Greenpeace - Frank Zelko - E-Book

Greenpeace E-Book

Frank Zelko

4,8

Beschreibung

Die Weltorganisation "Greenpeace" ist ein international vernetztes, global agierendes und in den Medien allgegenwärtiges Unternehmen. Seine Geschichte, seine Struktur und seine Philosophie fordern alle wissenschaftlichen Disziplinen heraus.Mit »Make It a Green Peace« (so der englischsprachige Titel) liegt erstmalig eine akribisch recherchierte, wissenschaftlich fundierte und zielführende Darstellung vor. Sie verbindet Zeitgeschichte, politische Wissenschaft, Gesellschaftssoziologie, Kulturtheorie und Umweltforschung zu einer kompakten Analyse eines führenden Agenten in der Globalisierung.Die Anfänge von Greenpeace finden sich in der kanadisch-amerikanischen Graswurzelbewegung von Antinuklearbewegung, Friedensbewegung, Hippie-Anarchismus, Quäker-Theorie der Gewaltfreiheit, Pazifismus, New Age-Spiritualität, Indianischer Naturauffassung, Tierschutzbewegung, Medientheorie von Marshall McLuhan u.a. Aus diesem Amalgam hat sich Schritt für Schritt und mit vielen Konflikten eine allgemein politische Organisation herausgebildet, die heute ein globales Weltunternehmen darstellt, gekennzeichnet durch straffe Führung, Zentralisierung, Professionalisierung, Management, Marketing, Öffentlichkeitsarbeit.

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Umwelt und Gesellschaft

Herausgegeben von

Christof Mauch, Helmuth Trischler und Frank Uekötter

Band 7

Frank Zelko

Greenpeace

Von der Hippiebewegung zum Ökokonzern

Aus dem Englischen von Birgit Brandau

Vandenhoeck & Ruprecht

Übersetzung und Druck wurden großzügig vom Rachel Carson Center for Environment and Society der LMU München unterstützt.

Mit 27 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99532-8

Weitere Ausgaben dieses Titels finden Sie auf der Website des Verlags.

Umschlagabbildung: Greenpeace-Aktivisten hängen ein Banner an die Christusstatue in Rio de Janeiro, 16. März 2006. © Daniel Beltra / Greenpeace

Die englische Originalausgabe: Make It a Green Peace! The Rise of a Countercultural Environmentalism, First Edition was originally published in English in 2013. This is an expanded version of the English original. This translation is published by arrangement with Oxford University Press. © Oxford University Press 2013

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A.www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany.

Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen

Inhalt

Einleitung

1. KAPITEL

Den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht sagen

2. KAPITEL

Die Feinde der Anarchie

3. KAPITEL

Die kanadische Feuerprobe

4. KAPITEL

Don’t Make a Wave

5. KAPITEL

Kein Protestler im herkömmlichen Sinn

6. KAPITEL

Mururoa, mon amour

7. KAPITEL

Armlose Buddhas gegen fleischfressende Nazis

8. KAPITEL

Stoppt Kapitän Ahab!

9. KAPITEL

Auf dünnem Eis

10. KAPITEL

Blut, Tod und Sex

11. KAPITEL

Das Paradox der Macht: die Geburt von Greenpeace International

Schluss

Die Anfänge von Greenpeace Deutschland

Anmerkungen

Dank

Bildnachweis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Register

Einleitung

Die meisten von uns wissen wahrscheinlich nicht, wie es sich anfühlt, wenn der eigene Kopf plötzlich zwischen den Kiefern eines lebenden Schwertwals eingeklemmt wird. Nicht zwischen den Kiefern eines wütenden oder hungrigen Schwertwals, sondern eines freundlich gestimmten in einem Delfinarium. Bob Hunter, der berühmteste Hippie-Intellektuelle von Vancouver und Mitbegründer von Greenpeace, kannte dieses Gefühl. Ihm widerfuhr es 1974, als er das Vancouver Aquarium auf Wunsch eines Walforschers besuchte, der hoffte, Greenpeace zur Führung einer Kampagne gegen den Walfang überreden zu können. Das Erlebnis änderte sein Leben: »Ich hatte Marathonsitzungen mit Encountergruppen und emotional erschöpfende Workshops mit dem großen Gestalttherapeuten Fritz Perls hinter mich gebracht, doch keine dieser Erfahrungen führte so weit über die Grenzen meines Verständnisses hinaus, dass sie mich derart erschüttern konnte, wie das jetzt der Fall war.« Hunter quittierte seinen Job, trennte sich von seiner Frau und widmete sein Leben fortan der Rettung der »friedlichen Superwesen im Meer«, jener einzigartig angepassten Geschöpfe, »die lange bevor der Mensch auch nur gelernt hatte, aus dem Obdach der Höhlen hervorzukriechen, die Natur beherrschten, indem sie eins mit den Gezeiten und Temperaturen geworden waren«.1 Hunters walinspirierte Erleuchtung führte zu einer grimmigen Überzeugung: Die abscheuliche Praxis des Walfangs musste ein Ende haben. Keine Meinung, die von allen Umweltschützern geteilt wurde.

Anfang der 1970er Jahre hatte der Unterausschuss für Fischfang und Naturschutz des US-Kongresses eine Reihe von Anhörungen zum Thema Meeressäugerschutz veranstaltet. Zu den Berichterstattern gehörten Vertreter der ältesten und angesehensten amerikanischen Naturschutzgruppen wie der Sierra Club, die Audubon Society und die National Wildlife Federation. Diese Gruppen vertraten zwar den Standpunkt, es sei wichtig, sicherzustellen, dass die Wal- und Robbenpopulationen so stabil wie möglich gehalten wurden, aber eine Politik des unbegrenzten Schutzes unterstützten sie nicht. Sie glaubten, es wäre legitim, »überschüssige Tiere« zum Wohle der Menschen zu nutzen, solange das Überleben der Arten gesichert sei. Bei seiner Aussage vor dem Unterausschuss verwendete Thomas Kimball von der National Wildlife Federation Phrasen wie »erneuerbare Ressourcen«, »Verwaltung«, »professionelles Management von Wildtieren«. Das »Einbringen überschüssiger Exemplare von Wildtierpopulationen« hielt seine Organisation für »ein wichtiges Management-Instrument, wenn die kontinuierliche und langfristige Stabilität einer Tierpopulation höchstes Ziel ist«.2

Bob Hunter hielt von alledem nichts. Ein paar Jahre nach diesen Anhörungen trafen er und seine Greenpeace-Genossen vor der Küste von Kalifornien auf eine Flotte sowjetischer Walfänger. Sie sprangen in Schlauchboote mit Außenbordern, preschten über das offene Meer und drängten sich zwischen die Harpunen der Walfänger und fliehende Pottwal-Schulen. Sie stellten sich als menschliche Schutzschilde vor die wehrlosen Riesen. Nicht lange danach krochen ebendiese Leute an der Küste von Neufundland über Eisschollen und warfen sich über junge Sattelrobben, um sie vor Schläger schwingenden Robbenjägern zu schützen. Walfang und Robbenjagd seien, so argumentierten diese leidenschaftlichen Aktivisten, nicht einfach eine Seite von Wildtierschutz und Ressourcenverwaltung, sondern vielmehr ökologisch destruktive und moralisch verwerfliche Handlungsweisen, die menschliche Ignoranz und gedankenlose Grausamkeit gegen andere empfindsame Lebewesen verkörperten.

Wie soll man diese Aktivisten verstehen, die mit ihren leidenschaftlichen Narreteien unter dem Banner von Greenpeace den herkömmlichen Naturschutz mit seinem gesetzten Erhaltungsdenken – und das Standardrepertoire des Umweltschutzes allgemein – herausforderten und diesen durch eine Form des gewaltfreien Protests und einer holistischen Gegenkultur verdrängten, die nun Umweltschützer seither beeinflussen? Hunter hatte die harte Umklammerung der Schwertwalzähne an seinem Hinterkopf gespürt, aber selbst dieses dramatische Erlebnis kann sein Engagement nicht völlig erklären. Was trieb ihn und seine Mitstreiter darüber hinaus an, solche drastischen Aktionen, mit denen sie sich selbst gefährdeten, zum Schutz anderer Arten zu unternehmen? Was hatte ihre kompromisslosen Standpunkte bewirkt? Um derartige Fragen zu beantworten, untersucht dieses Buch das komplexe Wurzelwerk von Greenpeace und spürt der Entwicklung der Organisation nach – von ihrem ersten Auftreten inmitten der verschiedenen Protestbewegungen der 1950er und 1960er Jahre bis zum Ende ihrer unbeständigen, dramatischen und manchmal schrulligen ersten Dekade im Jahre 1980.

Seit Anfang der 1970er Jahre hat keine einzelne Organisation so viel wie Greenpeace für die Unterstützung und Formung des Umweltprotests rund um die Welt geleistet. Ihre Gründer waren die ersten Umweltschützer, die die auf Gandhi zurückgehenden gewaltfreien Proteststrategien der Friedens- und Bürgerrechtsbewegungen übernahmen. Sie verbanden diese mit dem von den Quäkern geschaffenen Konzept des »Zeugnis ablegen« – der Vorstellung, Verbrechen oder Gräueltaten bekämpfen zu können, indem man hinschaut und anderen davon berichtet – und koppelten das Ganze an eine Medienstrategie, die stark von Marshall McLuhan beeinflusst war, dem kanadischen Kommunikationswissenschaftler, der so nachhaltige Konzeptionen und Aphorismen wie »das globale Dorf« oder »das Medium ist die Botschaft« geprägt hatte. Zudem waren die Greenpeace-Gründer bewusste Internationalisten, eine Haltung, die sowohl von einer Art postnationalistischer Romantik, die von einer Welt ohne Grenzen träumte, als auch vom ökologischen Imperativ gespeist wurde, dass Natur die künstlichen Grenzen von Nationalstaaten nicht anerkennt.

Greenpeace verlieh dem Umweltschutz auch ein cooles Aussehen. Sein lebhafter und auf Konfrontation gerichteter Proteststil stand in Einklang mit den Antikriegsdemonstranten der 1960er und 1970er Jahre, während seine Bildsymbole und die Verbindungen zu populären Musikern die alten Stereotypen Lügen straften, die Umweltschutz mit in Cordhosen und Strickjacken wandernden Sierra-Club-Mitgliedern mittleren Alters verbanden. Die neuen, von Greenpeace inspirierten Umweltschützer trugen gebatikte T-Shirts und hatten lange Haare, sie rauchten Hasch und schluckten LSD und fachten eine Bewusstseinsrevolution an, die nichts Geringeres als eine radikale Veränderung der westlichen Kultur verlangte. Dieses hippe, scharfkantige, gelegentlich etwas spinnerische Image bestand im Guten wie im Schlechten auch dann weiter, nachdem Greenpeace längst den Großteil seiner eher exzentrischen Gegenkulturzüge abgelegt hatte. Die Tatsache, dass Greenpeace für viele Menschen zu einer Art Synekdoche für Umweltschutzbewegung generell geworden ist, bedeutet, dass die Umweltschutzszene in einigen Bereichen weiterhin mit der Gegenkultur der 1960er Jahre assoziiert wird.

Anfang der 1980er Jahre war Greenpeace zu einem internationalen Umweltschutz-Kraftwerk mit Zentrale in Europa herangewachsen, das eine komplexe hierarchische – manche sagen auch konzernmäßige – Struktur und Zweigstellen in zahlreichen Ländern besitzt. Heute gehört Greenpeace zu den bekanntesten Umweltschutzgruppen der Welt. Sein Logo ist fast so vertraut wie das von Coca-Cola oder McDonald’s.3 Seine Aktivitäten heute umfassen eine Vielzahl von Kampagnen, die von Lobbyarbeit bei Regierungen und zwischenstaatlichen Einrichtungen wie der Internationalen Walfangkommission bis zur Unterstützung der Produktion neuer Technologien, etwa umweltfreundlicher Kühlschränke und Autos, reichen. Während ihre Bekanntheit und ihr Einfluss nicht zu leugnen sind, ist die Einrichtung, zu der Greenpeace geworden ist, nicht unbedingt das, was sich die Gründer vorgestellt hatten. Während der gesamten Anfangszeit gab es Momente, in denen Greenpeace andere Wege hätte einschlagen können. Manche hätten zu seinem Verschwinden führen können, andere vielleicht eine Evolution mehr in Richtung einer sozialen Graswurzelbewegung ermöglicht. Doch trotz der unvorhersehbaren Entwicklung und der internen Kämpfe, die die gegenwärtige Form schufen, wurde jener Stil der direkten Protestaktion beibehalten, der schon in den 1970er Jahren für Greenpeace kennzeichnend war und seine Aktivisten mit einzigartigem Elan beflügelte.

Für dieses Buch wurde ein breites Spektrum an Quellen herangezogen, um die verschiedenen Ideologien und Standpunkte zu untersuchen, die Greenpeace von der Gründung an den eindeutigen Charakter verliehen. Wie formten die Anfänge den Weg, den die Organisation nahm? In welchem Maß wurde sie den Visionen und Idealen ihrer Gründer gerecht? Und inwiefern haben sich die facettenreichen Anfänge sowohl als inspirierend wie auch als problematisch für die Entwicklung und die heutige Erscheinungsform ausgewirkt?

Allein schon wegen der Menge an Dramen, an Pathos und an absurden Momenten komischer Erleichterung lohnt es sich, die Geschichte von Greenpeace zu erzählen. Doch jenseits davon ermöglicht sie viele Einblicke in die Umweltschutzszene, in soziale Bewegungen und in die Geschichte des Protests im 20. Jahrhundert. Greenpeace entwickelte sich nie zu der revolutionären, die Welt verändernden Bewegung, die sich seine idealistischen Gründer erhofft hatten, doch ohne Zweifel hat es erfolgreich und nachhaltig in einer Weise Schlaglichter auf Umweltprobleme geworfen, wie das keiner anderen Gruppe gelungen ist. Dabei hat Greenpeace einige der Sprünge und Risse offengelegt in den allgemeinen Strukturzwängen – wie dem globalen Kapitalismus und der mechanistischen und instrumentalisierten Sicht von Natur –, die das Denken und Handeln der Menschen in der modernen Welt beeinflussen. Das war doch, wie einige der Gründer in zuversichtlichen Augenblicken witzelten, ein recht schöner Erfolg für eine Horde von Pazifisten und Hippies aus einer mittelgroßen Stadt an der kanadischen Westküste.

1. KAPITEL

Den Mächtigen die Wahrheit ins Gesicht sagen

Was immer Leute von Greenpeace als Organisation halten mögen, nur wenigen werden leugnen, dass sie einen brillanten Namen hat. Einfach, elegant und überaus sinnreich. Er geht leicht von der Zunge und passt als Überschrift gut in eine einzelne Zeitungsspalte. Ein kanadischer Journalist fasste das 1977 so: »Hinter dem Namen schimmern Bilder von ruhig sich ausbreitenden Weiden und von Bertrand Russell, Lotusblüten und Mahatma Gandhi.«1 In den Augen eines Historikers kann die schlichte Eleganz des Namens aber auch manchmal irreführend sein. Die meiste Zeit wurde Greenpeace vorrangig als Umweltschutzorganisation wahrgenommen. »Green« steht nicht nur an erster Stelle, sondern wird auch durch die Betonung unterstrichen: Wir sagen Greenpeace und nicht Greenpeace. Doch diese Betonung von »Green« zuungunsten von »Peace« verschleiert mehrere wichtige Aspekte der Anfangsgeschichte der Organisation.

Die Geschichte von Greenpeace ist Teil einer größeren Geschichte weltweiten Protests und Aktivismus, die antikolonialistische Kämpfe, insbesondere in Indien, verschiedene pazifistische und Antikriegsbewegungen auf der ganzen Welt einschließt. Die Leute, die sich wohl am ehesten als »Gründer« von Greenpeace bezeichnen können – Irving und Dorothy Stowe und Jim und Marie Bohlen –, waren Veteranen dieser Bewegungen. Beide Paare waren tief verbunden mit der Kultur und Tradition der Friedensbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg. Es verwundert nicht, dass die Organisation, an deren Schaffung sie beteiligt waren, den unauslöschlichen Stempel dieser Tradition trug.

Anscheinend gibt es einen bestimmten Prozentanteil der Bevölkerung – konservativ geschätzt rund zehn Prozent –, dem Redseligkeit angeboren ist. Nimmt man von diesen noch mal die Kategorie jener Leute, die höchstwahrscheinlich zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine Rede halten, dann gehört Irving Stowe sicher zum 99. Prozentteil.2 Greenpeace-Genosse Bob Hunter, selbst nicht gerade ein Hänfling auf rhetorischem Gebiet, merkte an, Stowe würde zu einer Rede anheben, sobald man nur »Guten Morgen, Irving« sagen würde. Stowes Frau Dorothy erinnerte sich, dass Stegreifreden für Irving nichts Ungewöhnliches waren, wenn einmal ein Redner ausfiel. Selbst seine spontanen Bemerkungen waren klar, logisch und prägnant. Andererseits gibt es aber auch einige, die sich daran erinnern, dass Stowes Reden, die improvisierten wie die anderen, zu endlosen Litaneien ausarten konnten.3

Stowes leidenschaftlicher Drang, seine Ansichten kundzutun, war nicht auf das gesprochene Wort beschränkt. Er war auch ein produktiver, unermüd-licher Briefeschreiber. Er war ein unruhiger Schläfer und häufig zwischen 2 und 5 Uhr morgens wach. Dann nutzte er seine Schlaflosigkeit, um Protestbriefe an Politiker, Regierungsvertreter, Verleger oder wer immer sonst an seinen moralischen Empfindsamkeiten nagte, abzufeuern. In der einen Nacht konnte er einen länglichen Brief an Präsident Eisenhower oder den Verteidigungsminister formulieren, um den Einsatz von mit Atomwaffen bestückten Polaris-U-Booten anzuprangern, in der nächsten widmete er seine Zeit dann etwa einer Reihe knapper Mitteilungen an verschiedene Zeitungsherausgeber, in denen er deren kriecherische politische Kommentare niedermachte. Stowe hatte entschiedene Meinungen zu vielen Themen, darunter Rassenbeziehungen, Gewerkschaften, Stadtplanung, Umweltverschmutzung, Vegetarismus und Rauchen. Hätte er sich auf das Rhetorische beschränkt, wäre er vielleicht nur als weiterer selbstgerechter, starrköpfiger Spinner abgetan worden. Positiv zu Buche schlug, dass er sich für viele Angelegenheiten, die ihn bewegten, bis zum Ende einsetzte und sich den Gruppen anschloss, die für eine bestimmte Sache kämpften. Gab es die passende Gruppe noch nicht, gründete er sie selber. Dieser unerbittliche kritische Elan und sein Engagement fürs Handeln sollten dazu führen, dass er zusammen mit seiner gleichgesinnten Frau Dorothy eine größere Rolle bei der Gründung einer ganz neuartigen Organisation spielte – einer Organisation, die wesentliche Elemente der Friedens- und der Umweltschutzbewegungen vereinte und diese mit der Philosophie gewaltfreier direkter Aktion verband.

Irving Stowe wurde 1915 in eine jüdische Mittelschichtfamilie in Providence, Rhode Island, hineingeboren und war das Produkt einer Kultur, die einige der begabtesten Intellektuellen und engagiertesten Aktivisten im Amerika des 20. Jahrhunderts hervorbrachte. Diesem sozialen Milieu, das im Schmelztiegel der urbanen Zentren des Nordostens geformt worden war, entstammten Persönlichkeiten wie Noam Chomsky, Barry Commoner, Howard Zinn, Irving Howe und Arthur Miller sowie zahllose weniger bekannte Schriftsteller, Intellektuelle, Wissenschaftler und Aktivisten. Die reiche talmudische literarische Tradition und jüdischer Bildungseifer nährten eine kritische intellektuelle und aktivistische Kultur, die eng mit der Entwicklung der politischen Linken in den Vereinigten Staaten verbunden und an ihrer Entstehung beteiligt war. Stowe wuchs in diesem überwiegend säkularen jüdischen Milieu in Providence auf, studierte Wirtschaftswissenschaft an der Brown University, ehe er zum Jurastudium nach Yale wechselte.4

1951 lernte Stowe Dorothy Rabinowitz kennen, eine Sozialarbeiterin in Providence. Sie war ebenfalls ein Produkt der jüdischen Mittelschicht von Providence. Sie studierte English am Pembroke College, dem Frauen-College der Brown University. Nachdem sie während des Zweiten Weltkriegs kurzfristig als Einkäuferin für die Marine gearbeitet hatte, wurde sie Sozialarbeiterin. Schon bald engagierte sie sich für zahlreiche Gewerkschaftsangelegenheiten, beteiligte sich am Aufbau einer Vereinigung der Sozialarbeiter in Rhode Island und wurde dann deren Vorsitzende. Es war dies die erste Vereinigung von Staatsbediensteten, die schließlich in der American Federation of State, County, and Municipal Employees aufging. Irving brauchte zwei Jahre, um Dorothy zur Heirat zu überreden. Die Hochzeit fand 1953 statt. Mittlerweile war Irving, der sich nie sonderlich für das Judentum interessiert hatte, der unitarischen Kirche beigetreten, und eine traditionelle jüdische Hochzeit war nicht das, was er und (in diesem Fall auch) Dorothy sich sonderlich ersehnten. Ihr Kompromiss war, dass ein Rabbiner den Vorsitz bei einer ansonsten zivilen Zeremonie übernahm.

Eine große Leidenschaft von Irving war Jazz. Dank seines selbstbewussten und kontaktfreudigen Naturells hatte er keine Probleme, Berühmtheiten anzusprechen, und freundete sich mit vielen der Musiker an, die er bewunderte. So war George Shearing, der blinde britische Jazzpianist, Trauzeuge bei der Hochzeit. Das festliche Hochzeitsessen fand in den Räumlichkeiten der örtlichen Vertretung der National Association for the Advancement of Colored People statt, einer der wichtigsten Organisationen im Kampf für die Gleichberechtigung Schwarzer in den Vereinigten Staaten.5

Unter all den Bewegungen, für die sich die Stowes einsetzten, sollte die von den Quäkern inspirierte Friedensbewegung den stärksten Einfluss auf ihr Leben haben. Die Geschichte der Friedensbewegung in den USA verdankt viel der Arbeit abweichender Religionsgemeinschaften, insbesondere der Quäker. Einer der fundamentalen Grundsätze des Quäkertums ist Pazifismus. Da jeder unmittelbaren Zugang zu Gott habe, sei auch jeder einzelne Mensch eine mögliche Quelle der Erleuchtung, unabhängig davon, wie fehlgeleitet er zu einem bestimmten Zeitpunkt sein mag. Gewalt gegen Menschen diene einzig dazu, Liebe, Wahrhaftigkeit und Freiheit zu unterdrücken. Dieses Bekenntnis führt dazu, dass Quäker alle Kriege und Kriegsvorbereitungen ablehnen. Viele weigerten sich, Kriegssteuern zu zahlen oder sich einziehen zu lassen, was ihnen in Kriegszeiten häufig den Zorn von Nicht-Quäkern zuzog. Eine andere Form des Protests war das Konzept »Zeugnis ablegen«, zu dem gehört, dass man seine Missbilligung einer Tat deutlich macht und einfach durch Anwesenheit am Ort des Geschehens moralischen Druck auf die Täter ausübt. Für die Quäker mit ihren pazifistischen Wurzeln ist der gewaltfreie Protest die einzig akzeptable Form des Widerstands.

Angesichts dieses Bekenntnisses zur Gewaltlosigkeit überrascht es wenig, dass manche Quäker den Strategien zuneigten, die Mahatma Gandhi entwickelt hatte, um Widerstand gegen die britische Herrschaft über Indien zu organisieren. Vorrangig ist es dem Quäker Richard Gregg zu verdanken, dass Gandhis Philosophie des gewaltfreien Widerstandes, Satyagraha, in Nordamerika bekannt wurde. Satyagraha, das aus den Hindi-Wörtern für »Wahrheit« und »festhalten« gebildet wurde, entwickelte sich während Gandhis langem Kampf für die indische Unabhängigkeit und wurde zur Basis der meisten gewaltfreien Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts. Zu seinen Kernprinzipien gehören: Verzicht auf Gegengewalt, Gegner nicht zu beleidigen, sich einer Verhaftung nicht zu widersetzen, sich in Haft vorbildlich zu verhalten. Aus diesen Geboten leitete Gandhi ein Programm eskalierender Maßnahmen des gewaltfreien Widerstands her, die von Verhandlung und Schlichtung über Agitation, Streiks, zivilen Ungehorsam, der Anmaßung von Regierungsfunktionen und schließlich zur Errichtung einer Parallelregierung reichten. Ehe Gregg Mitte der 1930er Jahre nach einem vierjährigen Aufenthalt in einem spirituellen Refugium in Indien sein bahnbrechendes Werk Die Macht der Gewaltlosigkeit veröffentlichte, hatte kaum jemand in Nordamerika etwas von Satyagraha gehört. Gregg argumentierte darin, gewaltfreier Widerstand sei nicht allein eine moralisch höher stehende Form des Protests, sondern auch ein effektiveres Mittel, um sozialen Wandel und den Abbau von Aggression zu erreichen. Das Buch wurde zwar viel gelesen, aber Greggs Vorstellungen waren offenbar zu radikal für ihre Zeit – keine der großen amerikanischen Friedensgruppen versuchte sie umzusetzen, um die amerikanische Beteiligung am Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Dennoch spielte Gregg eine entscheidende Rolle dabei, der nordamerikanischen Friedensbewegung Gandhis Prinzipien und Strategien zu vermitteln, insbesondere mit seiner Betonung der theatralischen Aspekte gewaltfreier Aktionen, die bei Zuschauern Sympathie und bei Gegnern Schuldgefühle und Scham auslösen sollen.6

Die US-amerikanische Entscheidung, Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abzuwerfen, stieß seinerzeit auf breite öffentliche Zustimmung. Irving Stowe und Dorothy Rabinowitz waren geschockt und entsetzt darüber, aber sie gehörten zu einer Minderheit. Eine Umfrage im Herbst 1945 ergab, dass 53,5 Prozent der Befragten den Abwurf für das beste Vorgehen unter den gegebenen Umständen hielten, und erstaunliche weitere 22,7 Prozent waren der Meinung, die Vereinigten Staaten hätten rasch noch viele weitere dieser Bomben abwerfen sollen, ehe die Japaner die Gelegenheit zur Kapitulation ergreifen konnten. Doch diese Ansichten wurden, wie der Historiker Paul Boyer in seiner Analyse der kulturellen Reaktion auf die Atombombe zeigte, bald durch ein allgemeines Angstgefühl ersetzt, als die USA 1946 mit einer Testserie auf dem Bikini-Atoll begannen.7

Unter den zahllosen Gruppen, die in der Nachkriegszeit aus der Friedensbewegung entstanden, war der Greenpeace inhaltlich am nächsten kommende Vorläufer das Committee for Nonviolent Action (CNVA). Das CNVA wurde 1957 von Quäkern gegründet und brachte Vertreter verschiedener Friedensgruppen zusammen, um gewaltfreie Protestaktionen zu ermöglichen, die lokale Gruppen allein nicht hätten durchführen können. Seine erste Aktion war eine Kampagne 1957 zum zivilen Widerstand gegen ein Atomwaffen-Testgelände in Nevada, bei der elf Aktivisten verhaftet wurden, weil sie in ein Sperrgebiet eingedrungen waren.8 Die New York Times kommentierte: Diese Aktion »markiert den unüblichen Einsatz der Taktik des ›zivilen Ungehorsams‹, den M. K. Gandhi berühmt gemacht hat, in diesem Land«.9

1958 initiierte das CNVA eine seiner effektivsten und im Rückblick einflussreichsten Aktionen, als es die Yacht Golden Rule organisierte, um in das Testgebiet Eniwetok im Pazifik zu fahren. Albert Bigelow, der Kapitän der Golden Rule, war im Zweiten Weltkrieg Kapitän eines Geleitzerstörers der US-Marine gewesen, aber nach Hiroshima und Nagasaki zum Pazifisten geworden. Nach dem Krieg arbeitete er als Kommissar der Wohnungsbaubehörde von Massachusetts und war immer »auf der Suche nach einer Art einheitlicher Lebensphilosophie oder Religion«, die seinem tief empfundenen religiösen Pazifismus entsprach. 1952 kündigte er seinen Dienst in der Reserve der Marine einen Monat bevor er pensionsberechtigt wurde. Und 1955 beherbergte seine Familie zwei »Hiroshima-Mädchen« – junge Frauen, die bei der Explosion der Atombombe verstümmelt worden waren und von verschiedenen bekannten Pazifisten in die USA geholt worden waren, um plastisch-chirurgisch behandelt zu werden. Zu diesem Zeitpunkt beschloss Bigelow, nachdem er bereits jahrelang mit dem Quäkertum geliebäugelt hatte, der Gesellschaft der Freunde beizutreten. Er wurde sofort zur wichtigen und einflussreichen Persönlichkeit in der Friedensbewegung, freundete sich mit Führern wie A. J. Muste und Bayard Rustin an und engagierte sich in Gruppen wie dem CNVA. 1957 gehörte Bigelow zu jenen, die verhaftet wurden, weil sie im Rahmen der oben erwähnten CNVA-Aktion in ein Atomwaffentestgebiet der AEC (Atomic Energy Commission) in Nevada eindringen wollten. Im Februar 1958 kündigte er an, dass er vorhabe, in das US-amerikanische Atomwaffentestgebiet im Pazifik zu segeln.10

Bigelow und seine dreiköpfige Mannschaft stachen in Kalifornien mit ihrer 30-Fuß-Ketsch in See und gelangten bis Hawaii, ehe sich die AEC ihnen in den Weg stellte. Damals gab es noch kein Gesetz, das das Eindringen in Atomwaffentestgebiete explizit verbot; man nahm einfach an, dass Warnungen des Militärs und die Bedrohung durch Strahlenkrankheit die Leute davon abhalten würden, absichtlich in das Gebiet zu segeln. Doch sobald klar wurde, dass die Mannschaft der Golden Rule vorhatte, von Hawaii aus die Marshall-Inseln anzusteuern, verlegte sich die AEC auf eine Reihe von Taktiken, die ein US-Berufungsgericht später für illegal erklären sollte, um zu verhindern, dass das Schiff Honolulu verließ. So gab sie ohne öffentliche Anhörung eine Anordnung heraus, wonach sich US-Bürger strafbar machten, wenn sie sich in das Testgebiet begaben, und man verhaftete anschließend Bigelow und seine Crew, weil sie die Absicht bekundet hätten, diese Anordnung zu missachten. Die Crew der Golden Rule verweigerte sich aus Prinzip einer Freilassung gegen Kaution und verbrachte den größten Teil des Sommers im Gefängnis von Honolulu, während sie auf ihr Verfahren wartete.11 Bigelow versuchte währenddessen, die Frage nach der Richtigkeit von Atomtests zum zentralen Thema des Prozesses zu machen – er erklärte, sie seien mit den medizinischen Experimenten der Nazis vergleichbar und beinhalteten »Kontaminierung ohne Risikodarstellung« –, während die Anklage anführte, Bigelows Verstoß gegen die neu geschaffene Anordnung der AEC brächte »irreparablen Schaden« für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und der »freien Welt«. In seiner Urteilsbegründung stellte der hawaiianische Richter Jon Wiig das Recht auf zivilen Ungehorsam grundsätzlich in Frage. Er zitierte ein Urteil des Surpreme Court der USA von 1911 und sagte: »Wenn eine Partei sich zum Richter über die Gültigkeit von verfügten Anordnungen machen und sie durch diesen Akt des Ungehorsams außer Kraft setzen kann, dann werden die Gerichte machtlos.« Er verurteilte die Crew zu einer Haftstrafe von 60 Tagen, die für ein Jahr zur Bewährung ausgesetzt wurde – und gegen die umgehend verstoßen wurde, weil die Crew ankündigte, die Fahrt ins Testgebiet fortsetzen zu wollen. Die lokalen Medien verurteilten die Mannschaft derweil als kommunistische Marionetten, während die Festlandzeitungen die ganze Sache weitgehend ignorierten.12

Bigelows Bemühungen müssen außerhalb von Hawaii in den Medien kaum Beachtung gefunden haben, unter Quäkern und Pazifisten jedenfalls waren sie landesweit Legende. Protestler bildeten während des Prozesses gegen ihn in verschiedenen Städten vor Bundes- und AEC-Gebäuden Demonstrationsketten und trugen Plakate mit Aufschriften wie »Keine Kontaminierung ohne Risikodarstellung« oder »Befreit die Golden Rule«. Einen Mann veranlasste es zu dem Versuch, der Golden Rule nachzueifern und die Reise fortzusetzen, die sie abbrechen musste. Earle Reynolds war ein biologischer Anthropologe aus Mississippi und hatte nach dem Krieg für die AEC gearbeitet. Vier Jahre lang hatte er in Hiroshima und Nagasaki die Auswirkungen von Strahlung auf das menschliche Wachstum untersucht. In dieser Zeit vor Ort hatte er auch die Rechtfertigung des amerikanischen Militärs für den Einsatz von Atomwaffen gegen Japan hinterfragt. Er kam zu dem Schluss, dass keine der beiden Bomben aus rein militärischen Gründen – und schon gar nicht aus moralischen – zu rechtfertigen war und speziell die Bombe auf Nagasaki ein kaltblütiger und opportunistischer Akt des Militärs war, um eine weitere Bombe »im Feld« zu testen, ehe der Krieg zu Ende war. Als er das amerikanische Testprogramm näher betrachtete, stellte Reynolds zu seinem Entsetzen fest, dass sich die US-Regierung geweigert hatte, den Internationalen Gerichtshof darüber entscheiden zu lassen, ob die Nutzung der Marshall-Inseln als Atomtestgelände legal sei. Je mehr er über die Angelegenheit las, erinnerte er sich, »desto unangenehmer erstaunt war ich, was meine Regierung da auch in meinem Namen tat«.13

Reynolds und seine Familie hatten 1958 gerade eine dreijährige Weltreise mit ihrer Yacht Phoenix beendet und kamen in Hawaii an, als der Prozess gegen die Crew der Golden Rule beginnen sollte. Reynolds hatte sich nie als Aktivist betrachtet, schon gar nicht als jemanden, der Gesetze übertreten würde, um seine Meinung kundzutun, aber ein Zusammentreffen mit Bigelow und seiner Mannschaft beeindruckte ihn zutiefst. Er stellte fest, dass den Quäkern eine über allen Zweifeln erhabene Ehrbarkeit und Integrität zu eigen war und dass sie sich vorbehaltlos einsetzten. »Dieses Land könnte noch viele Männer wie sie gebrauchen«, hielt er in seinen Aufzeichnungen fest. Nachdem nun klar war, dass die Golden Rule die Fahrt zu den Marshall-Inseln nicht fortsetzen durfte, beschlossen Reynolds und seine Familie, an ihrer Stelle zu fahren. Sie gaben offiziell Hiroshima als Ziel an und schafften es, in das Testgebiet bei dem Bikini-Atoll einzudringen, ehe sie von der amerikanischen Küstenwache verhaftet und zurück nach Hawaii geflogen wurden. Die Verhaftung verletzte eine Reihe US-amerikanischer und internationaler Gesetze – es gab keinen Haftbefehl, keine Aufklärung über den Grund der Verhaftung, es war illegale Verbringung auf ein ausländisches Territorium.14 Reynolds war wie Bigelow und andere Angehörige der Friedensbewegung so naiv zu glauben oder mindestens zu hoffen, dass diese juristischen Formalien zusammen mit der moralischen Überlegenheit seiner Position nicht nur ausreichen würden, um ihn von jeder Schuld freizusprechen, sondern ihm auch ermöglichen würden, dem Atomwaffentestprogramm einen Schlag zu versetzen. Er war daher gründlich schockiert, dass seine Regierung bereit war, eine Reihe von rechtlich dubiosen Ad-hoc-Maßnahmen zu ergreifen, um seinen Protest zu verhindern.

Die CNVA organisierte 1960 die Polaris-Aktion, eine über mehrere Monate verteilte Serie von Protesten an den Docks in Connecticut, wo die mit Atomwaffen bestückten Polaris-U-Boote gebaut wurden. Die Form der gewaltfreien direkten Aktion bei der Polaris-Kampagne ähnelte eindeutig den Taktiken, die Greenpeace über eine Dekade später übernehmen sollte. Die Aktivisten – viele waren junge Männer, die sich selbst als Beatniks betrachteten – versuchten wiederholt, in die U-Boot-Docks zu gelangen. Sie stellten sich auch mit Ruderbooten, die Friedensbotschaften trugen, in den Weg von Frachtschiffen. Mehrmals versuchten Aktivisten, an Bord der U-Boote zu gelangen, und zwei von ihnen schafften es, im November durch das eisige Wasser zu schwimmen und auf die Leitseile eines U-Boots zu klettern. Dieses Ereignis brachte den Aktivisten ein erhebliches Medienecho ein – aber auch eine Verurteilung zu strammen 19 Monaten Haft. Derart innovative und auf direkte Aktionen ausgerichtete Taktiken wurden von einer Aufklärungskampagne begleitet, die darauf abzielte, die Einheimischen davon abzubringen, bei der Produktion der U-Boote mitzuwirken.15

Die Polaris-Aktion und die Fahrten der Golden Rule und der Phoenix kann man als direkte Vorläufer von Greenpeace betrachten. Ihre Taktiken inspirierten die erste Greenpeace-Kampagne, und ihre Werte, mit der Betonung von Gewaltfreiheit und »Zeugnis ablegen«, sollten auch die Kernwerte von Greenpeace werden. Die CNVA-Proteste waren sowohl der Kulminationspunkt mehrerer Jahrzehnte Entwicklung in der Friedensbewegung als auch ein Sprungbrett für die gesellschaftlichen Bewegungen der 1960er. Sie vermengten in unterschiedlichen Anteilen Quäker-Pazifismus, marxistische Kapitalismuskritik, anarchistische Vorbehalte gegenüber einer Zentralgewalt, aufkommende gegenkulturelle Sensibilität und Gandhi’schen zivilen Ungehorsam zu einer starken Kritik am Militarismus des Kalten Kriegs und einem beeindruckenden Repertoire an Proteststrategien. Viele dieser Ideen und Taktiken wurden später in verschiedenen Formen von Antikriegs-, Bürgerrechts- und Umweltschutzgruppen übernommen, und häufig waren es Leute wie Irving Stowe, die sie an eine neue Generation von Protestlern weitergaben.

Die Stowes gehörten zu einem kleinen, aber signifikanten Teil der amerikanischen Bevölkerung, der den Weg, den ihre Nation einschlug, in Frage stellte und ein Umlenken erreichen wollte. Doch 1960 waren sie dann so sehr bestürzt über das militärische Programm ihres Landes, das die Welt ihrer Meinung nach unweigerlich in einen Atomkrieg stürzen würde, dass sie begannen darüber nachzudenken, die Vereinigten Staaten zu verlassen. Den letzten Tropfen bildete 1959 die Entdeckung von radiaktivem Strontium 90 in Muttermilch. Ihr folgten zahllose Beiträge in den Massenmedien, die sich mit Gesundheitsschäden durch radioaktiven Fallout sowie wissenschaftlichen Vorhersagen über die drastische Zunahme von Leukämie und genetischen Missbildungen beschäftigten. Populäre Filme und Romane, etwa On the Beach von Neville Shute (1957) oder The Last Day von Helen Clarkson (1959) sowie Stanley Kubricks Dr. Strangelove (1964), fachten diese Ängste weiter an und trugen zur Verbreitung einer immer düsteren Stimmung bei, in der der Albtraum eines nuklearen Weltkriegs immer unausweichlicher erschien. Dies galt besonders für Menschen wie die Stowes, die empfänglich für solche pessimistischen Prophezeiungen waren.16

Kein Wunder, dass solche Ängste die Menschen dazu brachten, mögliche Überlebensstrategien nach der Atomkatastrophe auszuloten. Eine Überlegung, die einige Anhänger fand, war, dass die Bewohner der Südhalbkugel eine größere Chance hätten als die im Norden. 1961 waren die Stowes schließlich überzeugt, dass die Vereinigten Staaten unweigerlich in einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion verwickelt werden würden. Diese echte Angst und die Überzeugung, dass Kinder, die in den Vereinigten Staaten aufwuchsen, aufgrund radioaktiven Fallouts ein höheres Risiko für tödliche Krankheiten hätten, brachten Irving und Dorothy dazu, ernsthaft ans Auswandern zu denken. Ihre neue Heimat sollte Neuseeland werden. Viele Amerikaner dürften solch eine drastische Maßnahme als unverständlich, wenn nicht gar als feige und unpatriotisch betrachtet haben. Allen außerhalb der Gemeinschaft der radikalen Pazifisten müssen die Stowes bestenfalls als halsstarrige Idealisten, schlimmstenfalls als ewige Außenseiter erschienen sein. Es dauerte eine Weile, bis die Stowes die Genehmigung der neuseeländischen Regierung bekamen – anscheinend war Dorothys Mitgliedschaft in der Women’s International League for Peace and Freedom ein rotes Tuch für die Einwanderungsbehörde –, aber dann konnten sie sich 1961 in Auckland niederlassen, das für fünf Jahre ihre Heimat wurde. Weder Dorothy noch Irving sollten je wieder in den USA leben.17

Irving fand schon bald Arbeit an der Juristischen Fakultät der University of Auckland, und Dorothy bekam eine Stelle als Sozialarbeiterin. Genau wie in Rhode Island widmeten sie einen großen Teil ihrer Freizeit Quäkertreffen und verschiedenen Protestaktionen. Irving schrieb weiterhin Briefe und beteiligte sich am Organisieren von Friedensmärschen und Menschenketten vor dem US-Konsulat. Außerdem schaltete er Zeitungsanzeigen, in denen das zunehmende Engagement der Amerikaner im Vietnamkrieg verurteilt wurde – ein Thema, das seine Zeit immer mehr beanspruchte und das Leben seiner Familie immer stärker diktierte.18

Im Mai 1965 beschloss die neuseeländische Regierung auf Druck der USA, ihre Verpflichtungen aus dem Sicherheitsabkommen zwischen Australien, Neuseeland und den USA zu erfüllen und Truppen nach Vietnam zu schicken. Die Stowes reagierten mit Empörung. Die langen Krakenarme des US-Militarismus reichten schon wieder in ihr Leben, führten zu einer moralisch unerträglichen Situation und zwangen sie wiederum, die Familie aus den Wurzeln zu reißen und ein anderes Zuhause zu suchen. Australien war mittlerweile auch am Vietnamkrieg beteiligt und kam nicht in Frage. Ebenso wenig Südafrika mit seiner Apartheid. Und Europa war potenzieller Schauplatz eines Atomkriegs. Die einzige realistische Option war Kanada. Irving war bei einem seiner Flüge zwischen den USA und Neuseeland in Vancouver zwischengelandet und von der Stadt mit der spektakulären Lage zwischen Pazifik und den Bergen von British Columbia (BC) beeindruckt gewesen. Also kehrten die Stowes 1966 Neuseeland den Rücken und ließen sich in einer Stadt nieder, die nicht einmal 50 Kilometer von der Grenze zu den USA entfernt war.19

Mitte der 1960er war Vancouver noch weit von der heutigen kosmopolitischen Pazifik-Metropole entfernt. Ihre Größe, das britische Erbe und das gemäßigte Klima machten die Stadt Auckland ziemlich ähnlich. Trotz des offenkundigen Provinzialismus war aber schon das erste Grollen von Rebellion und Unzufriedenheit zu spüren, das Vancouver wenige Jahre später zur Hauptstadt der Gegenkultur in Kanada werden ließ. Vancouver war der Ort, an dem die Stowes, insbesondere Irving, dann ihrem aktivistischen Drang uneingeschränkt nachgingen. Sie bezogen ein Haus in der Nähe der University of British Columbia, und Dorothy fand auch hier eine Stelle als Sozialarbeiterin. Irving hingegen hatte sich als »Estate Planner« registrieren lassen. Seine juristische Karriere, wenn er diese je in Kanada fortzusetzen gedachte, blieb bald auf der Strecke. Stattdessen verschrieb er sich in Vollzeit dem Protest und dem Aktivismus.20

Wie ihr US-amerikanisches Gegenstück konzentrierte sich die kanadische Friedensbewegung Mitte der 1960er hauptsächlich auf den Vietnamkrieg. Kanada war offiziell zwar nicht am Krieg beteiligt, aber seine Regierung kooperierte eng mit dem Pentagon, und kanadische Unternehmen und Universitäten profitierten recht ordentlich dank ihrer Rolle bei der Produktion von Waffen inklusive Napalm und Agent Orange. Die Ankunft Tausender amerikanischer Kriegsdienstverweigerer ab Mitte der 1960er Jahre verschaffte der kanadischen Antikriegsbewegung zusätzlichen Auftrieb und schürte die antiamerikanischen Vorurteile, die in Kanada schon lange latent vorhanden waren.21

Kaum in Vancouver angekommen, schlossen sich die Stowes der örtlichen Bewegung gegen den Vietnamkrieg an. Sie blockierten das US-Konsulat und schrieben zahllose Briefe an die kanadische Regierung und an Zeitungen, in denen sie den US-Militarismus anprangerten und die Kanadier zum Widerstand gegen den Krieg aufriefen. Und sie wurden Mitglieder des Committee to Aid American War Objectors, einer Gruppe von Exilamerikanern, die neu eingetroffenen Kriegsdienstverweigerern half, sich in Vancouver einzuleben. Zu den Gründern dieser Gruppe gehörten Jim und Marie Bohlen, ein Paar aus Pennsylvania, mit dem sich die Stowes rasch anfreundeten und mit dem zusammen sie die Grundlagen für jene Aktivistenkoalition legen sollten, die schließlich zu Greenpeace wurde.22

Obwohl er sich vielen Quäkeridealen verpflichtet fühlte, wurde Jim Bohlen nie Mitglied der Gesellschaft der Freunde. Ironischerweise war der Zug des Quäkertums, den er am wenigsten mochte, just jener, der Irving Stowe am stärksten anzog. »Ich war bei mehreren ihrer Treffen«, berichtete Bohlen, »aber ich war alles andere als beeindruckt, weil ich dort auf viele Leute traf, die nur gekommen waren, um sich reden zu hören. Gehört zu werden war ihnen eine Art egoistisches Bedürfnis. Ein Quäkertreffen läuft folgendermaßen ab: Man kommt in einen Raum und setzt sich hin. Keiner sagt etwas oder liest etwas vor, bis sich dann jemand veranlasst sieht, zu sprechen. Und das, was man zu hören bekommt, ist teilweise ziemlich profan.«23 Bohlen war weder begierig, Reden zu schwingen, noch geduldig genug, um Schwafeleien und Banalitäten anderer Leute zu ertragen. Trotzdem bescheinigte er den Quäkern einen unerschütterlichen Geist und große emotionale Stärke und Ausdauer. Bohlens Einstellungen zum Quäkertum ähnelten jenen zu seinen kommunistischen Freunden in seiner Jugend in New York City: Er bewunderte sie und suchte ihre Gesellschaft, machte aber nie den letzten Schritt, Mitglied zu werden. Bohlen war tief innerlich Skeptiker und hütete sich, sich zu eng an eine bestimmte Gruppierung oder Ideologie zu binden oder gar von dem unerklärlichen oder irrationalen Verhalten anstecken zu lassen, das Leidenschaft für eine Sache manchmal mit sich bringt. Dies war jedoch ein Charakterzug, den er von Zeit zu Zeit ausschalten konnte, häufig auf eine Weise, die ihn selbst überraschte.

1926 geboren, verbrachte Bohlen den größten Teil seiner Kindheit abwechselnd in der Bronx und in den ungarischen und jüdischen Vierteln von Greenwich Village. Da die beruflichen Tätigkeiten seiner Eltern meist kein Zusammenleben erlaubten, wurde er überwiegend von seinen Großeltern und anderen Verwandten aufgezogen. Seine Teenagerzeit war noch unstetiger: Er wohnte an verschiedenen Orten an der Ostküste, zog aus der Bronx auf die Farm seiner Großeltern in New Jersey, lebte dann bei seinem Vater in Philadelphia, bei seiner Mutter in Miami Beach und schließlich ab 1940, nachdem es seine Eltern endlich geschafft hatten, einen gemeinsamen Wohnort zu finden, auf einer Farm in Bucks County, Pennsylvania. Nach dem Highschool-Abschluss begann er 1943 an der New York University Luftfahrttechnik zu studieren.24

Als Bohlen 1944 achtzehn wurde, kam er seiner zu erwartenden Einberufung und einem möglichen Fronteinsatz zuvor, indem er sich freiwillig zur Marine meldete. Den Rest des Kriegs verbrachte er vorrangig in Wisconsin und Kalifornien, wo er zum Funktechniker ausgebildet wurde, ehe er wenige Wochen vor Kriegsende auf ein Bergungsschiff im Pazifik abkommandiert wurde. Als die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, befand er sich mitten auf dem Pazifik. Im Gegensatz zu Irving Stowe erfüllte ihn die Nachricht mit Freude darüber, dass die Japaner vor der Kapitulation standen und das Leben von einer Million oder mehr amerikanischer Soldaten, die bei einer Invasion Japans gestorben wären, dadurch gerettet sei. Erst später kam Bohlen zu dem Schluss, dass es sich bei der Zahl um Militärpropaganda gehandelt hatte, die dazu dienen sollte, dem Einsatz von Atomwaffen größere Akzeptanz zu verschaffen. Doch zunächst entsprachen seine Gefühle denen des Durchschnittsamerikaners.25

Nach dem Krieg heiratete Bohlen Ann Arndt, eine Kunststudentin aus Allentown, Pennsylvania, und kehrte an die New York University zurück, um sein Ingenieursstudium zu beenden. Nach dem Abschluss 1949 fand er sich auf einem Arbeitsmarkt wieder, auf dem es von Ingenieuren nur so wimmelte. Anfangs musste er in Manhattan Taxi fahren, ehe sein Vater ihm eine Stelle als Zeichner in der Firma besorgen konnte, in der er als leitender Ingenieur arbeitete. Bohlen war unzufrieden mit der Stelle und arbeitete nur, bis er genug Geld beisammen hatte, um 1950 mit Ann für ein Jahr nach Europa fahren zu können.

Bohlens Werdegang spiegelt wider, wie eng Karrieren in wissenschaftlicher Forschung und Technik mit dem heranwachsenden militärisch-industriellen Komplex der USA verflochten waren. Die Nachfrage nach Forschungsingenieuren schoss in die Höhe, sobald die Amerikaner 1950 in den Koreakrieg verwickelt wurden. Bohlen trat eine Stelle in einer Firma an, die ein neues Material – faserverstärkten Kunststoff (FVK) – produzierte, und 1954 war er dann Vertriebsingenieur für Sonderanfertigungen bei Lumm Laminates auf Long Island, einem Unternehmen, das überwiegend von Militäraufträgen lebte. Ein anderer Angestellter von Lumm war der Ingenieur und futuristische Visionär Buckminster Fuller, mit dem sich Bohlen anfreundete. Zusammen mit Fuller arbeitete Bohlen an der Entwicklung von geodätischen FVK-Kuppeln, mit denen US-Radaranlagen in der Arktis geschützt werden sollten. Das Design faszinierte Bohlen so sehr, dass er Jahre später sein eigenes Haus auf Denman Island, British Columbia, in Form zweier großer geodätischer Kuppeln entwarf.26

Während der 1950er Jahre verlief Bohlens Leben eher in typischen Mittelschichtbahnen: Studium, Heirat, zwei Kinder, eine Firmenanstellung, die er dem Einfluss seines Vaters zu verdanken hatte, ein Versuch, sich selbstständig zu machen. Trotzdem hinterfragte Bohlen in dieser Zeit auch die Werte, die diesem Lebensstil zugrunde lagen und ihn nötigten, nach den Erfolgsinsignien der Mittelschicht zu streben. Laut Bohlen waren es kurioserweise aber nicht das nukleare Wettrüsten oder die McCarthy-Ära, die ihn zum Nachdenken brachten, sondern die Bücher eines Außenseiters, des amerikanischen Schriftstellers Henry Miller. Bohlen hatte Millers berüchtigten Roman Wendekreis des Krebses, der in den USA wegen seines eindeutig sexuellen Inhalts verboten war, bei einem Parisaufenthalt in den 1950er Jahren entdeckt. Er schmuggelte ein Exemplar ins Land, indem er es passenderweise in seiner schmutzigen Wäsche versteckte. Abgesehen von dem Reiz, einen verbotenen Roman zu lesen, beeindruckte Millers »nachdrückliche Verurteilung der Mittelschichtwerte« Bohlen zutiefst. Millers These war nicht nur, so sah es Bohlen, dass die Mittelschichtwerte eine gleichgültige, selbstzufriedene und unkritische Gesellschaft schufen, sondern auch, dass der hemmungslose Materialismus, den sie propagierten, »das Zerbrechen der menschlichen Gemeinschaft und schließlich die Auslöschung der Gesellschaft zur Folge hätte, wenn man ihn wuchern ließe«. Bohlen las alle Bücher von Miller, derer er habhaft werden konnte, und wurde, wie er es formulierte, »zum fanatischen und inbrünstigen Miller-Jünger«.27

Bohlen verstand sich zwar nicht als Beatnik, aber sein intellektueller Pfad war dem, den Allen Ginsberg und Jack Kerouac Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre beschritten hatten, nicht unähnlich. Wie die Beatniks empfand Bohlen es als immer sinnloser, dem amerikanischen Traum von Mittelschichtwohlstand und Sicherheit zu folgen. Verschärft wurde sein moralisches Unbehagen, weil er tief in die wachsende amerikanische militärnahe Industrie verstrickt war. Seine Suche nach mehr Lebenssinn führte Bohlen zum Zen-Buddhismus des japanischen Philosophen und Mönchs Daisetz Teitaro Suzuki (1870–1966). Zen, das unter den frühen Beatniks verbreitet war und Schriftsteller wie Ginsberg und Gary Snyder stark beeinflusste, lehrt, es sei kontraproduktiv, trage zum Zerfall sozialer Ordnung bei und führe zu spiritueller Leere, wenn man sein Leben dem Streben nach materiellem Wohlstand unterordnet. Bohlen machte sich auch Gandhi und Satyagraha zu eigen, und Ende der 1950er Jahre führte er allmählich eine Art Doppelleben: Sein Lebensstil entsprach weiterhin ganz dem der Mittelschicht, aber seine gesamte freie Zeit widmete er dem Ziel, die antimaterialistischen und antimilitaristischen Philosophien von Miller, Suzuki und Gandhi in einen »an Handeln orientierten Lebensstil« zu integrieren.28

Seine Suche nach alternativen Werten führte Bohlen auch zu den Quäkern in seiner Heimatgemeinde in Pennsylvania. Während er sich, wie die Stowes, mit den eher religiösen Aspekten des Quäkertums nicht identifizieren konnte, sagten ihm das Konzept der gewaltfreien Aktion und die antimilitaristischen und antimaterialistischen Botschaften sehr zu. Er konnte die Quäker daher bewundern, von ihnen lernen und sich sogar an ihren Protesten beteiligen, ohne sich ihren Ritualen und ihrem Glauben ganz verschreiben zu müssen.29

Während einer seiner Zeiten ohne Beschäftigung nahm Bohlen freiwillig an einem Workshop zur Zivilverteidigung in Florida teil. Ein Thema dabei waren verschiedene Strategien zum Selbstschutz im Falle eines nuklearen Angriffs. Nachdem man ihnen eine schreckliche Diashow mit Bildern von einigen Hiroshima- und Nagasaki-Opfern gezeigt hatte, erklärte man Bohlen und den anderen Teilnehmern, dass das einfache »Hinhocken und Abdecken«, das Regierung und Militär während der 1950er Jahre propagiert hatten, laut Expertenmeinung immer noch die beste zivile Verteidigungsmöglichkeit bei der Explosion einer Wasserstoffbombe wäre. Alles, was die Menschen tun müssten, so versprachen die Experten, sei, eine Grube auszuheben, hineinzusteigen und sich mit einer Tür abzudecken. Bohlen machte es wütend, dass die US-Regierung weiterhin den Atomkrieg plante, während sie die Bevölkerung glauben machte, sie könnte sich dann mit derart absurd unzulänglichen Mitteln davor schützen. Die Erfahrungen beim Workshop zerstreuten alle Vorbehalte, die er vielleicht noch gehabt hatte, zum aktiven Atomkriegsgegner zu werden. Er brach nach der Hälfte der Zeit ab, flog zurück nach Pennsylvania, gab das Geld zurück, das er für die Teilnahme bekommen hatte, und war »entschlossen … bei Massendemonstrationen aktiv gegen Atomwaffen einzutreten, bis diese vom Erdboden verschwunden wären«.30

Wie bei den Stowes war die Entdeckung von Spuren des radioaktiven Isotops Strontium 90 überall in Nordamerika in der Muttermilch auch für Bohlens Radikalisierung von Bedeutung. Dies war auch ein Keim für die Umweltbewegung von heute. Man kann sich kaum ein machtvolleres Symbol für Verunreinigung vorstellen als die Vorstellung, unschuldige, hilflose Kinder seien durch die heimtückische Kontaminierung ihrer Muttermilch bedroht. Wissenschaftler wie Barry Commoner begannen, die möglichen Gesundheitsschäden durch Atomwaffentests zu untersuchen, die zuvor von der Atomenergiekommission heruntergespielt beziehungsweise totgeschwiegen worden waren. Neben Rahel Carsons Untersuchung zu den Schäden durch den reichlichen und undifferenzierten Gebrauch moderner Pestizide war die Gefahr, dass durch den radioaktiven Fallout Leukämie und langfristige genetische Schädigungen hervorgerufen werden könnten, der Hauptgrund für das Aufkommen der öffentlichen Sorge hinsichtlich der Umweltkontaminierung.31

Sehr besorgt zu sein angesichts verstärkter Nuklearausbreitung und toxischer Verschmutzung war eine Sache, aber Bohlen war in den frühen 1960er Jahren noch nicht bereit, die tief verwurzelten bürgerlichen Werte, mit denen er aufgewachsen war, ganz über Bord zu werfen. Erneut musste er jedoch feststellen, dass er keine Arbeit finden konnte, mit der er seiner Familie den gewohnten Lebensstil bieten konnte, ohne tief in den militärisch-industriellen Komplex verstrickt zu werden. Zögernd schob er seine Zweifel beiseite und nahm eine Ingenieursstelle bei der Hercules Powder Company an, die einen lukrativen Regierungsauftrag für die Entwicklung und Produktion von Motoren für Lenkwaffen hatte. Der einzige Trost für Bohlen war, dass es ihm gelang, einer kleinen Gruppe von Ingenieuren und Technikern zugeteilt zu werden, die die nichtmilitärische Verwendung der Technologie erkunden sollte. Trotzdem wurde es immer schwieriger, die Kluft zwischen Karriere und Verantwortung für die Familie einerseits und seinen zunehmend gegen das Establishment gerichteten Werten andererseits zu überbrücken. An den Wochenenden nahm er an Antikriegsveranstaltungen der Quäker und anderer Friedensgruppen teil, unter der Woche arbeitete er für eine Firma, deren Haupteinnahmequelle die Zulieferung für die Atomwaffenindustrie war. Ein größeres Opfer war seine Ehe, die nicht zuletzt an diesem Widerspruch und den daraus resultierenden Frustrationen zerbrach.32

Seine zweite Frau Marie Nonnast, eine bekannte Illustratorin, traf Bohlen bei einem von den Quäkern organisierten Protest gegen Atomwaffentests vor dem Rathaus von Philadelphia. Maries erste Ehe, aus der sie einen Sohn im Teenageralter hatte, war gleichfalls kurz zuvor zu Ende gegangen. Sie stellten fest, dass sie verwandten Wertvorstellungen folgten, widmeten immer mehr Zeit Protestaktionen und versuchten, ein Leben mit weniger materialistischen Mittel-schichtinsignien zu führen. Sie waren entschieden gegen die amerikanische Beteiligung am Vietnamkrieg und nahmen an Protestaktionen in Philadelphia, New York und Washington D. C. teil. Mit Hochstimmung erfüllte sie zum einen, dass sie »an den Bemühungen gegen den Krieg mitwirkten«, und zum anderen, dass sie sich »unter Seelenverwandten befanden«.33 Als sich das US-Engagement in Vietnam 1965 verstärkte, legte die Hercules Powder Company ihre zivile Forschung auf Eis und beauftragte alle Mitarbeiter, sich auf die Entwicklung einer tragbaren Antipersonenrakete zu konzentrieren. Deren Sprengköpfe sollten mit kleinen Rasierklingenstücken gefüllt werden, die tief in das Fleisch von Menschen eindringen und es zerfetzen sollten, sodass Behandlung und Genesung nahezu unmöglich wurden. Das war mehr, als Bohlen schlucken konnte. Er verließ die Firma Mitte 1965.34

Maries Sohn Paul schloss 1966 die Highschool ab und konnte eingezogen werden. Er beschloss, im Falle seiner Einberufung nach Kanada zu gehen. Zu den Vereinbarungen zwischen den USA und Kanada gehört, dass Personen, die in das andere Land ziehen, dort nicht für Vergehen belangt werden können, die sie in ihrem Ursprungsland begangen haben, solange diese Verstöße nicht in beiden Ländern als Verbrechen gelten. Da Kanada keine Wehrpflicht kannte, lieferte es keine legalen Einwanderer aus den USA aus, die sich der Einberufung entzogen hatten. Tatsächlich betrachtete Kanada Wehrdienstgegner als politische Flüchtlinge, die mit einer Verurteilung rechnen mussten, wenn sie an die USA ausgeliefert würden. Trotzdem war das eine schwere Entscheidung für einen jungen Mann. Neben der moralischen Schande, die der Wehrdienstverweigerung anhaftete, mussten die Verweigerer auch ein ganz neues Leben in Kanada anfangen – ohne große Hoffnung, je wieder zurückkehren oder überhaupt die Familie besuchen zu können.35

Die Bohlens zogen 1967 nach Vancouver, wo Jim auf dem Campus der University of British Columbia (UBC) eine Stelle in einem staatlich finanzierten Labor für Forstprodukte fand. Wie Irving und Dorothy Stowe beteiligten sich Jim und Marie sofort an den Antikriegsaktivitäten vor Ort. Was ihnen mit als Erstes auffiel, waren die vielen ruhelosen und häufig ziellosen jungen Amerikaner, die in der Stadt herumhingen. Vancouver war die Hauptanlaufstelle für Wehrdienstverweigerer von der Westküste, aber sie trafen hier bei ihrer Ankunft kaum auf Unterstützung. Zusammen mit anderen Exilamerikanern, die sie an der UBC kennengelernt hatten, gründeten die Bohlens das Committee to Aid War Objectors. Die Organisation schuf ein Netzwerk von gleichgesinnten Kontaktleuten, bei denen neu in Kanada angekommene Wehrdienstverweigerer unterkommen konnten, und bot verschiedene andere Dienste, etwa Job- und Wohnungsvermittlung, Briefkästen, Zeitschriften- und Zeitungsabonnements oder Beratungen. In den folgenden Jahren beherbergten die Bohlens ständig neu angekommene Wehrdienstgegner.36

Die meisten Kanadier lehnten die US-amerikanische Beteiligung am Vietnamkrieg ab, und es herrschte die Ansicht vor, dass sich Kanada keinesfalls direkt einmischen sollte. Vielen Kanadiern war jedoch nicht überhaupt bewusst, dass Unternehmen und Arbeiter ihres Landes Waffen und Ausrüstung produzierten, die für das amerikanische Militär lebenswichtig waren. Den Mitgliedern der kanadischen Friedensbewegung war es deshalb wichtig, nicht nur gegen den Krieg zu protestieren, sondern auch die Komplizenschaft Kanadas dabei aufzudecken. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten die beiden Regierungen bei der Verteidigung eng zusammengearbeitet und 1947 das Joint Board of Defense sowie in den 1950er Jahren ein integriertes nordamerikanisches Luftverteidigungssystem geschaffen. 1959 unterzeichneten die beiden Staaten eine Vereinbarung, dass beide Staaten die jeweils gleiche Summe an Verteidigungsmitteln im Partnerland ausgeben sollten und die USA auf die Doktrin verzichteten, Militäraufträge ausschließlich an US-Firmen zu vergeben. Die Folge war, dass kanadische Militärunternehmen vom Krieg gewaltig profitierten – die US-Verteidigungsausgaben in Kanada stiegen von 25 Millionen Dollar 1964 auf 317 Millionen US-Dollar 1966.37

An den Universitäten entdeckten die kanadischen Studenten, dass landesweit rund 40 Hochschulen Fördermittel für Forschungen erhielten, die direkt Anwendung bei der US-Kriegsführung in Vietnam fanden. Ab 1966 explodierte in Kanada die Zahl der Demonstrationen gegen den Krieg. Oft wurden sie von Studentengruppen initiiert, die von amerikanischen Wehrdienstverweigerern angeführt wurden, die in Kanada studierten.38 An der UBC organisierte eine zusammengewürfelte Gruppe alter und neuer Linker, die sich Internationalists nannten, eine Reihe von Antikriegsmärschen in der Innenstadt von Vancouver. End the Arm’s Race, eine breite ökumenische Gruppe, unterstützte gleichfalls Demonstrationen gegen den Krieg in der Stadt. Jim und Marie beteiligten sich gleich nach ihrer Ankunft 1967 in Vancouver an einem dieser Märsche. Sie hofften, eine Quäkergruppe zu finden, mit der sie regelmäßig an gewaltfreien Protestaktionen teilnehmen konnten. Etwa in der Mitte der Marschierenden entdeckten sie eine Quäkerfahne – getragen wurde sie von Irving und Dorothy Stowe. Die Bohlens gingen hin und stellten sich vor: Der Nukleus der Greenpeace-Koalition war geboren.39

Irving und Dorothy Stowe und auch Jim und Marie Bohlen waren ebenso Produkte des Kalten Kriegs wie Joseph McCarthy, Richard Nixon und deren Anhänger vom rechten politischen Flügel in Amerika. Die Menschen auf beiden Seiten des ideologischen Grabens waren durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts gegangen und von ständiger Angst vor einem Atomkrieg geprägt. Aus verschiedenen Gründen – der Art ihrer Erziehung, ihrem sozialen Umfeld, dem Ort ihrer Herkunft und einer Reihe von zweifellos komplexen psychischen Faktoren – lag der Schwerpunkt für die Stowes und Bohlens bei einem Weltbild, das das Heil in internationaler Zusammenarbeit und gegenseitigem Verständnis sah und weniger in militärischer Stärke und strategischen Bündnissen. Was viele Amerikaner als Stärken ihrer Nation betrachteten – ihr unübertroffenes militärisches Potential, ihre reichen und mächtigen Unternehmen und ihr bedingungsloses Konsumdenken –, war ihrer Meinung nach genau das, was international den Kalten Krieg und bei sich zu Hause eine zum Sterben verurteilte Kultur förderte. Für die Bohlens und die Stowes versprach ein radikaler Pazifismus am ehesten die Entwicklung einer friedlichen und gerechten Gesellschaft mit einer sinnvollen und lebendigen Kultur. Der Quäkerbegriff von »Zeugnis ablegen« und Gandhis Satyagraha gaben radikalen Pazifisten eine Reihe von Möglichkeiten an die Hand, ihrer Opposition zu den herrschenden Machtstrukturen in einer Weise Ausdruck zu verleihen, die in Einklang mit ihrem Glauben an die Macht der gewaltfreien Aktion stand. Daher überrascht es nicht, dass die Organisation, die die Stowes und Bohlens in Vancouver gründeten, zutiefst von den radikalpazifistischen Werten durchdrungen war, die sie aus der amerikanischen Friedensbewegung mitgebracht hatten – Werte, die bis zum heutigen Tag zum Kern der Greenpeace-Philosophie gehören.

2. KAPITEL

Die Feinde der Anarchie

Um die Elternschaft von Greenpeace wird seit Langem gestritten. Altgediente Greenpeacer scherzen gern, es sei egal, welche schmuddelige Fischerkneipe zwischen Anchorage in Alaska und San Francisco in Kalifornien man auch betreten mag, immer würde man einen alten Knaben finden, der behauptet, Greenpeace-Gründer zu sein. Heute ist Greenpeace ganz eindeutig eine Organisation mit allem Für und Wider, was damit einhergeht. Doch für die Anfänge gilt das nicht. In den ersten Jahren war Greenpeace ein lockeres Netzwerk von Aktivisten und Journalisten, eher eine Sozialbewegung denn eine Organisation. Deshalb sollten die Ursprünge besser als Prozess verstanden werden und nicht als singuläre »Geburt« oder »Gründung«. Und damit entpuppt sich der Scherz über den Greenpeace-Gründer in jeder Westküstenkneipe nur als halber. An der ersten Greenpeace-Kampagne – die vor der offiziellen Existenz der Organisation stattfand – waren Dutzende, wenn nicht Hunderte von Leuten beteiligt. Manche, wie Irving Stowe und Jim Bohlen, arbeiteten ein Jahr lang unermüdlich für die Kampagne, andere haben vielleicht bloß eine Unterstützergruppe, ein Empfangskomitee in einem Fischerdorf in Alaska oder ein Übernachtungslager an der Küste von British Columbia organisiert. Angesichts der fließenden Anfänge und der späteren Berühmtheit der Organisation ist es vielleicht verständlich, warum so viele Menschen der »Gründer«-Versuchung erliegen. Wo liegt schließlich die Grenze zwischen einem »Gründer« und einem bloß marginalen Helfershelfer?

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