Wolke 8 - Jule Richter - E-Book

Wolke 8 E-Book

Jule Richter

0,0

Beschreibung

Zwei Frauen, die gegensätzlicher nicht sein können, finden mehr oder weniger zufällig zueinander: Maggy, die zurückhaltende Therapeutin, die nach der großen Liebe sucht; Hannah, die coole Verführerin, die nicht im Traum daran denkt, ihre Freiheit als Single aufzugeben. Doch als sie spüren, dass sich zwischen ihnen tiefere Gefühle entwickeln könnten, versuchen die beiden alles, um sich dagegen zu wehren. Das Schicksal hat jedoch einen ganz anderen Plan für Hannah und Maggy ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 398

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jule Richter

WOLKE 8

Roman

© 2016édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-196-4

Coverillustration: © rudall30 – Fotolia.com

1

Hannah

Es ist schon wieder neunzehn Uhr, und ich bin seit zwölf Stunden im Büro. Hätte ich ein Haustier, wäre es längst vor Einsamkeit in eine tiefe Depression gestürzt. Glücklicherweise haben sich die paar Grünpflanzen, die dank meiner Mutter meine Fensterbänke schmücken, daran gewöhnt, dass die Gießkanne nur einmal in der Woche kurz an ihnen vorbeihuscht. Einige von ihnen haben sich sogar dem Wohnkonzept angepasst und wachsen nun in dezenten Brauntönen.

»Und die Verträge für Jimmy O. brauche ich bis morgen, sonst rastet der Chef wieder aus!«, brülle ich meiner Mitarbeiterin hinterher, die gerade auf dem Absatz kehrtmacht und aus meinem Büro hetzt. Wir haben zwei Stunden über Mahnungen gebrütet und sind gerade zu dem unbefriedigenden Ergebnis gekommen, dass wir die Lösung des Problems nicht finden können.

Ich wühle ein letztes Mal durch den Aktenstapel, der meinen Schreibtisch verdeckt, und stelle erleichtert fest, dass die restliche Arbeit bis morgen warten kann. Ausgerechnet heute ist noch diese nervige Party eines Produzenten-Ehepaares, das seit kurzem in der Musikbranche mitreden will. Handverlesene Gäste sind geladen und werden sich sehr wahrscheinlich teures Fingerfood und noch teureren Champagner schmecken lassen, während sie so tun, als seien sie unglaublich wichtig und unersetzlich in diesem Business. Um dann nach Hause zu fahren und schon im Taxi nicht mehr zu wissen, auf wessen Party sie gerade waren. Und da mein Chef mal wieder Besseres zu tun hat, werde ich mich heute noch in einen schicken Fummel quälen und fremde Hände schütteln müssen. Nicht mal Richard kann mich begleiten. Er liegt mit einer Lungenentzündung im Bett. Und auch wenn er mir angeboten hat, kurz vor der Party eine erhöhte Dosis Aspirin einzuwerfen, »weil es dann schon gehen wird«, gehe ich unter diesen Umständen lieber allein.

Ich werde morgen mal bei ihm vorbeischauen und ihm eine Hühnersuppe bringen. Vielleicht mache ich sie sogar selbst.

Die Party ist in vollem Gange, als ich die Eingangshalle betrete. Es ist ein prunkvolles Anwesen, das muss ich Herrn und Frau – ich werfe einen schnellen Blick auf meine Einladung – Trauenstein lassen. Geschmack haben sie. Und Geld ganz offensichtlich auch.

Die Dienstmädchen sind alle in denselben Kostümchen unterwegs und balancieren Tabletts mit mikroskopisch kleinen Häppchen undefinierbarer Art durch die Menge. Ich winke dankend ab, als mir eines der Tabletts etwas ungeschickt unter die Nase geschoben wird, und sehe mich in dem Saal um, der aus allen Nähten zu platzen scheint. So klein die Häppchen sind, so groß ist die Gästeliste. Ich gebe zu, ich bin beeindruckt.

»Frau Hagemeier, richtig?«, reißt mich eine Stimme aus meiner Bewunderung für die anspruchsvolle Sammlung alter und neuer Kunstwerke an den mindestens fünf Meter hohen Wänden.

Ich drehe mich um. Mir steht eine Dame gegenüber, deren Alter aufgrund chirurgischer Nachhilfe nur schwer schätzbar ist, aber so zwischen 40 und 60 Jahren liegen müsste. »Ähm, ja. Die bin ich. Guten Abend«, entgegne ich und reiche ihr die Hand.

»Ich bin Ricarda Trauenstein. Es freut mich, dass Sie es einrichten konnten. Möchten Sie etwas trinken?«

»Gern. Ich wollte gerade zur Bar gehen.«

»Sehr schön. Dann begleite ich Sie.« Als würden wir uns schon ewig kennen, hakt sich die Dame bei mir unter, und wir schlendern durch die Menschenmassen, vorbei an einigen modernen Skulpturen aus Granit, hinüber zur Bar, an der gutaussehende Kellner mit perfekten Manieren und ebenso perfektem Outfit ihr Werk verrichten. Sie sind das passende männliche Pendant zu den fleißigen Dienstmädchen, die die Tabletts durch die Gästescharen balancieren.

»Sind sie nicht zauberhaft? Ich habe sie alle selbst ausgesucht«, raunt mir Ricarda schmunzelnd von der Seite zu.

»Ja, ganz hinreißend. Nur leider gar nicht mein Typ.«

Mit überraschtem Blick fragt die Dame des Hauses nach: »So? Was wäre denn Ihr Typ? Wir haben draußen noch ein Barbecue. Vielleicht ist da einer für Sie dabei.« Es macht ein bisschen den Anschein, dass Champagner und Mini-Häppchen nicht das Einzige sind, das auf dieser Party vernascht werden soll.

»Kommt drauf an. Hat einer von ihnen lange Beine, eine schmale Taille und wohlgeformte Brüste?«, gebe ich zurück und muss mir ein Lachen verkneifen, als ich in Frau Trauensteins verblüfftes Gesicht blicke.

Umso überraschter bin ich, als sie vergnügt quietscht: »Na, Kindchen, jetzt haben Sie mich aber!«

Kindchen? Ich korrigiere meine Altersschätzung um zehn Jahre nach oben. Sonst würde sie mich kaum Kindchen nennen.

Ich zwinkere ihr zu. »Ja, ich bin immer für eine Überraschung gut.« Dann greife ich zu dem Glas Gin Tonic, das mir der hübsche Kellner mit den ausgeprägten Wangenknochen und den streng nach hinten gegelten Haaren auf den Tresen gestellt hat. Ich nicke dankend und wende mich wieder der Party zu.

Der Drink ist gut. Fast schon zu gut, wenn ich bedenke, dass ich heute eigentlich noch nichts gegessen habe. Aber um eine Basis für den Alkohol zu schaffen, müsste ich hier alle Häppchen allein verspeisen.

»Ist was, Kindchen?«, klingt es teilnahmsvoll neben mir.

»Nein, Frau Trauenstein«, versichere ich. »Alles in Ordnung. Es war nur ein langer Tag, und ich muss zugeben, dass ich schon sehr müde bin. Auch wenn Ihre Party beeindruckend ist. So manch großer Musikkonzern würde Sie um diese Gästeliste beneiden.« Ich hoffe, dass die Gastgeberin es mir nach dieser Schmeichelei nicht übelnimmt, wenn ich mich bald verabschiede.

Aber da habe ich sie wohl unterschätzt. »Ach, Kindchen. Sie sind doch noch jung. Genießen Sie den Abend, und feiern Sie. Schlafen können Sie später immer noch. Als ich in Ihrem Alter war, da habe ich so manche Nacht zum Tag gemacht. Das waren noch Zeiten.« Ihre Augen funkeln bei der Erinnerung an ihre vergangenen Jahre.

Und irgendwie lösen ihre Worte eine wichtige Erkenntnis in mir aus: Sie hat recht. Die Party ist gar nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte. Im Gegenteil. Es scheint die beste Party seit langem zu sein. Und ich scheine ab und an zu vergessen, dass ich mit meinen einunddreißig Jahren noch längst nicht zum alten Eisen gehöre.

Ich werfe alle guten Vorsätze über den Haufen und erkläre: »Sie sagen es. So eine Party darf man nicht zu früh verlassen. Vielen Dank für die Einladung – auch wenn sie eigentlich an meinen Chef gerichtet war. Ich bin froh, dass ich gekommen bin.« Grinsend füge ich hinzu: »Darf ich Sie auf einen Drink einladen?«

»Na, da sage ich doch nicht nein.«

Wir bestellen uns zwei weitere Drinks beim Barmann. Überschwänglich prostet Ricarda mir zu und sagt augenzwinkernd: »Auf Sie, Kindchen. Genießen Sie Ihr Leben!«

»Auf Sie, Frau Trauenstein! Und auf diese tolle Party!« Ich kippe den Drink in einem Zug hinunter.

Der Abend geht so munter weiter, wie er begonnen hat. Zu späterer Stunde fangen die ersten Gäste an, das Tanzbein zu schwingen, und auch ich mische mich unter die Menge. Von der Müdigkeit von vorhin ist mittlerweile nichts mehr übrig. Die Musik, die Drinks, die Stimmung und die Tatsache, dass meinem Magen jegliche Grundlage für eine angemessene Verarbeitung des Alkohols fehlt, lassen mich so ausgelassen feiern wie schon lange nicht mehr.

Plötzlich schreit mir jemand ins Ohr: »Verzeihung!«

Überrascht blicke ich mich um. Niemand hat mich angerempelt oder sonst etwas getan, wofür eine Entschuldigung notwendig wäre.

Vor mir steht eine junge Frau Mitte zwanzig. »Verzeihung«, wiederholt sie sichtlich aufgeregt. »Aber ich habe dich den ganzen Abend schon beobachtet, und dank der viel zu kleinen Häppchen ist mein Blut vermutlich gänzlich in Alkohol übergegangen. Nein, warte. Anders rum . . . Mein Alkohol ist vollständig in mein Blut . . . Ach, wie auch immer. Ich spreche sonst nie Frauen an. Schon gar nicht so attraktive wie dich. Aber dank der viel zu kleinen Hä. . . Das sagte ich ja bereits. Oh Mann, konzentrier dich.« Den letzten Satz sagt sie wohl eher zu sich selbst.

Ich beobachte die Dame mit den langen, blonden Haaren, die ihr über die linke Schulter fallen, mit Spannung. Rotes Kleid, das viel Haut offenbart. Sehr hübsch. Ihre grünen Augen sehen mich allerdings etwas verunsichert an.

»Oh je«, stammelt sie weiter, »ich sollte lieber gehen. Sonst muss ich das hier auf die Liste der peinlichsten Momente meines Lebens schreiben. Und die ist eigentlich schon voll.« Sie kratzt sich am Kopf, tippelt nervös auf der Stelle hin und her.

Um den Bann, der sie offensichtlich außer Gefecht setzt, zu brechen, strecke ich ihr hilfsbereit meine Hand entgegen. »Hi, ich bin Hannah.« Auch wenn der Handschlag in diesem Fall fast zu höflich ist, ist es mir ein Anliegen, sie festzuhalten, falls sie bei ihrer krampfhaften Suche nach den richtigen Worten von ihren unglaublich hohen Schuhen herunterfallen sollte.

»Ähm, hi. Ich bin Chris. Und ich bin eigentlich ganz anders. Aber das zu behaupten, ist jetzt wohl etwas spät.« Ein Seufzer, begleitet von einem schiefen Grinsen.

»Schön, dich kennenzulernen, Chris, die eigentlich ganz anders ist«, sage ich und zwinkere ihr zu. »Möchtest du vielleicht mit mir tanzen?«

»Sehr gern!«

Unsere Hände haften noch immer aneinander, und so ist es ein Leichtes, die schlanke Frau in Rot an mich zu ziehen, um unsere Bewegungen in Einklang zu bringen. Leicht wie eine Feder lässt sie sich von mir führen. Die Musik wechselt, wechselt wieder und wechselt noch einmal. Beseelt von der Stimmung und dem Alkohol lassen wir uns vom Takt der Lieder treiben.

»Möchtest du etwas trinken?«, frage ich beim nächsten Liedwechsel, weil meine Kehle langsam trocken wird.

Chris sieht mich mit glänzenden Augen an und sagt: »Gern. Aber nur ein Wasser. Wer weiß, was sonst noch passiert heute Abend.« Trotz ihrer schwindelnd hohen Absätze ist sie etwas kleiner als ich und muss zu mir aufschauen. Das mag ich.

»Bis gleich, Chris«, flüstere ich ihr ins Ohr und hauche ihr einen Kuss auf die Wange, bevor ich mich zur Bar aufmache.

»Hier, dein Wasser.« Ich tippe Chris auf die Schulter, die nur von einem dünnen Träger ihres Kleides bedeckt ist und mich erahnen lässt, dass sie keinen BH trägt.

Dankbar nimmt sie das Getränk entgegen und leert es fast in einem Zug. »Oh Mann. Das habe ich gebraucht. Danke!«

»Nicht dafür. Und jetzt kommen wir mal zu dem, was passieren könnte, wenn du nicht bei Wasser bleiben würdest.« Amüsiert beobachte ich, wie ihr bei dieser Überrumpelung eine leichte Schamesröte ins Gesicht steigt.

»Ich . . . na ja, ich . . .« Sie schaut kurz zur Seite, sieht mir dann aber tapfer ins Gesicht. »Ich könnte betrunken vor ein Auto laufen. Oder auf dem Weg nach Hause am Straßenrand einschlafen. Oder . . .«

Weiter kommt sie nicht. Ich ziehe sie an mich, blicke ihr tief in die Augen, lege meine Hand in ihren Nacken und fühle, wie ihr vor Überraschung der Atem stockt. Ich lächele sie an, lecke mir verheißungsvoll über die Oberlippe und koste jede Sekunde voll aus.

Und sie hält meinem Blick stand. Drückt ihren Körper fester gegen meinen. Ihre Hand wandert zu meinen Hüften, und ich spüre ihre Fingerkuppen durch meine weiße Seidenbluse. Sie reckt sich mir entgegen. Will es. Will mich.

Ich liebe diesen Moment. Dieses Spiel mit der Lust. Ich nähere mich ihren Lippen, öffne dann den Mund leicht. Sie tut es mir gleich. Ich halte inne. Sie sieht mich an, begierig und verunsichert zugleich. Ich lächele wissend. Lasse sie zappeln. Meine Hand gleitet an ihrem Rücken hinunter zu ihrem wohlgeformten Hintern. Ich umfasse ihre Pobacke mit festem Griff. Presse ihr Becken gegen meins. Bewege mich zum Rhythmus der Musik. Beobachte sie. Halte ihren Blick fest. Versinke in ihren grünen Augen. Lüstern schaut sie mich an.

Mit rauer Stimme durchbreche ich den Zauber des Moments und frage sie herausfordernd: »Was willst du?«

»Dich! Den ganzen Abend schon.« Es ist fast ein Stöhnen.

Ich sehe mich kurz um. Die anderen Gäste sind mit sich und der Musik beschäftigt. Es ist voll und heiß. Genau richtig. Ich schiebe Chris ein kleines Stück weg. Nur so weit, dass ich meine Hand von ihrem Hintern zwischen unsere Körper schieben kann. Ihr Kleid ist kurz. Sehr kurz. Es ist ein Leichtes, es ein wenig hochzuschieben, so dass meine Hand daruntergleiten kann.

Als ich an ihren Slip stoße, versucht Chris ihre Beine zusammenzuklemmen. Mit großen Augen starrt sie mich an.

»Entspann dich, Chris«, raune ich ihr ins Ohr. »Ich will dich erst ficken, bevor ich dich küsse.«

Wäre es möglich, würde sie ihre Augen noch weiter aufreißen.

Ich packe ihren Nacken noch etwas fester. Sie zieht scharf die Luft ein und reibt ihr Schambein an meinem Unterarm, während sie sich noch immer zur Musik bewegt.

»Ich kann nicht . . .«, stößt sie hervor.

»Ich denke schon.«

Ihre Antwort ist nur ein leicht flackernder Blick. Ihre Unsicherheit macht mich an. Vor allem in Verbindung mit ihrem offensichtlichen Begehren. Die Nässe, die ich durch den Slip an meinen Fingern spüren kann, ist der beste Beweis dafür.

»Ich spüre, dass du es kannst. Du bist ganz feucht, Kleines«, gebe ich ihr zu bedenken.

Chris wird abermals rot im Gesicht. Dieser Wahrheit kann sie sich nicht entziehen. Ich streiche mit dem Finger über ihren Slip. Die Hitze in ihrem Schoß macht mich verrückt. Wären wir nicht hier auf der Party, hätte ich ihr das Kleid längst vom Leib gerissen, um ihren nackten Körper mit allen Sinnen zu erforschen. Ich berühre ihre Schamlippen durch den feinen, seidenen Stoff, der meine Finger von ihrem Lustzentrum trennt, und Chris reagiert mit einem leisen Stöhnen.

»Ich will in dir sein. Jetzt und hier«, flüstere ich ihr ins Ohr und lasse meinen Finger noch einmal über ihre Scham gleiten, diesmal mit etwas mehr Druck. Sie kann ihre Lust nicht länger kontrollieren. Ihre Beine öffnen sich ein wenig, und als ich den Slip zur Seite schiebe, empfängt mich ihre heiße Nässe.

Ich gleite mit einem Finger in sie, ziehe ihn wieder zurück. Beim zweiten Mal fülle ich sie mit drei Fingern aus. Hart und tief stoße ich zu. Verharre in ihr. Chris lässt den Kopf in den Nacken fallen.

»Wenn du nicht willst, dass jeder weiß, was hier gerade passiert, solltest du deine Lust nicht ganz so freizügig zeigen«, empfehle ich ihr, bevor ich ihr meine Finger fast vollständig entziehe, um sie danach umso tiefer in sie eindringen zu lassen.

Sie gibt sich sichtlich Mühe, kann sich aber trotzdem ein hörbares Stöhnen nicht verkneifen.

»Chris«, mahne ich. »Halt dich zurück. Sonst muss ich leider aufhören.« Bei diesen Worten stelle ich abrupt die Bewegung ein.

»Nein, nicht aufhören«, flüstert sie unterdrückt zurück und legt ihrerseits eine Hand in meinen Nacken, um mich näher an sich zu ziehen. Gepresst stöhnt sie: »Küss mich . . . bitte . . . Ich halte es nicht mehr aus.«

»Noch nicht, Kleines«, lächele ich finster und stoße abermals in ihren Unterleib. Mein Daumen beginnt ein gnadenloses Tänzchen auf ihrem Lustpunkt, und Chris umklammert mich, um den Halt nicht zu verlieren.

»Hannah«, fleht sie. »Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht im Stehen kommen. Und ich kann erst recht nicht leise kommen. Nicht, wenn ich so geil bin wie jetzt.« Ich spüre, dass ihre Kräfte schwinden.

»Von mir aus musst du nicht leise sein«, gebe ich zurück, während ich mein Spiel in ihrem Schoß unbeirrt fortsetze.

»Bitte. Lass uns zu mir gehen. Ich wohne fast um die Ecke. Bitte . . .«

»Ich halte dich. Lass es zu. Ich will dich jetzt und hier. Aber ich kann auch aufhören, wenn dir das lieber ist.«

Chris stöhnt erneut leise auf, als mein Daumen fester über ihren Kitzler reibt. Kleine, schnelle Bewegungen im Takt der Musik bringen die Frau im roten Kleid an die Grenzen ihrer Lust. Sie atmet ungleichmäßig, lehnt den Kopf gegen mein Schlüsselbein, krallt sich mit ihren Fingern in meinen Rücken, und ich spüre, dass sich ihr ganzer Körper anspannt.

»Komm für mich«, flüstere ich ihr ins Ohr, und meine Lippen berühren ihr Ohrläppchen.

Chris hebt den Kopf. Unsere Blicke finden sich. Ich stoße in ihren Unterleib, fülle ihn aus, umspiele ihren Lustpunkt in gleichbleibendem Rhythmus. Ich sehe ihre Geilheit. Ihre roten Wangen verraten sie. Ihr Körper zittert. Ich drücke sie an mich, gebe ihr Halt.

Sie beißt die Zähne zusammen. Kann meinem Blick nicht mehr standhalten, schließt die Augen, ihr Atem stockt kurz. Sie stöhnt unterdrückt, atmet dann schnell und unregelmäßig. Ihre Knie sacken ein wenig ein, und sie lehnt sich an mich. Ich spüre, dass sie es nicht mehr lange aufhalten kann.

Dann blickt sie mich abermals an. Lustvoll. Süchtig. Hilflos. Noch immer beißt sie die Kiefer zusammen, um keinen Laut entkommen zu lassen. Ich stoße in sie, presse meinen Daumen auf ihren Kitzler, und als sie sich gerade ihrem Stöhnen ergeben will, drücke ich meine Lippen fest auf ihre, und unsere Zungen finden sich zu einem wilden Spiel. Chris giert nach mir. Ich gebe ihr, was sie will. Ich bin überall, in ihrem Unterleib, in ihrem Mund. Und dann kann sie es nicht mehr aufhalten. Noch ein Stoß, und sie wird von den Wellen des Orgasmus mitgerissen, die sie wahrlich bewundernswert verheimlicht. Nur ihre Muskeln, die in heftigen Kontraktionen meine Finger umschließen, verraten, was gerade mit ihr passiert. Durch den Kuss gedämpft stöhnt Chris ihre Erregung heraus, und ich treibe meine Finger noch einmal tief in ihren Schritt, bevor ich innehalte und sie mit all meiner Kraft daran hindere, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Eng umschlungen stehen wir mitten auf der Tanzfläche. Meine Finger sind noch in ihrem heißen Schoß, meine Zunge in ihrem Mund, meine Lippen auf ihren.

Das Lied endet, ein neues beginnt. Chris kommt langsam zu sich.

Ich entziehe ihr vorsichtig meine Finger, richte ihren Slip und das Kleid und löse mich schließlich auch aus dem Kuss. »Möchtest du was trinken?«, frage ich.

»Ja, bitte. Einen Wodka Tonic, ohne Tonic«, japst Chris und grinst schief.

Ich muss schmunzeln: »So, so, die harten Sachen also?« Dann wende ich mich von ihr ab und gehe zur Bar.

»Sie sind ja ein schlimmer Finger«, höre ich eine freundlich-neckende Stimme neben mir sagen. Ich fahre herum und sehe in Frau Trauensteins verschmitztes Gesicht.

Mit hochrotem Kopf frage ich: »Was meinen Sie?«

Frau Trauenstein findet die Situation offensichtlich amüsanter als ich und lacht nur: »Na, jetzt können wir auch Du sagen, oder nicht? Immerhin hatten Sie schon mehr Sex in diesem Hause als ich selbst.«

»Tja, was soll ich sagen?« Ich zwinkere ihr verschwörerisch zu. »Man lebt nur einmal.« Meine plötzliche Schlagfertigkeit überrascht mich selbst ebenso sehr wie die Gastgeberin.

»Ich mag dich, Kindchen«, grinst Ricarda Trauenstein und gibt mir einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange, bevor sie sich ihrem Champagnerglas und den anderen Gästen zuwendet.

Na, da habe ich ja einen tollen Eindruck hinterlassen. Wenn das mein Chef erfährt.

2

Maggy

Wenn das so weitergeht, brauche ich wirklich bald eine Sekretärin. Immer diese Aktenstapel, die sich auf meinem Esstisch türmen. Das muss sich ändern!

Aber egal. Heute werde ich ohnehin keine gute Fee mehr finden, die noch ein paar Wünsche für mich übrig hat. Und bevor Holger und Gunnar vor der Tür stehen, muss ich wenigstens noch duschen und zumindest so tun, als könnte ich in meiner Wohnung für Ordnung sorgen. Ich schließe die Akte, die ich bis jetzt gewälzt habe, und strecke meine müden Glieder.

»Hallo, Maggy«, begrüßt mich eine – viel zu kurze – Weile später Holger und gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Wir sind etwas früh dran. Gunnar meinte es wieder etwas zu gut mit der Pünktlichkeit und hat mich aus dem Haus getrieben wie ein Stück Vieh auf dem Weg zum Schlachter. Dabei habe ich ihm gleich gesagt, dass wir noch genug Zeit haben.«

»Ist kein Problem. Ich habe jetzt zwar mal wieder nicht aufgeräumt, aber ihr seid es ja gewohnt«, gebe ich zurück und trockne nebenbei meine Haare noch schnell mit dem Handtuch ab, bevor ich es achtlos ins Bad schmeiße und die Tür schließe.

Nun begrüßt mich auch Gunnar mit einer herzlichen Umarmung. »Ja, wir hätten wahrscheinlich gedacht, wir seien in der falschen Wohnung, wenn du es diesmal geschafft hättest«, grinst er.

Ich grinse zurück. »Schön, dass ihr da seid. Und schön, dass ihr mich so nehmt, wie ich eben bin.«

Wir gehen ins Wohnzimmer. Immerhin habe ich es noch geschafft, das Sofa freizuräumen. Ich bin stolz auf mich. »Und? Was machen die Hochzeitsvorbereitungen?«, frage ich, während die beiden sich darauf niederlassen. »Kann ich euch noch bei irgendetwas helfen?« Nebenbei serviere ich Rotwein und ein paar Salzbrezeln.

Wie aufs Stichwort jammert Holger: »Ach, Maggy, hör mir auf mit der Hochzeit. Ich hab schon Schlafstörungen wegen dieser elendigen Planerei. Und schlechte Haut kriege ich von dem Stress auch . . . guck.« Er zeigt auf eine Stelle in seinem Gesicht, die für mich aussieht, als sei sie so rein wie Babyhaut. Aber Holger ist da offensichtlich anderer Meinung und besteht darauf, dass diese Stelle der Beweis dafür sei, dass ihm das alles maßlos über den Kopf wachse.

»Ach je, Holger. Die Hochzeitsvorbereitungen sollen doch eigentlich Spaß machen. Was läuft denn schief?« Trotz meines aufrichtigen Mitgefühls und meiner vollen Aufmerksamkeit für meinen besten Freund greife ich beherzt in die Schale mit den Salzbrezeln, weil ich heute noch nichts gegessen habe.

Holger wirft verzweifelt die Hände in die Luft. »Spaß, Maggy? Spaß? Dass ich nicht lache! Ich befürchte langsam, dass die Hochzeit eigentlich einer der Top-5-Trennungsgründe ist. Es redet nur keiner drüber. Das ist eine Verschwörung. Alle erzählen immer, wie toll das ist. Und wie glücklich sie sind und wie gern sie ihre Hochzeit vorbereitet haben. Aber in Wirklichkeit ist es die Hölle, sage ich dir! Die Hölle!« Ganz in Rage leert er seinen Rotwein in einem Zug und schenkt sich direkt nach.

Mit einem hingebungsvollen Lächeln auf den Lippen streichelt Gunnar seinem zukünftigen Ehemann übers Knie und sagt beruhigend: »Nun hör aber auf, Schatz. Du übertreibst maßlos. Es läuft doch eigentlich ganz gut.«

»Gut? Was läuft denn bitte gut? Welche Hochzeit bereitest du denn gerade vor?«

Na, da habe ich ja ein Thema angeschnitten.

»Die Blumen passen nicht zu den Servietten«, lamentiert Holger, »die Gäste haben noch nicht alle auf die Einladungen geantwortet, und Hotelzimmer sind auch nicht genug da. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht. Und dann habe ich auch noch drei Kilo zugenommen. Wenn der Anzug nicht passt, dann . . .« Er unterbricht seinen Vortrag und nimmt noch einen großen Schluck Wein.

»Ach, Holger-Bärchen. Bis zur Hochzeit sind es doch noch drei Monate. Bis dahin sind die drei Kilo auch wieder weg, die Servietten passen zu den Blumen, und die Gäste haben noch eine ganze Woche Zeit, um uns zu antworten.« Ich bewundere mal wieder die zenartige Ruhe, mit der Gunnar Holgers halbem Nervenzusammenbruch begegnet.

Aber leider ist die Bewunderung verfrüht. »Willst du etwa sagen, dass ich fett bin?«, fährt Holger auf. »Siehst du, Maggy? Alles geht den Bach runter . . .« Kopfschüttelnd leert er sein zweites Glas Wein.

Gunnar und ich sehen uns hilflos an, und ich bin versucht, ihnen die Visitenkarte einer herausragenden Ehetherapeutin in die Hand zu drücken. Aber die lasse ich vorerst stecken und gieße lieber noch einmal Wein nach. »Ihr macht das schon«, sage ich dabei beschwichtigend. »Und du bist überhaupt nicht fett. Du siehst großartig aus, und der Anzug wird ganz sicher passen. Wenn du möchtest, können wir ja noch mal zusammen zum Floristen gehen und das Servietten-Blumen-Problem lösen. Gunnar hat ja nicht so ein Händchen dafür, und vier Augen sehen mehr als zwei.«

Bei diesem Vorschlag fangen Holgers Augen langsam wieder an zu strahlen. Puh, noch mal Glück gehabt. »Danke, Maggy. Wenigstens eine, die mich versteht«, lächelt er in meine Richtung und wirft Gunnar dann einen finsteren Blick zu.

Die beiden. Ein Herz und eine Seele, aber eigentlich wie Feuer und Wasser. Wo die Liebe hinfällt, denke ich und seufze leise.

»Was ist los, Engelchen? Alles okay bei dir?«, holt Gunnar mich aus meinen Gedanken zurück.

Ich schrecke auf. »Was?« Dann nicke ich nachdrücklich. »Ja, alles okay. Ich beneide euch einfach gerade ein bisschen. Ich weiß, das mit Sandra ist lange her, aber ich denke noch immer manchmal daran, wo wir jetzt wohl wären, wäre einiges anders gelaufen. Vielleicht würden wir gerade eine Doppelhochzeit planen und gemeinsam vor den Trauredner schreiten . . .« Meine Gedanken schweifen zu meinem Traumkleid ab, das ich zu diesem Anlass getragen hätte. Die Haare hätte ich hochgesteckt, und ich hätte einen Strauß aus Gänseblümchen. Das wäre so schön . . .

»Ach, Liebes«, reißt mich Gunnar abermals aus meinem Tagtraum. »Sei froh, dass du sie los bist. Sie hat dir nicht gutgetan. Auch wenn es schwer ist, das zu verstehen. Dafür muss vielleicht einfach noch etwas mehr Zeit vergehen.«

Ich lasse mich betrübt in die Sofakissen fallen und seufze: »Ja, du hast ja recht. Aber hin und wieder vergesse ich das einfach und sehe nur sie und mich und unser gemeinsames Leben.«

Vor sechs Monaten war es vorbei. Vom einen auf den anderen Tag. Sie hatte mich hintergangen. Mit einer neuen Kollegin. Und ich hatte nichts bemerkt! Ich fühle mich noch heute schlecht, wenn ich daran denke, dass sie es mir auch noch zwei Monate verheimlicht hatte, bevor sie den Anstand aufbrachte, reinen Tisch zu machen. Vier Jahre meines Lebens habe ich an sie verschwendet.

Und das Schlimmste ist, dass ich es wieder tun würde.

»Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung. Ich habe gehört, dass sie Mathilda verlassen hat«, murmele ich, allerdings mehr zu mir selbst als zu meinen Gästen. Denn die sind auf Sandra gar nicht gut zu sprechen.

»Oh nein«, widerspricht Gunnar auch prompt. »Das werden wir verhindern, Maggy! So eine brauchst du doch gar nicht. Du findest eine Bessere, eine, die es ehrlich mit dir meint, die dich liebt und achtet und die zu schätzen weiß, was du in einer Beziehung zu geben hast. Gib der ganzen Sache etwas mehr Zeit. Und vor allen Dingen: Geh wieder aus. Wie soll das sonst was werden? Oder glaubst du, die Frau deiner Träume steht ganz plötzlich vor deiner Tür?«

Ich würde Gunnars Worten umgehend zustimmen, ginge es dabei nicht um Sandra und mich. Ich weiß, dass er recht hat. Und ich weiß, dass ich loslassen muss. Aber das Wissen allein reicht leider nicht aus. Der Gedanke, sie aus meinem Leben zu streichen, ist mir immer noch so fremd, dass ich ihn einfach nicht zulassen kann.

Entschlossen setze ich mich wieder aufrecht. »So, lasst uns das Thema wechseln«, sage ich motiviert. »Schließlich wollen wir den Abend genießen und nicht die ganze Zeit Trübsal blasen.« Holger hat sich schließlich wieder gefangen, dann werde ich das auch tun. Der Abend ist zu kostbar, um ihn damit zu vergeuden, sich in der Vergangenheit zu suhlen. Ich nehme genießerisch einen Schluck Wein und erkundige mich: »Was macht die Namenswahl?«

»Hach, das ist eine gute Frage«, antwortet Holger und sieht schon wieder verzweifelt aus. »Wir sind uns noch nicht einig. Ist aber auch schwer, bei unseren Namen. Holger und Gunnar Beyer-Meyer oder Meyer-Beyer. Oder nur Meyer oder nur Beyer.«

Die Kombinationen sind wirklich eigensinnig. Ich muss schmunzeln. »Also, ich würde mich für einen Namen entscheiden. Ganz ehrlich: Wie seltsam klingt Beyer-Meyer? Oder anders herum – das geht genauso wenig. Und so groß ist die Umstellung vom einen auf den anderen Namen ja nun auch nicht.«

Ich blicke in zwei ratlose Gesichter. Die Entscheidung scheint den beiden tatsächlich schwerzufallen.

Herr und Herr Beyer-Meyer. Na, das klingt ja herrlich!

Der Abend fliegt nur so vorüber, und weit nach Mitternacht verabschieden sich die Herren Meyer-Beyer mit dem Versprechen einer baldigen Wiederholung unseres gemütlichen Beisammenseins. Ich setze mich noch einen Moment auf den Balkon. Es ist angenehm warm draußen, und ich trinke meinen Wein aus und genieße den klaren Sternenhimmel und das Lüftchen, das sich durch die Altbaugassen schleicht. Der Kauf dieser Wohnung hat sich allein wegen des Blickes auf den kleinen Park hinter dem Haus mehrfach ausgezahlt. Das leise Rauschen des Windes in den Bäumen, die Schatten, die der Mond auf den Weg zaubert, und das entfernte Rattern der S-Bahn, das verrät, dass auch um diese Zeit noch Menschen unterwegs sind, beruhigen mich irgendwie. Ich liebe diese Mischung aus Großstadt und Natur. Ja, ich wohne gern hier. Ich arbeite gern hier. Ich lebe gern hier. Nirgendwo anders möchte ich sein, und auf einmal ist es auch unwichtig, dass Sandra nicht mehr da ist.

Ich atme die Nachtluft tief ein, schließe die Augen und lasse meine Gedanken ins Nichts schweifen.

3

Hannah

»Und, Frau Hagemeier?«, begrüßt mich mein Chef, als er sichtlich ausgeruht und voller Arbeitseifer ins Büro tritt. »Wie war es gestern auf der Party von den Trauensteins?«

»Es war ein netter Abend. Die Gästeliste war beachtlich und das Haus sehenswert«, gebe ich knapp zurück und lasse selbstverständlich den Teil des Abends aus, der mir noch am deutlichsten im Gedächtnis ist.

Der Chef nickt. »Das freut mich. Ich habe nämlich eben einen Anruf von Frau Trauenstein erhalten. Sie möchte mich alsbald treffen. Sie sagte, Sie hätten Eindruck bei ihr hinterlassen, und ein persönliches Treffen sei ausgesprochen wichtig.«

Mir stockt kurz der Atem. Ach du Schande! Will Ricarda mir jetzt einen Strick aus der Sache mit Chris drehen? Ist sie doch nicht so cool, wie sie sich gestern gegeben hat? Haben sich andere Gäste vielleicht beschwert? Oh nein! Umgehend bemühe ich mich um einen klaren Kopf und versuche, die elendigen Katerschmerzen, die sich in meinen Hirnwindungen verankert haben, zu ignorieren. Ich massiere mir wenig hilfreich die Schläfen und frage: »Hat sie gesagt, worum es geht?«

»Nein, sie sagte nur, dass es wichtig sei. Sie kommt heute Mittag zum Lunch ins Bernstein. Und sie besteht darauf, dass Sie mitkommen. Sie müssen sie wirklich beeindruckt haben. Haben Sie sich vor der Party mal erkundigt, wer die Trauensteins eigentlich sind?«

»Nein, dazu bin ich leider nicht mehr gekommen«, gestehe ich.

»Dann sollten Sie das vor dem Treffen heute Mittag dringend nachholen.« Mit diesen Worten verlässt er mein Büro und betritt sein eigenes.

Jetzt bin ich tatsächlich neugierig. Ich öffne die Google-Startseite und werde schnell fündig. Neben Hunderten von Seiten mit Fotos von Herrn und Frau Trauenstein gibt es auch eine eigene Homepage und Tausende Treffer mit Informationen zu den Eheleuten. Herr Trauenstein war demnach ursprünglich ein großer Fisch im Becken der Immobilienbranche und hat seine erste Million schon mit Mitte zwanzig gemacht. Er war mit einem eigenen Modelabel erfolgreich an der Börse, und nach dem Verkauf dieser Marke investiert er nun in junge Talente aus der Kunst- und Musikwelt. Seine neue Produktionsfirma, Art & Music Productions, steht offensichtlich schon hoch genug im Kurs, um eine ernstzunehmende Konkurrenz für unser Unternehmen zu werden.

Wow. Ich bin verblüfft und geschockt zugleich. Ich dachte, sie seien Newcomer, die der naiven Meinung seien, sie könnten in der Branche mitmischen, aber in der Realität gar keine Chance hätten, gegen die Großen im Business anzutreten. Da habe ich mich aber ganz schön vertan. Mist! Die Gästeliste von gestern Abend hätte mich schon stutzig machen müssen.

Und ich benehme mich total daneben, habe Sex auf der Tanzfläche, und soweit ich weiß, bin ich ziemlich heiter nach Hause geschickt worden. Oder habe ich das geträumt?

Oh nein. Ein Filmriss? Auch das noch. Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich sollte mich am besten schon mal mit dem Gedanken an einen neuen Job anfreunden.

Als wir Frau Trauensteins Tisch im Bernstein erreichen, begrüßt sie uns herzlich: »Hallo, Hannah . . . Herr Granowitz, freut mich sehr.«

»Guten Tag, Frau Trauenstein«, erwidere ich den Gruß und bemühe mich, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

Wir setzen uns und bestellen. »Was führt uns denn heute zusammen?«, erkundigt sich Herr Granowitz, kaum dass sich der Kellner wieder entfernt hat. »Ich war ja sehr überrascht, als Sie mich anriefen und um dieses dringende Treffen gebeten haben. Frau Hagemeier hat doch wohl nichts angestellt?« Er lacht übertrieben, und ich hoffe inständig, dass Frau Trauenstein einen noch größeren Filmriss hat als ich und sich an meinen Fauxpas nicht erinnert.

Sie lächelt. »Nein, nein, Frau Hagemeier weiß sich zu benehmen und kam bei den Gästen gut an. Sie hat alle geschickt um den Finger gewickelt. Frau Hagemeier hat Sie also würdig vertreten, Herr Granowitz.« Bei den letzten Worten lächelt sie noch breiter und zwinkert mir zu.

Ich werde rot. Ich werde sonst nie rot! Oh Gott, wo führt das denn hin?

»Na, da bin ich aber beruhigt«, feixt mein Chef. Ich würde am liebsten unter den Tisch kriechen, in der Hoffnung, dass sich dort ein großes Loch auftut, in dem ich verschwinden kann.

»Dann spanne ich Sie mal nicht länger auf die Folter«, beginnt Frau Trauenstein. »Der Grund dieses Treffens ist eine Idee, die ich mit meinem Mann noch bis in den frühen Morgen diskutiert habe und an der wir von unserer Seite nichts zu bemängeln haben.«

Das war bisher noch nicht sehr erhellend. Fragend blicken mein Chef und ich unsere Gesprächspartnerin an.

»Nun, um etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen«, verkündet diese, »wir hätten großes Interesse an einer engen Zusammenarbeit mit Ihrem Unternehmen. Und wir würden – das ist unsere Bedingung – Frau Hagemeier gern als Schnittstelle einsetzen, um unsere Firmen zu verbinden und die Kommunikation zu vereinfachen, so dass wir die Wege möglichst kurz halten können.«

»Aber Frau Trauenstein . . .«, beginnt mein Chef. Doch er kann den Satz nicht beenden, denn ich falle im selben Moment ein: »Wie genau stellen Sie sich denn die Zusammenarbeit vor?« Plötzlich bin ich wieder völlig regeneriert.

»Wir waren doch gestern schon beim Du, wenn ich mich recht erinnere, oder?«, gibt die Frau mit den toupierten, blondgefärbten Haaren und dem viel zu roten Lippenstift zu bedenken und zwinkert mir neuerlich zu.

»Tut mir leid, stimmt.« Ich korrigiere mich: »Und wie genau stellst du dir die Zusammenarbeit vor?«

»Nun, wir fördern junge und unbekannte Künstler und würden diese Eingrenzung auch gern beibehalten. Wir möchten gar nicht ›bei den Großen mitspielen‹ – das haben wir jahrelang getan, und wir werden auch nicht jünger. Lieber würden wir uns im Musikbereich derer annehmen, die bei großen Plattenfirmen und Musikproduktionen keinen Fuß in die Tür kriegen. Wir möchten sie fördern, unterstützen und ihnen einen Start ins Business ermöglichen, sofern sie sich als würdig erweisen.« Ricarda Trauenstein macht eine bedeutungsvolle Pause, dann fährt sie fort: »Und dann kämen Sie an die Reihe. Wir sorgen quasi für Ihren Nachwuchs. TÜV-geprüft, sozusagen. Sie übernehmen die Künstler, die zuvor bewiesen haben, dass sie erfolgreich sein können. Und durch eine enge Kooperation zwischen Ihnen und uns können die Verträge von vorneherein schon entsprechend gestaltet werden. Was sagen Sie?«

Mein Chef schaut einen Moment lang ziemlich verdattert aus der Wäsche, bevor er äußert: »Also, ich . . . ich bin überrascht! Das klingt nach einem interessanten Arrangement, und eine Umsetzung scheint auf den ersten Blick für alle Beteiligten nur Vorteile zu bringen. Aber erläutern Sie noch einmal den Einsatz von Frau Hagemeier. Sie ist eine sehr gute und geschätzte Mitarbeiterin in leitender Position in unserem Büro. Wir würden sie nicht einfach so hergeben.«

Jetzt bin ich es, die verblüfft dreinschaut. Das aus dem Munde meines Chefs? Unglaublich. Oder arbeitet er nur an einer guten Basis für die Vertragsverhandlungen? Soll Ricarda mich jetzt abkaufen? So wie im Fußball? Wie viel ich ihr wohl wert wäre?

Ricarda durchbricht meinen absurden Gedankengang: »Frau Hagemeier würde die Schnittstelle bilden, um die Kooperation hürdenfrei zu gestalten. Sicher würde das bedeuten, dass sie die Position als Büroleitung aufgeben müsste. Allerdings würde sie Ihnen in der neuen Position erhalten bleiben.«

»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen und mit dem Vorstand sprechen«, feilscht mein Chef, der schon wieder ganz der Alte zu sein scheint. »Dann sollte auch Frau Hagemeier eine gewisse Bedenkzeit bekommen, bevor eine Entscheidung getroffen wird.«

»Selbstverständlich. Es eilt auch nicht. Aber glauben Sie mir, es warten tolle Künstler auf Sie, wenn Sie der Zusammenarbeit zustimmen. Wahre Schätze der Musikszene könnten Ihnen schon bald hohe Gewinne einfahren.«

Das Argument sitzt. Mein Chef hat förmlich die Dollarzeichen in den Augen, und ich weiß genau, dass er den Deal am liebsten sofort per Handschlag besiegeln würde. Aber er mimt den knallharten Geschäftsmann und nickt nur.

»Sehr schön. Ich würde sagen, dann essen wir mal etwas«, schlägt Ricarda vor, und niemand widerspricht.

Zurück im Büro lasse ich die letzten Stunden noch einmal Revue passieren und frage mich, warum Ricarda so heiß darauf ist, diese Kooperation mit mir in einer der Hauptrollen aufzubauen. Verständlicher wäre es gewesen, wenn sie meinem Chef von meinem eindeutigen Fehlverhalten auf ihrer Party erzählt hätte, um mich feuern zu lassen. Aber nein, sie möchte mit mir zusammenarbeiten. Komisch, wie sich manche Dinge entwickeln.

Ich fahre den PC hoch und checke meine Mails. Die Kopfschmerzen sind verschwunden, und das Adrenalin, das vor und während des Mittagessens durch meine Adern geströmt ist, hält noch vor.

Nur eine Mail im Posteingang. Von Ricarda! Ich bin gespannt.

Liebe Hannah, du hast dich sicher über das Treffen heute Mittag gewundert. Und bevor du dir den Kopf darüber zerbrichst, warum ich diesen Deal vorgeschlagen habe und weshalb du eine Rolle darin spielen sollst, schreibe ich dir diese Mail. Deine Art hat mich fasziniert. Du bist schlagfertig, risikobereit und hast eine Ausstrahlung, mit der du jeden überzeugen kannst. Das ist unglaublich wichtig im Geschäftsleben und eine Erfolgsgarantie, sofern man einen Platz hat, um diese Eigenschaften sinnvoll einzusetzen. Als ich in deinem Alter war – und das ist länger her, als man es mir ansieht –, hat mir mein Mann die Chance gegeben, meine Talente zu nutzen. Und ich war unendlich dankbar dafür. Du bist mit deiner Persönlichkeit und deiner Energie einfach zu schade, um »nur« die Büroleitung zu sein. Ich habe dich gleich gemocht, als ich dich gesehen habe. Du hast in mir ein Gefühl ausgelöst, das ich gar nicht kenne. Es scheint, als hätte ich die Tochter gefunden, die ich nie hatte. Ich möchte dich unterstützen und beruflich herausfordern. Du kannst mehr. Und du hast das Potential, alles zu erreichen, was du willst. Nebenbei ist unsere Idee nicht ganz uneigennützig. Ich bin sicher, dass du unserer Firma mit deinen Fähigkeiten schwarze Zahlen sichern wirst. Mit deinem Esprit und deiner unkonventionellen Vorgehensweise sehe ich einfach für beide Seiten viel Gutes, wenn dieser Deal zustande käme. Sollte es jedoch nicht zu einer Zusammenarbeit unserer Firmen kommen, sollst du wissen, dass es bei uns einen Platz für dich gibt, der dir die Herausforderung bietet, die du brauchst, und der dir so viel Luft nach oben lässt, dass du noch ein ganzes Stück wachsen kannst. So . . . nun aber genug davon. Ich wäre froh darüber, wenn du dich darauf einlässt. Herzliche Grüße, Ricarda

Ich bin selten sprachlos. Aber in diesem Moment bin ich es.

Mal abgesehen von den persönlichen Vorteilen, die die Kooperation oder gar der Wechsel in ihre Firma für mich bedeuten würde, finde ich das Konzept der Trauensteins wirklich überzeugend. Es stört mich schon lange, dass die jungen, dynamischen und motivierten Künstler kaum eine Chance haben, um ihr Können unter Beweis zu stellen, weil sich die großen Musikkonzerne nur mit denen auseinandersetzen, die schon jemand sind. Aber wie soll aus einem Talent jemand werden, wenn ihm niemand eine Bühne gibt?

Ist Art & Music Productions vielleicht meine Bühne? Ist das meine Chance, zu zeigen, was ich wirklich kann?

Ich muss nachdenken. Aber nicht hier. Nicht im Büro. Hier kommt mir gerade alles so beschränkt vor. Und wenn ich hierbleibe, kann ich meine Gedanken nicht objektiv kreisen lassen.

Ich verlasse meinen tristen Schreibtisch, betrete das Büro des Chefs und frage vorsichtig: »Herr Granowitz?«

»Frau Hagemeier. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde heute gern ein paar Überstunden abarbeiten, wenn es recht ist. Meine Arbeit ist für heute erledigt. Den Rest kann ich Montag machen.«

»Ja, tun Sie das. Sie haben ja einiges auf dem Überstundenkonto. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.«

»Danke, Ihnen auch.«

»Ach, Frau Hagemeier?«, ruft er mir hinterher, als ich schon fast aus der Tür bin.

»Ja?«

»Aus dem Deal wird nichts. Die obere Etage hat herzlich über den Vorschlag gelacht und gemeint, dass wir für so einen Rückschritt nicht bereit sind. Und sie haben nicht ganz unrecht. Wieder mit denen zu beginnen, die noch keinen Namen haben, wäre ein Rückschritt. Und es würde sehr viel mehr Arbeit machen, die PR zu gestalten und sie zu jemandem zu machen, der dann wirklich Geld einbringt. Die Trauensteins sind gewiss nicht in der Lage, die nötige Vorarbeit zu leisten, um unseren Ansprüchen gerecht zu werden. Mal ehrlich: Wer sind die, und wer sind wir? Was für eine Schnapsidee! Da sieht man wieder, dass die Herrschaften von nichts eine Ahnung haben, nicht wahr?« Er lacht und schüttelt den Kopf, als seien die Trauensteins verrückt, und er hätte sie entlarvt. Dabei hat er einfach nichts von dem verstanden, was Ricarda vorgeschlagen hat.

Ich verabschiede mich knapp: »Gut, dann weiß ich Bescheid. Bis Montag dann.« Dabei kann ich mir ebenfalls ein Kopfschütteln nicht verkneifen. So viel Arroganz. Die bekomme selbst ich nicht zustande.

4

Maggy

»Praxis für Familientherapie, Weiß, guten Tag?«

»Hey! Endlich! Ich bin am Verzweifeln, Maggy.« Es ist meine beste Freundin Vera. Seit Tagen wollen wir schon telefonieren, und jedes Mal haben wir uns verpasst.

»Hast du heute Abend schon was vor? Oder kannst du deiner guten alten Freundin die Beichte abnehmen? Vielleicht bei einem schönen Glas Wein im Café Oktober. Ich schaffe es auf acht Uhr«, rattert Vera den Text herunter, den sie anscheinend seit Tagen vorbereitet hat.

»Acht Uhr ist super. Dann sehen wir uns dort. Ich freu mich und bin gespannt auf deine Beichte. Ich ahne Furchtbares.« Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Vera bringt sich hin und wieder in ungünstige Situationen und fragt sich jedes Mal, wie das schon wieder passieren konnte. Sie ist fast noch chaotischer als ich. Und das ist eigentlich gar nicht möglich.

Wir verabschieden uns, und dann klingelt es auch schon an der Tür. Mein 14-Uhr-Termin ist da. Jakob, sechzehn Jahre alt und ganz und gar nicht freiwillig bei mir in Therapie. Mal sehen, ob er heute vollständige Sätze zustande bringt, die weder mit »Alta« enden noch mit »Ey« beginnen. Aber ich befürchte, dass diese Erwartung zu hoch ist.

Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich die Tür öffne, und spreche in Gedanken mein Mantra: »Es sind nur 45 Minuten . . . es sind nur 45 Minuten.« »Seine Eltern bezahlen privat . . . seine Eltern bezahlen privat.« »Es sind 90 Euro . . . es sind 90 Euro.« Danach geht es mir besser. Es kann losgehen.

»Hey, Vera! Du bist ja schon da. Und ich dachte, ich sei zu früh«, begrüße ich meine beste Freundin strahlend und falle ihr um den Hals. Wir haben uns eine gefühlte Ewigkeit nicht gesehen.

»Hallo, Maggy! Ich bin begeistert, dass wir es tatsächlich hinkriegen. Und dann auch noch an einem Freitagabend! Ich würde sagen, da bestellen wir uns doch gleich mal einen Cocktail, oder?«

»Oh ja, den habe ich mir verdient«, seufze ich und verschwende einen kurzen Gedanken an die Sitzung mit Jakob, der mir haarklein berichtet hat, wie er die Reifen vom Auto des Nachbarn zerstochen hat, um ihm eine Lektion zu erteilen. Und das nur, weil der besagte Nachbar in Jakobs Augen so unverschämt war, mit seinen dreckigen Schuhen durch den – von Jakobs Mutter – frisch gewischten Hausflur zu laufen. Selbstverständlich hat er mich auf meine Schweigepflicht hingewiesen und gesagt: »Weißt du? Kannst du nicht den Bullen erzählen. Weil, das hab ich im Internet geguckt. Ha!« Sympathisch, der junge Mann. Ich halte ihm zwar zugute, dass er es für seine Mutter getan hat. Aber irgendwie packt mich immer wieder der Verdacht, dass er einfach nur auf der Suche nach Gründen ist, um Scheiße zu bauen.

Wie dem auch sei. Ich habe Feierabend und brenne darauf, Veras Beichte abzunehmen. »Los, erzähl«, sage ich begierig. »Was ist passiert? Oder nicht passiert? Oder fast passiert?«

»Wollen wir nicht erst einmal bestellen?«

»Das können wir nebenbei machen. Es ist doch ohnehin noch niemand da, der unsere Bestellung aufnimmt.« Ich deute auf die kellnerfreie Zone in der gemütlichen Bar in Friedrichshain, in die es mich schon seit Jahren zieht, wenn ich mal wieder Lust auf leckere Cocktails habe. Hier kann ich interessante Menschen dabei beobachten, wie sie sich mit Freunden treffen, plaudern, lachen und sich gemeinsam auf den Weg machen, um feiern zu gehen oder um eine erste gemeinsame Nacht miteinander zu verbringen. Ich liebe es, den Menschen um mich herum Geschichten auf den Leib zu schreiben, obwohl ich sie gar nicht kenne. Oder gerade deshalb? Vielleicht macht es mir deswegen so viel Spaß, weil ich nie erfahren werde, wie es wirklich ist. So bleibt mir die Enttäuschung der harten Realität erspart, die sich hinter manchen Fassaden abspielen mag – und die Leute reihenweise bei Therapeuten wie Vera und mir in die Praxen treibt.

»Also schön«, erklärt sich Vera bereit, mir ihr Herz auszuschütten. »Ich habe dir doch von dem total scharfen Typen erzählt, der seit ein paar Wochen bei mir zur Therapie kommt.«

»Ja, von dem hast du erzählt. Und?«

»Na ja, er war gestern wieder da. Und . . .« Sie bricht den Satz ab und sieht sich um, als würde sie verfolgt und müsste sicherstellen, dass niemand zuhört. Dass sie nicht unter dem Tisch nach versteckten Wanzen sucht, ist bemerkenswert. Dann lehnt sie sich über den Tisch in meine Richtung und flüstert so leise, als bringe sie ein Staatsgeheimnis in Umlauf: »Wir haben uns ganz tief in die Augen gesehen.«

»Und dann?«, stichele ich, ebenfalls flüsternd. Das kann ja nicht alles gewesen sein.

»Na, nichts und dann.« Vera scheint enttäuscht zu sein, dass ich diese Neuigkeit nicht ganz so spektakulär finde, wie sie es offensichtlich tut.

Fast etwas ungläubig hake ich nach: »Vera, ist das dein Ernst? Wie alt bist du? Glaubst du auch, dass man vom Händchenhalten schwanger wird?« Ich lache beherzt los.

Offenbar etwas zu beherzt. Vera sieht mich verdrossen an. Ich halte inne, auch wenn mir das aufgrund des aktuellen Stands ihrer Dinge schwerfällt.

»Sehr witzig«, grummelt sie. »Mann, Maggy, da war irgendwas. Dieser Blick war nicht einfach nur ein Blick. Er war . . .«

». . . magisch?«, beende ich ihren Satz und kann mir ein unterdrücktes Lachen nicht verkneifen.

»Du nimmst mich nicht ernst«, beschwert sich Vera. »Tolle Therapeutin bist du!«

»Na, hör mal . . . Ich habe Feierabend. Und als Freundin darf ich dich doch süß finden, oder?«

»Aber als Freundin darfst du mich auch ruhig ernst nehmen.« Etwas eingeschnappt verschränkt sie die Arme vor der Brust.

»Ach Mensch, Süße! Natürlich nehme ich dich ernst. Welches Problem therapierst du bei ihm denn eigentlich?«

»Ach, ganz harmlos. Er hat Klaustrophobie und arbeitet seit einigen Wochen im zwanzigsten Stock. Da dachte er, er tut mal was dagegen, damit er nicht zu sportlich wird vom vielen Treppenlaufen.«

»Na, dann bist du ihn ja bald wieder los, und ihr könnt über den Blickkontakt hinausgehen und es mal mit Händchenhalten versuchen«, grinse ich.

Und bereue die erneute Stichelei gleich wieder, denn Vera guckt jetzt richtig beleidigt. »Tolle Freundin bist du.«

»Tut mir leid, Vera«, beschwichtige ich sie und reiße mich nun wirklich zusammen. »Wie soll es denn jetzt weitergehen? Therapierst du ihn noch zu Ende?«

»Ich denke schon. Ist ja nicht mehr lange. Vielleicht noch zwei Monate. Wenn er sich mal ein bisschen anstrengen würde, wären wir schon durch mit der Sache.«

»Hast du mal überlegt, dass er sich vielleicht keine Mühe gibt, damit er noch länger zu dir kommen kann?«

Sie schaut mich skeptisch an. »Na, das wäre ja die Krönung. Ich versuche ihn möglichst schnell in so einen Scheiß-Aufzug zu befördern, und er strengt sich an, genau dort nicht einzusteigen – dabei wollen wir beide vielleicht dasselbe: uns?«

»Es wäre zumindest eine Möglichkeit.«

»Und was soll ich jetzt tun?«

»Mit ihm reden?«

»Und wie? Soll ich ihm sagen: ›Ach, übrigens, ich hab mich in dich verknallt und würde mich sehr freuen, wenn du unverzüglich in den Fahrstuhl einsteigst, damit wir die Therapie abschließen können, um gemeinsam alt zu werden‹?« Vera schüttelt bei dem Gedanken den Kopf.

»Warum eigentlich nicht? Dann wüsstet ihr beide, woran ihr seid.«

»Ja, schon. Aber ich könnte mich auch total lächerlich machen, wenn sich nach meinem Geständnis herausstellt, dass er gar nicht auf mich steht.«