeit richtig machte. Ein paar Fragen an den richtigen Stellen, ein wenig Unnachgiebigkeit gegenüber den üblichen Drohungen und ein klärendes Gespräch mit dem Minister bezüglich seiner Optionen hatten ausgereicht, um ein Geständnis des Cousins und eine stille und leise Verurteilung zu erwirken. Das Opfer wurde geschont, der Täter bekam eine angemessen hohe Strafe und der Minister keine negativen Schlagzeilen.

Es hatte schon etwas für sich, wenn einem die eigene Zukunft scheißegal war.

Nicht, dass Grayson selbstzerstörerisch gewesen wäre, es war eher eine Art beiläufige Kaltschnäuzigkeit. Er hatte einfach genug Angebote aus dem privaten Sektor, um jederzeit aus dem Polizeidienst aussteigen zu können und dabei das Dreifache zu verdienen. Aber Sicherheitsfirmen konnten keine Leute ins Gefängnis stecken, also blieb er, wo er war, solange er konnte und kümmerte sich um die Fälle, die so brisant, skurril oder einfach nur kompliziert waren, dass keiner sie bearbeiten wollte. Dass er verdammt gut in seiner Arbeit war, half ihm natürlich auch, sonst hätte seine Karriere vieles nicht überstanden.

Dr. Gilford streckte ihm die Hand entgegen, die Grayson etwas überrascht in einen kurzen Griff nahm. »Auf jeden Fall danke dafür, dass Sie das Schwein erwischt haben. Ich habe damals die Tatortbilder gesehen …« Die Stimme des Doktors verlor sich, und nach einigen Sekunden drehte er sich zur Leiche um und fuhr fort: »Keine Anzeichen eines Kampfes am Tatort, keine Abwehrspuren an der Leiche. Keine äußeren Verletzungen. Bei der Autopsie wird wahrscheinlich Herzversagen rauskommen. Vorläufig schätze ich den Todeszeitpunkt auf drei Uhr morgens. Wäre nicht der Gesichtsausdruck, so würde ich in diesem Fall nicht von einem Gewaltverbrechen ausgehen.«

Grayson nickte nachdenklich. »Ja, der Gedanke kam mir auch als Erstes. Aber warum sollte eine junge Frau einfach so mitten auf der Straße vor Schreck tot umfallen? Das ergibt keinen Sinn. Und auch wenn die Brieftasche fehlt, das hier war sicherlich kein Raubüberfall. Die Kleidung der Frau deutet darauf hin, dass sie nicht aus dieser Gegend kommt. Aber wen soll sie hier besucht haben, mitten in der Nacht und in diesem Aufzug? Hier passt nichts wirklich zusammen.« Er drehte sich zu dem Streifenpolizisten um, der sich mittlerweile erholt hatte. »Die Kollegen sollen die umliegenden Straßen absuchen. Wenn wir Glück haben, hat der Täter die Brieftasche schnell entsorgt. Dann fällt uns zumindest die Identifizierung leichter. Ich bezweifele, dass ihre Fingerabdrücke in unserer Datenbank erfasst sind.«

Dann blickte er die umliegenden Häuserwände hinauf. Wenige Fenster, die meisten davon zerbrochen. Die beiden Lagerhäuser direkt am Tatort schienen leer zu stehen, die hinteren Gebäude wurden vom Nebel und der Dunkelheit verschluckt. Zeugen würde er hier sicherlich keine finden.

»Mir wird immer klarer, warum ich den Fall bekommen habe. Hoffentlich wird der hier nicht die Nummer Acht«, murmelte Grayson.

»Nummer Acht?«, fragte Gilford.

»Es gibt bisher sieben Fälle, die ich nicht lösen konnte. Wann immer ich keine aktiven Fälle habe, versuche ich mich weiter an deren Aufklärung. Leider haben meine Theorien immer einige … Lücken«, antwortete der Sonderermittler nachdenklich.

Der Gerichtsmediziner räusperte sich. »Davon habe ich gehört. Gerüchten zufolge haben Sie sogar alternative Ansätze durchdacht, wenn ich das mal so formulieren darf.«

Alternative Ansätze, den Ausdruck muss ich mir merken, dachte sich Grayson. Der Chief nennt so was Spinnereien. Deswegen hat er mir doch den Fall hier gegeben. Damit ich nicht wieder die Seltsamen Sieben anrühre. Das war der Spitzname, den die Fälle in seiner Abteilung hatten. Die Seltsamen Sieben. Bei keinem dieser Fälle gab es eine sinnvolle Erklärung, es fehlte immer ein wichtiger Aspekt. Zum Beispiel der Mann, der in einem von innen verschlossenen Raum verbrannte, ohne dass ein Brandbeschleuniger oder ein anderer Brandherd als der Mann selbst nachgewiesen werden konnte. Grayson hatte jede Spur verfolgt, von experimentellen Chemikalien bis hin zur Verschwörung. Erst nachdem er alles ausgeschlossen hatte, hatte er sich mit dem Thema der spontanen Selbstentzündung beschäftigt. Obwohl er selbst nicht daran glaubte, blieb es die einzig passende Theorie. Aber damit wollte er sich nicht zufrieden geben. Also grub er weiter, obwohl jede andere Erklärung, die er fand, auch nicht wahrscheinlicher war.

»Ich diskutiere die Fälle mittlerweile nicht mehr«, sagte Grayson knapp zu dem immer noch fragend dreinblickenden Mediziner. Sonst lande ich noch in der psychiatrischen Anstalt. Und an einem solchen Ort angekommen, wären die Angebote privater Sicherheitsfirmen hinfällig.

Chief Biggs sagte immer, dass er Grayson nie an einen verärgerten Politiker, einen wütenden Mob oder einen Serienkiller verlieren würde, sondern höchsten an die Seltsamen Sieben. Na, dann hoffen wir mal, dass der Chief mich hier nicht zum Achten geschickt hat, um mich von den Sieben abzulenken. Einen Moment genoss Grayson die Ironie, bevor ihm bewusst wurde, was das für ihn und seine geistige Gesundheit bedeuten würde, sollte er Recht behalten.

Er schauderte. Der Schlafmangel hatte ihn grüblerisch gemacht, und so versuchte er, sich wieder auf den Tatort zu konzentrieren. Grayson starrte hinunter auf die regungslose Gestalt unter dem Leichentuch. Was hast du gesehen? Was hat dich zu Tode erschreckt? Er stellte sich genau vor die Leiche und drehte sich dann so, dass er in die Blickrichtung der Toten schaute. Er sah nur Nebel und Dunkelheit.

»Sie hat in diese Richtung geschaut, als sie gestorben ist. Ich schau mir mal den hinteren Teil der Straße an, vielleicht hat der Mörder etwas verloren, oder es gibt andere Hinweise«, sagte er zu Dr. Gilford.

»Gut, ich bin hier fast fertig. Die genaue Todesursache werde ich Ihnen erst später mitteilen können«, erwiderte er. »Wenn wir Glück haben, hat sie eine experimentelle Droge eingeworfen und der Fall ist morgen erledigt.« Der Gerichtsmediziner wollte ihn aufmuntern, aber Grayson glaubte nicht an Drogen als Ursache. Das Opfer wirkte sehr gepflegt, die Art von Mensch, die sehr genau auf sich und ihren Körper achtete. Die wenigsten von solchen Typen nahmen Drogen und wenn, dann in einer kontrollierten Umgebung wie einer schicken Penthouse-Wohnung und nicht mitten auf der Straße in einem heruntergekommenen Viertel. Außerdem war ja auch eine flüchtende Person gesehen worden.

Gedankenverloren ließ Grayson sich eine Taschenlampe von einem der Beamten in Uniform geben und machte sich auf den Weg ins Dunkel. Der Nebel schien dichter zu werden, während er sich dem Rande des Lichtkegels näherte, den die einzige funktionierende Laterne und die Lichter der Streifenwagen warfen. Nach drei weiteren Schritten stand er in massiver Schwärze, bis seine Augen sich langsam an die veränderten Sichtverhältnisse gewöhnt hatten. Grayson nutzte die Zeit, um ein paar Mal tief durchzuatmen. Nach einigen Sekunden war die Straße als kaum zu erkennender Schemen sichtbar. Besser wird’s wohl nicht, dachte sich Grayson und schaltete die Taschenlampe ein. Sofort verschwand alles außerhalb des Lichtkegels wieder in einer grauen Wand, aber die vorherige Gewöhnung seiner Augen an das Zwielicht sorgte zumindest dafür, dass er den Strahl der Taschenlampe als ausreichend hell empfand, um innerhalb seiner kleinen Insel aus Licht einige Details erkennen zu können. Er ging weiter, und nach zehn Metern endete die Straße an einem kleinen Parkhof mit heruntergekommenen Garagen. Grayson leuchtete die umliegenden Laternen an und erkannte gesplittertes Glas. Alle Laternen auf dem Parkplatz waren zerschmettert worden, es lagen Steine in der Nähe der Splitter. Grayson trat näher und leuchtete einen der Scherbenhaufen an. Die Bruchkanten waren dreckig und angelaufen, also waren die Laternen vor längerer Zeit beworfen worden. Höchstwahrscheinlich von Jugendlichen, die irgendwie die Langeweile eines weiteren Abends ohne Perspektive bekämpfen wollten. Es schien, als ob der Mörder den hinteren Teil der Straße als eigentlichen Tatort vorgesehen hatte. Hier war alles schön dunkel, weit genug entfernt von der Hauptstraße, um eventuellen Lärm ungehört verhallen zu lassen, und kein Mensch kam hierher, erst recht nicht nachts. Vielleicht war ihm das Opfer entkommen oder hatte die Falle gewittert und es zumindest bis ins Licht der Nebenstraße geschafft.

Aber wie konnte er erwarten, dass überhaupt jemand herkam? Was hatte die Frau hier zu suchen, mitten in der Nacht? Und wie hat er sie getötet?

Er suchte nach Anzeichen eines Kampfes, aber die Taschenlampe offenbarte nur weiteren Dreck und Müll. Er wollte sich eben umdrehen, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln erspähte. Der Strahl seiner Taschenlampe zuckte herum und traf auf das stumpfe, rostige Blech eines Garagentores. Da waren Schritte in der Dunkelheit zu hören, aber Grayson konnte nicht sagen, von wo genau sie kamen. Der Nebel und das Wellblech der Garagen verzerrten jedes Geräusch.

Seine Kollegen erschienen ihm auf einmal hundert Meter weit entfernt zu sein, und Grayson war sich plötzlich der Tatsache schmerzlich bewusst, dass er allein in einer unbeleuchteten Sackgasse stand, in deren unmittelbarer Nähe ein rätselhafter Mörder zugeschlagen hatte. Sollte der Mörder psychisch gestört sein, habe ich gerade eine riesige Zielscheibe auf dem Rücken.

So unwahrscheinlich dieser Gedanke auch war, Grayson hatte gelernt, dass eine gute Gelegenheit die Hemmschwelle solcher Täter herabsetzte. Er zog seine Waffe, entsicherte sie und betätigte den Schlitten, um eine Kugel in den Lauf zu befördern. Ganz ruhig, alter Junge. Nur nicht durchdrehen. Ist bestimmt nur ein Obdachloser, der definitiv mehr Angst vor dir hat, als du vor ihm, beruhigte er sich selbst.

Langsam und vorsichtig rückwärtsgehend machte Grayson sich auf den Weg zurück zum Tatort, wobei er die Sackgasse mit seiner Taschenlampe so gut es ging im Auge behielt und nervös einen Blick über die Schulter warf. Das neblige Grau und die verschmierten Hauswände im kalten Scheinwerferlicht der Streifenwagen wirkten auf einmal genauso einladend auf ihn wie der Anblick seiner Lieblingsbar.

Erstaunlich wie so ein wenig Todesangst die Wahrnehmung verändern kann. Langsam, möglichst leise auftretend, damit er jedes Geräusch hören konnte, schob sich Grayson an der linken Hauswand entlang, bis er knapp außerhalb des Lichtstrahls der Streifenwagen stand. Hier blieb er stehen und starrte noch einmal in die alles verhüllende Schwärze. Nichts regte sich. Er machte hastig drei weitere Schritte rückwärts ins Licht und steckte seine Waffe weg, damit die anderen Kollegen nicht bemerkten, was er da trieb.

Ich brauche einen Kaffee, dachte Grayson, während er sich umdrehte und erleichtert den Atem ausstieß.

Und stutzte.

Die Leiche war abtransportiert worden, die Leute von der Spurensicherung packten bereits zusammen. Aber dort, wo die Leiche gelegen hatte, lag etwas Glänzendes auf dem Boden. Anscheinend hatte noch keiner der drei anwesenden Spurensicherer den Gegenstand bemerkt.

Grayson trat näher und bückte sich, um genauer hinschauen zu können. Eine silberne Scheibe oder Münze lag dort gut sichtbar, direkt an der Stelle, wo die Leiche gelegen hatte. Grayson zog sich einen Gummihandschuh über und hob die Scheibe auf. Ein kleiner Funken sprang dabei auf seine Hand über, anscheinend war sie elektrisch aufgeladen gewesen. Sie wirkte auf den ersten Blick wie eine Crown, eine 25-Cent-Münze, war jedoch von einem feinen Muster überzogen, wie Grayson es noch nie gesehen hatte. Von einer normalen Prägung fehlte jede Spur.

Sieht wertvoll aus, vielleicht wollte der Mörder das an sich bringen, dachte er. Damit wäre schon mal ein Motiv vorhanden, und Grayson begrüßte an diesem Tatort jeden Anhaltspunkt, der einen Sinn ergab. Aber wenn ich als Täter dafür morde, dann suche ich doch danach! Ihm fiel die durchwühlte Handtasche ein, und Grayson schätzte, dass der Täter bestimmt hiernach gesucht hatte. Anscheinend hatte das Opfer die Münze in der Hand gehalten, und bei ihrem Tod war sie zu Boden gefallen, und der Körper der Frau hatte sie verdeckt.

Zufrieden winkte Grayson einen der Spurenermittler heran, die sich gerade abfahrbereit machten. »Packen Sie das bitte ein, das lag unter der Leiche.«

Der junge Mann beugte sich aus dem Fenster des Wagens und warf einen seltsam flüchtigen Blick auf Graysons Hand. »Ach, das ist nur eine Crown, die haben wir vorhin schon gesehen, die können Sie behalten«, scherzte er freundlich und schloss das Fenster des Wagens. Für einen kurzen Moment dachte Grayson an einen schlechten Witz. Als der Mann den anderen jedoch signalisierte loszufahren, erkannte er seinen Irrtum. Das war kein Scherz gewesen und verhört hatte er sich auch nicht! Der Lieferwagen setzte sich in Bewegung und ließ Grayson fassungslos zurück.

Der lässt mich hier echt stehen … Grayson schäumte vor Wut und stampfte zu seinem verbeulten Dienst-BMW hinüber, über die mangelnde Qualität der Nachwuchspolizisten im Allgemeinen und die Schlampigkeit der Spurenermittler im Besonderen fluchend. Dort kramte er ein Beweistütchen aus seinem Notfallkoffer, den er immer dabei hatte, und packte die Münze ein.

Mittlerweile waren auch die Streifenwagen abgefahren, und Grayson blickte auf den verlassenen Tatort. Nur das gelbe Absperrband erinnerte noch an das Geschehen.

Ein weiterer Morgen im schönen London, dachte Grayson grimmig.

Er startete den Wagen, schaltete seine Scheinwerfer ein und erstarrte. Zwanzig Meter entfernt, nur als Schemen im Nebel zu erkennen, stand eine Gestalt, über zwei Meter groß, in seltsam unförmige Kleidung gehüllt und starrte ihn an. Gute drei Sekunden bewegte sich keiner der beiden, während derer Grayson versuchte, so viele Details wie möglich zu erkennen, aber der Nebel machte jedwede Bemühung zunichte. Etwas an den Konturen der Person kam Grayson seltsam falsch vor, abgesehen von der Größe. Arme und Beine schienen zu lang für einen Menschen, die Finger, nur als angedeutete Schatten zu erkennen, wirkten irgendwie spitz. Er spürte die Bedrohung, die von dieser Gestalt ausging, wie Beute, die weiß, wenn sie sich im Fokus eines Raubtiers befindet. Ihm brach am ganzen Körper der kalte Angstschweiß aus. Langsam griff er nach seiner Dienstwaffe, bis er das beruhigend kühle Metall mit seinen Fingerspitzen spüren konnte. Das brach den Bann. Grayson öffnete mit einer Hand die Tür, rief »Polizei, stehenbleiben!« und zog mit der anderen Hand seine Waffe, alles in einer flüssigen Bewegung.

Für einen Sekundenbruchteil nahm ihm der Türholm die Sicht, da war die Gestalt bereits verschwunden. Was auch immer da gewesen war, es hatte sich blitzschnell bewegt. Wäre nicht der wirbelnde Nebel gewesen, der die plötzliche Leere füllte, wo der Schemen eben noch gestanden hatte, Grayson hätte seinen Augen nicht getraut. Doch auch dieser Moment verstrich, und der Nebel beruhigte sich. Die Gasse lag wieder in trügerischer Stille da und erwartete die Geräusche der erwachenden Stadt. Grayson ließ sich ins Auto fallen und zog die Tür ins Schloss, die Waffe auf seinem Schoß.

Nach fünf Minuten hatte er sich soweit beruhigt, dass er mit zitternden Fingern den Wagen wenden und losfahren konnte.

Die Bannmünze

London, Islington, Dienstag, 11. Oktober, 7.08 Uhr

Grimmig starrte Grayson auf die braune Brühe hinab, die in diesem Laden als Kaffee durchging. Nach wenigen hundert Metern hatte er den Versuch, das Auto in seinem nervlichen Zustand zu steuern, aufgegeben und sich kurzentschlossen in das nächstbeste Café gesetzt. Seine Hände zitterten noch immer, und sein Verstand raste aufgrund der Ereignisse der letzten Stunde. Bevor er sich nicht beruhigt hatte, war es wahrscheinlicher, dass er einen Unfall verursachte, als dass er wohlbehalten im Hauptquartier von Scotland Yard ankam.

Hinter der fleckigen Glasscheibe, die den Dreck auf dem Bürgersteig vom Dreck in diesem Schuppen trennte, erhob sich die Stadt langsam aus dem Schlummer der Nacht. Immer mehr müde Gestalten schleppten sich, verdammten Schemen gleich, durch das trübe Grau eines nebelverhangenen Morgens. Der Verkehr nahm zu, schon waren in der Ferne die ersten Hupen zu hören, die vom Ärger oder der Ungeduld ihrer Fahrer kündeten. Während der Kaffee seine Wirkung tat und das Adrenalin langsam verflog, drehte und wendete Grayson seine seltsame Begegnung immer wieder im Kopf.

Die Gestalt war real gewesen, daran gab es keinen Zweifel, dessen war sich Grayson sicher. Denn an der Gestalt zu zweifeln, hieße, an seinem Verstand zu zweifeln, und auf dieses Terrain wollte er sich ganz sicher nicht begeben. Aber wie konnte sich jemand derart schnell bewegen? Durch die Nebelwallungen hatte Grayson die Bewegung nachverfolgen können, aber gesehen hatte er sie nicht. Frustriert begann er, die Details des Falles durchzugehen, aber auch das half nicht. Zu viele widersprüchliche Fakten und zu wenig Informationen. Grayson hoffte, dass die Identifizierung des Opfers und die Obduktion der Leiche wesentliche Anhaltspunkte zu Tage fördern würden, mit deren Hilfe er alle bisherigen Erkenntnisse dieser Ermittlung in einen sinnvollen Zusammenhang bringen konnte. Andernfalls würde das ein ganz schön hartes Stück Arbeit werden.

Er stand auf und ging zum Tresen, um den Kaffee zu bezahlen. Als er in seine Manteltasche griff, um seine Brieftasche hervorzuholen, spürte er das Beweismitteltütchen mit der Münze, die er am Tatort eingesteckt hatte. In der Aufregung hatte er seine letzte Entdeckung ganz vergessen! Aufgeregt bezahlte er den teilnahmslosen Mann hinter dem Tresen, der offensichtlich schon jetzt die Minuten bis zum Feierabend zählte, und ging hinaus. Dort zog er das kleine Tütchen hervor und betrachtete die Münze im Schein der grellblauen Neonreklame, die das heruntergekommene Café noch weiter verschandelte. Die verschlungenen Linien auf der Oberfläche waren sehr komplex und ihnen mit den Augen zu folgen war äußerst anstrengend. Ich habe einen ersten Ansatz, dachte Grayson zuversichtlich. Das Ding ist bestimmt selten. Und was selten ist, lässt sich gut zurückverfolgen. Jetzt musste er nur noch jemanden finden, der ihm sagen konnte, was das Ding überhaupt war.

Grayson stieg in seinen Wagen, zog sich ein paar Einweghandschuhe über und holte die Münze vorsichtig aus der Beweismitteltüte, wobei wieder ein Funke übersprang. Vielleicht ein besonders gut leitendes Material., dachte Grayson. Er nahm zwei Spezial-Folien aus dem Handschuhfach, mit denen er die beiden Seiten der Münze beklebte, um sie dann vorsichtig wieder abzuziehen und in dem Tütchen zu verstauen. Sollten noch brauchbare Fingerabdrücke oder andere Spuren an der Münze gewesen sein, wären diese nun auf der Oberfläche der Folie gesichert. Später würde Grayson die Folien im forensischen Labor abgeben.

Nachdem er nun alle Spuren an der Münze gesichert hatte, streifte der Ermittler die Handschuhe ab und warf sie mit einem widerwilligen Laut in den hinteren Teil des Wagens. Ich hasse diese Dinger, dachte er angewidert. Dann legte er die Münze auf den Beifahrersitz und machte einige Fotos für das Archiv. Zumindest versuchte er es. Nach dem sechzehnten Versuch landete die Kamera bei den Handschuhen auf dem Rücksitz, und Grayson starrte die Münze wütend an. Keines der Fotos war brauchbar, denn entweder waren die Linien auf den Fotos nicht zu erkennen, oder die Fotos waren komplett unscharf. Als ob das Ding nicht fotografiert werden will, fluchte Grayson innerlich. Kopfschüttelnd startete er den BMW und legte sich im Kopf seine Route zurecht. Im Laufe der Jahre hatte Grayson schon häufig die Hilfe von Antiquitäten- und Münzhändlern in Anspruch genommen, um seine Ermittlungen voranzutreiben. Er würde zwei oder drei von ihnen einen Besuch abstatten, und dann wäre er bestimmt schlauer. Mit diesem hoffungsvollen Gedanken fädelte sich Grayson in den Verkehr ein und verschwand im Nebel.

London, City of London, Dienstag, 11. Oktober, 11.39 Uhr

Einige Stunden später, die er größtenteils damit verbracht hatte, im Stau auf die Rücklichter seines Vordermannes zu starren, verließ ein entnervter Sonderermittler das sechste Geschäft, das er an diesem Vormittag bereits aufgesucht hatte. Auch bei diesem Laden war er nicht fündig geworden, der Besitzer hatte die Münze nur flüchtig angesehen und für wertlos erklärt, genau wie drei seiner Kollegen vor ihm. Die anderen zwei hatten zwar geringes Interesse gezeigt, wollten sich aber nicht genau festlegen, da ihnen so eine Gravur noch nie untergekommen war. Zusätzlich hatte Grayson jedes Mal einen elektrischen Schlag bekommen, wenn er das Beweisstück angefasst hatte. Die Händler hatten sich gar nicht erst damit abgegeben, die Münze in die Hand zu nehmen. Grayson lehnte sich an sein Auto und dachte über seinen nächsten Schritt nach. Auch seine Hartnäckigkeit hatte ihre Grenzen, und wenn die Münze eine Sackgasse war, wollte er nicht zu viel Zeit darauf verschwenden. Trotz allem war er sich sicher, dass sie eine Rolle spielte, und er beschloss, noch einen letzten Versuch zu wagen. Er kramte den Zettel aus der Hosentasche, den ihm eine Antiquitätenhändlerin heute Morgen in die Hand gedrückt hatte.

»Hier könnten Sie es mal versuchen«, hatte die Frau gesagt. »Der alte Rudvig Straage ist auf kuriose Sachen wie das hier spezialisiert.« Dabei hatte die rundliche Händlerin mit ihrem Stift auf die Münze gedeutet, um dann stirnrunzelnd fortzufahren: »Aber sein Ruf ist recht … schillernd, wenn Sie verstehen.«

Grayson hatte die Notiz zwar dankend angenommen, aber zuerst weitere seiner etablierten Quellen aufgesucht. Am Anfang seiner Karriere hatte er sich einmal auf die Meinung eines Spezialisten mit zweifelhaftem Ruf gestützt, und das hätte ihn beinahe den betreffenden Fall gekostet. Seitdem hatte er sich eine Kontaktliste aus vertrauenswürdigen Quellen geschaffen und nahm nur sehr zögerlich die Hilfe von jemandem in Kauf, der nicht dort drauf stand.

Er starrte noch einmal auf die Adresse und zuckte dann die Achseln.

Den einen Versuch noch, danach ermittele ich vorerst in eine andere Richtung, dachte er. Es würde zwar schmerzen, sich selbst eine Fehleinschätzung einzugestehen, aber falscher Stolz gehörte zu den vielen Dingen, die Grayson im Laufe seiner Arbeit aufgegeben hatte. Er streckte sich vor dem Einsteigen noch einmal und blinzelte in den dunkel verhangenen Himmel hinauf, der ihm seinerseits einen leichten Nieselregen entgegensandte. Der Nebel ist fort, damit der Regen einsetzen kann. Man muss dieses Wetter einfach lieben. Seufzend setzte er sich in den Wagen und machte sich ein weiteres Mal auf den Weg.

London, Downham, Dienstag, 11. Oktober, 12.20 Uhr

Vierzig Minuten später fand sich Grayson in der perfekt gepflegten Vorstadtsiedlung von Downham im Südosten Londons wieder. Verklinkerte Häuser, kleine quadratische Vorgärten mit Blumen am Weg, gepflasterte Garageneinfahrten und überwiegend rote Dächer, soweit das Auge reichte. Grayson kam sich vor wie in einem dieser Albträume, bei denen man läuft und läuft und nicht von der Stelle kommt. Die einzelnen Straßen glichen sich derart, dass man schon zweimal hinsehen musste, um geringfügige Unterschiede feststellen zu können. Nur wenige der Grundstücke boten Grayson eine Orientierungshilfe, während er sein Ziel suchte.

Bei so viel Gleichförmigkeit wurde ihm immer mulmig. Nach seiner Erfahrung war in einer solchen Wohngegend jeder jedermanns bester Freund und schlimmster Feind. Plötzlich war er froh, dass sein Tatort in dem heruntergekommenen Teil Islingtons lag. Da waren sich wenigstens alle Anwohner einig, dass man den Ordnungshütern nur das Allernötigste sagt und sich ansonsten um seinen eigenen Kram kümmert. Das war zwar ebenso hinderlich wie eine Horde hilfsbereiter Nachbarn voller Klatsch, aber zumindest erfrischend einfach und ehrlich. Grayson hielt seinen BMW an und ließ die quietschende Scheibe herunter. Nach seiner festen Meinung war er schon dreimal an seinem Ziel vorbeigekommen, aber jedes Mal hatte er sich dann doch irgendwo verfahren, und sein Navigationssystem weigerte sich standhaft, die Adresse anzunehmen und behauptete, die Straße existiere nicht.

Mit seinem gewinnendsten Lächeln sprach der Ermittler eine junge Frau an, die ihren Kinderwagen in sicherem Abstand an ihm vorbeischob und ihn dabei argwöhnisch anschaute.

»Entschuldigung, haben Sie eine Ahnung, wo ich die Plymouth Road Nr. 1 finde? Irgendwie scheine ich immer falsch abzubiegen.«

Das Gesicht der jungen Frau zeigte nun deutliche Ablehnung, als sie erwiderte: »Was wollen Sie denn dort, um Himmels willen?«

Die Nachteile einer Ziviluniform, dachte sich Grayson abermals und kramte seinen Ausweis hervor.

»New Scotland Yard, offizielle Ermittlungen«, brummte Grayson und hielt der Frau die Marke entgegen. Nun war es schon so weit, dass er sich ausweisen musste, wenn er Leute nach dem Weg fragte. Vielleicht hätte er doch an dem Seminar zur Verbesserung der sozialen Kompetenz teilnehmen sollen.

Ihr harter Ausdruck schmolz förmlich von ihrem Gesicht, um einer Miene der Häme Platz zu machen. In Graysons Augen stellte das keinerlei Verbesserung dar. »Na endlich, es wird aber auch Zeit, dass jemand den alten Mann mal unter die Lupe nimmt. Jeder hier weiß doch, dass bei dem nicht alles mit rechten Dingen zugeht.« Und nun gesellte sich ungezügelte Neugier zur Häme, so dass die Frau auf einmal zehn Jahre älter und doppelt so boshaft wirkte, fast wie in einem dieser Zerrspiegel, die Grayson als kleinen Jungen auf dem Jahrmarkt so fasziniert hatten. Es war damals seine erste Lektion gewesen, dass jede Wahrnehmung immer nur vom Blickwinkel abhing.

»Drei Blöcke geradeaus und dann links rein. Was genau wollen Sie denn …?«, fuhr sie fort.

»Vielen Dank für die Auskunft. Einen schönen Tag noch«, unterbrach Grayson sie so freundlich er konnte. Dann fuhr er schnell das Fenster wieder hoch und setzte seinen Weg fort, bevor die Anwohnerin weiterreden konnte. Im Rückspiegel erkannte er genau, dass sie wohl noch einiges zu sagen gehabt hätte, und nichts davon wäre nett gewesen. Sein Nervenkostüm war nach seiner unheimlichen Begegnung am Tatort nicht das beste, und da war es sicherer weiterzufahren, bevor seine Höflichkeit vollständig versiegte. Auch wenn Grayson Zivilbeschwerden sammelte wie andere Kollegen Rabattmarken, musste er es ja nicht unbedingt darauf anlegen.

Er fuhr weiter und bog in die kleine Nebenstraße ohne Straßenschild ein, die ihm genannt worden war. Sie zwängte sich zwischen zwei Häusern hindurch, deren fünf Meter hohe Hecken links und rechts der Fahrbahn aufragten wie zwei grüne Sturmwellen, bereit, jeden Eindringling zu verschlingen. Nach wenigen Sekunden kam Grayson an einen Kreisverkehr mit einer dicht bewachsenen Verkehrsinsel. Er hielt an und schaute sich irritiert um. Auch der Kreisverkehr war von Hecken umgeben, keine Spur von Häusern. Achselzuckend fuhr Grayson in den Kreisverkehr, in der festen Absicht zu wenden. Als er um das Hindernis herumfuhr, sah er plötzlich ein zweistöckiges Fachwerkhaus vor sich. Dieses so gar nicht in die Gegend mit seinen geklinkerten Häusern aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert passende Gebäude wurde geschickt durch den Bewuchs der Verkehrsinsel verborgen. Alles an dem Bauwerk strahlte ein hohes Alter aus. Wettergegerbte, ein wenig ungleichmäßige Balken waren zwischen den rauen Steinblöcken der Fassade sichtbar, und schwere, leicht unförmige Ziegel bedeckten das Dach, untrügliche Zeichen einer manuellen Herstellung. Eine von Grünspan bedeckte, messingverzierte Regenrinne umrahmte das Haus, und der Briefkasten sah mit seiner gusseisernen Machart auch schon mindestens hundert Jahre alt aus.

Das nenne ich konsequent, der Kerl lebt sogar in einer Antiquität, schoss es Grayson durch den Kopf. Das muss gebaut worden sein, noch bevor die Gegend offiziell erschlossen wurde.

Er parkte direkt vor dem Haus, stellte den Motor ab und ließ das Bild auf sich wirken. Dieses Gebäude schien das einzige Haus in der Plymouth Road zu sein, und die Konstruktion des Kreisverkehrs in Kombination mit den Hecken schottete es auf wirksame Weise von der Hauptstraße ab. Wie jemand ein Geschäft ausgerechnet hier und derart versteckt betreiben und davon leben konnte, war Grayson schleierhaft. Vielleicht ein exzentrischer Erbe mit genug Geld auf dem Konto, dachte er sich.

Für einen kurzen Moment überlegte Grayson, ob er wieder fahren sollte. Das wirkte alles zu skurril, und er bezweifelte mittlerweile stark, dass er hier stichhaltige Informationen bekommen könnte. Aber der Zeitaufwand, herzufinden, war einfach zu groß gewesen, um nicht wenigstens einmal reinzuschauen.

Als Grayson ausstieg und den langen Vorgarten durchquerte, stellte er verdutzt fest, dass er sich auf einem Belag aus Muschelschalen bewegte. Der gesamte Vorhof war mit Muschelsplittern ausgelegt, ebenso wie der schmale Pfad, der sich durch den Vorgarten schlängelte. Das Knirschen unter seinen Sohlen klang entsetzlich laut in seinen Ohren, und erst jetzt fiel ihm die absolute Ruhe auf, die hier hinter all den Hecken und der Verkehrsinsel herrschte. Der gesamte Ort wirkte irgendwie unwirklich und Grayson musste ein mulmiges Gefühl unterdrücken.

Eine schwere dunkle Eichentür mit einem schlichten Messingschild erhob sich am Ende des Weges. Die Worte »Rudvig Straage, Kuriositäten« waren kunstfertig auf dem Schild eingraviert. Darüber befand sich ein Türklopfer, Grayson sah keinen Hinweis auf eine Türklingel.

Zweifelnd griff er nach dem Klopfer, seine Idee, hierher zu fahren, zum wiederholten Male bedauernd, als er plötzlich innehielt. Die gesamte Fläche der Klopfplatte war mit feinen, komplexen Linien übersät. Schnell holte er die Münze hervor und hielt sie daneben. Die Muster waren definitiv unterschiedlich, aber die Machart sehr ähnlich. Als er die Platte berührte, bekam er einen leichten elektrischen Schlag. Von neuer Hoffnung erfüllt, ließ Grayson den Türklopfer niedersausen und zuckte zusammen. In der Stille hallte das Geräusch des schweren Messingrings wie ein Donnerschlag in seinen Ohren.

Für einige Sekunden war es still, dann nahm Grayson langsame Schritte wahr, und die Tür wurde geöffnet. Ein alter Mann mit freundlichem Gesicht und klarem Blick schaute ihn aus dunkelbraunen Augen an. Eine leicht zerknitterte Cordhose und ein fleckiges weißes Leinenhemd, von dem sich die schwarzen Hosenträger scharf abhoben, standen in starkem Kontrast zu der mit feinen Gravuren verzierten, goldgefassten Brille und den makellos anliegenden, zurückgekämmten schlohweißen Haaren. Er stand in einem kurzen, dunklen Flur ohne Fenster, der an eine Schleuse erinnerte.

»Wie kann ich Ihnen helfen, mein Herr?«, sprach er Grayson mit einer warmen und ruhigen Stimme an.

»New Scotland Yard, Sonderermittler Grayson Steel. Sind Sie Mr. Rudvig Straage? Ich hätte gerne Ihre Meinung zu einer Münze, die wir an einem Tatort sichergestellt haben. Man hat Sie als Fachmann empfohlen.«

Der alte Mann beäugte ihn durch seine Brille und lächelte dann seltsam wissend. Er machte einen Schritt zur Seite. »Selbstverständlich, kommen Sie doch bitte mit in den Verkaufsraum.«

Als Grayson das Haus betrat, knirschte es noch einmal laut, als sich die Muschelreste von seinen Schuhen lösten. Der Antiquitätenhändler deutete Graysons fragenden Blick Richtung Vorgarten richtig und erklärte etwas kryptisch: »Muschelschalen. Kein Wesen kann sich auf Muschelschalen anschleichen, ohne ein Geräusch zu verursachen.« Als ob das alles erklären würde, schloss er vor sich hin nickend die Haustür, schob sich an einem verblüfften Grayson vorbei und öffnete anschließend die Tür am Ende des Flures. War der Korridor sehr unscheinbar und karg eingerichtet, so stand der Raum, den Grayson nun betrat, im krassen Gegensatz dazu. Jede Wand war mit hölzernen Regalen und hohen Vitrinen bedeckt, in denen sich fein säuberlich aufgereiht die unterschiedlichsten Gegenstände befanden. Die größeren Stücke waren mitten in dem riesigen Raum platziert worden, der neben dem Flur das gesamte Erdgeschoss des Hauses in Anspruch nahm.

Neugierig beäugte Grayson einige der Kuriositäten. Auf Anhieb sah er Porzellan, das vollständig aus Perlmutt zu bestehen schien, ohne irgendwelche Naht- oder Klebestellen aufzuweisen, eine Pflanze mit drei verschiedenen Blüten in drei verschiedenen Farben und eine zwei Meter hohe Ritterrüstung ohne erkennbare Öffnung, die neben ihrem hohen Alter auch Kampfspuren erkennen ließ. Und Bücher. Jede Menge Bücher in allen erdenklichen Einbänden und Färbungen, die ältesten unter ihnen sahen so zerbrechlich aus, als ob sie schon vom Ansehen auseinander fallen könnten. Trotzdem schien Straage sie hier sorglos auszustellen, obwohl sogar Grayson wusste, dass Sonnenlicht Gift für derart alte Exemplare war.

Mitten im Raum stand ein runder, hoher Holztisch mit mehreren Schemeln, an dem der Antiquitätenhändler Platz nahm und Grayson mit einer Geste aufforderte, sich ebenfalls zu setzen. Zwei Tassen standen darauf, und Grayson roch den verlockenden Duft von hochwertigem Kaffee, der bereits in beiden Tassen darauf wartete, getrunken zu werden. Als er sich dem alten Mann gegenüber niederließ, dachte er darüber nach, wann der Händler den Kaffee für ihn eingeschüttet haben konnte. Er wollte ihn gerade fragen, als sein Gegenüber lächelnd sagte: »Muschelschalen. Kein Wesen bewegt sich leise über Muschelschalen.« Die entwaffnend freundliche Art des Mannes hatte etwas an sich, das Grayson dazu verleitete, einfach nur zu nicken und seine Aussage hinzunehmen, ohne weiter nachzubohren.

»Ich habe hier eine Münze, zu der ich gerne Ihre Meinung hätte. Jede Art von Information ist hilfreich.« Damit holte er die seltsame Crown hervor und legte sie auf den Tisch. Mit wachsamem und interessiertem Blick nahm Straage den obligatorischen Funken zur Kenntnis, an den Grayson sich mittlerweile gewöhnt hatte, wenn er die Münze berührte. Der Händler nahm die kleine silberne Scheibe auf und begann, sie eingehend zu studieren. Neidisch nahm der Ermittler zur Kenntnis, dass der alte Mann von einer Entladung verschont blieb. Vielleicht irgendetwas an meiner Kleidung …?, sinnierte Grayson. Als ihm klar wurde, dass er keine schnelle Antwort bekommen würde, beschloss er, sich um seinen Kaffee zu kümmern. Nachdem er gekostet hatte, war es um Graysons Aufmerksamkeit geschehen.

Eine halbe Tasse und zwei Minuten später hätte jeder Beobachter, der durch eines der hohen Fenster in den Raum geschaut hätte, zwei rundum zufriedene Menschen erblickt. Der alte Mann schien ganz in der Betrachtung der Münze aufzugehen, und Grayson war bei der festen Überzeugung angelangt, dass sich all die Mühe und das Herumfahren gelohnt hatten, inklusive des mysteriösen Mordes, nur für diese Tasse Kaffee. Grayson war definitiv kein Mensch, der zu Übertreibungen neigte, aber er war sich sicher, noch nie ein derart gutes Gebräu getrunken zu haben. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen, seine Stimmung war gut, was für Graysons Verhältnisse schon mit Euphorie gleichzusetzen war, und seine Geduld war seit langer Zeit zum ersten Mal wieder auf einem normalen Niveau. Kurz überlegte er, ob der alte Mann ihn unter Drogen gesetzt hatte, so absurd der Gedanke auch war, nur um dann lächelnd zu entscheiden, dass es ihm im Moment völlig egal war. Ein Räuspern ließ ihn aufschauen, und er starrte in das verschmitzt dreinblickende Gesicht Mr. Straages.

»Ich sehe, Ihnen schmeckt meine Züchtung. Ein kleines Hobby von mir, mit dem ich mir die Zeit vertreibe. Ich habe ein halbes Dutzend Kaffeesorten gekreuzt, um den richtigen Geschmack zu treffen.« Bevor Grayson antworten konnte, fuhr er fort: »Was Ihre Münze angeht, so habe ich bisher nur einen Verdacht, den ich erst noch bestätigen muss. Bitte gedulden Sie sich noch einen Moment.« Straage stand auf und holte einen Lederband aus einer der Vitrinen hervor. Als er damit zum Tisch zurückkehrte und ihn öffnete, erkannte Grayson, dass es sich um einen Münzband handelte. Straage suchte einige Augenblicke und nahm dann zwei Münzen heraus, die er neben die andere auf den Tisch legte.

»Wie wichtig ist Ihnen diese Information?«, fragte er unvermittelt.

Vollkommen überrascht zog Grayson die Augenbrauen hoch. Nie hätte er den alten Mann für einen dieser Halsabschneider gehalten, die der Regierung nur gegen Bezahlung halfen.

»Ich versichere Ihnen, dass diese Information äußerst wichtig ist und Sie dabei helfen, ein Verbrechen aufzuklären. Leider sind unsere finanziellen Mittel in diesen Zeiten …«:, begann Grayson, als Straage ihn unterbrach. »Sie haben mich missverstanden, Inspector. Wenn Sie die Information so dringend benötigen, wie Sie sagen, dann schauen Sie sich doch bitte einmal die linke Münze an.« Dabei bedeutete er Grayson, die Münze aufzuheben.

Grayson nahm die Münze vom Tisch, begleitet von einem weiteren Funken. Er sah einen kleinen zerkratzen Penny und wunderte sich über das Verhalten des alten Mannes. Dieser fragte: »Und? Was sehen Sie?« Grayson kniff die Augen zusammen und hielt sich die Münze vor die Augen. Was er zuerst für Kratzer gehalten hatte, waren feine Linien, wie auf dem Beweisstück, das er hergebracht hatte, nur viel kleiner und dichter angebracht.

»Hier befindet sich auch ein Muster auf der Oberfläche. Fast identisch zu dem auf der Münze, die wir am Tatort sichergestellt haben«, erwiderte er.

Der Antiquitätenhändler nickte und schaute Grayson etwas überrascht an. »Sie haben … gute Augen. Die meisten sehen nur Kratzer.«

»Scheint so zu sein. Unsere Spurensicherer haben meine Münze am Tatort komplett übersehen und sie auch dann noch ignoriert, als ich sie darauf hingewiesen habe.« Der Vorfall machte Grayson immer noch wütend. Schlamperei, schimpfte er innerlich.

»Und nun betrachten Sie bitte die rechte Münze«, sagte Straage und beugte sich dabei vor, um Grayson genau zu beobachten.

Der kam sich vor wie bei einer Art Test. Er starrte auf die besagte Münze herab, eine alte Golddublone, schartig und schäbig. Seltsam widerwillig griff er danach und verharrte dann, die Hand knapp zwanzig Zentimeter über dem Geldstück. Er hatte nicht übel Lust, den alten Mann sitzen zu lassen und einfach zu gehen. Was bildete der sich eigentlich ein? Bevor er die Münze berührt hatte, ließ Grayson die Hand wieder sinken und schaute seinem Gegenüber in die Augen. Der alte Mann hatte sich sichtlich entspannt, als Grayson die Hand fortgezogen hatte, so als hätte er diese Reaktion erwartet. Ein unerklärlicher Zorn stieg in Grayson auf.

»Können Sie mir erzählen, was das Ganze soll? Die Münzen sind ja nicht mal identisch. Wenn Sie eine Information haben, dann geben Sie sie mir endlich.« Grayson war überrascht, wie rau seine Stimme klang, so wütend war er auf einmal.

Straage lächelte weiter und sagte: »Wenn es für Sie so wichtig ist, dann sollten Sie sich vorher definitiv diese Münze ansehen. Sonst können Sie meinen Ausführungen nicht folgen.«

Grayson war unbewusst aufgestanden und ernsthaft in Versuchung, einfach den Raum zu verlassen. Mittlerweile ging es ihm ums Prinzip. Und was konnte ihm dieser komische Mann schon sagen? Alle seine Experten waren sich einig, dass die Münze wertlos war! Er hatte sich nur in eine fixe Idee verrannt. Er sollte die Münze einfach zurücklassen. Keiner würde sie vermissen, sie tauchte ja noch nicht einmal auf der Beweismittelliste auf.

Als ob der Antiquitätenhändler seine Gedanken gelesen hätte, sagte er: »Sie können selbstverständlich auch einfach gehen und die Münze hierlassen. Legen Sie den Fall zu den Akten. Vergessen Sie diese unerfreuliche Geschichte, und die Geschichte wird auch Sie vergessen.«

Irgendetwas an der Art, wie der Mann dies sagte, wirkte wie ein Kübel Eiswasser auf Grayson. Er war tatsächlich schon auf dem Weg zur Tür gewesen, als ihm bewusst wurde, was er da gerade tat. Er wollte allen Ernstes ein Beweismittel zurücklassen und seine einzige heiße Spur opfern, weil er sich weigerte, eine Münze aufzuheben und anzusehen?

Was war nur los mit ihm?

Er machte einige schnelle Schritte zurück zu dem Tisch, wobei er sich weigerte, Straage in die Augen zu sehen. Grayson ließ seine rechte Hand schwer auf den Tisch fallen und schob sie immer näher an die goldene Münze heran. Aus irgendeinem Grund fiel ihm diese Bewegung unglaublich schwer. Es schien, als ob all sein Stolz verletzt, all seine Zeit verschwendet und all sein Handeln verfälscht werden würde, wenn er sich dazu herabließ, diese seltsame Münze hochzuheben. Gerade als er aufgeben wollte, erinnerte er sich wieder an Straages Worte: »Legen Sie den Fall zu den Akten.« Das hatte er noch nie gekonnt, würde er nie können. Mit einer fließenden Bewegung nahm Grayson die Münze auf.

Für einen Moment schien es Grayson, als würde etwas in seiner Brust bersten, wie eine dünne Schale, die unter dem Ansturm eines mächtigen Schlags zerplatzt.

Und um ihn herum brach die Hölle los. Bücher fielen krachend aus den Regalen, mit einem ohrenbetäubenden Scheppern kippte die Ritterrüstung um, und das Geschirr zersprang mit lautem Krachen. Die Fenster vibrierten, und der Boden schien zu schwanken. Der alte Mann kippte vom Stuhl, und Grayson dachte, er sähe einen mächtigen silbrigen Blitz, der kurz über die Münze hinweg und seine Hand hinaufraste.

So schnell wie alles begonnen hatte, war es vorbei. Das ganze Schauspiel hatte vielleicht zwei Sekunden gedauert, und nun stand Grayson völlig entgeistert mitten in einem verwüsteten Raum und blickte sich desorientiert um, während Straage sich ächzend vom Boden erhob.

»Was ist denn hier gerade passiert?«, brachte Grayson heiser hervor. Das merkwürdige Gefühl im Brustkorb war fort, aber in seinem Kopf drehte sich alles. Die letzten Minuten wirkten auf ihn furchtbar unwirklich. Er konnte sich sein aggressives und irrationales Verhalten genauso wenig erklären, wie die gerade erlebte spontane Verwüstung des Zimmers. Sein ganzer Körper kribbelte, besonders stark seine rechte Hand, die immer noch die goldene Münze umschlossen hielt. Um überhaupt irgendetwas zu tun und damit die lähmende Wirkung des gerade Erlebten abzuschütteln, öffnete Grayson die Faust und hob die Dublone vor sein Gesicht. Wie er schon erwartet hatte, war die Oberfläche übersät mit Linien, nur dass das Muster hier deutlich ausgeprägter war, fast als würden mehrere einzelne Formen ein Gesamtmuster ergeben, das einfach zu komplex war, um wahrgenommen zu werden.

Mittlerweile hatte Straage sich aufgerappelt und schwer auf seinen Stuhl fallen lassen. Er hatte eine kleine Platzwunde über der linken Augenbraue, aber das schien ihn nicht zu kümmern. Vorgebeugt, die Unterarme auf den Tisch gestützt, um sich aufrecht zu halten, starrte er mit weit aufgerissenen Augen zu Grayson hinüber. Ob aus Erstaunen oder Furcht konnte der Ermittler nicht sagen.

Wahrscheinlich beides. Was auch immer hier passiert ist, hat ihn mindestens genauso überrumpelt wie mich, stellte er überrascht fest.

Seiner eigenen Stimme immer noch misstrauend, setzte Grayson sich ebenfalls wieder hin und legte die Münze zu den anderen auf den Tisch, der seltsamerweise nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war. Dann schauten sich die beiden Männer über eine Minute stumm an, bevor Grayson sich räusperte und fragte: »Sie wollten mir etwas zu meinem Beweisstück mitteilen?« Nicht die beste und auch nicht die erste von vielen Fragen, die ihm im Kopf herumgingen, aber er klammerte sich momentan verzweifelt an jeden Funken Normalität, den er finden konnte, und Nachforschungen waren normal und vertraut und zudem alles, was er momentan hatte, um der wachsenden Verunsicherung Herr zu werden.

Straage blinzelte und wischte sich das Blut aus dem linken Auge, es schien, als hätte ihn die Frage aus seiner Starre gelöst. Das, oder der Ausweg, den Grayson ihm gerade geboten hatte, über etwas anderes, als das Geschehene zu sprechen. »Ja, äh, allerdings. Wie Sie sicherlich bemerkt haben, gibt es mehrere ähnlich verzierte Münzen. Sie werden für … bestimmte … äh, Sammler gefertigt und sind außerhalb dieses speziellen Kreises von Individuen vollkommen wertlos.«

Die Sprechweise des Antiquitätenhändlers wirkte recht schleppend, während er offenkundig gegen seine Erschöpfung ankämpfte. »Wenn Sie erlauben, werde ich mit ein, zwei Personen … Rücksprache halten und Sie für einige Minuten allein lassen.« Er blickte ihn ernst an und fügte hinzu: »Bitte verzeihen Sie meine kryptische Ausdrucksweise, aber ich habe einigen meiner Kunden absolute Verschwiegenheit versprochen und muss Sie daher um ein wenig Geduld bitten.« Die Wunde hatte wieder Blut in Straages Auge laufen lassen, und der alte Mann schien leicht zu schwanken.

»Es würde mich zwar freuen, nicht mit leeren Händen davonzufahren, aber soll ich Sie nicht lieber in ein Krankenhaus bringen?«, bot Grayson an.

»Nein, vielen Dank. Ich habe schon Schlimmeres überstanden. Ich muss mich nachher nur eine Weile hinlegen.« Das offene Lächeln war für einen kurzen Moment in das Gesicht des Mannes zurückgekehrt, während er aufstand, um im hinteren Teil des Ausstellungsraums zu verschwinden.

Grayson schaute ihm hinterher und ließ den Blick dann über die heruntergefallenen Bücher und Porzellantrümmer schweifen, während er sich endlich der Frage stellte, was zum Teufel hier gerade geschehen war. Nach einer Minute intensiver Betrachtung der Trümmer erkannte er ein Muster. Es schien, als hätte das, was auch immer es war, genau einen Meter vom Tisch entfernt begonnen, um den Rest des Raumes in Mitleidenschaft zu ziehen, ganz so, als wäre der Tisch mit den Münzen darauf das Auge eines Tornados. Grayson hatte gerade beschlossen, aufzustehen und sich genauer umzusehen, als Mr. Straage aus den Tiefen des Ausstellungsraums auftauchte und sich müde auf seinen Stuhl fallen ließ.

»Ich habe die Erlaubnis erhalten, einige Informationen preiszugeben, die normalerweise keine … Außenstehenden erfahren, Mr. Steel.« Er richtete sich gerade auf und räusperte sich, um dann fortzufahren. »Die drei vor Ihnen liegenden Münzen sind Bannmünzen. Sie erfüllen ausnahmslos den Zweck, ein bestimmtes Verhalten auszulösen. Der Träger einer Bannmünze wird dazu gebracht, etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun. In Ihrem Fall wird der rechtmäßige Besitzer der Münze, so er nicht um die ihr innewohnende Macht weiß, dazu gebracht, einen speziellen Ort aufzusuchen. Auf alle weiteren Personen wirkt sie deutlich subtiler. Man ignoriert sie, tut sie als wertlos ab oder lässt sie einfach liegen. So wie Ihre Kollegen von der Spurensicherung oder die anderen Antiquitätenhändler. Je stärker der Bann auf der Münze, desto größer der Zwang. Diese goldene dort ist über dreihundert Jahre alt und etwa zehnmal so mächtig wie Ihr Beweisstück. Deswegen hat es Sie so viel Überwindung gekostet, sie auch nur aufzuheben. Obwohl Ihnen das eigentlich nicht hätte gelingen dürfen, aber dazu wird Ihnen später jemand anderes mehr erzählen.«

Während des gesamten Vortrages hatte Straage ihm ernst in die Augen geblickt, und Grayson erkannte, dass der Mann glaubte, die Wahrheit zu sprechen. Mit einem Seufzen erhob der Ermittler sich und nahm das Beweisstück vom Tisch. Man hatte ihn mehrfach gewarnt herzukommen, und auch sein eigenes Gefühl hatte ihm von dem Besuch abgeraten. Dies war nur die gerechte Strafe dafür, seinen gesunden Menschenverstand zu ignorieren. Der Mann war offensichtlich geistig verwirrt oder ein Betrüger. Grayson würde es nicht wundern, wenn bei einer genaueren Untersuchung des Raumes, Rückstände von winzigen Sprengkapseln gefunden würden, mit denen der Mann den kleinen »Zwischenfall« wahrscheinlich inszeniert hatte.

»Vielen Dank für Ihre Zeit, Mr. Straage, aber bevor Sie mir jetzt einen Exorzismus oder eine Weissagung für nur fünfhundert Pfund im Tagesangebot anbieten, werde ich lieber gehen.« Grayson war übel vor Wut, auf den alten Mann ebenso wie auf sich selbst, dass er sich wie ein Anfänger verhalten hatte. Der alte Mann lächelte nur traurig und erhob sich schwerfällig. »Ich kann Ihre Bedenken verstehen und nehme Ihnen Ihre Zweifel an meiner Person auch nicht weiter übel. Sollten Ihnen die konventionellen Antworten auf Ihre Fragen ausgehen, wissen Sie, wo Sie mich finden.«

Sie gingen schweigend den kurzen Korridor entlang und standen Sekunden später an der Eingangstür. Während Straage ihm öffnete, dachte Grayson kurz darüber nach, hier und jetzt weitere Antworten einzufordern. Aber seine eigenen Nerven waren einfach zu zerrüttet, und er war auch nicht bereit, die vorherige Antwort des Antiquitätenhändlers als Basis für weitere Fragen zu verwenden, das war ihm einfach zu absurd.

Draußen hatte es sich eingeregnet, und der Himmel war bleigrau und düster. Er nickte dem Antiquitätenhändler noch einmal knapp zu und trat wortlos hinaus in den Regen. Als er den Vorgarten etwa zur Hälfte durchquert hatte, hörte er aus der Tür die Stimme Straages: »Es tut mir leid, Inspector. Etwas in Ihrem Inneren wurde vorhin erweckt. Ich befürchte, dies war erst der Anfang.«

Grayson drehte sich noch einmal um, um zu antworten, aber er sah nur noch, wie der Mann einen Schritt nach hinten machte und seine Gestalt mitsamt dem blutverschmierten Gesicht und den traurig blickenden Augen von der Düsternis des Korridors verschluckt wurde. Dann schloss sich die schwere Eichentür mit einem dumpfen Schlag, und er stand allein im Regen.

Eine wehrhafte Bettlerin

London, New Scotland Yard, City of Westminster, Dienstag, 11. Oktober, 15.25 Uhr

Zwei Stunden später ging einem durchnässten, frierenden und geistig ausgelaugten Grayson vieles durch den Kopf, aber ein Gedanke erfüllte seinen Geist mit scharfer Klarheit: Hätte ich doch nur den Kaffee ausgetrunken.

Während er die teerartige Masse herunterwürgte, die Gilford im Autopsielabor zu trinken pflegte, musste er wehmütig an die halbe Tasse perfekten Genusses denken, die er bei Rudvig Straage hatte stehen lassen. Nachdem er die Plymouth Road verlassen hatte, war Grayson erst einmal aufs Revier gefahren, um sich dort nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen und die gesicherten Spuren von der Oberfläche der Münze untersuchen zu lassen. Seine Kolleginnen und Kollegen waren in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen. Suchstreifen hatten die Brieftasche des Opfers zwei Straßen vom Tatort entfernt in einem Mülleimer aufgefunden und man wusste nun, dass es sich bei der Toten um eine gewisse Caren Arling handelte, die Abteilungsleiterin einer größeren Marketingfirma gewesen war. Nach ihrer erfolgreichen Identifizierung hatte man auch ihren Wagen, zehn Meter vom Tatort entfernt auf der Hauptstraße parkend, zuordnen können. Bisherige Nachforschungen hatten keine Kontakte zu jemandem oder etwas in der Nähe des Tatorts zu Tage gefördert, so dass immer noch ungeklärt war, was sie dort mitten in der Nacht gesucht hatte.

Es sei denn, Straage hatte Recht und die Münze hat sie dazu gezwungen. Schnell unterdrückte Grayson den Gedanken. Ihre letzte Kreditkartenaktivität