Grenzgängerin aus Liebe - Hera Lind - E-Book
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Grenzgängerin aus Liebe E-Book

Hera Lind

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Beschreibung

Die junge Sophie aus Weimar ist beeindruckt, als sie Hermann aus dem Westen kennenlernt. Soll sie Karsten, ihren verheirateten Liebhaber und einflussreichen DDR-Funktionär verlassen? Hermann schwärmt von Westdeutschland und verspricht Sophie das Paradies auf Erden. Doch als ihr Ausreiseantrag bewilligt wird, stehen nur seine Eltern am Bahnhof, Hermann selbst ist für Monate beruflich im Ausland. Das hält sie nicht aus, sehnt sich nach Karsten. Erneut überquert sie die Grenze, nicht ahnend, dass sie in eine Falle mit doppeltem Boden geraten ist …

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Seitenzahl: 434

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Weimar, Mitte der 1970er-Jahre: Die junge bildhübsche Kosmetikerin Sophie weiß, dass Karsten, ihr wesentlich älterer Geliebter, Frau und Kinder hat und unerreichbar ist. Sie ahnt aber nicht, dass er sie manipuliert und ganz eigene Pläne mit ihr hat. Als Sophie auf einer Bulgarienreise Hermann aus dem Westen kennenlernt, stellt sie auf dessen Drängen hin einen Ausreiseantrag. Obwohl sie Karsten liebt, jedoch seine Familie nicht zerstören will, siedelt sie schließlich in die BRD über. Hier trifft sie allerdings nur auf Hermanns Eltern, er selbst ist beruflich im Ausland. Da wirft Karsten erneut seine Netze aus, und die ahnungslose Sophie reist in die DDR zurück, wo sie endgültig in die Fänge der Stasi gerät …

HERA

LIND

Grenzgängerin

aus Liebe

Roman nach einer wahren Geschichte

Vorbemerkung

Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.

Für alle Leser erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Zitatnachweis

[>>] Auszug aus: ABBA, »Honey, Honey«;

[>>] Auszug aus: ABBA, »Nina, Pretty Ballerina«;

[>>], [>>] Auszug aus: ABBA, »S.O.S.«;

[>>] Auszug aus: ABBA, »The Winner Takes It All«,

© Universal Music Publishing

Copyright © 2021 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Joanna Czogala/Trevillion Images;

Shutterstock.com (Smolina Marianna; sabthai;

Kamenetskiy Konstantin; Tishchenko Dmitrii; Aliona Hradovskaya)

Fotos der Autorin: © Erwin Schneider, Schneider-Press

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-24546-7V002

www.diana-verlag.de

1

Weimar, März 1974, im zehnten Stock eines Plattenbaus

»Nebenan wohnt meine Schwester!« Aufgeregt legte ich den Finger auf die Lippen und schloss hastig die Etagentür auf. »Pssst, sie darf uns auf keinen Fall hören!«

Der Lift hinter uns schloss sich wieder, und ich befürchtete, sein jämmerlich lautes Quietschen könnte Marianne und Dieter aus dem Schlaf reißen. Dann würden die beiden im Pyjama durch den Türspalt spähen und argwöhnisch fragen »Ist da jemand?«, und das musste ja nun wirklich nicht sein.

»Schnell!« Hastig schob ich meinen nächtlichen Besuch in meine kleine Wohnung und zog lautlos die Tür hinter uns zu.

So, da stand er nun. Karsten. Der blonde Halbgott, auf den alle Mädels der ganzen Stadt scharf waren. Bei mir zu Hause.

Ich hatte den außergewöhnlich gut aussehenden Typen erst vor ein paar Tagen in einer angesagten Disko kennengelernt und war jetzt schon schockverliebt.

Und zwar nicht nur in den Traumkerl, sondern einfach in mein ganzes Leben! Ich war jung, ungebunden und zugegebenermaßen nicht hässlich. Mir hatten schon mehrere heimlich zugeflüstert, ich hätte Ähnlichkeit mit Agneta von ABBA. Diese angesagte Band zu hören, war in der DDR verboten und deshalb war es umso reizvoller, mit der schwedischen Sängerin verglichen zu werden.

Karsten war mein perfektes Pendant! Dabei hatte es eigentlich meine Freundin Gitti auf ihn abgesehen gehabt und mich erst auf ihn aufmerksam gemacht! Gott, was für ein charmanter, wohlriechender und schöner Mann! Und tanzen konnte der! Leider musste Gitti mit ansehen, wie Karsten mich zielstrebig von der Bar pflückte und Richtung Tanzfläche zog, bevor sie überhaupt die Nase aus der Weißweinschorle gehoben hatte. Die ganze Nacht wirbelte er mich auf der kleinen Tanzfläche herum, und irgendwann schauten alle nur noch auf uns. Er hatte für DDR-Verhältnisse richtig coole Klamotten und trug die blonden gewellten Haare etwas länger, als die Polizei erlaubte. Ein Volltreffer, den ich da an der Angel hatte! Zum Glück konnte Gitti gut verlieren. Beste Freundin eben. Nun war Karsten Brettschneider mein. Seine hellblauen Augen strahlten mich an.

»Wow, so eine schnuckelige Wohnung!« Wohlwollend sah sich der groß gewachsene Traumtyp in meinem Einzimmerapartment um. In diesem winzigen Nest im zehnten Stock eines Plattenbauhochhauses wirkte er noch viel stattlicher als ohnehin schon. Mit seiner Persönlichkeit füllte er den ganzen Raum.

Mein Herz klopfte wie verrückt. Ich freute mich, dass er meinem kuscheligen Reich etwas abgewinnen konnte. Obwohl es ganz schön rosarot und plüschig war.

Er war schließlich ein gestandener Mann, bestimmt Mitte dreißig!

Und ich eine junge Frau, die den unglaublichen Luxus genoss, in dieser Kleinwohnung ihren verspäteten Mädchentraum zu leben.

Mein Kurzehe-Exmann Frank hatte sie mir nach der Scheidung überlassen müssen, und ich wusste, dass ganz Weimar mich darum beneidete. Welche junge Frau von einundzwanzig Jahren hatte in der DDR schon eine eigene Wohnung? Und damit ihre Unabhängigkeit und Freiheit? Ja, ich fühlte mich absolut frei und von nichts und niemandem eingeschränkt. Für politische Dinge interessierte ich mich überhaupt nicht. Das Glück war auf meiner Seite!

»Setz dich doch!«

Hastig stopfte ich mein schlappohriges Kuscheltier unter ein Sofakissen. Der Mann musste ja glauben, ich spielte noch mit Puppen!

Karsten blieb jedoch stehen und musterte meine Kosmetikartikel, die ich vor meinem Spiegel aufgebaut hatte, der reinste Altar! Am Spiegelrand hingen dekorativ meine ganzen Ketten, Ohrringe und Armreifen. Dies hier war mein privater Schönheitssalon.

»Jetzt wird mir so einiges klar, Sophie.« Beeindruckt öffnete er ein kleines Parfumfläschchen und schnupperte daran.

»Was wird dir klar?« Unsere Blicke trafen sich im Spiegel.

»Warum du so wunderschön bist und so gut riechst!«

Er wirbelte herum und zog mich an seine Brust. Ganz sanft küsste er mich erst aufs Haar, hob dann mein Kinn und … Gott, konnte der Mann küssen! Mir schoss die Röte ins Gesicht, und das Blut pulsierte mir in den Adern.

»Na ja, ich bin Kosmetikerin, das hab ich dir doch schon gesagt!«

»Alles an dir ist so perfekt …«

Karsten nahm jeden einzelnen meiner frisch manikürten Finger und küsste sie. »Du bist das schönste Mädchen, das ich je in Weimar gesehen habe. Ich stehe wahnsinnig auf gepflegte Frauen, weißt du. Dein Haar schimmert wie Seide. Und dann dieser Duft.«

Ich lachte geschmeichelt. Ja, wenn ich eines beherrschte, dann war es, mich perfekt in Szene zu setzen.

»Und du bist auch nicht der hässlichste Kerl von ganz Thüringen!«

Wir sanken auf mein Sofa und waren erst mal miteinander beschäftigt. Er küsste unglaublich zärtlich, ganz anders als mein Ex-Mann Frank, der einen immer fast auffraß und dann in Sekundenschnelle zur Sache kam, ohne je auf meine Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen.

Frank war als Schlagzeuger mit einer angesagten Band unterwegs gewesen, als ich ihn vor drei Jahren traf. Da war ich erst achtzehn gewesen, und hatte in verschiedenen Tanzcafés mein Glück gesucht. Der Drummer schaute immer nur auf mich, während er sich die Seele aus dem Leib trommelte. In den Pausen spendierte er mir ein Getränk nach dem anderen, und irgendwie wurden wir ein Paar. Wir heirateten viel zu früh, vielleicht auch weil wir beide keine Eltern mehr hatten. So bekamen wir die Wohnung neben der meiner Schwester Marianne und ihrem Mann Dieter, die ebenfalls sehr früh geheiratet hatten. Letzterer hatte als Polizist so seine Beziehungen; und meine Schwester wollte ein Auge auf mich haben. Nach einem Jahr trommelte Frank bereits fremd. Musiker konnten anscheinend nicht anders. Jedenfalls reichte ich die Scheidung ein, und Frank zog mit seiner Band und einem neuen Groupie weiter. Was mir blieb, war meine Freiheit und meine schnuckelige Wohnung. Und meine Erfahrung.

Und all das kam mir nun mit Karsten zugute.

»Du bist so unglaublich sexy, Sophie …«

Seine Hände wanderten an meiner schmalen Taille hinunter über die eng sitzende Jeans.

Nachdem wir eine Weile innig geknutscht hatten, stellte Karsten fest, dass ich seine Hände genommen und ihn am Weiterfummeln gehindert hatte.

»Nanu? Gefällt es dir nicht?«

»Ich möchte mich nicht so schnell wieder binden.« Fest sah ich ihm in die Augen. Er schien keineswegs beleidigt zu sein.

»Das macht dich noch viel interessanter.«

Karsten lächelte mich ganz lieb und verständnisvoll an. Seine hellblauen Augen bekamen einen ganz eigentümlichen Glanz.

»Ich stehe überhaupt nicht auf Mädels, die leicht zu haben sind.«

»Ach nein?« Ich zog die frisch gezupften Augenbrauen hoch und sah ihn kess an. »Den Eindruck hast du aber gerade gar nicht gemacht.«

»Zaubermaus!«

»Ja?« Wie süß war das denn! Zaubermaus!

»Du bist wirklich was ganz Besonderes.«

Ein langer intensiver Blick aus unglaublich blauen Augen. Es war, als könnte er die Farbe darin an- und wieder ausknipsen.

»Woher willst du das denn wissen?« Geschmeichelt lehnte ich mich auf dem Kuschelsofa zurück und verschränkte die Beine.

»Das spür ich einfach.«

Karsten taxierte mich andächtig, wie einen seltenen Schmetterling.

»Das mit uns soll auch keine billige Affäre werden.«

Alles andere würde mich auch wirklich enttäuschen!, dachte ich im Stillen. Um ultrasouverän zu sagen: »Ich weiß überhaupt nicht, was das werden soll. Du bist ja auch viel älter als ich.«

Daraufhin stand ich auf und entnahm meinem Mini-Kühlschrank die angebrochene Flasche Wein, die ich mit Gitti vor einigen Stunden geöffnet hatte, damit wir uns Mut antrinken konnten. »Magst du einen Schluck? Oder musst du noch fahren?«

»Der Fahrer wartet unten.« Im Nu war Karsten am Fenster, öffnete den Vorhang einen Spaltbreit und schaute in die nächtliche Dunkelheit. »Der steht auf Abruf bereit.«

»Wirklich?« Beeindruckt spähte ich ihm über die Schulter, in der einen Hand die Flasche, in der anderen zwei Gläser. Tatsächlich. Der auf Hochglanz polierte schwarze Wartburg, der uns von der angesagten Weimarer Diskothek hergebracht hatte, stand immer noch im fahlen Schein der Straßenlaterne. »Das ist wirklich dein eigener Fahrer?«, fragte ich ungläubig.

»Ja.« Karsten nahm mir die Gläser ab. »Das ist ein kleines Dankeschön von meinem Kombinat.«

Wir prosteten uns zu und tranken den Wein. »Was ist denn das für ein Kombinat?«

»Ein großes Bau- und Montagekombinat.« Karsten setzte sich wieder und klopfte einladend mit der freien Hand neben sich auf die Kuhle, die ich auf dem Sofa hinterlassen hatte. »Wir machen in Wohnungsbau und Industrieanlagen. Als leitender Ingenieur bin ich in den Genuss eines Wagens mit Fahrer gekommen. Ich bin halt beruflich ziemlich viel unterwegs, nächste Woche zum Beispiel auf einer Baustelle in Leipzig. Wir bauen den Flughafen aus.«

»Wow«, entfuhr es mir staunend. Und so ein toller Mann fand mich wundervoll? Mich kleine Kosmetik-Zaubermaus?

»Und was machst du dabei genau?«

»Ich entwerfe die neue Landebahn. Nicht der Rede wert.«

Karsten strich mir eine Strähne hinters Ohr.

»Erzähl du lieber von dir! Wie bist du in die Kosmetikbranche gekommen?«

Fast schüchtern setzte ich mich wieder neben ihn.

»Also …«, fing ich an. »Nach dem Tod unserer Mutter vor sechs Jahren hat meine Schwester Marianne verfügt, dass ich nach der Schule eine Friseurlehre machen soll. Sie hat so ein bisschen die Mutterrolle für mich übernommen.« Ich räusperte mich und nahm einen Schluck Wein. Meine Mama vermisste ich immer noch so schmerzlich, dass ich mit den Tränen kämpfen musste. Ich schluckte.

»Woran ist deine Mutter denn gestorben?«

»An gebrochenem Herzen.«

»Wie das?« Seine Augen ruhten mitfühlend auf mir. Das Blau hatte einen matten Schimmer angenommen.

»Sie stammt eigentlich aus Wien und hat Musik studiert. Aber in den Fünfzigerjahren lernte sie dort bei einem Meisterkurs meinen Vater kennen, und der war nun mal Musikprofessor in Weimar. Sie ist ihm gefolgt, dann kamen wir beiden Töchter, erst Marianne und drei Jahre später ich, sie ist also hiergeblieben …«

»Und warum starb sie an gebrochenem Herzen?«

»Mein Vater ist gestorben, als ich sechs war. Er muss sehr dominant gewesen sein, wie sie erzählt hat. Heute würde man sagen, ein Macho.« Ich lächelte ihn verlegen an. »Und sie hat sich hier nie so richtig zu Hause gefühlt.«

»Da bist du ja ein Waisenkind …«

»Ich habe mich daran gewöhnt.« Ich straffte mich und hob das Kinn. »Dafür bin ich früh erwachsen geworden.«

Wir saßen im Schein der Stehlampe da, und es war so vertraut zwischen uns, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Liebevoll streichelte er mir mit seinen schönen langen Fingern die Schulter. Hm, war das angenehm! Daran konnte ich mich glatt gewöhnen.

Karstens Blick glitt zur Wand. »Sag mal, ist das Schimmel da hinter dir?« Wieder schienen seine Augen noch eine Spur dunkler zu werden. Er starrte auf meine alte Tapete.

»Ja, das ist mir peinlich …« Ich wurde rot. »Den versuche ich eigentlich mit diesem Poster hier zu verdecken.« Es war ein ABBA-Poster, und das war wie bereits erwähnt eigentlich nicht erlaubt. Marianne hatte schon die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: »Lass das bloß nicht Dieter sehen!« Aber Karsten war total cool.

»Das könnte ich mir mal bei Tageslicht ansehen«, bot er hilfsbereit an.

»Hast du dafür denn überhaupt Zeit?«

Ein Traum. In mir kribbelte es wie Champagner. Ich hatte zwar noch nie welchen zu sehen bekommen, aber genauso stellte ich mir Champagner vor: aufregend und prickelnd, nicht so süßlich wie Rotkäppchen-Sekt.

»Für dich habe ich alle Zeit der Welt«, sagte Karsten lässig, ohne mit dem hocherotischen Rückenkraulen aufzuhören. »Bitte erzähl weiter aus deinem Leben. Ich möchte alles wissen.« Karsten schaute mich über den Rand seines Weinglases hinweg liebevoll an. Seine Augen waren wieder heller geworden. Oder machte das nur das Licht?

»Nach der Schule habe ich also erst mal Friseurin gelernt, und dann wurde hier in der Stadt ein neues Kosmetikstudio aufgemacht …«

»Salon Anita«, sagte Karsten wie aus der Pistole geschossen.

»Ja, genau! Woher weißt du das?«

»Es ist das Einzige in der Stadt!« Er lächelte verschmitzt. »Jedenfalls das Einzige, in dem ich DICH sehe: modern, elegant und irgendwie …« Er suchte nach Worten.

»Exklusiv«, sagte ich stolz. »Salon Anita ist für die anspruchsvolle Dame.«

»Dann kennst du ja fast alle Damen Weimars.« Karsten zwickte mich spielerisch in die Taille.

»He, das kitzelt!« Ich fühlte mich geschmeichelt.

Karsten grinste. »Die von den Bonzen meine ich.«

»Aber nein!« Ich lachte. »So eine Behandlung ist gut für Seele und Selbstbewusstsein. Fast jede Frau geht arbeiten, wie du ja weißt, und da darf sie sich in ihrer Freizeit durchaus was Gutes tun. Man leistet sich gerne Kosmetikbehandlungen für zehn Mark. Natürlich bediene ich nicht jede persönlich. Die Chefin hat ihre festen Stammkundinnen, und außer mir sind noch sechs andere im Team. Ich bin die Jüngste. Aber ich habe mir auch schon Stammkundinnen erarbeitet, die ausschließlich nach Sophie Becker fragen. Ich mache schließlich auch Haare.«

Er sah mich bewundernd an. »In deinen Händen wird wahrscheinlich noch Stroh zu Gold.«

Ich musste lachen. »Das war schon zu meinen Friseurinnenzeiten so!« Unwillkürlich wickelte ich eine Strähne um den Zeigefinger, die ihren Glanz tatsächlich meiner hochwertigen Pflege verdankte.

»Und die Damen erzählen doch bestimmt eine Menge? Wenn sie so bei dir ihre Freizeit verbringen?«

»Ja, schon. Aber in unserem Beruf herrscht absolute Schweigepflicht.«

»Wie beim Arzt, was?« Karsten staunte.

»Oder beim Beichtvater.« Ich lachte. »Nein, im Ernst. Solche Behandlungen finden ja regelmäßig statt, und da entwickelt sich natürlich oft ein Vertrauensverhältnis zwischen Kundin und Kosmetikerin.«

»Was für ein schöner Beruf …« Karsten spielte zärtlich mit meinen Haaren.

»Ein blonder Wasserfall«, flüsterte er heiser. Ich unterdrückte den Wunsch, auf der Stelle mit ihm zu schlafen. Nein, ich wollte langsam erobert werden! Stattdessen erklärte ich meinem Verehrer unsere tollen Cremes und Lotionen, und er hörte aufrichtig interessiert zu.

»Die Firma Charlotte Meenzten aus Radeberg bei Dresden stellt die Kräuterkosmetik her, siehst du, die Produkte stehen alle hier …«

Ich sprang auf und reichte ihm einige Tuben. Karsten betrachtete sie eingehend. Für einen Mann war er wirklich ausgesprochen geduldig.

»Bei den Behandlungen werden intensive Hautreinigungen durchgeführt, Gesichts-, Hals- und Dekolletémassagen …«

Wieder gingen wir dazu über, uns zu küssen und zu streicheln, und Karsten schien gar nicht genug davon zu bekommen. Wir standen wirklich kurz davor, aufs Ganze zu gehen, als ich mich erneut am Riemen riss: Wenn dieser Mann ernsthaft an mir interessiert war, konnte er ruhig warten. Viel zu früh hatte ich damals Frank nachgegeben, und von da an schien ich sein Eigentum geworden zu sein, sprich nicht mehr begehrenswert. Wie sagte Marianne immer? Männer sind alle Jäger und Sammler, und wenn sie dich erst mal erlegt haben, suchen sie sich was Neues.

Mein Blick fiel auf den Radiowecker. Er zeigte vier Uhr früh an. Auf einmal spürte ich die Müdigkeit. In wenigen Stunden musste ich zum Frühstück bei Marianne und Dieter antanzen. Da wollte ich nicht allzu verkatert sein.

»Wie lange willst du den armen Fahrer da unten noch warten lassen?«, neckte ich Karsten.

Doch er schien mich immer noch nicht loslassen zu wollen. Stattdessen nahm er meine Hände und sah mich an.

»Ich muss dir noch was sagen, Zaubermaus.« Er sah mich aus ernsten Augen aufrichtig an. »Ich bin verheiratet.«

»Oh«, entfuhr es mir, auch wenn ich nicht wirklich überrascht war. An seinem Finger prangte schließlich ein Ring. Den hatte ich von Anfang an gesehen, und er hatte auch nicht versucht, ihn zu verstecken.

»Und habe drei wundervolle Kinder.«

»Dreimal Oh.«

»Willst du nun nichts mehr von mir wissen?« Sein Blick ging mir durch und durch.

Nein, dafür war ich schon viel zu verliebt. Und irgendwie war es mir sogar recht, denn so konnte er nicht gleich Besitzansprüche an mich stellen. Ich musste ja täglich mit ansehen, wie Dieter mit Marianne umging: Die schien ebenfalls sein Eigentum zu sein. Bei denen war die Luft schon lange raus!

»Nein, Karsten. Ich bin froh über deine Ehrlichkeit.« Entschlossen stand ich auf. »Wir können doch auch so eine gute Zeit haben, oder etwa nicht?«

»Du machst mich zum glücklichsten Mann Weimars.«

Karsten erhob sich ebenfalls und stieß mit dem Kopf fast an die Deckenlampe. »Sag ich doch, dass du was ganz Besonderes bist! Du bist das schönste Geheimnis, das ein Mann nur haben kann!«

Wieder küsste er mich zärtlich und leidenschaftlich. »Dann darf ich dich also wiedersehen …?«

»Unter einer Bedingung.« Sanft machte ich mich von ihm los. »Es darf deiner Frau nicht wehtun.«

»Tut es nicht. Das versprech ich dir.«

»Dann ist ja gut.«

Noch einmal küssten wir uns lange und innig.

»Geheimnis?«

»Geheimnis.«

»Großes Ehrenwort? Kannst du wirklich schweigen?«

»Großes Indianer-Ehrenwort!«

»Gute Nacht, Zaubermaus!«

Er zog den Kopf ein und schlich in den Flur. Noch während ich mit heftigem Herzklopfen auf das Quietschen des Lifts wartete, hörte ich meinen Helden auf leisen Sohlen die zehn Treppen nach unten eilen. Was für ein Mann.

2

Weimar, März 1974

»Na, Spaß gehabt gestern?«

Marianne stand in ihrer zweckmäßigen Einbauküche in der Wohnung nebenan und bereitete das Mittagessen zu.

Es war Sonntagvormittag, und wie immer war ich brav um halb neun zum Frühstück erschienen. Seit ich geschieden war, nahm ich wieder alle Mahlzeiten drüben bei meinen Verwandten ein, das hatte sich einfach so ergeben. Dieter wienerte gerade draußen sein Auto, und die kleine Doreen spielte auf der Auslegeware im Wohnzimmer mit ihren Plastefiguren. Der Fernseher lief, aber niemand schaute hin.

»Ja, geht so«, sagte ich vage. »Kann ich dir helfen?«

»Hier, du kannst die Bohnen schnippeln.« Marianne schob mir ein Brett und ein Messer hin. »Hast du nett getanzt?«

»Och ja.«

»Und?« Sie wandte mir den Kopf zu, während sie über der Spüle Kartoffeln schälte. »Immer noch nichts Festes dabei?«

»Wieso muss es denn schon wieder was Festes sein!« Eine Spur zu aggressiv ging ich auf die Bohnen los. »Es reicht doch, wenn ich Spaß habe!«

Marianne stemmte die Hände in die Hüften: »Spaß, Spaß – ich höre immer nur Spaß!«

»Ja, denk nur. Tanzen geht man zum Spaß.«

»Du bist jetzt einundzwanzig und könntest ruhig mal erwachsen werden.« Ärgerlich fuhr sich Marianne mit der Hand, in der sie das Kartoffelschälmesser hielt, übers Gesicht. Ich hatte richtig Angst, sie könnte sich verletzen.

»Marianne.« Ich sah sie an. In ihrer Kittelschürze und mit dieser ungepflegten Frisur wirkte sie gar nicht wie eine Vierundzwanzigjährige in voller Blüte, sondern wie eine verbitterte Hausfrau von Mitte vierzig. »Warum gönnst du mir das denn nicht?«

Sie kehrte mir nur den Rücken zu. »Unsere Mutter würde sich im Grabe rumdrehen. Ich habe dich um zwei Uhr in der Früh heimkommen hören.«

Ich hielt die Luft an. Kam da noch was? Sie hatte »dich« gesagt. Lautlos atmete ich auf. Nicht auszudenken, wenn sie Karsten gesehen hätte! Karsten war viel älter als ich. Und verheiratet. Ich hatte ihm Diskretion geschworen. Marianne würde automatisch auf der Seite der Ehefrau stehen, und wie ich sie kannte, würde sie die Dame sogar anrufen.

»Ich kann doch heimkommen, wann ich will!«, antwortete ich patzig.

Marianne warf die Kartoffeln in kaltes Wasser, stellte den Topf auf den Herd und setzte sich zu mir. »Doreen, stell den Fernseher leiser«, rief sie Richtung Wohnzimmer.

Gehorsam trippelte die Sechsjährige zu dem Schwarzweißapparat und drehte daran herum. Er war der ganze Stolz der Familie und lief den lieben langen Tag bis abends zum Sendeschluss.

»Jaja, du bist erwachsen und kannst dich amüsieren«, knurrte Marianne plötzlich. »Du MUSSTEST ja nicht heiraten.«

Sie zeigte mit dem Kinn aufs Wohnzimmer, wo Doreen spielte.

»Aber Marianne! Du bereust es doch nicht?«

»Nein, natürlich nicht. Doreen ist das Beste, was mir je passiert ist. Allerdings bin ich seitdem eine sogenannte Nur-Hausfrau.«

»Aber eine perfekte!« Ich ließ den Blick durch die blitzblank geputzte Wohnung schweifen. »Dein Dieter muss seine helle Freude an dir haben.«

»Hat er auch.« Marianne griff nach einem Lappen und polierte die Arbeitsfläche. »Und er dankt es mir mit Schmuck und schönen Kleidern.«

Marianne hatte eine ganze Schrankwand voller Klamotten, die sie aber kaum vorführen konnte, da sie ja fast immer nur zu Hause war oder eben mit Doreen auf dem Spielplatz. Obwohl sie noch so jung war, kam sie mir vor wie eine Frau, die ihr Leben schon fertig gelebt hat.

Ich selbst fühlte mich in meiner winzigen Wohnung als Single sauwohl, und das Leben schien trotz der gescheiterten Ehe mit Frank wie ein gerade erst aufgeblättertes Buch vor mir zu liegen. Der süße Duft der Freiheit! Ich konnte ihn förmlich riechen! So gut hatte sonst nur der warme Apfelstrudel meiner Wiener Großmutter gerochen.

»Was hast du gerade gesagt, Marianne?«

»Hast du mir gar nicht zugehört? Beziehungen sind alles.« Marianne holte eine Küchenmaschine hervor und baute sie stolz vor mir auf. »Die kann mahlen, reiben, kneten und Sahne schlagen. Na was sagst du dazu?«

»Sexuell befriedigen kann sie dich aber nicht?«

»Sophie! Wenn Doreen das hört!«

»Entschuldige. Wo gibt es die denn?« Mit einem weiteren plumpen Witz versuchte ich meine Schwester aufzuheitern. »Im Prinzip kann man in der DDR alles kaufen. Es gibt bloß kein Kaufhaus namens Prinzip.«

Sie warf mir einen herablassenden Blick zu. »Sehr witzig, Sophie. – Aber als Polizist kommt Dieter an alle möglichen Sachen ran.« Marianne baute das Gerät wieder auseinander. »Damit werde ich einen Kaiserschmarrn vom Feinsten zaubern, so wie Mutti es mir beigebracht hat. Ich warte nur, bis es irgendwo Rosinen zu kaufen gibt.«

Mir lief das Wasser im Munde zusammen.

»In Wien hat es immer die tollsten Mehlspeisen gegeben! Die tolle Zeit, als ich sechs war, und Mutti mich mit zu Tante Käthe und unserer Cousine Elisabeth genommen hat, werde ich nie vergessen!«

Marianne sandte mir einen nicht gerade herzlichen Blick.

Direkt nach dem Tod unseres Vaters wollte Mutti nämlich zurück nach Wien. Zu ihrer Schwester Katharina und ihrer Nichte Elisabeth. Doch das ging irgendwie nicht. Sie musste Marianne in Weimar zurücklassen und ihretwegen natürlich wieder zurück. Ich konnte mich noch gut an diesen Moment auf dem Bahnsteig erinnern. Sie weinte und weinte, während sie mit Tante Käthe, meiner Cousine und mir am Westbahnhof stand. »Bleibt doch, bitte bleibt doch!«, hatten Tante Käthe und Elisabeth gefleht.

»Nein, es geht nicht. Ich hab doch noch ein Kind: Marianne!«

Ja, so war das gewesen. Wir waren zurückgefahren und nie wieder in Muttis geliebtem Wien gewesen.

Marianne räumte die Küchenmaschine mit einer solchen Sorgfalt zurück in den Schrank, als handelte es sich um ein Neugeborenes, das sie zu Bett bringen wollte.

»Es muss nicht einfach für sie gewesen sein, ihr Leben in Wien unserem Vater zuliebe aufzugeben. Aber er war eben ein toller Professor.«

Mutti hatte immer wieder begeistert erzählt, wie der Gastdozent aus Thüringen das Studentenorchester geleitet und sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Sie verglich ihn sogar mit dem jungen Karajan.

»Tja. Sie war eben schwanger mit mir. Und seine Karriere war nun mal in Weimar.« Marianne wischte energisch über die Schublade. »Und dann ändert sich das Leben in Nullkommanix. Da hast du als Frau keine eigenen Wünsche mehr anzumelden.«

Sie sprach wohl wieder aus eigener Erfahrung.

»Jedenfalls der Apfelstrudel damals in Wien …«

»Dass du aber auch gar nicht aufhören kannst, von dieser dämlichen Wienreise zu schwärmen!« Wütend polierte Marianne auch noch die Griffe ihrer Einbauküche.

»Ich mein’ ja nur! Mutter war damals wie ausgewechselt. Sie hat förmlich gestrahlt vor Glück! ›Mein Herz schlägt wieder im Dreivierteltakt‹, hat sie gesagt.«

»Wenn man Kinder hat, geht eben nicht beides«, behauptete Marianne stur. »Pflicht und Glück, das passt nicht zusammen. Mein Herz schlägt einfach nur, weil ich funktionieren muss.«

»Aber du hättest doch weiterarbeiten können«, wandte ich ein. »Bei uns in der DDR kann jede junge Mutter ihr Kind nach vier Wochen in der Krippe abgeben.«

Ich warf die letzte grüne Bohne in die Schüssel und wischte mir die Hände an den Jeans ab. Die Kittelschürze, die Marianne mir hingeworfen hatte, lag unbenutzt über der Stuhllehne.

»Du weißt doch, dass Dieter das nicht will.« Marianne riss mir die Schüssel aus der Hand und ließ kaltes Wasser über die Bohnen laufen. »Er will mich hier zu Hause haben, er will, dass der Haushalt tipptopp gemacht ist.« Eine Spur zu heftig schüttelte sie die Bohnen im Sieb. »Und er will seine drei Mahlzeiten pünktlich auf dem Tisch haben.« Sie begann Speckwürfel klein zu schneiden. »Sonntags muss es eben Braten mit Speckbohnen geben, wie schon bei seiner Mutter, Punkt.«

Irgendwie tat sie mir leid. Sie war eine lebenslustige, junge attraktive Frau gewesen, genau wie ich, aber schon mit achtzehn war sie von Dieter schwanger. Der war jetzt auch erst sechsundzwanzig, aber in meinen Augen ein Oberspießer. Wenn er mit seiner wichtigen Uniform aus dem Haus ging, schaute er immer so gockelhaft, als hätten die Nachbarn nichts Besseres zu tun, als ihn zu bewundern. Karsten dagegen war bestimmt zehn Jahre älter, aber viel cooler als ihr selbstgefälliger Dieter. Und erfolgreicher obendrein! Karsten hatte es nicht nötig, gefallsüchtig in einer Uniform herumzustolzieren. Im Gegenteil! Der war diskret wie James Bond und sah auch mindestens so gut aus!

Ich glaubte nicht, dass Marianne und Dieter aus Liebe geheiratet hatten. Nein, daran war auch unsere streng katholische Wiener Mutter schuld.

Marianne war schwanger, also wurden die Eltern des Übeltäters aufgesucht und der Ernst der Lage besprochen. Noch bevor die Leute etwas von der Schwangerschaft sehen konnten, wurde geheiratet. So war das damals. Mutter hatte hart durchgegriffen und uns immer von Ehre und Anstand gepredigt. Ehre und Anstand! Wie lächerlich! Was die alles verpasst hatte!

Plötzlich spürte ich, wie ich von einer heißen Welle nach der anderen überrollt wurde, als ich an Karsten und seine Küsse zurückdachte. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte laut gesungen, »Ich bin verliebt! Bin sooo verliebt! Ich weiß nicht, wie mir geschah, auf einmal war die Liebe da!« Das war aus irgendeiner Operette, die ich von meiner Mutter gehört haben musste. Aber stattdessen versuchte ich mich auf ein anderes Thema zu konzentrieren.

»Marianne, bitte setz dich doch mal zu mir. Ich würde dich so gern etwas fragen.«

Meine Schwester hatte gerade das Fleisch im Backrohr gewendet und warf einen hektischen Blick auf die Küchenuhr: halb eins. Es duftete schon verführerisch. Obwohl ich vor lauter Verliebtheit kaum Hunger hatte, musste ich zugeben: In Sachen Sonntagsbraten machte Marianne so schnell niemand was vor.

»Na gut, aber mach’s kurz.« Marianne klappte mit geübten Griffen das Bügelbrett auf und begann, Dieters Polyesterhemden zu bügeln. Sie hätte niemals auch nur zehn Minuten ihrer kostbaren Hausfrauenzeit unnütz verstreichen lassen.

»Warum warst du eigentlich damals nicht mit?«

»Wo … mit?«

»Na, in Wien. Als ich mit Mutti bei Tante Käthe und Cousine Elisabeth war.«

Sie fuhr mit dem Bügeleisen über den merkwürdig riechenden Stoff, der sein scheußliches Aroma erst unter der Hitze entwickelte.

»Weil ich da vielleicht im Ferienlager war?«

»Aber warum? Hättest du in den Ferien nicht mit uns mitkommen können? Das Haus von Tante Käthe war doch groß genug!« Ich reichte ihr das nächste Hemd aus dem Korb. »Ich kann mich noch so gut an Wien erinnern, als wäre es gestern gewesen …«

Sie fuhr mit dem Bügeleisen unter den Kragen. »Mama konnte mich damals nicht mitnehmen. Weil ich Asthma hatte«, bemerkte Marianne knapp. »Deshalb sollte ich ans Meer. Das Kinderheim an der Ostsee war einfach nur schrecklich. Ich bedanke mich noch heute herzlich dafür.«

Marianne wendete stumm das Hemd und bügelte über die Ärmel. Der Polyestergeruch vermischte sich mit dem Sonntagsbratenduft.

»Wie schade, dass du damals nicht dabei warst. Cousine Elisabeth war da so ungefähr dreizehn. Ich fand sie so toll!«

»Ja. Hast du schon öfter gesagt. Sie hatte ein Dirndl, und ihr seid im Prater Riesenrad gefahren.« Marianne zog eine Grimasse. »Du hast so viele Süßigkeiten und Eis bekommen, dass dir am Ende ganz schlecht war. Die Einzige, die das nicht erlebt hat, war ich. Ich war im Ferienheim und habe vor lauter Heimweh jede Nacht das Kissen nassgeheult.« Sie lachte bitter.

Ich fuhr ihr mitfühlend über den Arm. »Ich wünschte, du hättest den Duft von Wiener Schnitzel, von Backhendl und Großmutters Apfelstrudel genauso in der Nase wie ich …«

»Hab ich aber nicht.« Energisch klappte Marianne das Bügelbrett zusammen und schob es laut klappernd wieder in den Küchenschrank. »Dieter ist die deftige thüringische Hausmannskost seiner Mutter ohnehin lieber. Der steht nicht auf so einen klebrigen ›Wiener Schmäh‹, wie er immer sagt. Aber mit der neuen Küchenmaschine …« Sie war schon wieder in ihrem Element.

»Weißt du, was ich denke, Marianne?« Ich verschränkte die Arme und lehnte mich an die Kühlschranktür. »Du hattest gar kein Asthma. Ein bisschen Husten vielleicht, aber du bist doch gesund! Mutter sollte damals nur nicht mit beiden Töchtern nach Wien reisen. Du musstest als Pfand hierbleiben!«

»Quatsch!« Marianne knallte die Schranktür zu und wirbelte zu mir herum. »Wie kommst du denn auf den Scheiß?!«

»Immerhin haben sie im August ’61 die Mauer gebaut. ›Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten‹«, flötete ich in gekünstelter Opa-Fistelstimme.

»Lass das bloß nicht Dieter hören.« Marianne riss das Backrohr auf und balancierte den perfekt geratenen Braten mithilfe zweier Spieße auf die Küchenplatte. Ihr Blick huschte panisch zur Küchenuhr. »Gleich steht er hier, und der Tisch ist noch nicht gedeckt! Kannst du dich endlich wieder mal nützlich machen? – DOREEN! Hände waschen, hinsetzen! – Und jetzt lass mich für immer mit deinem Wien in Ruhe! Weimar ist auch schön.«

*

Das war es allerdings. Weimar war die schönste Stadt der Welt, an diesem Montagmorgen!

»Hallo, schöne Frau!«

Ich war gerade auf dem Weg zur Arbeit, als ich Karsten sah. Er lehnte lässig an seinem schwarz glänzenden Dienstwagen und zauberte einen Blumenstrauß aus ihm hervor. Weiße Nelken. Der Fahrer von vorgestern saß drin und tat so, als ginge ihn das alles nichts an.

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich hatte das ganze Wochenende an Karsten gedacht und mich heimlich nach ihm verzehrt, aber dass er bereits am ersten Arbeitstag der Woche morgens um neun vor meinem Kosmetikinstitut in der Weimarer Altstadt stehen würde, das hätte ich selbst in meinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt.

Ich prallte regelrecht zurück: Bei Tag besehen, sah er fast noch besser aus als vorgestern Nacht! Er trug einen perfekt sitzenden dunklen Anzug, darüber einen grauen Mantel und einen roten Schal. Seine blonden dichten Haare lagen akkurat auf dem Kragen. Seine Schuhe waren blank geputzt und strahlten wie der ganze Mann.

»Hallo«, erwiderte ich. »Karsten, was machst du denn hier!«

»Ich wollte dich unbedingt sehen.«

Er zog mich hinter eine Litfaßsäule und drückte mir verstohlen einen Kuss auf den Mund. »Das Wochenende war unendlich lang ohne dich! Mein süßes Geheimnis, du, meine kleine, wohlriechende Zaubermaus!«

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine Chefin Frau Anita und meine Kolleginnen das Kosmetikinstitut betraten. Sie hatten das schwarz glänzende Auto ebenso bemerkt wie den weißen Strauß Nelken. Sie stießen sich in die Rippen und tuschelten.

»Karsten, nicht hier …«

»Ich wollte nur wissen, wann ich dich wiedersehen kann.«

»Jederzeit, aber jetzt muss ich …«

»Hast du ein Telefon?«

»Nein …«

»Gut, dann lass mich dir eines installieren. Mittwochnachmittag.«

Er drückte mich noch einmal an sich und eilte dann zu seinem Wagen.

Die Kolleginnen starrten ihm nach, als er mit seinem Fahrer schnittig um die Ecke bog.

»Wow, unsere Sophie hat einen Verehrer!« Die Mädels standen in Unterwäsche in der Umkleide und zogen gerade ihre hellrosa Kittel an, als ich mit dem riesigen Blumenstrauß das Institut betrat.

Gitti, meine Freundin, sah mich besorgt an.

»Sophie! Du weißt, der ist verheiratet!«

»Ja, und deshalb ist das auch nichts, worüber man sich Gedanken machen sollte«, improvisierte ich laut. »Der hat sich nur im Namen seiner Frau für die gute Gesichtsbehandlung letzte Woche bedankt.«

»Wer’s glaubt …«

»Nein wirklich!« Ich spürte, dass ich knallrot geworden war. »Die Dame, die bei uns kurzfristig einen Termin bekommen hat, bei dem ich eingesprungen bin, die hat diese Blumen geschickt!«

Außer Gitti schienen das alle anderen zu schlucken. Die beschwor ich mit flehentlichen Blicken, die Klappe zu halten. Und als loyale Freundin tat sie das auch. Das rechnete ich ihr hoch an. Mein Geheimnis würde auch ihr Geheimnis bleiben. Dafür sind beste Freundinnen schließlich da.

*

Pünktlich am Mittwochnachmittag um vier stand Karsten mit zwei Männern vor der Tür unseres Plattenbaus. Er wusste offensichtlich genau, dass ich da freihatte. Mit wildem Herzklopfen drückte ich auf den Summer und ließ ihn und die beiden Handwerker herein. Zum Glück war Marianne mit Doreen gerade auf dem Spielplatz. Das war sie bei gutem Wetter um diese Zeit immer.

Die Männer hatten tatsächlich ein grünes Telefon dabei! Gekonnt installierten sie es und schlossen es an.

»So«, strahlte Karsten. »Jetzt kann ich dich jederzeit erreichen.« Und bevor die beiden wieder gehen konnten, hielt er sie zurück: »Ach, Genossen, schaut euch doch mal den Schimmel an der Wand an!« Wie selbstverständlich nahm er das ABBA-Poster ab und legte es mit dem Gesicht nach unten aufs Sofa. »Und wir beide gehen solange ein bisschen spazieren.« Er zog mich aus der Wohnung: »Nachher atmest du noch giftige Dämpfe ein, das will ich dir auf keinen Fall zumuten.«

»Meinst du, die melden mich … wegen ABBA?«

»Ach, Quatsch, das sind die Guten.« Karsten zog mich an sich. »Die arbeiten für mich. Die haben was anderes zu tun, als kleine Mädchen wegen Pop-Postern zu verpetzen.« Er grinste, und seine blauen Augen hatten wieder dieses unwiderstehliche Leuchten.

Wie hypnotisiert schritt ich neben Karsten her. Was für ein attraktiver Mann! Der war wirklich wie James Bond! So lässig, so witzig, so galant! Wie gern wäre ich mal eben zufällig so mit ihm an Marianne vorbeiflaniert! Sollte sie doch vor Neid platzen! Aber Karsten und ich hatten uns ja geschworen, unsere Beziehung geheim zu halten. Ich lenkte unsere Schritte in eine andere Richtung. »Aber nicht in den Park dort. Da ist meine Schwester mit meiner Nichte. Und der halbe Plattenbau.«

»Das hatte ich sowieso nicht vor.« Er zog mich um die Ecke. Dort wartete sein Wagen. Wir schlüpften eilig auf die Rückbank, und der Fahrer fuhr sofort los, ohne dass Karsten ihm sagen musste, wohin.

In einem stadtnahen Waldstück hielt er unaufgefordert an. Mein Herz raste. Wie aufregend war das denn?! Merkwürdigerweise hatte ich überhaupt keine Angst. Karsten war in mich verliebt. Ein Gentleman von Kopf bis Fuß. Er vergötterte mich. Er würde nichts tun, was ich nicht wollte. Außerdem war der ältere Chauffeur in Hörweite.

Ein freudiges Prickeln breitete sich in mir aus. Dass dieser aufregende Mann schon wieder Zeit mit mir verbringen wollte!

Wir gingen ein Stück spazieren. Die ersten Märzenbecher kamen aus dem moosgrünen Boden. Es duftete verheißungsvoll. Bald würde es richtig Frühling werden. Auch für unsere Liebe!, schoss es mir durch den Kopf.

Hand in Hand schritten wir über die sonnenbeschienene Allee, und der Wind spielte mit meinen Haaren. Ich kam mir vor wie ein Model in einem Werbespot.

»Na, Zaubermaus? Geht’s dir gut?«

»Und wie! Dass du das alles für mich tust!« Ich strahlte ihn von der Seite an.

»Für meine süße Zaubermaus tu ich alles.« Er strahlte zurück. Seine blauen Augen nahmen die intensive Farbe der Krokusse an, die hier ebenfalls sprossen.

»Dir scheint die ganze Welt zu gehorchen …«

»Nein. Nur ein paar Kollegen, die ich von der Arbeit kenne.«

»Und dein Fahrer?«

»Der weiß, wo’s langgeht.«

Karsten hielt mich fest und küsste mich innig. Ich konnte und wollte mich nicht dagegen wehren. Er küsste so unvergleichlich wunderbar, dagegen war Frank ein Hackspecht gewesen.

»Lass uns jetzt einfach nur unsere Zeit genießen«, beschwor mich mein Traummann.

Ja, das wollte ich auch. Wir gingen ein wenig tiefer in den Wald hinein.

Dort schlüpfte Karsten aus seinem Mantel und breitete ihn lässig auf dem Waldboden aus. Wie schon in meiner Wohnung, klopfte er einladend mit der flachen Hand darauf.

»Komm zu mir, Zaubermaus. Ich kann dich so gut riechen!«

Wie gesagt: Ich war jung und ungebunden, ich hatte den interessantesten Verehrer der Stadt, und er wollte mich weder heiraten noch besitzen. Er wollte mich nur auf Händen tragen. Wie gern ließ ich mir das gefallen! Er war erwachsen und reif und wusste, was er tat. Und ich war Wachs in seinen Händen.

3

Weimar, Mai 1974

Langsam lernten wir uns immer besser kennen. Karsten drängte mich zu nichts, war immer rücksichtsvoll und aufmerksam, fürsorglich und liebevoll.

Jedes Mal, wenn wir uns trafen, wurden meine Gefühle für diesen Mann intensiver. Karsten führte mich ins Kino oder ins Theater aus, wir fuhren sogar bis nach Leipzig, wo uns niemand kannte. Er hatte in schönen Restaurants einen diskreten Tisch reserviert, und wir wurden immer fürstlich behandelt und bedient. Wenn Karsten weniger Zeit hatte, fuhr er mit mir raus in die blühende Natur. Dann schlenderten wir in den Wald hinein, setzten oder legten uns auf seinen ausgebreiteten Mantel und küssten uns stundenlang.

Der Fahrer war freundlich und diskret, ein väterlicher Typ. Er schien sich an unserer jungen Liebe zu freuen.

Wenn Karsten einmal nicht selbst kommen konnte, lieferte der Fahrer einen Geschenkkorb bei mir ab mit Blumen, Pralinen oder der neuesten Schallplatte, die ich mir gerade wünschte.

Dass wir die Beziehung geheim halten mussten, machte sie nur umso aufregender! Nur Gitti wusste Bescheid, und wie bereits gesagt: Auf sie konnte ich mich verlassen. Sie fand es zwar nach wie vor nicht gut, dass Karsten verheiratet war, andererseits: In den Siebzigerjahren florierte auch in der DDR die freie Liebe, die FKK-Strände erfreuten sich größter Beliebtheit, und wo stand denn geschrieben, dass die Ehe ein Gefängnis war? Es musste ja nicht jeder leben wie meine Schwester Marianne mit dem Spießer Dieter.

Karsten wiederum hielt unsere Beziehung vor seiner Frau geheim. Er wollte ihr nicht unnötig wehtun, und darum hatte ich ihn ja selbst gebeten.

»Sie ist eine ganz tolle Mutter, und unsere drei Kinder stehen bei ihr an erster Stelle. Sie würde alles für sie tun und ich natürlich auch.«

Nie verlor er ein böses Wort über Ingeborg, ganz im Gegenteil. Wenn er von seiner Frau sprach, dann immer mit Respekt. Sie war auch schon Mitte dreißig und Lehrerin. Aber man schien einander den nötigen Abstand zu lassen. Vielleicht war es auch bei Karsten nie die große Liebe gewesen, und sie hatten zu jung geheiratet. Heimlich träumte ich manchmal von dem Gedanken, eines Tages selbst offiziell an seiner Seite zu stehen. Aber dann riss ich mich immer wieder zusammen und machte mir klar, dass mir das niemals zustehen würde. Karsten war eben mein kleines großes Geheimnis. Auf Zeit. Und ich wollte einfach nur jeden Moment mit ihm genießen. Wir lebten intensiv im Hier und Jetzt, ohne uns Gedanken um die Zukunft zu machen.

Dass auch er sich richtig in mich verliebt hatte, daran zweifelte ich keine Sekunde. Wir passten einfach so toll zusammen! Uns gefiel dieselbe Musik, wir hatten denselben Modegeschmack, wir liebten es, schön essen zu gehen und hatten Lust auf die gleichen Filme und Theaterstücke. Wir tanzten zusammen, als hätten wir nie etwas anderes getan. Außerdem imponierte er mir.

Heute würde ich Karsten als Karrieretyp bezeichnen – etwas, das es damals in der DDR eigentlich so überhaupt nicht gab. Er musste wirklich der oberste Chef seiner Firma sein, denn seine Schuhe waren niemals schmutzig. Als Bauingenieur betrat er doch sicherlich auch seine Baustellen?! Bestimmt reinigte sein Chauffeur oder sonst irgendjemand sofort seine Schuhe, oder aber er hatte Gummistiefel im Kofferraum.

Ich machte mir über all das keine Gedanken. Er war der Prinz, der mich wach geküsst hatte – auch in sexueller Hinsicht. Inzwischen waren wir in meiner kleinen Wohnung intim geworden, und er hatte mich mehr als glücklich gemacht. Dass es so etwas Wunderschönes geben konnte, hatte ich nicht geahnt. Das mit Frank war überhaupt kein Vergleich gewesen. Auch in diesem Punkt wusste ich Karstens Alter und Erfahrenheit sehr zu schätzen.

Warum sollten wir es kaputtreden? Es kam mir doch schließlich zugute.

Die Wand im Wohnzimmer war nicht nur vom Schimmel befreit worden, sondern die beiden Genossen Heinzelmännchen hatten auch einen großen goldenen Rahmen darüber angebracht, der mit rotem Stoff bespannt war. Das sah sehr romantisch aus und ziemlich extravagant. Das ABBA-Poster war verschwunden, aber ich vermisste es auch nicht. »Mädchenkram«, hatte Karsten liebevoll gesagt. Der rote Stoff sah viel erwachsener und moderner aus.

Marianne hatte minutenlang darauf gestarrt: »Sieht ja irre aus! Wer hat dir das gemacht?«

»Ein Bekannter. Dafür habe ich ihm die letzten drei Pediküren gratis gemacht.«

»Beziehungen sind eben alles«, hatte sie erneut gemurmelt.

Karsten schaffte es auch, immer dann klammheimlich in meine Wohnung zu schlüpfen, wenn Marianne und Dieter entweder nicht zu Hause waren oder schon fest schliefen. Das Quietschen des Lifts war inzwischen auch behoben worden. Mein Liebhaber war einfach unglaublich hilfsbereit und aufmerksam. Und der ältere Fahrer parkte immer um die Ecke. Der arme Mann musste oft halbe Nächte warten, bis sein Chef wiederauftauchte. Aber dafür wurde er ja schließlich bezahlt.

Ich selbst fühlte mich wertgeschätzt und wichtig genommen wie noch nie. Erwachsen und frei.

Ich wollte nie so werden wie Marianne. Die musste Dieter um Haushaltsgeld bitten und durfte nicht arbeiten, nur weil ihm das nicht gefiel. Ich wollte immer selbstbestimmt bleiben.

Die Ehe meiner Eltern war auch nicht unkompliziert gewesen. Vater war das, was man heute einen Narzissten nennen würde: Alles musste sich um ihn drehen. An den Wochenenden waren fast immer wichtige Aufführungen, und darauf musste sich Vater in der engen Wohnung vorbereiten. Dann lief unsere Mutter mit uns Mädels stundenlang durch die Straßen, damit er seine Ruhe hatte. Manchmal weinte sie dabei. Erst viel später sollte ich wissen, warum. Mitten in einem Konzert, das er selbst dirigierte, bekam mein Vater einen tödlichen Herzinfarkt. Dass er tot war, war für mich als kleines Mädchen kein so großes Drama wie für meine Mutter. Sie trauerte schrecklich, aber vielleicht gar nicht nur um ihn, sondern vermutlich auch um ihre Heimat und die Menschen, die sie dort hatte zurücklassen müssen. Nachdem Mutter über Jahre hinweg immer wieder vergeblich versucht hatte, nach dem Mauerbau mit uns beiden Töchtern zurück nach Wien zu kommen, ihr aber jede weitere Ausreise nach Österreich verwehrt wurde, verlor sie zunehmend den Lebensmut. Sie tat noch alles für uns Töchter, was in ihren Kräften stand, und lebte von Vaters Rente, bis sie eines Tages nicht mehr aufwachte. Schon lange vorher war sie schon depressiv gewesen und hatte das Bett tagelang nicht mehr verlassen. Sie hatte Tabletten genommen, die sie müde und apathisch machten. Bis ihr Herz nicht mehr im Dreivierteltakt, sondern irgendwann gar nicht mehr schlug.

Es war sehr bedrückend für mich gewesen, mit einer seelisch kranken Mutter zusammenzuleben. Und das Glück mit Frank hatte auch nicht gehalten. Kein Wunder, dass ich in Karstens Gegenwart aufblühte. Doch je mehr ich mich an seine Fürsorge, an seine Zärtlichkeit, an sein ehrliches, warmes Interesse, an seine Großzügigkeit gewöhnte, desto mehr machte ich mir Gedanken darüber, was aus uns werden sollte.

Er war ein wundervoller Zuhörer. Auch über meinen Alltag im Kosmetikstudio wollte er alles wissen, was ich ganz rührend fand. Als ob sich ein gestandener Bauingenieur ernsthaft für Maniküre, Pediküre und Gesichtsbehandlungen interessiert! Aber er sagte immer, alles was mich betreffe, sei ihm wichtig. Ja, er behauptete sogar, auf alle eifersüchtig zu sein, die in den Genuss meiner Massagen und Berührungen kamen. Und wenn es nur eine Hornhautentfernung war! Da musste ich immer geschmeichelt lachen.

Jeden Morgen um kurz nach sieben rief er mich an. Er wusste, dass ich um acht zur Arbeit musste.

»Guten Morgen, geliebte Prinzessin. Hast du gut geschlafen?«

Jedes Mal überzog mich ein warmes Kribbeln. »Ja, aber auf einmal warst du weg!«

»Du hast so engelsgleich geschlafen, als ich mich davongestohlen habe, da wollte ich dich nicht stören …«

»Oh je. Bestimmt habe ich ausgesehen wie eine kaputte Pusteblume …«

»Du hast ausgesehen wie Dornröschen, nur noch viel schöner.«

Ich erfreute mich an seinen zauberhaften Komplimenten und presste das Ohr noch mehr an den Hörer. »Und deine Frau hat wieder nichts gemerkt?«

»Wir haben getrennte Schlafzimmer. Mein Fahrer fährt sehr diskret und stellt schon beim Einbiegen in unsere Straße den Motor aus. Das weißt du doch.«

»Ja, aber ich glaube es nicht wirklich …« Bei den beengten Wohnverhältnissen, die ich kannte, da gab es doch keine getrennten Schlafzimmer!

»Ingeborg und ich wohnen doch mit den Kindern in einer Villa am Stadtrand, die einst ihren Eltern gehört hat. Ich habe mir angewöhnt, in meinem Büro im Keller zu schlafen, wenn ich beruflich bedingt spät heimkomme. Sie hat sich längst daran gewöhnt.«

Wie er das mit seiner tiefen sonoren Stimme so lässig sagte, konnte ich mir das Familienidyll am Stadtrand prächtig vorstellen. Eifersucht nagte an meinen Eingeweiden. Wie rücksichtsvoll von ihm: Weder sie noch mich wollte er beim Schlafen stören. Er war ein Gentleman. Und ein Gentleman genießt und schweigt!

Ich hütete mich jedenfalls, unnötige Fragen zu stellen. Die Wochenenden gehörten grundsätzlich seiner Familie. Da fühlte ich mich, gerade jetzt im Frühsommer, in meiner Wohnung ziemlich einsam. Wie bestellt und nicht abgeholt. Gitti hatte inzwischen auch einen Freund. Der hieß Siggi und hatte einen Schrebergarten. Mein Ober-Spießer-Albtraum! Da saß ich lieber allein in der Wohnung und blätterte in Modemagazinen aus dem Westen, die jemand im Kosmetikinstitut hatte liegen lassen.

Umso mehr freute ich mich, als unverhofft doch Karsten anrief: »Ich fahre am Wochenende mit den Kindern zum Stausee Hohenfelden. Hast du Lust mitzukommen?«

»Bitte was?« Mein Herz machte fast einen Purzelbaum vor Glück. »Und deine Frau?«

»Ingeborg ist auf einer Lehrerfortbildung. Sie ist froh, wenn ich die Kinder nehme und ihnen ein tolles Wochenende biete. Wir schlafen im Zelt.«

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Zelten mit Karsten? Unter dem Sternenhimmel am See? Wenn er mir die Kinder vorstellte, war es ihm doch ernst mit mir! Dann war das Geheimnis ja gar nicht mehr so geheim. Dann hatten wir vielleicht doch eine Zukunft?

»Aber wird sie denn nichts dagegen haben?«

»Sie muss es ja nicht erfahren.«

»Ja, aber die Kinder?« Ich wusste inzwischen, dass Karsten zwei Söhne und eine kleine Tochter hatte. Jana war fünf, Tom neun und Ingo elf. Er schwärmte in den höchsten Tönen von ihnen und hatte mir auch schon Fotos gezeigt. Blonde, hübsche Wonneproppen. Die Söhne waren beide sportlich sehr begabt, die Kleine ein blauäugiger Sonnenschein.

»Die Kinder wollen ein schönes Wochenende haben. Und sie wollen, dass ihr Papi glücklich ist. Und falls es dir leichter fällt, dann Ja zu sagen: Wir haben natürlich zwei Zelte mit.« Er ließ ein warmes Glucksen vernehmen. »Du könntest ja zufällig als Tramperin am Straßenrand stehen. Dann lesen wir dich auf und nehmen dich netterweise mit, wir sind eine sehr sozial eingestellte Familie …«

Ich presste die Faust vor den Mund, um nicht gleich loszujubeln.

Das war so eine verrückte Idee!

»Und du meinst, sie merken es nicht? Habt ihr denn überhaupt genug Platz im Auto?«, versuchte ich Zeit zu schinden.

»Der Chauffeur hat am Wochenende frei.« Karsten ließ ein sonores Lachen folgen. »Alles muss er ja auch nicht wissen.«

Ich kicherte. Die Vorstellung, dass er mich als Tramperin aufgabeln würde, ließ mein Zwerchfell flattern vor Abenteuerlust. »Und wo soll ich … zufällig … stehen?«

Karsten nannte mir die Stelle an der Ausfallstraße und die genaue Zeit: Freitag, 19 Uhr 30. Vorher musste ich ja noch arbeiten, aber auch das schien Karsten bereits in seine Pläne miteinbezogen zu haben.

»Es ist ja noch lange hell. Wir kommen locker rechtzeitig dort an und können in Ruhe die Zelte aufbauen.«

»Und was muss ich mitnehmen?« Insgeheim spulte ich schon mein modisches Programm ab: Bikini, kurze Jeans, enge T-Shirts, mein kniekurzes, rot gepunktetes Sommerkleid und meine angesagten Sandaletten, außerdem natürlich die coolen Turnschuhe und etwas Warmes für die Nacht. Karsten hatte mir schon so viele tolle Klamotten gekauft! In Leipzig waren wir sogar im Intershop gewesen. Gott, war das alles aufregend!

»Zaubermaus, lass dich überraschen. Ich habe an alles gedacht. Du glaubst gar nicht, wie glücklich du mich machst. Die Kinder werden dich lieben.«

*

Am Freitagabend stand ich aufgeregt am Straßenrand und hielt den Daumen in die Luft. Wie nicht anders zu erwarten, hielten gleich mehrere Autos an, in denen ganz andere Leute saßen, die mich hilfsbereit mitnehmen wollten. Besonders die jungen Männer waren ganz enttäuscht, wenn ich mich wieder abwandte und ihnen so einen Korb gab.

»He, wieso steigst du nicht ein? Ist dir mein Trabi nicht gut genug? Wartest wohl auf einen Mercedes, was?«

Ach, woher sollten die armen Kerle auch wissen, auf wen ich wartete! Auf meinen deutlich reiferen Traummann.

Irgendwann entdeckte ich die schwarz glänzende Karosse, diesmal mit ungewohntem Dachaufbau und noch ungewohnteren drei Blondschöpfen auf dem Rücksitz. Vor lauter Aufregung bekam ich einen ganz trockenen Mund. Karsten setzte den Blinker und kurbelte die Scheibe runter.

»Wohin, junge Frau?« Er strahlte mich aus seinen jetzt dunkelblauen Augen dermaßen an, dass mir die Knie weich wurden. Mein Herz klopfte wie kurz vor einem Banküberfall.

»Ähm, nehmt ihr mich mit zum Stausee Hohenfelden?«

»Na, so ein Zufall, da wollen wir auch hin!« Er drehte sich zu seiner Kinderschar um: »Nehmen wir die nette junge Frau mit?«

»Klaro!« – »Natürlich!« – »Warum nicht!«, tönte es von hinten.

Karsten sprang aus dem Auto, nahm mir den Rucksack ab und streifte dabei wie aus Versehen meine Taille. »Na, dann nehmen Sie Platz, schöne Frau.«

»Hallo ihr drei.« Ich schaute nach hinten.

»Ich bin Ingo, das ist Tom, und das ist Jana«, stellte der Älteste höflich seine Familie vor. Gut erzogen waren sie auch noch! Er hatte den gleichen Charme wie Karsten. Ich konnte mir jetzt schon vorstellen, wie er die Mädels später um den Finger wickeln würde! Ich ließ mich auf den Beifahrersitz plumpsen und versuchte, meine Aufregung in den Griff zu bekommen. Karsten gab Gas und begann unverbindlich zu plaudern.

»Dann sagen wir am besten Du? Ich bin Karsten.« Seine starken Hände hielten das Lenkrad und bedienten den Schaltknüppel. Ich musste mich zwingen, nicht daran zu denken, was sie sonst so hielten und bedienten.

»Ja.« Ich schluckte trocken. »Gern. Ich bin … die Sophie.« Meine Mundwinkel zitterten. Wenn er mich jetzt Zaubermaus nannte, war die Show vorbei!

»Sophie.« Seelenruhig legte Karsten den vierten Gang ein. »Was für ein schöner Name.« Er musterte mich von der Seite, als sähe er mich zum ersten Mal. Mein James Bond war wirklich ein guter Schauspieler!

Die Sommerlandschaft flog an uns vorbei. Der Himmel über den Kornfeldern war so knallblau wie die Augen meines Geliebten.

Für einen kurzen Moment stach mich wieder die Eifersucht. So also fühlte sich normalerweise Ingeborg? Auf diesem Platz durfte sie sonst immer sitzen? Was musste sie für eine glückliche Frau sein! Ich schloss die Augen und ließ meine Haare im Winde fliegen.

»Boah, du riechst gut«, bemerkte das entzückende Töchterchen.

Wir plauderten angeregt, und die Kinder schöpften keinerlei Verdacht. Im Gegenteil: Zutraulich erzählten sie mir, wo sie wohnten, nämlich im Bert-Brecht-Weg neun in einer alten Villa, in welche Schule beziehungsweise Hort sie gingen, und dass ihre Mama dieses Wochenende auf einer Lehrerfortbildung in Jena sei.

»Sozialismus und Marxismus«, quäkte die Kleine leicht lispelnd.