Grenzen setzen, Grenzen achten - Anselm Grün - E-Book

Grenzen setzen, Grenzen achten E-Book

Anselm Grün

0,0

Beschreibung

Neinsagen ist nicht leicht. Oft haben wir Angst vor den Konsequenzen oder ein schlechtes Gewissen. Doch wer nicht Nein sagen kann, wer immer allen Erwartungen nachkommen will, der wird seine Grenzen bald schmerzhaft spüren und vielleicht sogar krank werden. Nur wer seine eigene Mitte hat, kann über seine Grenzen hinauswachsen. Und wer seine Grenze kennt, kann auf den anderen zugehen und ihm wirklich begegnen. Egal ob in der Partnerschaft, im Beruf oder in der Erziehung, es braucht einen guten Ausgleich von Sich-Abgrenzen und Sich-Hingeben damit Begegnung gelingt. Ein klares und inspirierendes Buch, voller spiritueller und psychologischer Impulse. Damit Leben – und Zusammenleben – gelingt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 207

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Leben – statt gelebt zu werden, darum geht es. Denn wer nicht Nein sagen kann, wird krank. Wer immer allen Erwartungen nachkommen will, wird seine Grenzen bald schmerzhaft spüren. Ob in der Partnerschaft, im Beruf, in der Erziehung – für alle Beziehungen gilt: Sich abgrenzen zu können ist wichtig. Viele leben über ihre Kräfte oder über ihre Verhältnisse. Sie merken irgendwann, dass sie ihre Mitte verloren haben. Aber nur wer seine eigene Mitte hat, kann auch über eigene Grenzen hinauswachsen. Anselm Grün und Ramona Robben haben in der Begleitung immer wieder erfahren – und belegen es auch im Verweis auf Weisheitsgeschichten der Bibel und Märchen: Damit Begegnung gelingt, braucht es einen guten Ausgleich von Schutz und Sich-Öffnen, von Sich-Abgrenzen und Sich-Hingeben. Nur wer um Grenzen weiß, kann sie auch immer wieder überschreiten, um auf den anderen zuzugehen und ihm wirklich zu begegnen.

Die Autoren

Anselm Grün OSB, geb. 1945, Dr. theol., verwaltet die Benediktinerabtei Münsterschwarzach. Außerdem ist er als geistlicher Berater und Kursleiter tätig – für Meditation, tiefenpsychologische Auslegung von Träumen, Fasten und Kontemplation. Zahlreiche Veröffentlichungen.

Ramona Robben, geb. 1958, Dipl. Sozialpädagogin, tätig in der geistlichen Begleitung, Leitung von Meditationstagen. Bei Herder Spektrum (zusammen mit Anselm Grün): Finde Deine Lebensspur. Die Wunden der Kindheit heilen – Spirituelle Impulse.

Taschenbuchneuausgabe 2021

Titel der Originalausgabe: Grenzen setzen – Grenzen achten.

Damit Beziehungen gelingen – Spirituelle Impulse

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2004

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: RRA79/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN E-Book (EPUB): 978-3-451-82620-7

ISBN: 978-3-451-03399-5

Inhalt

Einleitung

1.Grenzen verhindern Streit

Von der Balance zwischen Nähe und Distanz

2.Grenzverletzungen

Von Übergriffen und Vereinnahmungen

3.Die Grenze ist heilig

Vom respektierten und geschützten Raum

4.Wir leben in festgesetzten Grenzen

Von Hybris und Demut

5.Grenzen muss man kennen lernen

Von klaren Regeln und notwendiger Reibung

6.Abgrenzung kann heilsam sein

Von gesunder Aggression und Distanz

7.Die eigenen Grenzen nicht verletzen lassen

Von äußerem Druck und der eigenen Mitte

8.Grenzenlose Menschen

Vom Umgang mit Emotionsbrei

9.Die eigene Grenze nicht mehr spüren

Von Sucht und seelischer Krankheit

10.Die eigenen Grenzen eingestehen

Von Verdrängung und Ehrlichkeit

11.Wenn alles zu viel wird

Von Schuldgefühlen und unnötigem Ärger

12.Strategien der Abgrenzung

Vom notwendigen Selbstschutz

13.Grenzen schaffen Beziehung

Von der Angst vor Liebesverlust und von gelingender Liebe

14.Grenzen überschreiten

Von Herausforderungen und vom Mut

15.Er verschafft deinen Grenzen Frieden

Von Voraussetzungen für ein gedeihliches Miteinander

16.Ihre Grenze bedachte sie nicht

Von Mitteln gegen Erschöpfung und Ausbrennen

17.Die Weisungen übertreten

Vom Doppelgesicht der Gebotsverletzung

17.Grenzenloser Friede

Von der großen Sehnsucht und Grabenkämpfen im eigenen Herzen

18.Du hast die Tage meines Lebens begrenzt

Von der wahren Weisheit des Alters

19.Die Grenze des Todes

Von der Gelassenheit im Endlichen

20.Vom Tod zum Leben übergehen

Von einem Leben in Fülle

Schluss

Literatur

Einleitung

In der Begleitung begegnen wir immer wieder dem Thema der Grenze. Es gibt viele Ratsuchende, die darunter leiden, dass sie sich einfach nicht abgrenzen können. Sie können nicht nein sagen, sondern stehen unter dem inneren Druck, alle Wünsche, die an sie herangetragen werden, zu erfüllen. Sie meinen, sie müssten allen möglichen Erwartungen anderer Menschen entsprechen. Sie haben Angst, nein zu sagen, weil sie befürchten, sich sonst nicht mehr zugehörig zu fühlen oder weil sie denken, Ablehnung zu erfahren, wenn sie etwas verweigern. Andere essen grenzenlos: Sie nehmen ihre eigene Grenze nicht wahr. Und sie leiden darunter, dass sie sich selbst keine Grenze setzen können.

Wieder andere haben die Fähigkeit verloren, sich gegenüber Menschen in ihrer Umgebung abzugrenzen. Ihre Grenzen zerfließen. Sie nehmen sofort wahr, was die anderen fühlen. Aber das ist keineswegs nur positiv. Denn ihre eigenen Gefühle mischen sich ständig mit denen der anderen. Sie sind den Stimmungen ihrer Umgebung ausgesetzt und lassen sich davon bestimmen. Manchmal haben sie sogar den Eindruck, dass sie sich auflösen. So leben sie schutzlos. Wer die Lebensgeschichten solcher Menschen untersucht, merkt bald, dass die Ursachen dafür oft weit zurückliegen. Grenzenlose Menschen haben meist in der Kindheit eine Missachtung ihrer Grenzen erfahren. Solche Erfahrungen sind für die Betroffenen verletzend. Sie tun nicht nur weh, sie haben oft auch problematische Konsequenzen und lang anhaltende Nachwirkungen: Wir brauchen alle unseren Schutzraum. Aber da ist zum Beispiel die Mutter ohne zu klopfen ins Zimmer ihrer Tochter eingetreten, hat in deren Abwesenheit in den Schubladen gekramt oder ihr Tagebuch gelesen. Es zeigt sich immer wieder: Wer in der Kindheit solche Grenzverletzungen erlitten hat, tut sich nicht selten sein Leben lang schwer in seinen Beziehungen. Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Was sie alle zeigen: Unser Leben kann nur gelingen, wenn es innerhalb bestimmter Grenzen gelebt wird.

Wie aber gelingt menschliches Leben einer Person, das ja immer ein Leben in Beziehungen ist? Ohne die Fähigkeit, sich abzugrenzen, kann man seine eigene Person nicht wahrnehmen und sein Personsein nicht entwickeln. Schon ein Blick auf die Wortbedeutung deutet das an: „Person“ heißt ursprünglich „Maske“; das ist etwas, was ich vor mich halte. Durch die Maske hindurch kann ich Kontakt zum anderen aufnehmen. Das lateinische Wort „personare“ heißt „durchtönen“. Durch meine Stimme, durch das Sprechen erreiche ich die andere Person, auf diese Weise geschieht Begegnung. Damit aber Begegnung gelingt, braucht es einen guten Ausgleich von Grenze und Grenzüberschreitung, von Schutz und Sich-Öffnen, von Sich-Abgrenzen und Sich-Hingeben. Ich muss um meine Grenze wissen. Erst dann kann ich sie immer wieder überschreiten, um auf den anderen zuzugehen und ihm zu begegnen, ihn in der Begegnung zu berühren und darin möglicherweise einen Augenblick von Eins-Werden zu erfahren.

Begegnung geschieht, so gesehen, immer an der Grenze. Ich muss bis an meine Grenze gehen, bis zum Äußersten, das mir möglich ist, um beim anderen anzukommen. Wenn Begegnung gelingt, sind Grenzen nicht mehr starr und trennend. Dann werden Grenzen fließend, dann geschieht an der Grenze und über die Grenze hinweg Eins-Werden. Aber Begegnung ist nichts Statisches, sondern immer etwas, was im lebendigen Vollzug geschieht. Nach der Begegnung geht jeder in seinen Bereich zurück, bereichert von der Erfahrung an der Grenze.

Der richtige Umgang mit den Grenzen ist für den französischen Schriftsteller Romain Rolland sogar der entscheidende Schlüssel zum Glück, wenn er sagt: „Glück heißt seine Grenzen kennen – und sie lieben.“ Es geht also in seiner Sicht nicht nur um die Kunst, sich abzugrenzen, oder darum, seine Grenzen zu kennen. Wir sollen sie auch lieben. Das heißt nichts anderes als: Wir sollen einverstanden sein mit unserer Begrenztheit, dankbar sein für die Grenzen, die wir an uns und an den andern erfahren. Der Schlüssel zum Glück liegt darin, sich in seiner eigenen Begrenztheit zu lieben und auch die Menschen mit ihren Grenzen zu lieben. Das fällt nicht immer leicht, da wir von uns lieber Bilder von Unbegrenztheit entwickeln. Doch für Romain Rolland gilt es als ausgemacht: Wer sich mit seinen Grenzen aussöhnt und liebevoll mit ihnen umgeht, dessen Leben gelingt, der erfährt Glück.

Viele Menschen leiden heute an Überforderung. Das kann viele Gründe haben. Ein immer wieder anzutreffender Grund: Überforderte und ausgebrannte Menschen haben ihre Grenze nicht beachtet. Sie leben über ihre Verhältnisse und merken irgendwann, dass sie ihr inneres Maß verloren haben. Ohne das rechte Maß aber gelingt das Leben nicht.

Es gibt aber auch Menschen, für die etwas anderes zutrifft: Vor lauter Sich-Abgrenzen entdecken sie ihre Kraft gar nicht und sie wachsen nie über ihre eigene Grenze hinaus. Im Gegenteil: Sie bleiben in ihrer Enge stecken. Von solchen Menschen sagen wir, sie seien sehr begrenzt. Sie sehen nicht über ihren engen Gesichtskreis hinaus. Sie sind kaum belastbar. Sie sind unfähig, ihre eigenen Grenzen, aber auch die ihrer Gruppe, auszuweiten, um neues Leben zuzulassen.

Wer über das Thema „Grenzen“ spricht, wird auch immer wieder mit aktuellen Fragen konfrontiert. In letzter Zeit wird etwa das Thema des sexuellen Missbrauchs zunehmend diskutiert, ein lange tabuisiertes Problem. Auch dabei handelt es sich immer um Nichtbeachtung von Grenzen. Auch unser eigener Körper ist ja eine Grenze, und körperliche Distanz gehört ebenso zu unserem Leben in der Gemeinschaft wie Nähe. Nähe ist dabei immer auch Ausdruck von Vertrauen. Vertrauen kann aber missbraucht und verletzt werden. Unsere Sprache kennt die Formulierung, dass einem jemand „zu nahe kommt“, wenn Grenzen überschritten werden. Missbrauch ist vor allem die Versuchung von Menschen, die in einer stärkeren Position sind: von Vätern, Onkeln, älteren Brüdern, von Seelsorgern, Therapeuten, Ärzten und Lehrern. Sie nehmen weder ihre eigenen Grenzen noch die der ihnen Anvertrauten wahr und missbrauchen Nähe und Vertrauen.

Umgekehrt erleben wir freilich in der Begleitung auch Menschen, die unsere eigenen Grenzen nicht wahrhaben wollen. Sie können ein Nein nicht akzeptieren. Sie versuchen, mit allen Mitteln ihre eigenen Erwartungen durchzusetzen. Und sie wollen nicht verstehen, dass auch wir Grenzen haben, die wir nicht ständig ausweiten möchten.

Auch Fragen der persönlichen Lebensgestaltung stehen in einem größeren gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang: In einer sich globalisierenden Welt, die immer weniger Grenzen kennt, fällt es den Menschen offensichtlich ebenfalls schwer, zu ihren Grenzen zu stehen. Wir erleben zwar einerseits, wie befreiend es ist, wenn wir etwa innerhalb der EU von einem Land in das andere fahren können, ohne uns den früher oft so langwierigen und unangenehmen Grenzkontrollen unterziehen zu müssen. Auf der anderen Seite erleben wir auch die Gefahren der Grenzaufhebung. Die Identität wird unklar. Durch die offenen Grenzen haben zudem Kriminelle größere Chancen, und es gibt nicht nur einen Zugewinn an Freiheit, sondern es wachsen bei vielen Menschen auch Angst und Unsicherheit.

In einer Epoche zunehmender Beschleunigung und ständiger Wachstumsforderung ändert sich zudem auch das Lebensgefühl. Alles gleichzeitig, alles sofort und jederzeit. So lautet das geheime Grundgesetz in einer Nonstop-Gesellschaft, ein Gesetz, nach dem viele heute leben. Pausenlos jagen die Menschen nach dem Glück oder nach dem, was sie dafür halten. Unsere Zeit leidet an der Maßlosigkeit und Grenzenlosigkeit. Das spürt man nicht nur im privaten Leben, sondern immer öfter auch im beruflichen Umfeld, wo der Druck im schwieriger werdenden wirtschaftlichen Umfeld zu steigenden Belastungen führt, die oft die Grenzen des Zuträglichen überschreiten. Viele meinen, sich immer mehr aufbürden zu müssen, um sich zu beweisen. Oder sie erfahren schmerzlich, wie ihnen von Vorgesetzten immer mehr an Arbeit zugemutet wird.

Für viele gibt es auch keine Zeitgrenzen mehr. Alles lässt sich gleichzeitig erledigen: Beim Reisen telefoniert man, um andere zu informieren, wo man gerade ist. Man lässt sich nicht auf die Fremde ein. Man fährt in die Fremde und möchte doch den Kontakt nach Hause. So verwischen sich die Grenzen. Man überschreitet die Grenze in die Fremde nicht mehr, sondern löst sie auf. Solche Grenzenlosigkeit – in welchen Zusammenhängen auch immer sie auftaucht – tut dem Menschen nicht gut. Häufig macht sie sogar krank. Manche Therapeuten meinen, dass die heute so rapid zunehmende Krankheit der Depression ein Hilfeschrei der Seele gegen die Grenzenlosigkeit sei: Die Depression zwingt den Menschen, sich auf sich selbst zurückzuziehen. Sie soll ihn sozusagen vor dem Zerfließen schützen.

Eine andere Grenzenlosigkeit zeigt sich im Konsum. Es muss immer mehr geben, alles muss uns sofort zur Verfügung stehen, jederzeit, sobald wir ein Bedürfnis danach verspüren. Das hat durchaus ein Doppelgesicht: Wenn wir alles kaufen können, ist es schwer, die eigene Grenze zu erfahren. Immer mehr Menschen verschulden sich. Sie können sich keine Grenzen in ihrem Konsum setzen, bis irgendwann der Schuldenberg auf ihnen so schwer lastet, dass er ihr Leben erneut und umso schmerzlicher in enge Grenzen weist.

Die angedeuteten Erfahrungen in der Begleitung und unsere Beobachtung der Zeitverhältnisse haben uns ermutigt, diesem Problem der Grenze nachzugehen. Wir haben in der Bibel nach Grenzerfahrungen gefragt und das Thema der Grenze in seelsorglichen Gesprächen bewusst beachtet. Es hat uns selbst erstaunt, wie häufig uns in letzter Zeit dieses Problem begegnet ist. Sobald man dafür sensibilisiert ist, taucht es immer wieder auf. Wir wollen freilich keine systematische psychologische oder gesellschaftliche Darlegung über den Umgang mit Grenzen schreiben, sondern nur auf einige Aspekte aufmerksam machen, die uns in unserer Arbeit wichtig geworden sind, Aspekte, die etwas über unsere gegenwärtige Situation aussagen und die offensichtlich aber auch zum Menschsein gehören. Dabei helfen uns die biblischen Bilder und einige Märchen, die um dieses Thema kreisen, die eigenen Erfahrungen besser zu verstehen. Weil das so ist – und um darauf aufmerksam zu machen – haben wir schon in der Überschrift einzelner Kapitel ein Wort oder eine Erzählung aus der Bibel anklingen lassen. Manchmal haben wir die Bibelstelle aus der lateinischen Übersetzung der Vulgata übernommen. Dort ist oft von Grenze die Rede, wo die Einheitsübersetzung andere Worte und Bilder gebraucht. Die Worte aus der Bibel und andere Texte aus der menschheitlichen Überlieferung versuchen wir als Bilder zu erschließen, in denen das Geheimnis der Grenze und des Abgrenzens aufleuchtet.

Wir haben dieses Buch in vielen Gesprächen und in mehreren Korrekturdurchgängen des Geschriebenen gemeinsam erarbeitet. Wenn also im Text „wir“ steht, drückt es unsere gemeinsamen Erfahrungen aus. Wenn Formulierungen wie „ich“, „meine Schwester“ usw. auftauchen, dann beziehen sie sich auf den Schreiber des Textes: Anselm Grün. Die beschriebenen Erfahrungen beziehen sich meist auf die Begleitung von Menschen. Ramona Robben begleitet im Gästehaus der Abtei Münsterschwarzach Einzelgäste, die sich für einige Tage ins Kloster zurückziehen. Pater Anselm begleitet vor allem Priester und Ordensleute im Recollectiohaus. Wir haben im Text nicht angegeben, aus welcher Begleitung die Beispiele stammen. Und wir haben darüber versucht, die Beispiele allgemein zu fassen und manchmal leicht zu verändern, so dass man die betroffenen Personen nicht erkennen kann. Die Grenze der Menschen zu wahren, die in die Begleitung kommen, ist uns ein wichtiges Anliegen. Daher haben wir weniger konkrete Beispiele erzählt als vielmehr unsere Erfahrungen einfließen lassen, die wir über den Verlauf einer langen Zeit in der Begleitung gemacht haben.

1. Grenzen verhindern Streit

Von der Balance zwischen Nähe und Distanz

Interessenkonflikte

Abgrenzung ist ein altes Menschheitsthema. Auch in der Bibel finden wir es an zentraler Stelle. In der Geschichte Israels reflektiert sich Menschheitsgeschichte, und die Geschichte Israels beginnt mit Abraham. Abraham hört den Ruf Gottes, auszuziehen aus seiner Heimat und seinem Vaterhaus in das Land, das Er ihm zeigen wollte. Die Grenzen seines Vaterlandes sind ihm zu eng geworden. Gott befiehlt ihm, auszubrechen aus dem begrenzten Raum, in dem er bisher gelebt hat. Abraham gehorcht diesem Ruf und nimmt seine Frau und seinen Neffen Lot mit sowie die ganze Habe, die sie erworben hatten. Das Land im Negeb, in dem Abraham und Lot mit ihrem Vieh hin- und herzogen, war zu klein für beide. Weil es ständig Streit zwischen den Hirten Abrahams und den Hirten Lots gab, sagte Abraham zu Lot: „Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben; wir sind doch Brüder. Liegt nicht das ganze Land vor dir? Trenn dich also von mir! Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts; wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links“ (Gen 13,8f). Lot zieht nun nach Osten und Abraham nach Westen. Er lässt sich in Kanaan nieder. Nachdem Abraham die bisherigen Grenzen hinter sich gelassen hat, muss er neue Grenzen ziehen, damit er und sein Neffe Lot in Frieden leben können.

Es ist eine Situation, die wir alle kennen. Abraham und Lot sind miteinander verwandt. Aber trotzdem gibt es Interessenkonflikte. Weil für die Herden von beiden nicht genügend Weidefläche da ist, kommt es zum Streit. Die Geschichte spielt sich auch heute noch ab: Da gibt es Brüder, die miteinander ein Geschäft führen. Doch für beide ist es zu klein. Statt sich ständig zu streiten, trennen sie sich und einigen sich, wie sie das bisher Gemeinsame verteilen. Wenn sie in angemessenem und geklärtem Abstand zueinander leben und arbeiten, können sie in Frieden miteinander sein. Wenn sie zu eng beisammen sind, gibt es nur Streit.

In jeder Familie kann sich ähnliches ereignen. Das Gesagte gilt nicht nur für das Verhältnis unter Geschwistern, sondern auch für die Beziehung zu den Eltern. Auf unserem Lebensweg brauchen wir zuerst die Nähe der Eltern und der Familie. Doch irgendwann wird es zu eng. Dann ist es besser, sich gütlich zu trennen. Ich muss mir auf meinem Weg ins Leben meinen eigenen Bereich erobern und in das Land ziehen, das Gott mir zugedacht hat. Das Verhältnis von Nähe und Distanz muss dann neu geregelt werden, damit wir auf Dauer gut auskommen.

Entfaltungsräume

Auch aus dem Umfeld meines eigenen Ordens kenne ich solche Geschichten: Unter den Missionaren, die seit 1888 aus St. Ottilien nach Ostafrika auszogen, waren richtige Haudegen – Männer, die geprägt waren von großer Abenteuerlust und ungeheurem Tatendrang. Doch sie hatten Probleme miteinander. Wenn solche Haudegen gemeinsam ein Werk vollbringen sollten, gab es nach kurzer Zeit regelmäßig Streit. So zog der eine nach Osten, der andere nach Norden. Auf diese Weise verbreiterten sie das Missionsgebiet – und hatten dort, wo sie jeweils wirkten, auch großen Erfolg. Es war auch bei ihnen wie in der Geschichte von Abraham und Lot: Weil sie die Gebiete aufteilten, konnte jeder in seinem Gebiet die eigenen Ideen verwirklichen. So entstand ein positiver Wetteifer in ihrem Tun. Wenn sie im gleichen Gebiet geblieben wären, hätten sie sich bekämpft und blockiert. Ihr starker Unabhängigkeitsdrang und das Aufteilen der Gebiete wurde zum Segen für alle.

Wichtig ist die Balance zwischen Nähe und Distanz. Die Begründung, die Abraham für die Trennung von seinem Neffen Lot angibt, ist interessant: „Wir sind doch Brüder.“ Gerade weil sie eine so enge Beziehung haben, müssen sie sich voneinander abgrenzen und trennen, damit jeder innerhalb seiner Grenzen gut leben kann. Zuviel Nähe schafft sogar zwischen Brüdern Streit. Auch wenn sie sich noch so gut verstehen, wird es zu Konflikten kommen, wenn sie näher zusammen wohnen, als ihnen gut tut. In der biblischen Geschichte wird damit argumentiert, dass das Land für beide Herden nicht groß genug war. Das ist ein Bild dafür, dass jeder Mensch seinen Entfaltungsraum braucht. Er braucht seine Freiheit, um das leben zu können, was ihm wichtig ist. Wenn er dabei dem anderen ständig in die Quere kommt, gibt es Konflikte, auch wenn man sich persönlich noch so gut versteht. In Familien ist das nicht anders als in anderen Gemeinschaften, in denen die Menschen zu eng aufeinander sitzen. Die Konsequenz, ob im privaten oder beruflichen Umfeld: Sie kontrollieren sich gegenseitig und beschneiden einander in ihren Entfaltungsmöglichkeiten. Damit die Mitglieder einer Gemeinschaft gut miteinander auskommen, braucht es immer eine klare Grenzziehung. Die Arbeitsbereiche sollten klar voneinander getrennt sein, damit jeder seine Fähigkeiten in seinem Bereich entfalten kann. Zugleich braucht es aber ein gutes Miteinander in der Arbeit, die Bereitschaft, sich etwa durch Terminabsprachen Grenzen zu setzen und die eigenen Grenzen und die der anderen Arbeitsbereiche zu wahren. Die ausgewogene Balance von Nähe und Distanz im Miteinander geht bis in ganz praktische räumliche Fragen. Es braucht die Rückzugsmöglichkeit in die eigenen vier Wände. Wenn ein Haus zu hellhörig ist, wenn die Zimmer nicht gut isoliert sind und man das Husten des Nachbarn ständig hört, wird solche Nähe schnell Aggressivität erzeugen. Nur wenn man sich zurückziehen kann, kommt man auch gerne zusammen. Es braucht also immer beides: Nähe und Distanz, Sich-reiben und Sich-zurückziehen, Verbindlichkeit und Freiraum, Einsamkeit und Gemeinschaft.

Jenseits des Paradieses

In Gesprächen mit Menschen, die unter dem Problem der richtigen Grenzziehung leiden, hört man manchmal: „Wir verstehen uns doch so gut.“ Wenn jemand zu sehr auf das gegenseitige Verständnis baut, übersieht er allerdings oft die Grenzen, die er braucht, um sich mit dem anderen gut zu verstehen. Wenn man immer zusammen ist, dann gibt es Probleme. Das gilt auch für jede Ehe. Auch da braucht jeder und jede, Mann und Frau, den eigenen Raum, in dem er für sich selbst sein kann. Frauen erzählen oft, dass es zu Problemen kam, als der Mann pensioniert worden ist. Er sitzt nun immer zu Hause. Vorher haben sie sich gut verstanden. Da war das Miteinander auf den Morgen, den Abend und das Wochenende beschränkt. In diesen Grenzen war Harmonie. Aber jetzt, da der Mann ständig um die Frau herum ist, ist ihr die Nähe auf einmal zuviel. Sie wird aggressiv. Die Aggressionen sind ein Zeichen dafür, dass sie mehr Distanz braucht. Die Frau spürt, dass es auch für den Mann nicht gut ist, immer im Haus zu bleiben. Er braucht auch nach der Pensionierung seinen eigenen Raum, in dem er sich engagieren oder seinen Hobbys nachgehen kann. Ein pensionierter Schulleiter erzählte, wie die erste Zeit nach der Pensionierung für ihn und seine Frau zum Horror wurde. Er selber musste erst damit fertig werden, dass er nicht mehr im Mittelpunkt stand und nicht mehr in einem vorgegebenen Rahmen gebraucht wurde. Er wollte es jedoch nicht wahrhaben, dass ihm das Loslassen schwer fiel. So projizierte er seine Probleme auf seine Frau und kritisierte an allem herum. Sie merkten schließlich beide, dass es so nicht weitergehen könne. Ihre Lösung: Sie einigten sich auf eine gesunde Tagesstruktur, in der sie für jeden genügend Freiraum vorsahen. Und siehe da: Auf einmal konnten sie wieder gut miteinander auskommen.

Der Paartherapeut Hans Jellouschek sieht als Ursache vieler Eheprobleme die zu große Nähe der Ehepartner, die meinen, sie müssten in der Liebe immer verschmelzen. Doch Partner, die so leben wollen, finden nie zu ihrem eigenen Selbst. Und die Konsequenz: Irgendwann leiden sie an ihrer zu großen Nähe. Sie können ihre Sexualität nicht mehr genießen. Sie entwickeln psychosomatische Symptome und streiten ständig miteinander. Eine Ehe gelingt nur, wenn sie ein ausgeglichenes Miteinander von Nähe und Distanz wird. Viele Ehepaare, die über ständige Konflikte in der Beziehung klagen, verstehen nicht, wenn der Therapeut ihnen sagt: „Ihr seid viel zu nah zusammen!“ Sie meinen oft gerade, dass ihr ständiges Streiten eher Ausdruck einer zu großen Distanz sei. Doch für Jellouschek steht fest, „dass der Streit gerade eine Form des Klammerns aneinander ist“. Er rät daher den Paaren, dass sie sich genügend Freiräume schaffen, etwa einen eigenen Raum in der Wohnung oder einen „freien“ Tag in der Woche, den sie für sich selber gestalten. Manche bekommen bei einem solchen Rat Angst und meinen, das sei ein erster Schritt zur Trennung. Doch nur wenn sie sich die eigenen Grenzen sichern, werden sie auf Dauer friedlich zusammenbleiben. Eine Dauerverschmelzung gibt es nicht. Biblisch gesprochen: Der Engel verwehrt uns endgültig den Zutritt zum Paradies. Es gibt in unserem Leben kein Zurück in das Paradies des ununterbrochenen Einsseins. Wir leben im Hin und Her zwischen Nähe und Distanz, zwischen Einheit und Trennung. Das Paradies endgültiger Einheit erwartet uns erst, wenn wir im Tod eins werden mit Gott und mit uns selbst und miteinander.

Äußere und innere Abgrenzung

Junge Ehepaare, die noch im Haus der Eltern wohnen, leiden oft unter der zu großen Nähe der Eltern. Die Frau hat dann oft den Eindruck, dass der Mann ständig zur Mutter geht und sich von ihr trösten lässt, wenn es Konflikte zwischen den Ehepartnern gibt. Oft sind die Wohnräume nicht genügend voneinander getrennt. Nicht selten ein Auslöser für Schwierigkeiten: Die Schwiegermutter erscheint unangemeldet in der Wohnung, als ob es ihre eigene wäre. Es ist zwar bequem, wenn die Schwiegermutter auf die Kinder aufpasst und die jungen Eltern dadurch Freiräume haben. Doch wenn sie den Erziehungsstil ständig kritisiert, dann ist ein Dauerkonflikt vorprogrammiert. Abweichende Vorstellungen davon, was gut ist für die Kinder, gehören zu diesen problematischen Bereichen. Schwierig werden kann es, wenn sich die Schwiegertochter zwar darüber ärgert, dass die Oma den Kindern Süßigkeiten zusteckt, ihr aber keine klaren Grenzen setzen und der Schwiegermutter nicht unmissverständlich klar machen kann, dass sie als Mutter ihre Erziehungsverantwortung selber wahrnehmen will. Das Klima wird in solchen Fällen immer mehr vergiftet. Da sind dann nicht nur äußere Trennungen nötig, sondern auch eine klare innere Abgrenzung. Sonst kann sich die Familie nie entfalten. Diese Schwiegertochter braucht dann eben ihr eigenes Gebiet wie Abraham und Lot, damit die junge Familie zusammenwachsen und ihre Konflikte selber lösen kann.

Die innere Abgrenzung ist oft schwerer als die äußere. Da kreist etwa ein junges Ehepaar immer wieder darum, was die Eltern oder Schwiegereltern über sie und ihre Kinder gesagt haben oder was sie darüber denken. Und wenn sie die Eltern besuchen, fühlen sie sich sofort kontrolliert, beobachtet und zu bestimmten Verhaltensweisen gedrängt. In einer solchen Konstellation ist es wichtig, sich innerlich abzugrenzen. Die Mutter und der Vater dürfen denken, was sie denken. Sie dürfen ihre Wünsche äußern und natürlich auch ihre Meinung haben. Ich muss mich darüber nicht aufregen. Ich kann es bei ihnen lassen. Wenn ich die Grenze zwischen mir und den Eltern klar ziehe, kann ich mit ihnen gut auskommen. Ich fühle mich nicht ständig in meiner Freiheit beschnitten. Ich entscheide, wann ich ihre Wünsche erfüllen möchte und wann nicht. Und ich stehe nicht unter Druck, sie von der Richtigkeit meiner Meinung überzeugen zu müssen. Ich habe mich abgegrenzt und respektiere die Begrenztheit ihrer Weise, die Welt zu betrachten und zu deuten.