GrenzLust - Jule Richter - E-Book

GrenzLust E-Book

Jule Richter

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Beschreibung

Eine besondere Begegnung im Hausflur, und zwei Frauen geraten in einen Strudel aus unbekannten Gefühlen, Leidenschaft, Ängsten und Lust: Die zurückhaltende Ella ist gerade in Monas Haus eingezogen, Mona lebte ihre Neigungen zur dominanten Erotik bislang in flüchtigen Affären aus, doch mit Ella wird alles anders. Sie erfahren ihre Grenzen - sexuell und emotional -, lernen sich selbst neu kennen und entdecken Seiten an sich, die sie nie erahnt hatten. Aus der zunächst rein sexuellen Leidenschaft entwickeln sich Gefühle, mit denen beide Frauen nicht gerechnet haben. Es beginnt eine Gratwanderung zwischen Lust und Liebe und der Frage, wie Grenzerfahrungen und eine liebevolle Beziehung zueinander finden können ...

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Jule Richter

GRENZLUST

Roman

© 2015édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-149-0

Coverfoto: © woyzzeck – Fotolia.com

Für T. R.

Gerade deshalb . . .

. . . an deiner Hand, ein Leben lang.

1

Ella

»Ach, Mist«, fluche ich, als ich bei dem Versuch scheitere, meine vollen Einkaufstüten durch die viel zu enge Haustür zu manövrieren. Kurz vor meinem Ziel ergießen sich meine Einkäufe für die Woche über den Steinfußboden im Hausflur.

Was für ein Tag. Erst der Stress im Büro, weil mein reizender Chef seinen Anschlussflug von Frankfurt nach Berlin verpasst und mich dafür verantwortlich gemacht hat. Und jetzt auch noch das.

Umständlich bücke ich mich, um den Einkauf halbwegs unbeschadet aufzusammeln. Ich sollte wirklich einen Rucksack mitnehmen . . . Ich werde es nie lernen. Brummelnd hebe ich die Apfelsinen vom Fußboden auf. Den zerquetschten Joghurtbecher, dessen Inhalt sich langsam einen Weg Richtung Kellertreppe bahnt, lasse ich liegen. Den hole ich später, wenn ich den restlichen Einkauf heil in die Wohnung gebracht und mich mit genug Papiertüchern eingedeckt habe.

Ich stapfe die letzten Stufen hinauf zu meiner Wohnungstür. Als ich zwei Etagen über mir den Schlüssel im Schlüsselloch höre, stockt mir kurz der Atem. Seit ich hier wohne – und das sind immerhin schon drei Monate, zwei Wochen, fünf Tage und fünfzehn Stunden –, begegne ich immer wieder der Nachbarin aus dem Dachgeschoss. Sie scheint etwa in meinem Alter zu sein, und wenn sie sich gedankenverloren mit den Fingern durch ihre kurzgeschnittenen Haare fährt, während sie an mir vorbeigeht, kann ich meinen Blick kaum von ihr lassen. Ich krame eilig meinen Schlüsselbund hervor. Hoffentlich kann ich der Begegnung diesmal entgehen. Ich möchte wirklich nicht, dass sie meine Nervosität bemerkt, die sich in mir ausbreitet, sobald ich sie sehe.

Da aber mein Autoschlüssel nur bedingt in das Schlüsselloch meiner Wohnungstür passt und ich meinen gesamten Einkauf – abgesehen von dem Joghurtbecher am Fuß der Treppe – noch einmal abstellen muss, um den Schlüssel heil wieder herauszubekommen, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dem Zusammentreffen zu stellen und zu hoffen, dass sie nichts bemerkt. Ich nestele an dem Schlüssel herum und tue ganz besonders beschäftigt, um ihr keine Chance zu geben, mein mittlerweile rot eingefärbtes Gesicht zu sehen. Herrgott noch mal, warum kann ich nicht einfach entspannt bleiben, ihr einen guten Tag wünschen und souverän meine Wohnung betreten?

Mona

Aha, hab ich doch richtig gehört. Die Kleine aus dem zweiten Stock. Die ist wirklich niedlich. Aber was tut sie denn da? Warum umgreift sie mit beiden Händen den Schlüssel in ihrem Schlüsselloch und zerrt wie wild daran? Als ich auf ihrer Etage ankomme, kann ich mich nicht zurückhalten: Ich trete hinter sie und schaue ihr neugierig über die Schulter.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, frage ich.

Ruckartig dreht sie sich zu mir um, stolpert über die abgestellten Einkaufstüten und kann sich so eben noch an ihrer Wohnungstür abstützen.

»Hi. Du siehst aus, als könntest du Hilfe gebrauchen«, schmunzele ich und blicke ihr tief in die Augen. War sie die ganze Zeit schon so rot im Gesicht?

»Äh . . . Hi. Nein, nein . . . Es geht schon. Danke. Ich öffne immer so meine Tür«, stottert sie.

»Ach. Mit dem Autoschlüssel, ja?« Mein Grinsen wird immer breiter. »Den Trick muss ich mir merken. Wobei – wirklich gut scheint diese Methode nicht zu funktionieren, oder?« Immerhin, sie grinst schief zurück.

»Lass mich mal sehen«, sage ich und schiebe sie vorsichtig zur Seite. Als meine Hände ihre Arme berühren, zuckt sie merklich zusammen. Das reizt mich. Ich lasse meine Hände noch einen Moment dort liegen, bevor ich sie löse, um mich um den Schlüssel zu kümmern. Ein kleines Ruckeln und eine Wendung nach links, und schon halte ich den Schlüssel in der Hand und reiche ihn ihr.

»Äh . . . danke. Aber ich hätte das auch selbst geschafft«, flüstert sie verlegen, als sie mir den Autoschlüssel abnimmt.

»Davon gehe ich aus. Aber ich hab dir gern geholfen«, erkläre ich meinen beherzten Einsatz am Schlüsselbund und trete einen Schritt zurück. Ich weiß nicht warum, aber ihre Nähe macht mich unsicher. Um es zu überspielen, sage ich eilig: »So, ich muss weiter. Du kommst zurecht?«

»Natürlich. Und danke noch mal.«

Hinter mir höre ich es poltern. Über die Schulter hinweg beobachte ich, wie meine Nachbarin ihre gerissenen Tüten mit dem Fuß in die Wohnung schiebt. Ich erhasche einen Blick in ihren Flur, weil sie die Tür offen lässt. Was ich sehe, gefällt mir: geradlinig, wenig Schnickschnack und zu meiner Freude kein riesiger Monsterschuhschrank. Wobei der sich auch woanders befinden könnte. Ob sie allein dort wohnt? An der Klingel steht nur ein Name. Während ich so meinen Gedanken nachhänge, bemerke ich gar nicht, dass sie abermals aus der Tür heraustritt.

»Ist noch was?«, fragt sie überrascht, als sie mich immer noch auf dem Treppenabsatz mit dem Blick in ihre Wohnung vorfindet.

Nun werde ich rot. »Äh, nein. Ich muss los. Ciao!«, plappere ich drauflos und mache auf dem Absatz kehrt, um meinen Weg nach draußen fortzusetzen. Dabei übersehe ich fast den zerplatzten Joghurtbecher am unteren Rand der Treppe.

»Ein Querulant aus meinem Einkauf. Ich werde ihn mir umgehend vornehmen«, erklärt mir meine Nachbarin, die mir die Treppen hinunter gefolgt ist. Erst jetzt sehe ich, dass sie Papiertücher und einen Wischlappen in den Händen hält. Ich lächele sie an und verlasse endgültig das Haus.

Ella

Himmel noch mal, was war das denn bloß? Meine Hände sind noch ganz feucht. Und das liegt nicht allein an dem nassen Wischlappen, den ich so fest umklammere, als hätte er vor, sich aus dem Staub zu machen. Während ich die Sauerei vom Flurboden wische, lasse ich die merkwürdige Begegnung noch einmal Revue passieren. Dachte sie wirklich, ich wäre nicht selbst in der Lage, meine Tür zu öffnen? Herrgott noch mal, ich bin Assistentin der Geschäftsleitung in einem angesehenen Unternehmen. Und das mit Mitte zwanzig. Als könnte ich da nicht selbst eine Tür öffnen. Die muss ja eine wahnsinnig hohe Meinung von mir haben. Tsss . . . Oder – mich beschleicht ein unerwarteter Gedanke – vielleicht war das gar kein Zeichen eines ausgeprägten Helfersyndroms, sondern . . . Aber nein, das ist absurd. Ich verwerfe die Idee, sie könnte Interesse an mir haben, ebenso schnell wieder, wie ich den fliehenden Joghurt vom Boden aufgewischt und die Becherreste eingesammelt habe.

Oben in meiner Wohnung schmeiße ich erst einmal eine Tiefkühllasagne direkt aus der Einkaufstasche in die Mikrowelle und freue mich darauf, sie ganz stilvoll in meiner Badewanne zu essen. Ich bin wirklich k. o. von dem Tag. Mein Chef treibt es mit den Überstunden langsam auf die Spitze. Ich müsste bald einen Monat am Stück frei haben, wenn das so weitergeht. Aber das interessiert ihn nicht.

Die Mikrowelle klingelt. Ich schiebe die heiße Packung mit der Lasagne auf einen Teller, schnappe mir eine Gabel und verziehe mich ins Badezimmer.

Gedanken aus. Entspannung an. Herrlich, so ein Feierabend!

Mona

Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war, Ärztin zu werden. Diese Überstunden machen mich langsam wirklich mürbe. Ich schlafe schon kaum noch zu Hause. Meist übernachte ich im Schwesternwohnheim, wo ich mir vor einigen Wochen übergangsweise ein Zimmer gemietet habe, um mir den Heimweg zu sparen. Aber das kann doch nicht die Lösung sein.

Außerdem verpasse ich durch diesen Daueraufenthalt im Krankenhaus die Begegnungen mit meiner wirklich sehr netten Nachbarin.

Bei dem Gedanken an sie muss ich schmunzeln. Sie scheint ein ganz kleines bisschen chaotisch zu sein. Und trotzdem reizt mich irgendetwas an ihr.

Ich seufze, schüttele die Bettdecke auf und schlüpfe in das mehr oder weniger gemütliche Bett in meinem kargen Schwesternwohnheimzimmer. Müde drehe ich mich auf die Seite und hoffe, dass ich schnell einschlafe. Meine nächste Schicht beginnt in nicht einmal acht Stunden.

Ella

Langsam reicht es mir mit diesem Ekel von Chef. Vielleicht sollte ich mich doch nach einem neuen Job umsehen. Ich lasse mich doch nicht den ganzen Tag rumkommandieren und anblaffen, nur weil er seine Termine nicht im Griff hat.

Spontan entscheide ich mich, heute zu Fuß nach Hause zu laufen. Ich brauche frische Luft. Hoffentlich pustet sie mir den Kopf frei, damit ich wenigstens mal wieder eine Nacht durchschlafe ohne Albträume, in denen mein Chef sich in eine Riesenkrake verwandelt, mich mit seinen vielen Armen umschlingt und genüsslich auffrisst. Mich schüttelt es bei dem Gedanken, und ich gehe einen Schritt schneller.

Der Sommerabend ist angenehm warm. Ein lauer Wind weht mir ins Gesicht. Ich atme tief ein und fühle neue Energie durch mich hindurchströmen.

Dreißig Minuten später komme ich zu Hause an und öffne die Haustür mit einem lauten Quietschen. Da muss der Hausmeister dringend was tun. Ich höre sogar im zweiten Stock, wenn meine werte Nachbarschaft das Haus betritt.

Der zweite Stock. Eigentlich viel zu hoch, wenn man den ganzen Tag auf den Beinen war. Aber gleich habe ich es geschafft.

Mit geübten Handgriffen stecke ich den Wohnungsschlüssel ins Schlüsselloch. Da höre ich unten schon wieder die Eingangstür quietschen. Und kaum eine Sekunde später steht sie hinter mir.

»Oh, hallo! Lange nicht gesehen«, begrüßt sie mich, als würden wir uns ewig kennen.

»Äh, ja. Hallo«, antworte ich knapp und habe es plötzlich sehr eilig, meine Wohnung zu betreten.

Aber ich bin nicht schnell genug. Hinter mir frotzelt sie: »Und? Hat es diesmal mit dem Autoschlüssel geklappt, oder hast du deine Methode noch einmal überdacht?«

Ich verdrehe die Augen. Was erlaubt sie sich eigentlich? Ich grinse nur gequält, nicke ihr zu, wünsche ihr noch einen schönen Abend und verschwinde dann in meiner Wohnung. Die Tür fällt ins Schloss, und ich bleibe dahinter noch einen Moment stehen. Aber erst eine halbe Ewigkeit später höre ich Schritte.

Hat sie noch vor meiner Tür gestanden? Worauf hat sie gewartet? Komische Frau. Na ja, egal. Ich bin müde. Ich möchte nur noch in die Wanne und mich dann mit einer Tüte Chips im Bett verkrümeln.

Im Gehen ziehe ich die Schuhe aus, lasse sie achtlos auf dem Boden liegen, und meine restliche Kleidung folgt ihrem Beispiel.

Mona

Oh, da bin ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten. Mist. Ich wollte sie doch nicht beleidigen. Aber offenbar kam das bei ihr so an. Ich stehe noch einen Moment wie angewurzelt vor ihrer Tür und überlege krampfhaft, ob ich die Situation noch einmal ändern kann.

Da mir jedoch der Kopf brummt und ich dringend eine Dusche und mein Bett brauche, stapfe ich die restlichen Treppen hoch zu meiner Wohnung. Was für eine Wohltat, dass ich morgen frei habe. Und dass ich nach diesem viel zu langen Tag jetzt endlich die Schuhe ausziehen und die Kleider fallen lassen kann.

2

Ella

»Oh nein! Zu spät, zu spät, zu spät«, brabbele ich vor mich hin, als ich unachtsam meine Kleider aus dem Schrank rupfe, um irgendwas Brauchbares für den heutigen Arbeitstag herauszuangeln. Es steht ein Meeting an, und ich muss den Konferenzraum vorbereiten, weil meine Assistentin krank geworden ist. Die Assistentin der Assistentin also . . . so ein Schwachsinn. Ich bin aber sehr spät dran, und anzuziehen habe ich auch nichts mehr – davon aber jede Menge.

Eine fast zu legere Bundfaltenhose und eine roséfarbene Bluse müssen heute genügen. Schnell binde ich mir die Haare zu einem Dutt zusammen und schlüpfe in meine Pumps. Ich haste aus der Wohnungstür und hinaus auf die Straße. Hoffentlich bleibe ich jetzt nicht auch noch im Berufsverkehr stecken. Ich ergebe mich in mein Schicksal und überlasse den weiteren Verlauf der höheren Macht.

Gerade rechtzeitig komme ich ins Büro gestolpert, lege meine Jacke und meine Tasche ab, hetze in die Küche, um Kaffee zu kochen, und schnappe mir die Mappen mit der Präsentation, die der Dreh- und Angelpunkt des Meetings sein wird. Ich verteile gerade die Unterlagen auf dem Tisch, als der Chef in der Tür steht.

»Sie sind spät dran, Frau Gerber«, tadelt er mich und streckt seinen fetten Bierbauch noch ein Stückchen weiter in den Konferenzraum.

Freundlich, obwohl ich innerlich brodele, entgegne ich: »Es tut mir leid, Herr Falk. Aber der Raum wird vorbereitet sein, wenn die Teilnehmer kommen.«

»Das will ich auch meinen«, sagt er und macht auf dem Absatz kehrt.

Gerade als ich alle Tassen, Gläser, Kaffeekannen und Wasserflaschen verteilt habe, kommen die ersten Gäste. Ich weise ihnen ihre Plätze zu und gebe dem Chef Bescheid.

Na toll. Nach so einem Start ist der Tag schon fast gelaufen. Ich lasse mich auf meinen Bürostuhl fallen und genehmige mir eine Tasse Kaffee, bevor ich mich in meine eigentliche Arbeit stürze.

Die Zeit will gar nicht vergehen. Gut, dass morgen Samstag ist und ich endlich mal ausschlafen und entspannen kann. Noch so einen Tag brauche ich wirklich nicht.

Kurz bevor ich Feierabend habe, ich bin gerade dabei, meinen Schreibtisch aufzuräumen, kommt der Chef in mein Büro. »Frau Gerber«, kündigt er mit wichtiger Miene an, »am Dienstag findet eine Konferenz in Frankfurt statt. Sie werden mich begleiten. Am Montagabend fliegen wir hin und sind Dienstagabend wieder zurück. Buchen Sie uns die Flüge und die Hotelzimmer, bevor Sie ins Wochenende entschwinden.«

»Natürlich, Herr Falk. Muss ich mich auf die Konferenz vorbereiten?«

Bitte sag nein, bitte sag nein.

Zu meiner Erleichterung erwidert er: »Nicht nötig, ich brauche Sie lediglich als Protokollantin. Schönen Abend, Frau Gerber.« Und weg ist er.

Na wunderbar. Frankfurt. Da steht mir der Sinn ja gar nicht nach. Ich seufze, rufe Hotel und Fluggesellschaft an und buche unsere Flüge und die Hotelzimmer. Dann fahre ich den PC runter, schnappe meine Tasche und meine Jacke und verlasse endlich mein Büro.

Mona

So ein Gammeltag ist doch einfach wunderbar. Nichts tun, was nicht unbedingt notwendig ist. Die Augen verschließen, wenn man am großen Wäscheberg vorbeiläuft. Und eine Kehrtwendung vollziehen, wenn der Abwasch ins Blickfeld gerät. Herrlich.

Und dennoch muss ich mich aufraffen: Ich habe nichts mehr zu essen im Haus.

Gerade als ich meine Tür ins Schloss fallen lasse, quietscht unten die Eingangstür. Unfassbar, dass ich das sogar im Dachgeschoss höre. Da muss der Hausmeister dringend was dran tun.

Ich schließe ab und flitze hungrig die Treppen runter. Gut, dass der Grieche nur schräg über die Straße ist und ich schon telefonisch vorbestellen konnte.

Ganz in Gedanken an das wunderbare Essen, das ich gleich genießen werde, bemerke ich gar nicht den Gegenverkehr im Treppenhaus. Als ich um die Ecke zische, um den letzten Treppenabsatz in Angriff zu nehmen, steht sie vor mir. Etwas verwirrt und mit geweiteten Augen. Sie scheint genauso überrascht zu sein wie ich.

Verlegen sage ich: »Oh, Entschuldigung, ich hab Sie gar nicht gesehen.«

Schon wieder. Sonst bin ich nie verlegen.

»Nicht schlimm. Das ist ein Problem, das mir durchaus bekannt ist.« Sie grinst schief, schiebt sich an mir vorbei und dreht sich noch einmal um: »Schönen Abend noch!« Dann verschwindet sie hinter der Ecke, und ich höre, wie sich ihre Schritte entfernen.

»Gleichfalls«, murmele ich fast unhörbar und gehe weiter.

Das Essen war phantastisch. Zufrieden schiebe ich den Teller von mir weg und lehne mich auf dem Sofa zurück. Um den Abend ausklingen zu lassen, habe ich mich für eine DVD entschieden. Zum hundertsten Mal sehe ich mir Secretary an. Eigentlich kann ich dabei gut abschalten. Doch heute gelingt es mir nicht. Ich muss ständig an meine Nachbarin denken.

Frau Gerber. Der Vorname ist mir leider nicht bekannt. Ich kann sie mir unverschämt gut in der Rolle der Sekretärin vorstellen. Bei dem Gedanken werde ich rot. Schnell verwerfen. Wie komme ich bloß auf diese Ideen? Ich schalte den Film vorzeitig aus und beschließe, mich ins Bett zu legen und noch ein wenig zu lesen.

Morgen habe ich noch einen Tag frei. Aber ich muss dringend einkaufen. Ein Glück, dass das dank der langen Ladenöffnungszeiten am Samstag heutzutage nicht mehr bedeutet, dass ich mir einen Wecker stellen muss.

Ella

Die Nachbarin macht mich echt wahnsinnig. Sie braucht mich nur anzurempeln, und schon steht mein Körper unter Hochspannung. Ich muss mir diese Gedanken aus dem Kopf schlagen. Es ist einfach nur albern zu glauben, dass sie interessiert an mir ist.

Ich schüttele den Kopf und stelle meine Tiefkühllasagne in die Mikrowelle. Dann schlüpfe ich aus meinen Arbeitsklamotten und hinein in mein Wohlfühloutfit. Endlich Wochenende.

Die Lasagne schmeckt wie immer bescheiden. Aber wenn ich sie selbst gekocht hätte, wäre das Ergebnis vermutlich noch verheerender. Also mache ich das Beste draus und gebe noch etwas Salz drüber. Damit tue ich mir allerdings keinen Gefallen. Ich esse die Hälfte der Lasagne auf und schmeiße den Rest in die Biotonne. Anschließend kuschele ich mich aufs Sofa, schnappe mir eine große Tafel Schokolade und eine Flasche Bier und lasse den Abend gemütlich ausklingen.

Mona

»Was? Schon zwölf Uhr?« Ich kann es gar nicht fassen, als ich einen Blick auf meinen Wecker werfe. Da habe ich den freien Tag ja schon halb verschlafen. So ein Mist.

Ich quäle mich aus dem Bett, ziehe die Vorhänge auf und würde sie am liebsten gleich wieder schließen, als ich sehe, dass es wie aus Eimern gießt. Eigentlich ist so ein Sommerregen durchaus was Schönes. Aber nicht, wenn ich noch mal raus muss und mein Auto ausgerechnet jetzt in der Werkstatt ist. Nun ja, es hilft alles nichts. Ich habe einen Kühlschrank, der so leer ist wie die Wüste, und ich habe Hunger.

Erst einmal dusche ich in Ruhe, ziehe mich an und gehe bei meinem Lieblingsbäcker frühstücken, bevor ich mich ins Wochenendeinkaufsgetümmel stürze.

Das Frühstück hat gutgetan, und der Einkauf war schneller erledigt, als ich dachte. Ich hoffe, ich habe alles. Ich bin ohne Einkaufszettel losgegangen, und das nimmt meist kein gutes Ende. Zunehmend atemlos schleppe ich die Tüten in den vierten Stock. Himmel, warum musste ich mich nur in diese Dachgeschosswohnung verlieben?

Oben angekommen, fällt mir ein, dass ich ewig nicht mehr in den Briefkasten geschaut habe. Auweia. Der muss sicher schon wegen Überfüllung geschlossen werden. Vor einiger Zeit hat der Postbote meine Briefe auf die Briefkästen gelegt, weil mein Kasten aus allen Nähten platzte. Um eine Wiederholung zu verhindern, beschließe ich, den Weg nach unten noch einmal anzutreten und dem Postboten eine Freude zu machen.

Ich schlendere langsam die Treppen hinunter. Mein Atem geht immer noch schwer von dem Einkaufstütenschleppmarathon, und es ist Samstag. Also lasse ich mir Zeit. Auf dem letzten Treppenabsatz höre ich das Briefkastengeklapper.

Oh nein. Da ist er sicher schon, der Briefträger.

Die letzten Stufen flitze ich hinunter, um ihn rechtzeitig davon abzuhalten, meine Post abermals auf die Kästen zu legen. Doch es ist nicht der Postbote. Es ist Frau Gerber. Welch angenehme Überraschung.

Sie ist ganz vertieft in ihre Post, so dass sie mich nicht gleich bemerkt. Ich nutze die Gunst der Stunde und betrachte sie eine Weile. Sie ist wirklich schön. Braune, lange Haare fallen ihr in Wellen über die Schultern. Sehr schlank ist sie und nicht allzu groß, vielleicht eins fünfundsechzig. Gedankenverloren schiebt sie sich eine Strähne hinters Ohr, schließt den Briefkasten zu und wendet sich zu mir um.

Ich fühle mich ertappt.

Überrascht fragt sie: »Ist irgendwas?«

»Nein, tut mir leid. Ich . . .« Verdammt, ich bin schon wieder verlegen.

Wie macht sie das bloß? Fragend sieht sie mich an und wartet offenbar auf meine Erklärung. Die kann ich aber beim besten Willen nicht finden. Meine Gedanken rasen. So schnell, dass ich keinen von ihnen festhalten kann. Und erst recht keinen, der irgendwie sinnvoll wäre.

Wir stehen uns gegenüber. Sehen uns an.

Es knistert.

Da ist eindeutig eine Spannung zwischen uns, die fast greifbar ist. Ich stehe wie angewurzelt am Fuß der Treppe. Aber einfach umkehren und wegrennen ist definitiv keine Option. Das ist nicht meine Art.

Schließlich bricht sie das Schweigen: »Kommt da noch was? Sonst würde ich jetzt diese unleidlichen Rechnungen bezahlen gehen.« Sie wendet den Blick keinen Moment von mir ab.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Wortlos gehe ich auf sie zu. Sie tritt reflexartig nach hinten. Dann hat sie die Briefkästen im Rücken und kann nicht weiter.

Uns trennen höchstens noch fünfzig Zentimeter. Ein Schritt. Ich gehe ihn. Stehe direkt vor ihr. Kann ihren Atem spüren.

Unsere Blicke halten einander weiterhin fest. Wir schweigen.

Ich beuge mich vor und stütze mich rechts und links neben ihrem Kopf an den Briefkästen ab, was diese mit einem vernehmlichen Klappern quittieren. Zwischen unsere Gesichter würde jetzt kaum noch ein Blatt Papier passen. Mir wird heiß.

Sie lehnt den Kopf an die Briefkästen, sieht mich an.

»Tu es . . .«, flüstert sie kaum hörbar.

Nur zwei Worte, doch ich merke, wie sich die Muskeln in meinem Unterleib zusammenziehen. Ich schließe die Augen, überschreite auch die letzte Grenze, und meine Lippen berühren ihre. Sie öffnet leicht den Mund, um mir Einlass zu gewähren. Ihre Zunge empfängt meine, und sie beginnen ein wunderbar harmonisches Spiel miteinander. Sanft und vorsichtig berühren sie sich abwechselnd in meinem, dann in ihrem Mund. Ich traue mich nicht, die Augen zu öffnen. Denn dann erwache ich vielleicht aus diesem Traum, und alles ist vorbei.

Sie wird fordernder.

Eigentlich ist es doch mein Part, einzufordern. Aber das ist mir gerade egal. Ich gehe darauf ein, unser Zungenspiel wird wilder, und mir wird noch heißer.

Schnelle Schritte auf der Treppe reißen uns unsanft aus diesem leidenschaftlichen Moment. Wir lösen uns voneinander. Wie in stillschweigender Übereinkunft, uns nichts anmerken zu lassen, wendet sie sich noch einmal ihrer Post zu, während ich umständlich und ungeschickt versuche, meinen Briefkasten aufzuschließen.

Herr Friedrich kommt die Treppe herunter. Nach einem freundlichen »Guten Tag« entschwindet er durch die quietschende Haustür, und wir sind wieder allein.

»Kann ich dir helfen?«, fragt sie grinsend, als sie sieht, wie blöd ich mich mit dem Schlüssel anstelle.

Ich muss ebenfalls grinsen. Jetzt sind wir wohl quitt.

Ella

Was war das denn gerade? In meinem Kopf dreht sich alles. Und ihr scheint es auch nicht besserzugehen, wenn ich sie so beobachte. Ihre Hand mit dem Briefkastenschlüssel zittert ja richtig.

Ich nehme ihr den Schlüssel ab, stecke ihn ins Schloss und öffne die Briefkastentür. Mit viel Schwung schwappt ihre Post auf den Boden. Wir bücken uns gleichzeitig, um den Papierkram aufzuheben. Dabei sehen wir uns nicht an.

Ob sie es bereut?

Aber warum sollte sie es dann getan haben? Warum hat sie es überhaupt getan? Wie kommt sie dazu, eine wildfremde Frau zu küssen? Und dann auch noch so.

»Machst du das öfter?«, breche ich das Schweigen.

Entgeistert guckt sie mich an, findet aber schnell die Fassung wieder. »Kommt drauf an, wie oft ich dir in Zukunft vor den Briefkästen begegne«, sagt sie mir grinsend ins Gesicht und konzentriert sich dann wieder auf ihre Post.

Mit der Antwort habe ich nicht gerechnet. Perplex sammele ich ebenfalls weiter Briefe auf. Herrgott, wann hat sie das letzte Mal den Briefkasten geleert?

Mona

Na, wer hätte das gedacht? Die kleine, zarte und unschuldig wirkende Frau Gerber.

Ja, es war ein Spiel mit dem Feuer. Aber ich habe mich nicht verbrannt. Auch wenn mir zwischendurch heiß genug war.

Und jetzt?

Während ich versuche, meine Gedanken zu sortieren, reißt sie mich aus denselben. »Also gut, Mona . . .«

Wie aufmerksam. Sie hat auf einem Brief meinen Namen gelesen. Schlaues Ding.

». . . es war mir ein Vergnügen«, lächelt sie und steht auf.

Ich tue es ihr gleich und nehme ihr den Stapel Post ab, den sie mir reicht. »Danke für deine . . .« Ich überlege kurz. ». . . Hilfe!«

Jetzt ist sie es, die mich angrinst. »Gern geschehen.«

Sie nimmt ihre eigene Post und geht die Treppen hinauf. Ich folge ihr. Wie schön, dass ich denselben Weg habe. So kann ich mir ihren Hintern in diesen heißen, engen Jeans ganz genau ansehen. Meine Hand wird ganz feucht bei dem Gedanken daran, wie herrlich es kribbeln würde, wenn ich sie auf ihrem Hintern landen ließe. Doch diese Idee verscheuche ich schnell. Sie hat sich zwar auf die Knutscherei eingelassen, aber sie wirkt nicht so, als wäre sie aus dem Holz geschnitzt, das ich brauche. Dennoch ruht mein Blick auf ihrem Hintern, auf ihren Beinen und auf ihren Haaren, die bei jedem Schritt sanft über ihren Rücken schwingen.

Im zweiten Stock angekommen, dreht sie sich noch einmal zu mir um. Lächelt mich an. »Auf Wiedersehen . . . Mona.«

Unsere Blicke bleiben aneinander haften. Dann wendet sie sich ihrer Wohnungstür zu und ist wenig später dahinter verschwunden. Ich stehe noch eine Weile da wie vom Blitz getroffen und starre auf die Tür. Aber sie öffnet sich nicht noch einmal. Nichts regt sich dahinter.

Ist vielleicht auch besser so.

Ich wende mich ab und steige die letzten Treppen hinauf, um endlich meinen Einkauf auszupacken, der dort auf mich wartet.

Ella

Wow. Was war das denn? Schwer atmend lehne ich mich mit dem Rücken an meine Wohnungstür, kaum fähig, mich zu bewegen. Das Kribbeln und Ziehen in meinem Schritt will einfach nicht verschwinden.

Kein Wunder nach dem Erlebnis gerade.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stoße ich mich von dem harten Holz ab und schleiche den Flur entlang. Noch ganz benommen von dieser Begegnung versuche ich halbwegs klar zu denken und mich daran zu erinnern, was ich eigentlich am heutigen Tag vorhatte.

Ach richtig. Wäsche waschen und die Wohnung putzen. Ich komme in der Woche ja wirklich zu nichts.

Da klingelt mein Handy. Ich orte es irgendwo in meiner Handtasche, nur wo genau, das ist mir gerade schleierhaft. Deo, Lippenstift, einige lose Tampons und mein längst verschollen geglaubter Müsliriegel von letzter Woche – alles wühle ich aus dem Bermudadreieck meiner Handtasche hervor, nur das Handy bleibt unaufspürbar. Der Ton verebbt im Nichts, während ich orientierungslos weiterkrame. Der Anrufer muss wohl oder übel mit meiner Mailboxansage Vorlieb nehmen.

»Eine neue Sprachnachricht – erste neue Sprachnachricht«, erklärt mir wenig später die reizende Dame am anderen Ende der Mailboxleitung.

»Ja, Frau Gerber. Hier ist Falk. Die Dienstreise wurde abgesagt. Einige wichtige Teilnehmer können den Termin nicht einhalten. Daher wird das Meeting verschoben. Sie können sich Montag um die Stornierung kümmern. Ein schönes Wochenende!«

Zum ersten Mal freue ich mich über einen Anruf meines Chefs. Keine Dienstreise. Wunderbar! Das bedeutet, dass die Waschmaschine heute einen weiteren Ruhetag einlegen kann. Beschwingt tänzele ich in mein Wohnzimmer und rufe Viola an. Wir haben lange nichts mehr zusammen unternommen, und vielleicht hat sie spontan Lust auf einen Nachmittag im Park.

Wer hätte gedacht, dass das doch noch ein schönes Wochenende werden würde?

3

Ella

»Ella! Schön, dass wir uns mal wieder sehen. Das ist ja ewig her«, begrüßt Viola mich strahlend, als wir uns am Eingang des Volksparks treffen.

»Ja, ich freue mich auch, dass das so spontan geklappt hat. Es wäre auch zu schade gewesen, den Tag mit dem Haushalt zu verbringen, wenn die Sonne so schön scheint.«

Wir schlendern in den Park und suchen uns auf der großen Wiese eine Ecke, die von Bäumen umfasst ist. Da wir beide nicht gerade zu den Sonnenanbeterinnen gehören, lassen wir uns im angenehmen Halbschatten auf unseren mitgebrachten Decken nieder.

»Und?«, will Viola wissen, als wir es uns gemütlich gemacht haben. »Erzähl. Was gibt es Neues bei dir? Arbeitest du immer noch bei diesem Ekel?«

»Ja, leider. Aber lange hoffentlich nicht mehr. Ich halte schon Ausschau nach was anderem. Aber so einfach ist das gar nicht. Mal abwarten . . . Und bei dir?«

»Ach, alles beim Alten.« Viola scheint auf die Frage nur gewartet zu haben, denn sie rattert los: »Dass mit Florian Schluss ist, weißt du ja, und ich habe auch gerade gar keine Lust auf irgendwelche Typen, die dann doch wieder fremdgehen, mich von vorn bis hinten verarschen oder nur an ihre Computerspiele und Männerfreundschaften denken.« Sie sieht mich nachdenklich an, dann grinst sie und knufft mir mit dem Ellenbogen in die Seite. »Vielleicht versuche ich es auch einfach mal mit einer Frau.«

Ich grinse zurück und zeige ihr einen Vogel. »Ja, klar, Vivi«, gebe ich zurück. »Du und eine Frau. Nee, nee, verdreh du mal lieber den Herren der Schöpfung den Kopf und überlass die Damenwelt mir.«

»Na, dann erzähl mal, wie es in der Damenwelt so läuft.«

»Ach, da gibt es nichts zu berichten«, entgegne ich und sehe auf die karierte Decke, auf der ich sitze.

Das war offenbar ein Fehler, denn Viola hakt sofort nach: »Wirklich nicht? Komm schon, Ella. Wir sehen uns zwar nicht oft, aber ich kenne dich ganz gut. Da gibt es doch was, oder?«

Ich blicke sie an. »Na gut«, sage ich gedehnt. »Es gibt da was. Aber ich weiß gerade selbst nicht, was ich davon halten soll. Es ist so merkwürdig. Ganz anders als bei den anderen. Irgendwie geheimnisvoll. Aber auch anstrengend und total verwirrend.«

»Jetzt machst du mich aber neugierig!«

Ich wünschte, ich hätte nicht davon angefangen, aber jetzt kann ich natürlich nicht mehr zurück. »Ach, es gibt in meinem Haus eine Frau, die ich schon seit meinem Einzug irgendwie anziehend finde. Wir sind uns in den letzten Wochen ab und an über den Weg gelaufen, und ich hatte auch den Eindruck, dass sie mich immer mal wieder angesehen hat. Aber passiert ist bisher nie etwas.«

»Und dann?«

»Vor ein paar Tagen hat sie mir meine Tür aufgeschlossen, weil ich mich völlig blöd angestellt habe. Wir haben kurz geredet. Aber irgendwie inhaltslos. Und heute . . .« Ich stocke. Bei dem Gedanken an den Kuss im Flur kribbelt es schon wieder in meinem Schritt.

»Was war denn heute?«, drängelt Viola. »Los, spuck es aus, Ella!«

»Heute hat sie mich an den Briefkästen überrascht. Sie hat so eine faszinierende, aber auch irgendwie . . . arrogante Art an sich, der ich mich ganz schwer entziehen kann. Und das scheint sie bemerkt zu haben. Sie kam auf mich zu und . . .«

»Und?«

»Und hat mich geküsst. Aber frag nicht nach Sonnenschein, Vivi. Das war so unglaublich!«

Viola starrt mich ungläubig an. »Wie bitte? Einfach so?«

»Sie weiß scheinbar, wie es geht«, vermute ich.

»Aber das kann man doch nicht machen. Einfach so eine Fremde küssen. Ohne Vorwarnung. Ich glaube es nicht . . . Und dann?« Viola wirkt so fassungslos, als würde ich ihr gerade erzählen, dass ich einen Mord beobachtet habe.

Ich zucke die Achseln und beende die Geschichte knapp: »Nichts ›und dann‹. Unser Nachbar kam, wir haben uns wieder um die Post gekümmert und sind hochgegangen.«

»Ach so.« Viola lechzt offenbar nach einer Superstory: »Und dann habt ihr es wild in deiner Wohnung getrieben, stimmt’s?«

»Nein. Wir haben uns verabschiedet, und jede ist in ihre eigene Wohnung gegangen«, enttäusche ich sie.

Betreten sagt Viola: »Oh. War der Kuss nicht gut?«

»Und ob. Ich wurde noch nie so geküsst. Das war der unglaublichste Kuss meines Lebens. Deswegen bin ich ja so verwirrt. Aber vielleicht hat sie das anders empfunden. Oder . . . ach, ich weiß auch nicht. Es ist wirklich komisch.« Die letzten Worte murmele ich kaum hörbar.

Viola grinst. »Na, da ist ja was los in deiner Welt. Ich sollte doch ernsthaft darüber nachdenken, die Seiten zu wechseln.« Dann bittet sie mich, sie unbedingt auf dem Laufenden zu halten. Was ich auch gern verspreche. Ich denke allerdings, dass es da nichts mehr zu berichten geben wird.

Den Rest des Nachmittags verbringen wir damit, uns die Berliner Brathähnchen anzusehen, die in der prallen Sonne auf ihren Decken vor sich hin brutzeln, und zu überlegen, wie lange es dauert, bis sie die Diagnose Hautkrebs bekommen. Es ist ein vergnüglicher Tag, und ich schaffe es sogar, nicht ständig an meine Nachbarin zu denken.

Mona. Mona. Mona.

Mona

Was muss sie jetzt von mir denken? Was ist da bloß über mich gekommen? Ich kann doch nicht einfach eine Nachbarin küssen. Aber sie ist so faszinierend. Wirkt so unschuldig. Macht sich dadurch interessant.

Trotzdem – ich sollte die Finger davon lassen. Die Wahrheit ist, dass sie wahrscheinlich entsetzt wäre, wenn sie mich kennenlernen würde. Und dann muss ich ausziehen. In ein anderes Haus. In eine andere Straße. In einen anderen Bezirk.

Oder gleich in eine andere Stadt.

Und eigentlich liebe ich meine Dachgeschosswohnung, auch wenn der Weg in den vierten Stock nicht gerade ein Spaziergang und die Wohnung im Sommer extrem heiß ist. Da ist mir selbst das Einräumen der Spülmaschine zu anstrengend. Aber ich überwinde mich, erledige noch ein wenig von dem Haushalt, der in der Woche immer liegenbleibt, und gehe dann duschen.

Warum läuft immer nur so ein Schwachsinn im Fernsehen? Erschreckend. Ich schalte den Fernseher aus und beschließe, noch eine Runde durch die laue Sommernacht zu spazieren. Berlin ist abends so wunderschön. Die Lichter auf den Balkonen und in den Zimmern gehen an, die Laternen tauchen die Straßen in einen goldenen Schimmer, und das Gemurmel der Leute, die vor den Kneipen und Bars sitzen, mit ihren Gläsern klappern und über ihre Geschichten lachen, ist Musik in meinen Ohren. Das Haus, in dem ich wohne, liegt in einer Seitenstraße zum beliebten Szenekiez in Friedrichshain. Es ist mittendrin und doch so ruhig, dass man vom Berliner Nachtleben kaum etwas mitbekommt, wenn man es nicht möchte.

Aber heute möchte ich es.

Ella

»So, Ella«, sagt Viola bedauernd, »ich muss langsam los. Muss morgen früh raus, weil ich bei meinen Eltern zum Sonntagsfrühstück eingeladen bin. Ich versuche ihnen seit Jahren klarzumachen, dass das neue Sonntagsfrühstück Brunch heißt und nicht schon um neun beginnt. Aber sie lassen sich nicht beirren und halten an ihrer Tradition fest.« Sie beginnt ihre Decke aufzurollen und in ihre Tasche zu stecken.

Ich nicke. »Kein Problem. Ich muss auch langsam mal nach Hause . . . ich bin ganz schön geschafft von der Woche. Aber es war wirklich sehr schön, dass wir uns mal wieder gesehen haben.«

»Auf jeden Fall. Wir müssen das dringend wiederholen. Und vergiss nicht: Halt mich auf dem Laufenden!«, erinnert sie mich, und ihre grünen Augen funkeln mich an.

»Ich werde daran denken. Aber versprich dir nicht zu viel«, bremse ich ihre Neugier. »Es wird vermutlich nichts mehr passieren.«

Wir schlendern zum Ausgang.

»Also, Ella«, sagt Viola, »mach’s gut! Und bis ganz bald.«

»Ja, mach du es besser. Viel Spaß bei deinen Eltern.«

Wir nehmen uns noch einmal in den Arm und verabschieden uns am Tor.

Der Spaziergang nach Hause ist wunderschön, und ich bin froh, dass ich das Auto heute stehen gelassen habe. Inzwischen ist es fast dunkel, sternenklar und angenehm mild. Ich atme tief ein. Der Duft, der in den Straßen liegt, ist betörend. So liebe ich Berlin. Nur von Laternen beleuchtet und irgendwie so viel langsamer als am Tag. Als ich in meinem geliebten Friedrichshainer Kiez ankomme und in die Straße biege, in der ich seit einigen Monaten so gern lebe, schließe ich die Augen und lasse die Geräusche und Gerüche der lauen Sommernacht auf mich wirken.

Gehe ich, oder stehe ich? Ich weiß es gar nicht genau. Ich habe fast das Gefühl zu schweben. Getragen von den Stimmen der Menschen, die Berlin genauso lieben wie ich.

Als ich die Augen schließlich wieder aufschlage, werde ich jäh aus meinem Genuss gerissen. Impulsiv keife ich los: »Oh Himmel, erschreck mich doch nicht so!«

Vor mir steht Mona. Um ein Haar wären wir zusammengeprallt.

»Tut mir leid, das war nicht meine Absicht. Aber ich bin nicht diejenige, die mit geschlossenen Augen durch Berlin läuft«, gibt sie wahrheitsgemäß zurück, während ich langsam wieder zu Atem komme. »Geht’s wieder?« Sie sieht mich eindringlich an.

»Ja . . . ja, danke. Alles in Ordnung«, stammele ich und versuche an ihr vorbeizuhuschen. Wie peinlich. Ich hoffe, sie hat nicht gesehen, dass ich eben auch noch meine Arme weit ausgebreitet habe, um mich frei wie ein Vogel zu fühlen. Am liebsten würde ich im Erdboden versinken.

Mein Versuch, meinen Weg fortzusetzen, scheitert an der Hauswand, die mir in die Quere kommt. Ich streife Monas nackten Arm. Die Berührung jagt mir einen elektrischen Stoß durch den ganzen Körper, der mich zusammenzucken lässt.

»Entschuldige«, murmele ich und traue mich nicht, Mona anzusehen, aus Angst, sie könnte bemerken, dass ich knallrot werde.

»Kein Problem«, flüstert sie kaum hörbar. Doch sie bewegt sich keinen Schritt zur Seite, um einen Spalt zwischen sich und der Hauswand zu schaffen, durch den ich schlüpfen könnte. So stehen wir nebeneinander, und unsere Haut tauscht so viel Energie aus, dass die Luft zu knistern scheint.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«, hakt Mona noch einmal nach und dreht sich endlich um.

Doch ich kann nicht gehen. Ich kann mich nicht von der Stelle rühren. Wie vom Blitz getroffen. Und irgendwie war es ja auch genau so, in dem Moment, als sich unsere Arme berührten. Ich nicke, um ihre Frage zu beantworten.

»Dann ist ja gut«, raunt Mona. Aber statt zu gehen, kommt sie nun einen Schritt auf mich zu.

Meine Muskeln spannen sich an.

Ich bemerke, dass ihr Blick an meinem Körper auf und ab wandert. Sie mustert mich, und in ihrem Augenwinkel kann ich ein Lächeln erkennen. Mein Herz klopft. Ich kann kaum atmen.

Noch ein Schritt.

Ich drehe mich zu ihr.

Mein Rücken berührt die Hauswand. Sie ist kalt. Und sehr hart. Es ist mir egal.

Ich hebe den Kopf, sehe Mona an. Mein Körper zerspringt fast. Doch ich kann mich dieser Frau nicht entziehen.

Dann macht Mona auch noch den letzten Schritt. Sie stützt sich mit beiden Händen neben meinem Kopf ab. Ich spüre ihren Körper an meinem. So stehen wir da, mitten im Kiez. Umringt von Menschen. Im Schein der Straßenlaterne, die einen wunderschönen, goldenen Schein auf Monas Haut zaubert.

Mein Atem geht schwer. Ich kann das Kribbeln in meinem Schritt nicht ignorieren. Ich will Mona an mich ziehen. Noch näher. Mit ihr verschmelzen. Sie spüren.

Aber ich bin nicht fähig, mich zu bewegen.

Mona

Was tue ich hier bloß? Hatte ich nicht vor ein paar Stunden noch beschlossen, diese Frau aus meinem Kopf zu streichen? Und nun stehe ich vor ihr, und es fehlen nur wenige Zentimeter bis zum nächsten Kuss.

Ich muss damit aufhören. Aber ich kann nicht. Ihr Haar glänzt im sanften Licht der Laterne, ihre Augen funkeln mich an. Sie will es. Das spüre ich. Aber es geht nicht. Noch nicht. Oder niemals. Ich weiß es nicht.

Ich beuge mich zu ihr. Höre ihren schweren Atem. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich schnell, und sie schließt die Augen. Es wäre ein Leichtes, sie zu küssen.

Hier und jetzt.

Aber ich kann nicht aus meiner Haut. Ich liebe es zu sehr, sie zappeln zu lassen. Sie zu beobachten, ihre Unruhe zu fühlen und zu sehen, dass sie nicht mehr weiß, was sie fühlen oder denken soll. Ich will wissen, wie weit ich gehen kann.

Ich will sie herausfordern. Will mit ihr spielen. Auch wenn ich mir daran vielleicht die Finger verbrenne – das Risiko nehme ich in Kauf. Sie ist so wunderschön. So zart und unschuldig.

Mein Schritt pulsiert. Ich würde sie am liebsten ficken.

Mein Gesicht nähert sich ihrem. Ihr Atem wird noch schneller, sie öffnet leicht die Lippen, willig, mich zu küssen. Meine Wange berührt ihre. Ihre Haut fühlt sich weich und zart an. Ich verweile kurz und schließe die Augen.

Dann flüstere ich ihr ins Ohr: »Ich hoffe, du kommst heil nach Hause.« Ich nehme meine Hände von der Hauswand und trete wieder einen Schritt zurück.

Schwer atmend steht sie mit dem Rücken an der Wand. Ihre Finger suchen verzweifelt Halt in den Fugen der Mauer. Sie sieht mich mit aufgerissenen Augen an, kann nicht fassen, was ich getan habe. Ich lächele sie an.

»Auf Wiedersehen«, sage ich noch und gehe an ihr vorbei.

Ich würde mich so gern umdrehen, sehen, was sie macht. Sieht sie mir nach? Bleibt sie stehen? Wie lange?

Aber ich blicke nicht zurück. Ich gehe noch eine Extrarunde um den Block, um sie allein nach Hause gehen zu lassen und um meinen Kopf freizubekommen. Wie gern hätte ich sie umgedreht, an die Wand gedrückt und von hinten gefickt, bis sie sich nicht mehr auf den Beinen halten kann.

Mit diesem Gedanken hole ich mir noch ein Bier am Späti und laufe durch die Straßen nach Hause.

Ella

Dieses blöde Miststück. Was fällt der denn bitte ein? Sie kann doch nicht einfach gehen. Mich erst geil machen und dann gehen . . . Das ist nicht zu fassen. Am liebsten würde ich hinter ihr herrennen und sie anschreien. Aber das spare ich mir. Unter anderem auch deshalb, weil meine Beine mich höchstwahrscheinlich gar nicht mehr so weit tragen würden. Meine Knie sind weich wie Pudding, und mein ganzer

Körper kribbelt vor Erregung. Wieso tut sie das?

Einen Moment bleibe ich noch an der Mauer stehen. Einerseits weil ich befürchte, dass ich umfalle, wenn ich den Halt schon jetzt aufgebe. Andererseits habe ich die Hoffnung wohl noch nicht ganz aufgegeben, dass sie gleich wiederkommt, um mich mit zu sich zu nehmen und ins Land der Lust zu befördern. Aber ich hoffe vergebens.

Der Weg nach Hause ist glücklicherweise nicht mehr weit.

Was für ein Biest! Wo soll das noch hinführen?

4

Ella

Meine Nacht war, wie nicht anders zu erwarten, unruhig. Ich bin ständig aufgewacht, und jedes Mal hatte ich von Mona geträumt. Monas Blick auf meinem Körper, Monas Hände auf meiner Haut, Monas Zunge in meinem Mund, Monas Haut auf meiner. Alles in allem bin ich gänzlich unausgeschlafen.

Ich rufe erst einmal Viola an. Wer hätte gedacht, dass es schon heute etwas zu erzählen gibt?

Kaum habe ich meinen Bericht beendet, da kreischt sie auch schon ins Telefon: »Was? Ist nicht dein Ernst! Bist du dir sicher, dass du das nicht geträumt hast?«

Ich seufze. »Ich bin mir sicher, dass es passiert ist. Aber ich bin mir ganz und gar nicht sicher, warum es passiert ist. Und was als Nächstes passiert. Und ob was passiert. Und wieso nicht, wenn nichts passiert. Und . . .«

»Stopp, Stopp, Stopp, Süße! Ganz ruhig. Ich verstehe ja kein Wort«, unterbricht mich Viola.

»Tut mir leid. Ich bin einfach verwirrt.« Ich lasse mich auf meine Couch fallen. »Diese Frau geht mir nicht aus dem Kopf, und ich kenne sie nicht mal.«

»Ich verstehe dich, Ella . . . Aber was willst du jetzt tun?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt was tun will«, versuche ich meine Gefühle in Worte zu fassen.

»Wieso? Ich dachte, du findest sie so faszinierend und großartig und überhaupt.«

»Ja, so ist es ja auch. Aber das, was sie da treibt, ist mir echt eine Nummer zu groß. Da kann ich gar nicht mithalten. Sie . . . sie spielt mit mir, und sie scheint das nicht zum ersten Mal zu machen. Dagegen bin ich ein unschuldiges Engelchen.«

»Na und? Irgendwas scheint sie ja an dir zu finden, du Engelchen. Und unschuldig bist du ja auch nicht wirklich.« Ich höre ein verschmitztes Lachen in Violas Stimme.

»Mein Teufel reicht aber an ihren nicht ansatzweise heran«, entgegne ich einigermaßen ratlos und seufze noch mal. »Ich werde jedenfalls gar nichts tun. Mal sehen, wie es weitergeht.«

Wir verabschieden uns, und dann kümmere ich mich lustlos um meine Wäsche und den Abwasch. Viel Ablenkung bieten diese Tätigkeiten allerdings nicht. Und so grüble ich weiter über das, was gewesen ist, und über das, was noch kommt – oder auch nicht. Wer weiß das schon.

Mona

Ich hasse es, zwei Tage hintereinander 18-Stunden-Schichten zu haben. Da lohnt sich der Weg nach Hause gar nicht. Aber was soll ich machen? Wenn ich meinem Chef gefallen will, muss ich mich um die Arbeit reißen, die anfällt, wenn die Kollegen alle krank sind.

Immerhin hat Tanja heute auch Dienst. Sie ist mir auf dieser Station echt ans Herz gewachsen, und viele Schichten hätte ich ohne sie bestimmt nicht heil überstanden.

»Mona – du schon hier? Ich dachte, du hast erst morgen wieder Dienst«, begrüßt sie mich überrascht, aber nichtsdestotrotz mit einem herzlichen Lächeln.

»Ja, ich habe auch das Gefühl, ich würde hier wohnen«, seufze ich und setze mich an den Computer, um die neusten Eintragungen in den Patientenakten zu prüfen. Der Abend war gestern unerwartet lang. Ich war erst gegen zwei im Bett und sehe wohl auch entsprechend aus.

»Kurze Nacht gehabt?«, fragt Tanja grinsend und reicht mir eine Tasse Kaffee. Sie ist wirklich ein Engel.

Ich murmele: »Ja, irgendwie schon.« Dann nehme ich erst mal einen großen Schluck aus der Tasse.

Tanja freut sich sichtlich auf eine Story aus meinem Privatleben. »Erzähl!«

Aber ich enttäusche sie: »Da gibt es nicht viel zu erzählen . . .«

»Na klar. Und ich bin der Nikolaus«, gibt sie zurück, zieht sich einen Stuhl heran und sieht mich auffordernd an.

Ich druckse ein bisschen herum. »Ach, ich weiß auch nicht. Da gibt es so eine Frau. Die wohnt seit einiger Zeit bei uns im Haus. Sie ist wirklich sehr hübsch.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter. Wir haben uns noch nie wirklich unterhalten«, drücke ich mich weiterhin um die ganze Wahrheit.

»Aber . . .?«, beginnt Tanja für mich den nächsten Satz.

»Aber . . . na ja, ich hab sie geküsst.«

Tanja fällt fast ihre Teetasse aus der Hand. Mit offenem Mund schaut sie mich an. Es dauert eine ganze Weile, bis sie die Sprache wiederfindet: »Ihr habt noch nie wirklich geredet, aber du hast sie geküsst?«

»Ja. Und sie hat mitgemacht«, verteidige ich mich.

»Und dann?«

»Nichts ›und dann‹.«

Doch damit lässt sie sich nicht abspeisen. »Ach, komm schon. Da ist doch noch was.«

Ich gebe nach. »Also . . . gestern Abend bin ich ihr auf dem Weg nach Hause begegnet. Wir wären beinahe zusammengestoßen. Als sie dann versuchte, sich an mir vorbeizudrängeln, berührten sich unsere Arme, und es hat geknistert wie in einem Elektrizitätswerk. Wir haben uns eine halbe Ewigkeit nicht voneinander gelöst.«

Gebannt hört Tanja mir zu. Ich schweige.

»Weiter!«, fordert sie.

»Na ja, irgendwann stand sie dann mit dem Rücken an der Hauswand, und ich habe mich gegen sie gelehnt. Wir sind uns sehr nah gewesen. Dann habe ich ihr einen guten Heimweg gewünscht und bin gegangen«, beende ich die Geschichte kurz und knackig. Welche Gefühle diese Situation in mir ausgelöst hat und noch immer auslöst, wenn ich daran denke oder gar darüber rede, verschweige ich.

»Das war’s?«, fragt Tanja enttäuscht.

»Ja, das war’s.«

»Aber . . . warum habt ihr euch nicht geküsst? Wolltest du nicht? Wollte sie nicht? Was war denn da los?«

»Ich habe mich ein bisschen von meiner Lust am Spiel treiben lassen und wollte es ihr nicht ganz so leicht machen«, gebe ich zurück, wohl wissend, wie rätselhaft das für Tanja klingen muss.

Sie sieht mich kopfschüttelnd an. »So, so. Das ist aber nicht besonders nett von dir.«

Ich nicke betreten. Dann gebe ich mir einen inneren Ruck und erläutere das Ganze etwas detaillierter. »Also, es war schon sehr erregend, sie da vor mir stehen zu sehen. So willig und lustvoll. So bereit und ergeben. Und es war genauso erregend, sie dann stehen zu lassen, zu wissen, dass sie mit all diesen Gefühlen nach Hause geht und sicherlich an nichts anderes denken kann als an den Moment an der Hauswand.«

Tanja bleibt die Spucke weg. Erneut dauert es einen Moment, bis sie überrascht nachhakt: »So eine bist du?«

»Was für eine?«, frage ich arglos, obwohl ich innerlich grinsen muss.

»Na, so eine halt.« Tanja scheinen die Worte zu fehlen. Oder sie traut sich nicht, sie auszusprechen.

Ich zwinkere ihr zu. »Sagen wir mal so: Ich habe gern die Zügel in der Hand.«

»Aber . . . aber . . .« Tanja schluckt.

»Ja?«, frage ich nach.

»Na ja, ich hätte nicht gedacht, dass du . . . Also, du bist nicht so eine, die dann auch . . .« Und wieder stockt sie.

Überrascht sage ich: »Das vermutest du, nachdem du meine kleine Geschichte gehört hast?«

»Du darfst es nicht weitersagen«, flüstert Tanja und beugt sich zu mir herüber. »Ich habe vor zwei Jahren einen Mann kennengelernt, der mir Dinge beigebracht hat, von denen ich vorher nicht mal was geahnt habe. Und deswegen . . . irgendwie kommen mir solche Spielchen bekannt vor.«

Jetzt bin ich an der Reihe, sie sprachlos anzustarren. Schließlich schmunzele ich ihr zu. »Interessant.«

Sie hebt ihre Teetasse in meine Richtung, und wir prosten uns zu. Jetzt sind wir wohl Verbündete.

»Erzählst du mir, wie es weitergeht?«, fragt Tanja dann.

»Wenn es weitergehen sollte, dann werde ich es dir berichten. Aber es bleibt unter uns, okay?«

»Natürlich. Diskretion gehört in diesem Fall ja ganz eindeutig zum Spiel.« Sie zwinkert mir zu, und dann wird unser Gespräch von einem Patienten unterbrochen, der seine Tabletten abholen will.

Ella

Montag ist der schlimmste Arbeitstag. Die Woche hat gerade erst begonnen, und die Arbeit stapelt sich nach dem Wochenende bis unter die Decke.

»Frau Gerber, kommen Sie bitte mal in mein Büro?«, ruft der Chef aus seinem Kämmerlein. Ich schreite mit einem leidenden Blick an meiner Kollegin vorbei, die mir wissend zunickt.

»Frau Gerber«, begrüßt mich der Chef, ohne sich groß mit so überflüssigen Dingen wie einem ›Guten Morgen‹ aufzuhalten. »Unsere Reise nach Frankfurt wurde auf den Dienstag in vier Wochen verschoben. Bitte kümmern Sie sich um die entsprechenden Buchungen. Vielleicht bekommen wir dann noch Rabatt, weil es nicht so kurzfristig ist.«

»In Ordnung. Kann ich sonst noch was für Sie tun?«, frage ich höflich und hoffe auf eine Ablehnung meines Angebots.

Er grinst mich widerwärtig schmachtend an. »Also, wenn Sie mich so fragen, dann dürfen Sie mich heute gern zum Abendessen begleiten. Als Alternative zur Geschäftsreise.« Sein Blick gleitet über meinen Körper.