Great Green Thinking - Jennifer Hauwehde - E-Book

Great Green Thinking E-Book

Jennifer Hauwehde

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Beschreibung

Wie geht Nachhaltig(keit)? Eine Spurensuche. Nachhaltigkeit ist eines der großen Schlagworte unserer Zeit. Wir diskutieren über Zero Waste, biodynamische Produkte und bewussten Konsum. Und doch scheint die Debatte festgefahren. Was muss passieren, damit ein echter, nachhaltiger Wandel stattfindet? Was kann ich allein überhaupt für unseren Planeten tun und wo stoße ich an meine persönlichen Grenzen? Wann muss ich den Blick auf die Gesellschaft richten, wo das größere Ganze hinterfragen? Die Nachhaltigkeits-Bloggerinnen und Journalistinnen Jennifer Hauwehde und Milena Zwerenz nehmen uns mit auf ihrer Suche nach Antworten: Sie treffen die Vorreiter:innen und Visionär:innen eines umweltbewussten Lebens, die mit ihren Ideen eine entscheidende Veränderung anstoßen. Dabei ergründen die beiden nicht nur ihre eigene Verantwortung, sondern auch, wie Klimaschutz mit Klassismus und Rassismus zusammenhängt und welche globalen Strukturen wir überwinden müssen, um tatsächlich wirksam zu werden. Sie stellen fest: Es muss nicht Mensch vs. Umwelt heißen – denn es gibt Hoffnung für eine klimagerechte Welt. Mit Essays von Ciani-Sophia Hoeder (Gründerin von RosaMag), Chris Vielhaus (Perspective Daily) und Anti-Ras-sismus-Aktivistin Berfîn Marx.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 309

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ÜBER DIE AUTORINNEN

Jennifer Hauwehde hat Germanistik und Philosophie in Münster studiert und nebenbei den Nachhaltigkeitsblog Mehr als Grünzeug gegründet. Sie schreibt dort und auf Instagram und veröffentlicht Texte bei den Fashion Changers, der Plattform für Modeaktivismus.

Milena Zwerenz, geboren in Gießen, ist Redakteurin bei ZEIT ONLINE und freie Journalistin in Berlin. Am liebsten schreibt sie über gutes Essen, nachhaltige Ideen und kreative Menschen, unter anderem für Mit Vergnügen, FAZ und ze.tt.

JENNIFER HAUWEHDE & MILENA ZWERENZ

GREAT

GREEN

THINKING

VIELFÄLTIGE PERSPEKTIVEN AUF EIN NACHHALTIGES LEBEN

1. Auflage 2021

Copyright © 2021 &Töchter UG (haftungsbeschränkt), München

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

Lektorat: Laura Nerbel u. Sarah Zechel, &Töchter Design u. Satz: Sigl Affairs, München

eISBN 978-3-948819-50-7Auch als Printausgabe erhältlich.

www.und-toechter.de

Für alle

INHALT

Vorwort

KAPITEL 1 NACHHALTIG KONSUMIEREN – EIN WIDERSPRUCH IN SICH?

Eigentlich können wir es nur falsch machen, oder?

Kauf dich frei

Interview mit der Journalistin Kathrin Hartmann

KAPITEL 2 WER IST NACHHALTIGKEIT – UND WER NICHT?

Das muss man sich erst mal leisten können

Alle in einen Topf und kräftig umrühren?

Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Prof. Doris Fuchs

Ein möglicher Schlüssel: Generationengerechtigkeit

Interview mit Sophia Heinlein und Moritz Piepel vom Jugendrat der Generationen Stiftung

Warum ist die nachhaltige Bewegung soweiß?

Ein Essay von Ciani-Sophia Hoeder

Ökofaschismus – Sterben dürfen die anderen

Wir sitzen (nicht) alle im selben Boot

Ein Essay von Berfîn Kalayci, auch bekannt als Berfîn Marx

Der Kampf für das Klima muss intersektional sein

Interview mit Locals United

Wo bleibt die Solidarität mit den ewigen Naturschützer:innen?

Wir müssen den Klimaschutz dekolonialisieren

Interview mit der Anthropologin Taily Terena

Die Töchter sollen ihre kranke Mutter retten

»Wir brauchen weniger Charity, sondern echte Solidarität«

Interview mit den Fashion Changers

KAPITEL 3 LET’S TALK ABOUT WIRTSCHAFT, BABY

Wie Unternehmen in Zeiten der Klimakrise an der Macht bleiben wollen

Eine (sehr kurze) Geschichte des Kapitalismus

Ein Essay von Chris Vielhaus

Wieso wir über alternative Wirtschaftssysteme sprechen müssen

Weniger ist mehr

Gespräch mit der Politikwissenschaftlerin Nina Treu

Die Welt könnte ein Donut sein

Unternehmen: Under Green Pressure

Interview mit der Kulturanthropologin Lena Papasabbas

Cradle to Cradle: Das Kreislaufkonzept in der Praxis

Was bedeutet Cradle to Cradle im Buchdruck?

Interview mit Roswitha Sandwieser und Doris Raßhofer von der Druckerei gugler*

Wirtschaft als Mittel zum Zweck: Social Businesses

Gespräch mit Prof. Dr. Karin Kreutzer, Leiterin des Impact Instituts der EBS Universität

Unternehmen, die sich selbst gehören

Gespräch mit Christoph Bietz, Experte für alternative Unternehmensformen

Wie können Unternehmen die »Economy unfucken«?

Interview mit Waldemar Zeiler und Elisa Naranjo von einhorn

radikal:klima – Da muss doch jetzt mal was passieren!

Gespräch mit Micha Hohenadler und Janka Eckert von radikal:klima

Hier hört die Macht der Konsument:innen auf

Interview mit Lisa Jaspers, Gründerin von Folkdays

KAPITEL 4 UND JETZT?

Wie werden wir wirksam?

Wie überzeuge ich andere von dem guten Leben für alle?

Interview mit der Radikalisierungsexpertin Dana Buchzik

Und wie behalte ich einen klaren Kopf?

Kämpfen die Weißen nur für sich?

Gespräch mit Seggen Mikael und David Ehlers von DisCheck

Alles könnte auch ganz anders sein

Danke

Unterstützer:innen

Weiterführende Adressen

Bildquellen

Endnoten

VORWORT

Februar 2020, bei zwei Frauen in Berlin und im Münsterland geht etwa zeitgleich die gleiche E-Mail ein: »Wir – der &Töchter Verlag – sind auf der Suche nach einer jungen Autorin, die Lust hat, ein populäres Sachbuch über Nachhaltigkeit mit uns zu veröffentlichen!« Zweimal Aufregung, doppelt Ja.

Obwohl wir, Jenni und Milena, uns bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannten, obwohl uns unterschiedliche Lebensumfelder umgaben, eine eher Stadt, eine eher Land, obwohl uns verschiedene Geschichten prägten, gab es doch etwas, das uns schon damals verband. Seit einigen Jahren diskutieren wir persönlich und medial das Thema Nachhaltigkeit – Jenni vor allem mit ihrem Kanal @mehralsgruenzeug, Milena als Journalistin. Unabhängig voneinander quälte uns dabei dieselbe Frage: Warum fühlt sich dieses grüne Leben und Streben – allem Wissen zum Trotz – so schwierig an? Und wenn es uns beiden schon so geht, wie viele Menschen fühlen wohl ebenso?

Schnell waren wir uns einig, dass sich dieses Buch genau damit auseinandersetzen sollte. Wir wollten weg von der individuellen Frage, welche Konsumentscheidung denn nun die ökologischste ist, und stattdessen auf die systemische Ebene blicken: Welche Nachhaltigkeitsbehauptungen sind eigentlich wahr – und welche nur PR-Gewäsch? Wer kommt im Diskurs über Nachhaltigkeit gar nicht vor und warum? Und nicht zuletzt: Was ist eigentlich wirklich effektiv, wenn wir die Klimakrise aufhalten, den Planeten nicht weiter zerstören und vermüllen wollen?

Sprung ins Jahr 2021. Mehrere intensive Monate, in denen viel gelesen, geschrieben, gesprochen wurde, liegen hinter uns. Dieses Buch hätte niemals entstehen können, wenn sich wunderbare Menschen (inmitten einer Pandemie!) nicht die Zeit genommen hätten, ihre Expertise mit uns zu teilen. Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass wir allen, die an diesen Seiten mitgewirkt haben, sehr dankbar sind. Great Green Thinking ist nicht das Projekt zweier Autorinnen, es ist ein Gemeinschaftsprojekt.

Uns war von Anfang an klar, dass wir die Seiten mit vielen verschiedenen Stimmen füllen und einen Inhalt schaffen wollten, der eine Brücke zwischen Diskursen, die sich häufig in einer kleinen Ecke des Internets oder in Seminarräumen abspielen, und dem Medium Buch schlägt. Wir hatten den Eindruck, dass Nachhaltigkeit in vielen Büchern immer noch in einem eher engen Korridor stattfand und zu selten die systemische Ebene berührte, die komplizierteren Fragen und die vielen Stimmen aussparte. Wir möchten nicht den Anspruch erheben, allein diese Brücke gebaut zu haben. Wir haben höchstens einen Stein beigesteuert – aber das reicht uns schon.

Auf knappen 270 Seiten können wir nicht alles beleuchten, was beleuchtet werden muss. Wir mussten unsere Schwerpunkte rigoros auswählen und den komplexen Inhalt zwischen zwei Buchdeckel bekommen – beides hinterlässt naturgemäß Leerstellen. Wir fragen uns daher auf den folgenden Seiten vor allem, wie weit von dem:der Einzelnen Verantwortung in Bezug auf eine nachhaltige Lebensführung übernommen werden kann und wie ein Klimaschutz funktioniert, der von allen und für alle gestaltet wird. Dabei ist unser Anspruch nicht die Perfektion, sondern die Inspiration zu vielen kleinen Denkanstößen. Wenn Menschen das Buch nach der Lektüre mit ein paar Antworten und vielen neuen Fragen, vor allem aber mit dem unbedingten Drang, etwas zu verändern, zuklappen, ist unsere Arbeit getan.

Jennifer Hauwehde & Milena Zwerenz

NACHHALTIG KONSUMIEREN – EIN WIDERSPRUCH IN SICH?

KAPITEL 1

»Do the best you can until you know better. Then when you know better, do better.« Maya

Angelou

EIGENTLICH KÖNNEN WIR ES NUR FALSCH MACHEN, ODER?

Von Milena Zwerenz

Die Tomaten in der Gemüseabteilung lächeln mich an. Leider ist es ein trauriges Lächeln, denn sie liegen eingeschweißt in einer Plastikverpackung. »Regional« lese ich auf dem Schild darüber – und verspüre eine gewisse Erleichterung. Das ist doch eigentlich nicht schlecht, oder? Aber wie regional heißt regional? Und ist gerade überhaupt Tomatensaison, oder kommen die aus dem Gewächshaus? Wie sah das da noch mal mit der Ökobilanz aus? Hilfe!

So oder so ähnlich läuft wahrscheinlich bei vielen, die sich bereits mit nachhaltigem Konsum auseinandergesetzt haben, der ständige Abwägungsprozess ab (ja, ich gucke auch in deine Richtung, Hafermilch im Tetrapack). Ist die eingeschweißte regionale Tomate denn nun ökologisch vertretbarer als die unverpackte aus den Niederlanden, wo und unter welchen Bedingungen wurden meine Sneaker produziert, und nicht zuletzt: Brauche ich dieses Produkt wirklich? Das sind nur ein paar wenige Beispiele von vielen, doch solche oder ähnliche Überlegungen treiben uns und alle, die nachhaltig leben wollen, immer wieder um. Kleidung kaufen wir bereits secondhand, aber darf es dann trotzdem auch Fast Fashion sein? Wir wollen die Welt sehen, aber inwiefern helfen Flugkompensationen beim umweltfreundlichen Reisen wirklich? Sollten wir dieses Buch hier überhaupt drucken lassen, oder dürfte es nur digital verfügbar sein?

Ein bisschen fühlt es sich an, als könnten wir es gar nicht richtig machen, denn obwohl wir bereits möglichst viel Plastik vermeiden, weitestgehend auf tierische Produkte verzichten und, so oft es geht, den Zug nehmen, weisen wir uns innerlich ständig darauf hin, was wir nicht schaffen, was noch besser laufen könnte, wo wir an unsere Grenzen stoßen. Selbst-Whataboutism vom Feinsten. Fest steht nur: Nachhaltig leben zu wollen ist eine Herausforderung – und stark an die persönlichen Umstände gekoppelt, an soziale genauso wie an ökonomische. Dass ihr und wir, die Autorinnen, uns über das ganze Thema überhaupt Gedanken machen können – und das sollten wir an keiner Stelle vergessen –, ist ein Privileg.

Warum ich das alles erzähle? Weil auch Jenni und ich uns immer wieder fragen, wie wir möglichst ökologisch und sozialverträglich handeln können. Ständig (!) stoßen wir dabei an unsere ganz persönlichen Grenzen. Aber warum ist das eigentlich so? Offensichtlich liegt es nicht allein am Bewusstsein für Umweltthemen, wie ökologisch wir letztlich wirklich handeln – oder etwa doch?

Wenn mich jemand gefragt hat, worum es in diesem Buch gehen soll, antwortete ich als Erstes meist ganz platt: »Um Nachhaltigkeit.« Doch noch während ich das Wort aussprach, merkte ich bereits, was für einen allumfassenden und gleichzeitig leeren Begriff ich da in den Raum geworfen hatte. Hello, Buzzword! Schließlich durchzieht dieses grün schillernde Wort mittlerweile all unsere Lebensbereiche. Der Kaffeeladen um die Ecke wirbt genauso mit »Green Coffee« (was auch immer das sein soll) wie Autohersteller:innen mit grüner Technik. Dementsprechend schob ich immer noch eine Erklärung hinterher, die in dem Moment galt und genauso jetzt noch zutrifft: Uns geht es mit diesem Buch weder darum, einen Ratgeber zur Plastikvermeidung, noch, hochwissenschaftliche Analysen von Klimadaten zu liefern. Uns interessiert im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit vor allem das Spannungsfeld zwischen individueller und politischer Verantwortung. Wo stehen wir selbst auf diesem Planeten? Wie viel können wir als Einzelpersonen nachhaltig beeinflussen, und wo kommen wir an unsere Grenzen? Welche Rolle spielen wir innerhalb eines größeren Systems und welche Rolle das System? Wollen wir wirklich die Umwelt schützen oder nicht vielmehr uns selbst? Oder ist das am Ende sowieso dasselbe? Da wir das nicht allein beantworten können, wollen wir uns dem Fragenkomplex auf unterschiedlichen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven nähern.

Wir wissen, dass wir mit diesem Buch keine simplen Antworten oder Handlungsanleitungen für die perfekte Transformation hin zu einer idealen Weltgemeinschaft liefern können – wenn es so einfach wäre, dann hätte das wohl schon jemand vor uns übernommen. Was wir aber versuchen, ist Nachhaltigkeit gesamtgesellschaftlicher zu betrachten, als es unserer Meinung nach oft geschieht. Wenn wir mit diesem Buch dazu beitragen, dass sich der Diskurs über Nachhaltigkeit verändert – im Kleinen wie im Großen –, dann ist aus unserer Sicht schon viel erreicht.

Die Zukunft können wir am besten voraussagen, indem wir sie selbst gestalten, heißt es. Auch wenn das etwas pathetisch klingen mag, stimmt es wohl: Die Gegenwart bedingt unausweichlich unsere Zukunft. Wir wollen herausfinden, was das für jede:n Einzelne:n von uns bedeutet.

IMMER WIEDER DAS INDIVIDUUM

Für viele mag der Winter 2018/2019 als der Winter von Fridays for Future in Erinnerung bleiben. Für mich war die Zeit vor allem von der Geburt meines Sohnes geprägt. Ganz in unsere eigene kleine Welt versunken, beobachtete ich aus den Augenwinkeln, wie sich draußen auf den Straßen eine neue Bewegung formierte. »Na endlich!«, dachte ich. Endlich bekommt die Frage, wie wir mit dem Planeten umgehen, auf dem wir leben, mehr Aufmerksamkeit. Endlich reflektieren mehr Leute, wie sie nachhaltiger leben können. Endlich passiert etwas! Egal, wie diese Bewegung nun, mit etwas zeitlichem Abstand, inhaltlich und personell zu bewerten ist – Stichworte: elitär, urban, zerstreut, unkonkret –, so versprühte sie eine Hoffnung auf Veränderung. Mich beeindruckte, mit welcher Beharrlichkeit sich die Demos etablierten, mit welcher Wucht sie wuchsen. Beim globalen Streik im September 2019 nahmen laut Organisator:innen mehr als vier Million Menschen weltweit teil.1 Plötzlich kam niemand mehr so leicht um das Thema Nachhaltigkeit herum, die Proteste dominierten die mediale Berichterstattung. Auch Umfragen des Umweltbundesamtes zeigen, dass 2019 mehr Menschen in Deutschland den Umwelt- und Klimaschutz als wichtige, sogar die wichtigste gesellschaftliche Herausforderung ansahen (fast 70 Prozent der Befragten) als noch in den Jahren zuvor.2

Gleichzeitig änderte sich wenig an der Art, wie über Nachhaltigkeit gesprochen wurde. Diverse Ratgeber – die durchaus ihre Berechtigung haben, I know, ich habe selbst genügend von ihnen geschrieben – fluteten die Online-Blogs, Magazine und Zeitungen. So kannst du Plastik sparen, so machst du dir dein Shampoo selbst, kauf dir hier noch eine Bambuszahnbürste. Zum einen störte mich, dass viele dieser Artikel jetzt erst kamen – als ob es ein Gespräch darüber vorher nicht gebraucht hätte. Ein ähnliches Verhalten war auch bei der Black-Lives-Matter-Bewegung zu beobachten, als von heute auf morgen alle Medien ihre antirassistische und superdiverse Haltung betonten. So unfassbar wichtig diese Aufmerksamkeit war und ist, im Hintergrund schwang immer die Frage mit: Geht es hier wirklich darum, nachhaltig den Diskurs zu verändern, oder nur um Clicktivism und Imageerhalt?

Zum anderen hatte ich das Gefühl, dass sich alles immer wieder um die gleichen Inhalte drehte, mit dem:der gebildeten, gut situierten Konsument:in im Mittelpunkt. Selbst das wohl bekannteste Gesicht der deutschen Fridays-for-Future-Bewegung Luisa Neubauer beschwert sich in ihrem Buch Vom Ende der Klimakrise darüber, in Interviews oder Talkshows am Ende immer das gleiche gefragt zu werden, nämlich, was jede:r Einzelne im Alltag tun könne: »Da sitzen wir fast zwei Stunden und besprechen die größte und wohl komplexeste Krise der Menschheitsgeschichte. Wir betonen, wie wichtig es ist, an den großen Stellschrauben zu drehen, systemische Fragen zu stellen, einen strukturellen Wandel einzuleiten, weil wir nur noch so wenig Zeit haben, den ganzen Laden zu dekarbonisieren. Womit die Menschen aber aus Diskussionen wie dieser entlassen werden, ist die völlig erwartbare Antwort auf die Klimaschutz-im-Alltag-Frage.«3

Als ob sich mit der richtigen Einkaufstaktik alles lösen ließe. Als ob mit all diesen Produkten rund ums vermeintlich nachhaltige Leben nicht wieder alte Konsummuster reproduziert würden. Vielleicht frustrierte mich auch einfach nur, wie schwer ich es selbst fand, die richtige Taktik zu finden. Woran das liegt, nämlich an den – wie ich mittlerweile besser weiß – nötigen strukturellen Veränderungen, ließen die meisten Artikel unerwähnt. Auch die Komplexität des Lebens, wie das Privileg, sich überhaupt mit Nachhaltigkeitsfragen beschäftigen zu können, blendeten sie aus. Was würde es bringen, wenn sich plötzlich alle fürs gute Gewissen Haarseifen kauften, aber Flugreisen trotzdem so wenig kosteten? Was nützte das Wissen über die schlechten Produktionsbedingungen von Kleidung, wenn sie weiter billig in den Läden hing? Und wo blieben die Ratgeber für Unternehmen und Politiker:innen?

DIE IDEE IST JA GANZ NETT, ABER …

Wenn wir heute über Nachhaltigkeit sprechen, dann geht es gefühlt nur um den Gegensatz Konsum versus Verzicht (generell und auf bestimmte Produkte), um nachhaltige Produkte oder Dienstleistungen, um Müllvermeidung, CO2-Einsparung. Jede:r fängt erst mal bei sich selbst an. Klar, das ist auf den ersten Blick auch greifbarer und leichter umsetzbar, als über große politische Veränderungen nachzudenken. Auf den Klappentexten von Ökoratgebern heißt es schließlich auch gern: »Wie sich Nachhaltigkeit mit spielerischer Leichtigkeit in den Alltag integrieren lässt«.4 Als wäre ein nachhaltiges Leben pipieinfach. Und ja, anfangs fühlt sich nachhaltiger zu leben auch leicht an. Einweg-Coffee-to-go-Becher durch wie-derverwendbare zu ersetzen, angebrochene Lebensmittel in Bienenwachspapier zu hüllen oder den Urlaub nach Brandenburg statt an die Costa Brava zu planen stärkt erst mal das ökologische Selbstbewusstsein. Wenn sich andere Menschen davon mitreißen lassen, noch besser. In meiner Mittagspause habe ich mir Essen zum Mitnehmen immer in eine Brotdose packen lassen, um den Verpackungsmüll zu sparen. Mittlerweile stehe ich längst nicht mehr allein mit Tupperdose in der Schlange vorm Suppenladen. So ein Effekt lässt sich nicht ausblenden. Doch nach einiger Zeit hat auch mich die Realität eingeholt. Leider steht im Supermarkt nicht nur Unverpacktes, leider habe ich nicht immer die Zeit, erst nach der absolut fairsten Variante für neue Schuhe zu suchen, leider weiß ich bei vielem nicht mehr, was nun tatsächlich die bessere Lösung ist. Ein Beispiel: Während wir dieses Buch schreiben, hat Oatly, eine der weltweit führenden Haferdrink-Marken, einen Deal mit Blackstone abgeschlossen. Ein Investor, der durch andere Geschäfte unter anderem dafür verantwortlich ist, dass Regenwald abgeholzt wird, und deren CEO zudem den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump unterstützt. Für die einen ist das Anlass, die schwedische Marke zu boykottieren. Schließlich steht der Deal in einem krassen Widerspruch zu dem, was das Unternehmen eigentlich verkauft, nämlich Gesundheit und Nachhaltigkeit.5 Andere wiederum – auch die Marke selbst – argumentieren, dass eben leider so das kapitalistische System funktioniere. Und wenn auf diese Weise Investor:innen dazu gebracht würden, nachhaltige Unternehmen zu unterstützen, sei das doch ein Erfolg. So die verkürzte Version. Die ganze Debatte spiegelt aber ein grundsätzliches Problem wider: Insbesondere wenn es um Nachhaltigkeit geht, gibt es nicht nur Schwarz und Weiß, Grün kann in mehreren Abstufungen daherkommen. Häufig werden verschiedene Faktoren gegeneinander aufgewogen oder ausgespielt. Wiegt der ökologische Vorteil von Hafermilch mehr als die moralischen Bedenken? Oder sollten derart wirtschaftende Unternehmen systematisch boykottiert werden? Letztlich muss das jede:r für sich selbst entscheiden. Diese Undurchsichtigkeit verlangt uns Konsument:innen ganz schön viel ab. Dann zu sehen, wie in derselben Welt mehr als offensichtlich umweltschädliche SUVs an mir vorbeifahren, macht die ganzen mühevollen Abwägungen aber gefühlt zunichte.

DAS SCHLECHTE GEWISSEN KAUFT MIT EIN

Je mehr wir über bestimmte Branchen und Produkte wissen, desto schwieriger wird es, sich »richtig« zu entscheiden. Vor ein paar Jahren habe ich (why not?) ein Buch über Zucker gelesen, das mich erst mal ziemlich ratlos zurückgelassen hat. Plötzlich erschien mir jedes Produkt im Supermarkt wie ein Produkt aus der Hölle, alles nur Verarsche, überall steckte deutlich mehr Süßzeug drin als vermutet. Zunächst wusste ich nicht so richtig damit umzugehen, lief frustriert durch die Gänge und genoss selbst das Essen im Restaurant kaum noch. Eine Freundin, der ich davon erzählte, schien sich nicht so sehr an den Fakten zu stören oder konnte sie ausblenden. Der Anspruch an mich selbst lag hier offensichtlich deutlich höher, obwohl wir uns beide in derselben Welt bewegten. Dabei konnte ich ihr Verhalten gut nachvollziehen: Sich in einer nicht zuckerfreien Welt zuckerfrei ernähren zu wollen ist nahezu utopisch. Warum sich also damit stressen? (An dieser Stelle: Respekt an alle, die es trotzdem schaffen!) Ein Bewusstsein für das Zucker-Problem ist gut, aber Askese auch nicht die Lösung. Ganz ausblenden kann ich die Tatsache im Alltag trotzdem nicht, das Bewusstsein verschwindet schließlich nicht. Eben dieses Gefühl lässt sich auf Konsumentscheidungen im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit übertragen – wobei es sich hier nicht nur so anfühlt, als würde ich mir selbst schaden, wenn ich das Falsche kaufe, sondern gleich der ganzen Welt.

Umso beunruhigender, dass es anderen auch so schwerfällt, stets die nachhaltigste Entscheidung zu treffen. In einer Studie zum Umweltbewusstsein der Deutschen, die das Umweltbundesamt alle zwei Jahre durchführt, gaben 2018 zwar 64 Prozent an, Umwelt- und Klimaschutz als eine der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen anzusehen, und schätzten ihren Umweltaffekt und ihre Umweltkognition, also die emotionale Betroffenheit und die rationale Einschätzung, recht hoch ein (7,2 und 7,9 von zehn möglichen Punkten). Beim umweltbewussten Verhalten lag der Wert jedoch bei gerade einmal 4,6 Punkten.6

Wenn wir dann letztlich doch etwas kaufen, von dem wir definitiv wissen, dass es nicht die richtige Entscheidung ist (von manchen Medien verspielt »Öko-Fails« genannt7), meldet sich schnell das schlechte Gewissen. Mittlerweile ist dieses Gefühl offensichtlich so weitverbreitet, dass es gar einen eigenen Begriff wert ist: Eco Guilt oder Green Guilt, grüne Schuld. Sie spüren wir, wenn der Versuch, alles richtig machen zu wollen, scheitert – also eigentlich ständig. Selbst wenn wir uns aus unserer Sicht schon wirklich viel Mühe geben. Wenn wir wieder einmal merken, dass es einfach unfassbar schwer ist, als Einzelperson tatsächlich etwas zu bewirken, weil die konsumfreundliche Realität eben komplexer als unsere ökologischen Absichten ist. Wir verspüren dieses Gefühl, obwohl wir wissen, dass wahrscheinlich niemand alles richtig macht. Wie oft bin ich in Gesprächen über ethischen Konsum bei »Um wirklich nachhaltig zu leben, müssten wir irgendwo in einer Hütte im Wald leben und uns selbst versorgen« gelandet.8

Warum aber schaffen wir es trotz starker Absicht nicht, uns auch entsprechend dieser zu verhalten? In dem Zusammenhang sprechen unter anderem auch David Scholz und Leonie Kott von Psychologists for Future, angelehnt an die Arbeiten der beiden Psychologen Paschal Sheerans und Thomas L. Webbs9, von der sogenannten Intentions-Verhaltens-Lücke. Sie geht oft mit Rechtfertigungen einher, mit denen die getroffenen Entscheidungen schöngeredet werden. Etwa, wenn man einen Flug bucht und sich einredet, dass es ja nur das eine Mal sei. Oder wenn man sich neue Kleidung kauft, die unnötig, aber angesagt ist, weil man sich ausnahmsweise auch mal etwas gönnen will. Ähnliches Verhalten kennen auch viele Menschen, wenn die Neujahrsvorsätze schon nach wenigen Tagen gescheitert sind: Sorry, es fehlt mir einfach die Zeit für Sport.

Weshalb Menschen entgegen ihrer Überzeugungen handeln, hängt von mehreren Faktoren ab. Zunächst ist die Qualität der Intention entscheidend. Ist das Ziel klar definiert und tatsächlich erreichbar? Ist der Wunsch nach Veränderung intrinsisch, also kommt er von der Person selbst, oder basiert er auf den Erwartungen anderer? Hinzukommen selbstregulatorische Schwierigkeiten, also Hürden bei der Umsetzung, entweder weil man nie anfängt, nicht dranbleibt (etwa weil kein Fortschritt beobachtet wird) oder weil man nicht zum Ende kommt. Die Psychologists for Future empfehlen deshalb auch, kleine Ziele zu stecken und Kompromisse einzugehen, also etwa erst mal nur unverpacktes Obst und Gemüse zu kaufen, statt direkt Zero Waste als Megaziel zu verfolgen, sowie die eigene tatsächliche Motivation zu hinterfragen.10

Aber genau in diesen (durchaus auch hilfreichen) Tipps versteckt sich das Grundproblem, mit dem wir alle kämpfen: Wie sollen wir in einer nicht nachhaltigen Welt nachhaltige Entscheidungen treffen? Hinzu kommt, wie das Oatly-Beispiel zeigt, dass manchmal gar nicht ersichtlich ist, wie nun die sinnvollste Lösung aussähe.

WER DIE WAHL HAT, HAT DIE WAHL, HAT DIE WAHL

Während meiner Elternzeit habe ich mir fast gar keine neuen Kleidungsstücke gekauft. Fürs Büro musste ich mich nicht herrichten, das Kind hat sich sowieso nur für meine Brüste interessiert, und mir blieb generell nicht viel Zeit, über mein Aussehen nachzudenken. Nach einiger Zeit merkte ich aber, dass mir meine Hosen nicht mehr gut passten. Gleichzeitig sträubte sich in mir alles gegen Neuanschaffungen. Ich habe meinen Kleiderschrank schon häufiger ausgemistet und fand es jedes Mal wieder erschreckend, wie schnell sich so ein Müllsack füllte. Da wollte ich nicht noch mal hinkommen. Wie also eine neue Hose besorgen? In mir startete sofort die Abwägungsmaschine. Schließlich soll das Gekaufte bestenfalls auch direkt das Richtige sein. Aber mir fehlte schlichtweg die Zeit, das gesamte Internet nach Secondhandware oder möglichst nachhaltig produzierten Jeans zu durchforsten. Zwanzig Päckchen nach Hause bestellen wollte ich auch nicht (kleiner Spoiler: Zu dem Thema, wer sich Nachhaltigkeit leisten kann, schreibt Jenni im nächsten Kapitel mehr). Trotzdem quälte ich mich durch diesen Prozess und harrte solange in schlecht sitzenden Hosen aus. Gleichzeitig fühlte sich das auch absurd an. Was wog nun schwerer? Das schlechte Gewissen, das ich nach einem nicht hundertprozentig nachhaltigen Kauf haben würde, oder der Unmut darüber, dass die Kleidungsstücke so schlackerten? Obwohl ich wusste, dass ich dringend eine neue Hose brauchte, konnte ich kaum eine Entscheidung treffen. Mich persönlich lähmte diese gefühlte Ausweglosigkeit extrem.

Dass wir uns so blockiert fühlen, oft nicht wissen, wie wir uns nun richtig verhalten, gilt übrigens nicht nur in Bezug auf nachhaltigen Konsum. Barry Schwartz, Professor für Psychologie am Swarthmore College in Pennsylvania und Autor des Buches Paradox of Choice, erklärt den Widerspruch der vermeintlichen Wahlfreiheit in einem gleichnamigen TED-Talk ausführlich. Das offizielle Dogma von westlichen Industriegesellschaften sei, so Schwartz, dass mehr Wahlmöglichkeiten die Menschen freier machten. Freiheit wiederum steigere das Gemeinwohl: »Wenn Menschen Freiheit haben, dann handelt jeder von uns eigenständig, um die Dinge zu tun, die unser Wohlergehen maximieren, und niemand muss in unserem Namen entscheiden. Der Weg zur Maximierung der Freiheit ist die Maximierung der Wahlmöglichkeiten.«11 Obwohl es im ersten Moment gut klingt, dass es – nicht nur in Bezug auf Konsum, sondern auch zum Beispiel bei der Wahl der richtigen Arztpraxis – eine Art Bürger:in-nenautonomie gibt, wird so die Verantwortung für Entscheidungen auf das Individuum abgewälzt. Das führt laut Schwartz zu zwei Effekten: »Ein Effekt, paradoxerweise, ist, dass er lähmt, statt zu befreien.« Mit so vielen Optionen, aus denen man wählen könne, fiele es Menschen sehr schwer, sich überhaupt festzulegen. Der andere Effekt: »Selbst wenn wir die Lähmung überwinden und eine Entscheidung treffen, sind wir am Ende mit dem Ergebnis der Wahl weniger zufrieden, als wir wären, wenn wir weniger Optionen zur Auswahl gehabt hätten.« Es sei einfach, sich vorzustellen, dass man eine andere Wahl hätte treffen können, die besser gewesen wäre. Dieses Bereuen mache unzufrieden. Zusätzliche Möglichkeiten er-höhten außerdem unsere Erwartungen da-ran, wie zufrieden wir mit unseren Entscheidungen sein würden. Deshalb seien wir auch unzufrieden, wenn das Ergebnis eigentlich gut ist. »Das Beste, auf das Sie jemals hoffen können, ist, dass Dinge so gut sind, wie Sie es erwarten. Sie werden nie angenehm überrascht sein, wenn Ihre Erwartungen, meine Erwartungen, haushoch sind. Das Geheimnis des Glücks ist: niedrige Erwartungen.«

Bei hundert verschiedenen Optionen, etwa beim Jeanskauf, sieht man automatisch sich selbst in der Verantwortung, die richtige Entscheidung zu treffen. Das heißt im Umkehrschluss, dass wir uns bei einer schlechten Wahl selbst beschuldigen: »Man hätte besser entscheiden können.« Eine genaue Zahl für die optimale Menge an Möglichkeiten kann Schwartz aber nicht nennen: »Es steht außer Frage, dass eine gewisse Auswahl besser ist als keine. Aber das bedeutet nicht, dass mehr Auswahl besser ist als etwas Auswahl. Es gibt eine magische Menge.« Das bestätigen Studien anderer Forscher:innen wie die der spanischen Ökonom:innen Elena Reutskaja und Robin Hogarth. Für ein Experiment sollten sich Proband:innen zwischen fünf, zehn, 15 oder 30 Geschenkverpackungen entscheiden. Ergebnis: Bei zehn Optionen waren die Versuchspersonen mit ihrer Wahl zufriedener als bei fünf. 15 Alternativen überforderten sie dagegen schon etwas. 30 Optionen machten so unglücklich wie fünf. Die Zufriedenheitskurve beschrieb ein umgekehrtes U. Wir wägen also vermutlich unbewusst zwischen Kosten und Nutzen ab.12

Letztlich kommt Schwartz zu dem Schluss, dass Unzufriedenheit aufgrund zu vieler Entscheidungsmöglichkeiten vor allem ein (Luxus-)Problem der industrialisierten Welt sei, während andere Gesellschaften zu wenig Auswahl hätten. Deshalb schlägt er vor: »Wenn etwas von dem, was den Menschen in unserer Gesellschaft Entscheidungen ermöglicht, in Gesellschaften verlagert würde, in denen Menschen zu wenige Optionen haben, würde nicht nur das Leben dieser Menschen verbessert werden, sondern auch unseres.«

WIR KONSUMIEREN, WEIL WIR ES MÜSSEN KÖNNEN SOLLEN

Schwartz hat es ganz treffend beobachtet: Wir leben in einer Konsumgesellschaft. Dadurch stellt sich aber nicht nur die Frage, was wir konsumieren, sondern auch, warum wir nicht aufhören können zu konsumieren. Jede Person in Deutschland besitzt schon jetzt durchschnittlich 10.000 Gegenstände13, von denen sie weit weniger als die Hälfte nutzt. Ein Grund: Wir leben in einem Land, in dem alles im Überfluss existiert, innerhalb einer Wirtschaft, die vom Verbrauch abhängt (mehr dazu in Kapitel 3) und in der der Markt ständig neue Bedürfnisse erzeugt.

Auch in der Greenpeace-Studie mit dem treffenden Titel After the Binge, the Hangover fand man 2017 heraus, dass die Menschen in Europa und Asien mehr Kleidung kaufen, als sie brauchen oder nutzen. Sie konsumieren vor allem, weil sie sich nach Erfüllung sehnen, befeuert durch Social Media und das leicht verfügbare Online-shopping. Tatsächlich hält die Glückseligkeit über neue Produkte aber nicht lange an. Bei einem Drittel der in Deutschland Befragten verflog die Freude bereits nach einem Tag, über die Hälfte fühlte sich nach dem Shopping müde und erschöpft. Ein Drittel der Befragten in China, Hongkong, Taiwan fühlte sich danach sogar noch leerer als zuvor.14 Ein Kaufrausch kann also tatsächlich eine Art Kater nach sich ziehen und negative körperliche und psychische Folgen haben.

Wolltet ihr in den 90ern auch unbedingt Schuhe mit Leuchteffekten haben? Habt ihr euch an einem besonders miesen Tag schon mal etwas besonders Schönes gekauft? Kein Wunder, Shopping ist häufig eher emotional als rational bedingt. Etwa, weil wir uns etwas als Belohnung gönnen, oder auch, weil wir gesellschaftlich dazugehören wollen. Das kann gut und schlecht zugleich sein. Einerseits glauben wir eben deshalb, bestimmte Produkte zu brauchen – die eigentlich unnötig sind. Andererseits können wir aber aus demselben Grund andere Menschen leicht beeinflussen – auch im positiven Sinne. Bestenfalls können wir sie genau deswegen durch unser umweltfreundlicheres Verhalten zum Nachahmen anregen. Oder, wie es Karl Marx einst formulierte: »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.«15

Davon, dass wir automatisch weniger konsumieren, je glücklicher wir sind, schreibt auch Manfred Folkers im Buch All you need is less, eine Mischung aus buddhistischen Beobachtungen und Denkanstößen für die Wirtschaft: »Wer sich […] dem Mehrungs- und Vergleichungsdruck entzieht, öffnet das Tor zur Zufriedenheit.«16 Obwohl viele Formulierungen in dem Werk sehr pathetisch rüberkommen, steckt in ihnen viel Wahres: Nur wer mit sich selbst im Reinen ist, wird keine Bestätigung durch Konsum suchen. Minimalist:innen werden an dieser Stelle vermutlich heftig nicken.

Dass weniger statt mehr für unser Wohlbefinden durchaus ausreicht, bestätigt auch eine Umfrage der ZEIT während der einschränkenden Coronamaßnahmen im Frühjahr 2020. Auf die Frage, was sie wirklich brauchen würden, um diese Zeit gut zu überstehen, antwortete eine Mehrheit: Sie hätten gemerkt, dass es ihnen auch gut geht, wenn sie nicht immerzu konsumieren.17

INTERVIEW MIT DER JOURNALISTIN KATHRIN HARTMANN

KAUF DICH FREI

Von Milena Zwerenz

Dein Kassenzettel ist ein Stimmzettel, heißt es trotzdem immer wieder. Die Idee der Konsumenten:innendemokratie ist ebenfalls dafür verantwortlich, dass wir am vermeintlich nachhaltigen Konsum festhalten. Doch wie viel hat unser Kaufverhalten tatsächlich mit ökologischer Wirksamkeit zu tun? Die Journalistin Kathrin Hartmann hat sich bereits in zahlreichen Büchern (Grüne Lüge, Grüner wird’s nicht) und zuvor im gleichnamigen Film The Green Lie (mit Regisseur Werner Boote) intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt. Wer bisher dachte, dass »ethischer Konsum« eine konventionelle Lösung sein könnte, wer Mode aus Ozeanplastik für eine geniale Idee hielt, der:die fühlt sich durch ihre Aussagen schnell ernüchtert. Auch wir haben uns beim Lesen mancher ihrer Interviews ertappt gefühlt. Sie zerstört die Illusion, dass wir durch »richtigen Konsum« die Welt verändern könnten, endgültig.

Vor dem Gespräch mit ihr bin ich ungewöhnlich aufgeregt, schließlich kennt sie sich hinter den Kulissen des Ökovorhangs bestens aus. Am Telefon spricht sie schnell und springt oft von einem Gedanken zum nächsten. Wie gut, dass ich mitschreibe.

Kathrin, für unser Buch versuchen wir herauszufinden, wie wir – entsprechend unserer Situation – nachhaltiger leben können.

Dabei fühlt sich der Begriff »Nachhaltigkeit« mittlerweile wie eine leere Hülle an. Was ist deiner Meinung nach das größte Missverständnis, wenn wir über »Nachhaltigkeit« sprechen?

Das stimmt, Nachhaltigkeit ist ein furchtbar schwammiger Begriff, der nichts Verbindliches bedeutet. Das ist vor allem problematisch, wenn es um die Industrie oder um Nachhaltigkeitsziele geht. Bei vielen Initiativen, bei denen Klima- oder Umweltschutz im Vordergrund steht, fällt der soziale Aspekt völlig hinten runter. Dabei sind gerade arme Menschen, auch in reichen Ländern, als Erstes von Umweltschäden, schlechter Luft und dem Klimawandel betroffen. Deswegen spreche ich lieber von ökologischer und sozialer Gerechtigkeit. Nachhaltigkeit ist außerdem zu einem Begriff verkommen, der einfach nur das hübschere Wort für Systemerhalt ist. Also dass wir alles so weitermachen wie bisher, aber in Grün. Das wird so nicht funktionieren.

Was heißt das konkret?

In der Klima- und Umweltdebatte werden das Soziale und Ökologische oft getrennt voneinander betrachtet, oder das Soziale wird gar nicht erst thematisiert. Selbst NGOs stellen das individuelle Handeln in den Mittelpunkt. Man soll CO2 reduzieren, bestimmte Dinge nicht mehr tun oder andere Sachen kaufen. Dadurch fühlen sich viele Leute von der Bewegung ausgeschlossen. Zu sagen, dass alle Leute Biolebensmittel kaufen sollen, ist für eine bestimmte Gesellschaftsschicht schlicht nicht möglich. Deshalb sollte es ein Ziel sein, dass niemand mehr beim Einkaufen darüber nachdenken muss, wie etwas produziert wurde, weil unsere Waren sowieso ökologisch und sozial gerecht hergestellt werden. Der finanzielle Aspekt darf keine Rolle spielen.

Gerade hält sich aber noch der Gedanke, dass wir durch die Wahl bestimmter Produkte zu Veränderung beitragen können. Warum fallen wir immer wieder auf die Idee der »Konsument:innendemokratie« rein?

Ein Grund ist, dass wir alle ständig ein schlechtes Gewissen beim Einkaufen haben. Denn wir wissen mehr und mehr, unter welchen Umständen die Produkte hergestellt werden, mit denen wir uns im Alltag umgeben. Wenn uns Firmen also sagen – denen natürlich klar ist, dass ihre Kund:innen mehr wissen als je zuvor –, wir könnten einfach so weiterkaufen, dann ist das sehr attraktiv. Es ist aber auch für die Politik ein einfacher Ausweg, die Schuld auf die Verbraucher:innen zu verlagern. Dann muss sie nichts regulieren. Das ist auch für die Unternehmen praktisch und profitabel. Sie verkaufen einen neuen Mehrwert, nennen wir es Nachhaltigkeit, CO2-neutral oder was auch immer. Auf der anderen Seite gibt es noch die Menschen, die sich dem Konsum bestimmter Produkte ganz entziehen. Aber auch bei dieser Form des Verzichts sind die Verantwortlichen letztlich fein raus. Als Konsument:in stellt man keine Forderungen. Nur Konsument:in zu sein, das ist eine wirtschaftliche Kategorie. Aber als Konsument:in besitzt man nur einen mehr oder weniger dicken Geldbeutel. Bürger:in dagegen ist eine gesellschaftliche Kategorie, als Bürger:in hat man Rechte und kann sich politisch engagieren.

Was würde also stattdessen etwas bewirken?

Zunächst darf man nicht unterschätzen, dass auch durch diese Konsumaufforderungen eine Menge von Wissen vermittelt wird: was Palmöl oder Sojaanbau anrichten, wo es Kinderarbeit gibt, wie Klamotten hergestellt werden. Aber ich bin der Meinung, dass man dieses Wissen noch viel mehr dazu nutzen muss, um Druck auf die Politik auszuüben. Wenn zum Beispiel, wie kürzlich in einer Umfrage, mehr als die Hälfte der Deutschen ein Lieferkettengesetz befürwortet, das Unternehmen menschenrechtliche Sorgfaltspflichten auferlegen würde, dann kann die Regierung das nicht mehr ignorieren.18 Das ist der Punkt: Forderungen kann man besser stellen, wenn man sich zusammenschließt, als wenn man sich auf die individuelle Ebene zurückzieht und meint, man könne sich da irgendwie rauskaufen.

Wenn es eigentlich mehr gemeinschaftlichen Protest braucht, warum wird im Nachhaltigkeitsdiskurs das individuelle Verhalten so in den Mittelpunkt gerückt?

Das hat einerseits mit den vielen Jahren der neoliberalen Politik Ende der 1990er-Jahre zu tun: Jede:r ist für sich selbst verantwortlich, jede:r ist seines:ihres Glückes Schmied. Die Wirkungsmacht des:der Einzelnen ist dabei so betont worden, dass diese Selbstüberschätzung jetzt auch bei der Klimadebatte durchschlägt. Gleichzeitig passt das zu einem Rückzug der Politik, die ebenfalls immer wieder an die Verantwortung jedes:r Bürger:in appelliert hat. Moralismus hat auch eine große Rolle gespielt: Der:die Einzelne kauft das ja, dann ist er:sie auch schuld daran, wie es hergestellt wird. Das blendet natürlich völlig aus, dass es um Machtverhältnisse geht und darum, wer politisch etwas durchsetzen kann und wer von den Bedingungen profitiert. »Nachhaltiges« Einkaufen lässt sich aber natürlich gut vermarkten. Mit dem Zusatz »umweltfreundlich« kann man schließlich auch Geld verdienen.

Mittlerweile bedienen sich allerlei Unternehmen Wörtern wie »grün« und »nachhaltig«. Wie lässt sich noch differenzieren, wer wirklich etwas verändern will oder wem es nur um Profit geht? Oder läuft es letztlich auf dasselbe hinaus?

Man muss die Frage mal umdrehen. Wenn Unternehmen wirklich mit einer ökologischen und sozial korrekten Produktion Profite machen, warum sollten sie irgendwas anderes machen? Sie machen aber keinen Profit mit einer sozial korrekten Produktion. Sie machen Profite, weil Arbeitskräfte in anderen Ländern billig, weil Rohstoffe billig sind. Seit der Kolonialzeit bedienen sich Unternehmen und die kapitalistische Gesellschaft überproportional stark an Ressourcen anderer Länder und schieben den Dreck dahin ab. Und das ist genau das, was zu Zerstörung führt. Blickt man in die Nachhaltigkeitsprogramme der Unternehmen, betreffen sie nie das Kerngeschäft. Es gibt ja Gründe, warum Unternehmen in Länder ausweichen, in denen Arbeiter:innen nicht oder wenig geschützt sind und es nur unzureichende Umweltschutzgesetze gibt. Sobald beispielsweise ein Land die Löhne in der Textilindustrie erhöht, wandern Unternehmen in ein billigeres Land ab. Die Lohnkosten an einem Turnschuh machen aktuell nämlich gerade mal zwei Prozent des Gesamtpreises aus.19

Dabei ist immer wieder die Rede von einer »Green Economy«.

Green Economy ist die politische Variante des Greenwashings, nämlich das Versprechen, dass durch grüne Technologien alles so bleiben kann, wie es ist. Man verlässt sich auf eine Technologie, rührt nicht an den Ursachen und richtet am Ende eher mehr Schäden an. Ich würde beispielsweise sagen, dass Elektromobilität durchaus ihre Berechtigung hat, aber es macht keinen Sinn, dass jedes Auto durch ein Elektroauto ersetzt wird. Elektro-SUVs, die mit einer 800-Kilo-Lithium-Batterie ausgestattet sind, verschärfen die Probleme sogar, weil noch mehr Rohstoffe gebraucht werden. Etwa Lithium, dessen Abbau für Umweltzerstörung und Landraub sorgt.

Wenn der Kapitalismus die Ursache für die Krise ist: Wie müsste sich das System ändern?

Dafür müsste man noch nicht mal die totale Revolution starten, es gibt auch innerhalb des herrschenden Systems immer Möglichkeiten, Dinge so anders zu machen, dass sie eine Transformation vorantreiben. Zum Beispiel bei der Verkehrswende: Laut einer aktuellen Untersuchung vom BUND Naturschutz können zwölf von 14 Regionalflughäfen nur überleben, weil sie so hoch subventioniert sind. Sonst würden sie rote Zahlen schreiben.20 Die braucht niemand. Die könnte man schließen und Windräder hinbauen, ohne dass Wälder abgeholzt werden müssten. Sowieso müssen solche umweltschädlichen Subventionen abgeschafft werden. Das wäre möglich, aber es fehlt der politische Wille. Genauso braucht es nicht viel Geld, um eine Stadt fahrrad- oder fußgängerfreundlich umzubauen. Die Alternativen sind also da. Eher müssen wir uns fragen: Wer verhindert sie? Wer hat Interesse daran, dass es bleibt, wie es ist?

Nach dem Interview mit Kathrin Hartmann bin ich einmal mehr erschlagen von all den Informationen und den komplexen Zusammenhängen von Armut, Gesellschaft, Klimawandel. Vielleicht, so Hartmann, mache es das aber auch ein bisschen einfacher: »Zu wissen, dass alles miteinander zusammenhängt und dass es möglich wäre, mit Veränderungen so vieles zu lösen, finde ich eher ermutigend.«