Grenzschichten - Matthias Rutt - E-Book

Grenzschichten E-Book

Matthias Rutt

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Beschreibung

Was haben die Oberflächenspannung des Wassers, die biologische Zellmembran, die Bildung gesellschaftlicher Gruppen und die psychologische Grenze zwischen Ich und Du gemeinsam? Dieses Buch nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise entlang von Grenzschichten in der Biologie und der Psychologie, in den Gesellschaftswissenschaften und in der Spiritualität. Mit weitem Horizont entfaltet Matthias Rutt ein Panorama verschiedener Arten von Grenzschichten und beschreibt mit feinem Gespür das Wechselspiel von Trennen und Verbinden. Die vielfältigen Blickwinkel des Buches lassen uns erkennen, auf welche Weise Grenzschichten das Lebendige auf allen Ebenen prägen. Anschaulich und in einer persönlichen Sprache entwickelt er ein leidenschaftliches Plädoyer, individuelle und gesellschaftliche Grenzschichten lebensförderlich zu gestalten. Er beschreibt, wie wir das Trennende anerkennen und das Verbindende fördern können – zwischen einzelnen Personen, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und zwischen uns Menschen und den anderen Lebewesen auf diesem Planeten. »Alles ist mit Allem im Gespräch.«

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Grenzschichten

Matthias Rutt

Grenzschichten

Das Wechselspiel von Trennen und Verbinden

Matthias Rutt

Grenzschichten

Das Wechselspiel von Trennen und Verbinden

ISBN (Print) 978-3-96317-361-5

ISBN (ePDF) 978-3-96317-924-2

ISBN (ePUB) 978-3-96317-925-9

Copyright © 2023 Büchner-Verlag eG, Marburg

Bildnachweis Umschlag: Foto des Autors

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

If we’re to live up to our own time, then victoryWon’t lie in the blade, but in all the bridges we’ve made.

(Wenn wir unserer Zeit gerecht werden wollen, dann wird der SiegNicht in der Klinge liegen, sondern in den Brücken, die wir gebaut haben.)

Amanda Gorman, The Hill We Climb, 20.01.2021(Übersetzung: DeepL)

Inhalt

Einleitung

Teil 1

1. Genesis

2. Oberflächen

3. Zellen

4. Faltungen

5. Semipermeabilität

6. Jetzt

7. Geschlechtswelten

8. Tropfen

9. Spezies

10. Natur und Kultur

11. Nervensysteme

12. Wohlergehen

13. Freiheit und Solidarität

14. Gut und schlecht

15. Vertrauen

16. Haut an Haut

17. Intermezzo

Teil 2

18. Ordnung und Chaos

19. Das Gute und das Schöne

20. Werdendes Leben

21. Pflanzen

22. Quanten – sein und nicht sein

23. Vorstellungsvermögen

24. Tod und Leben

25. Sexualität

26. Kleidung

27. Wohnen

28. Reflektieren

29. Resonanz

30. Wir und die anderen 1

31. Wir und die anderen 2

32. Wir und die anderen 3

33. Die Zaunreiterin

34. Auseinandernehmen und Zusammenfügen

Teil 3

35. Zusammenschau

36. Essenzen

37. Grenzschichten

38. Gesellschaftliche Praxis

39. Persönliche Praxis

40. Ausblick

Dank

Literatur

Einleitung

Grenzschichten begegnen uns in den verschiedensten Lebensbereichen. Oft nehmen wir sie gar nicht wahr, denn sie sind für uns selbstverständlich. So wie das Wasser selbstverständlich ist für den Fisch. Wir schwimmen sozusagen in ihnen – oder eher mit ihnen. Sie sind allgegenwärtig.

Um davon einen ersten Eindruck zu vermitteln, beginne ich mit einer kleinen, ganz alltäglichen Geschichte. Darin sind zwanzig verschiedene Arten von Grenzschichten angesprochen – im Text sind sie mit Anmerkungen markiert, die eine kurze Erläuterung der jeweiligen Grenzschicht geben und meistens auf ein späteres Kapitel verweisen.

Liebe Leserin, lieber Leser, stell dir vor:

Du gehst, Schritt für Schritt.1 Eine Straße in der Stadt entlang, auf dem Gehweg2 natürlich. Du siehst die Fassaden3 der Häuser. Was geht wohl in ihnen vor, welches Leben wird darin gelebt?4 Mit jedem Schritt stößt du dich von der Oberfläche5 dieses Planeten ab, gegen die Schwerkraft, die seine Masse hervorruft. Du atmest die Luft der Atmosphäre, die mit einer dünnen Schicht6 die Erde umhüllt. Du spürst den Wind auf deiner Haut7. Eben hat es noch geregnet, dunkle Wolken hängen am Himmel, aber jetzt, gerade jetzt8 durchstößt ein Sonnenstrahl die Wolkendecke. Unzählige winzige Wassertropfen9 reflektieren glitzernd das Sonnenlicht. Ein Vogel singt. Die Schallwellen seines Gesangs erreichen die Trommelfelle10 in deinen Ohren. Dass es so fremde, seltsame Geschöpfe11 wie Vögel gibt! Wie mag es sich anfühlen, als Vogel zu fliegen? Die Sonne schimmert auf den Blättern12 der Straßenbäume, die sich dem Licht entgegenstrecken. Du gehst und atmest, ziehst die Luft tief in die zusammengefaltete innere Oberfläche13 deiner Lungen. Dein Blut fließt durch deinen Körper, viele Billionen Zellen nehmen Sauerstoff auf, der von außen nach innen ihre Zellmembranen14 durchdringt. Du triffst einen Freund. Du erkennst15 ihn schon von Weitem unter den Menschen, die dir entgegenkommen. Ihr umarmt euch zur Begrüßung, du spürst seinen Körper16 an deinem. Er erzählt, dass sein Auto gestohlen17 wurde: Wie schrecklich, nichts ist mehr sicher!18 Du bietest ihm an, dass er dein Auto ausleihen kann, und freust dich19 über seine Dankbarkeit. Zum Abschied wünscht er dir »Guten Mut«. Das wundert dich: Was meint er? Weiß er20 von dem schwierigen Termin, der dir gleich bevorsteht?

In dieser kleinen Episode finden wir Grenzschichten aus sehr unterschiedlichen Bereichen: von der Physik über Molekularbiologie und Physiologie, Evolutionsbiologie bis hin zu Psychologie und Soziologie, um nur einige zu nennen. Und von mikroskopisch kleinen Strukturen bis hin zu astronomischen Maßstäben. Alles spielt hinein in die ganz normalen Begebenheiten unseres Alltags.

In diesem Buch entfalte ich die These, dass mit dem Begriff der Grenzschichten ein universales Phänomen beschrieben werden kann. Grenzschichten sind formbildende Strukturen, nach deren Gesetzmäßigkeiten sich unsere Welt organisiert, von den Anfängen bis hin zu so komplexen Phänomenen wie Zellen und Gehirnen, Sonnensystemen und Ökosystemen, Familien und Staaten, Gedanken und Begriffen.

Warum benutze ich den weniger gewohnten Begriff der »Grenzschichten«, statt einfach über »Grenzen« zu schreiben? Grenzen sind eher abstrakte Gebilde, durch menschliche Abwägungen festgelegt und oft ziemlich willkürlich gezogen. Zum Beispiel wird der »Grenzwert« eines Schadstoffes von Menschen definiert, und diese Definition ist abhängig von unterschiedlichen Interessenlagen und vom Stand der Forschung. Grenzen zwischen Ländern wurden manchmal durch einen Strich auf der Landkarte willkürlich festgelegt. Diese Grenzen haben keine eigenständige Existenz, sie unterliegen menschlichen Entscheidungen. Grenzschichten dagegen sind eigenständige Phänomene: Das merkt jede Person, die eine Orange schält – wenn man in die richtige Schicht kommt, zwischen Schale und Fruchtfleisch, geht es am leichtesten. Und ob eine Nadel die Grenzschicht meiner Haut nur berührt oder sie durchdringt, das spüre ich deutlich, unabhängig von meinen Entscheidungen. Ausgehend von solchen natürlichen Grenzschichten leite ich in diesem Essay auch Überlegungen zu zwischenmenschlichen und zu abstrakteren Grenzschichten ab. Ich betone dabei mit dem Begriff der Grenzschichten ihre Anbindung an die natürliche Welt und ihre eigenständige Dynamik. Wenn zum Beispiel an einer abstrakt festgelegten Landesgrenze sich ein reger Handel entwickelt, ein Grenzverkehr mit Verbindendem und Trennendem, und damit eine eigenständige Dynamik, dann würde ich von einer »Grenzschicht« sprechen.

In den ersten beiden Teilen dieses Buches beschreibe ich das Phänomen der Grenzschichten in verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen. Dabei berühre ich Aspekte der Physik, Astronomie, Biologie und Neurologie, der Anthropologie und Psychologie, der Sozialwissenschaften, der Philosophie und der Spiritualität.

Im dritten Teil fasse ich die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse zusammen und entwickle daraus grundlegende Prinzipien von Grenzschichten. Schließlich gelange ich zu einigen ethischen Folgerungen und gebe praktische Hinweise, wie Grenzschichten lebensförderlich gestaltet werden können.

Ich entwickle das Panorama der unterschiedlichen Grenzphänomene Schritt für Schritt. Wenn dir, liebe Leserin, lieber Leser, dabei manchmal das Gefühl eines »roten Fadens« verloren geht, so kann es hilfreich sein, zunächst die Zusammenschau zu Beginn des dritten Teils (Kapitel 35) zu lesen. Dadurch kannst du einen Eindruck bekommen, wohin die Reise geht.

Noch eine Anmerkung zur gendergerechten Sprache in diesem Buch: Es ist mir ein Anliegen, dass alle Leserinnen und Leser sich von meinem Text gleichermaßen angesprochen fühlen können. Der sicherste Weg hierfür wäre die Benutzung von Aufzählungen (»Leserinnen und Leser«) oder von Formen wie das Binnen-I, das Sternchen oder der Unterstrich (LeserIn, Leser*in oder Leser_in). Dies sind legitime Möglichkeiten und definitiv ein Fortschritt gegenüber dem früheren gedankenlosen Gebrauch der maskulinen Form (»Leser« – und alle sollen sich gemeint fühlen). Dieser sichere Weg signalisiert allerdings auch: »Ich bin gendersensibel und stehe eindeutig auf der richtigen Seite!« Damit wird die Grenzschicht zwischen Sexismus und Gendergerechtigkeit undurchlässig. Wenn ich jedoch unvoreingenommen in mich hineinspüre, finde ich beides in mir, Gendersensibles und auch Sexistisches. Und ich vermute, dass dies für die meisten Menschen gelten mag. Wer ist denn völlig frei von Sexismus? Wer kann sich ausschließlich und hundertprozentig auf die »richtige Seite der Geschichte« stellen?

Ich habe mich daher für einen anderen Weg entschieden, bei dem ich mich angreifbarer und berührbarer mache und den ich ästhetisch ansprechender finde: Ich benutze bei allgemeinen Substantiven die weibliche und die männliche Form im Wechsel. Das kann an der jeweiligen Textstelle durchaus zu kleinen Irritationen führen, die aber zum Teil gewollt sind und vielleicht zum Nachdenken anregen. Wenn ich zum Beispiel über eine Steinzeit-Gesellschaft von »Jägerinnen und Sammlern« schreibe, könnte dies erst etwas irritieren und dann die Frage aufwerfen, woher wir denn wissen, dass es immer andersherum war, dass nämlich die Männer auf die Jagd gingen und die Frauen sammelten? Projizieren wir da vielleicht unsere eigene patriarchalisch geprägte Denkweise auf die Steinzeit? Indem ich zwischen weiblichen und männlichen Substantivformen wechsle, versuche ich, die Grenzschicht zwischen Gendergerechtigkeit und Sexismus offen und fluide zu halten – passend zum Thema dieses Buches.

Die Prinzipien von Grenzschichten lassen sich sowohl in den Naturwissenschaften wie auch in den Sozialwissenschaften, der Philosophie und der Spiritualität nachweisen. Daher überschreitet dieses Buch die Grenzschicht zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. In beiden wissenschaftlichen Bereichen wird gefragt, wie die Realität aufgebaut ist: »Was ist?« und »Wie hängt es zusammen?«. Aber die Fragen »Was sollte sein?« und »Wie wollen wir leben?« – also die Fragen nach dem ethisch vertretbaren Handeln –, sie spielen traditionell in den Sozial- und Geisteswissenschaften eine größere Rolle. Aktuelle Entwicklungen wie die Klimakrise und die Coronapandemie zeigen jedoch, dass auch die Naturwissenschaften immer mehr gefordert sind, zu ethischen Fragestellungen ihren Beitrag zu leisten.

Das diesem Buch vorangestellte Zitat von Amanda Gorman stammt aus dem Gedicht The Hill We Climb, das die damals 22-jährige Schwarze Dichterin – »descended from slaves« (»Nachfahrin von Sklavinnen«, A. Gorman, a. a. O.) – bei der Amtseinführung des US-Präsidenten Joe Biden im Januar 2021 vortrug. Der gewalttätige und zerstörerische Angriff auf das amerikanische Kapitol durch rechtsextreme Anhänger des abgewählten Präsidenten war gerade erst zwei Wochen her. Um Brücken zu bauen, die Verbindungen ermöglichen, müssen wir zunächst anerkennen, dass es Trennendes gibt, Gräben oder Schluchten, die zu überbrücken sind. Insofern sind die »Brücken« für mich ein Symbol für das Trennende und Verbindende lebensförderlicher Grenzschichten, die wir als Gesellschaft ermöglichen müssen, um »unserer Zeit gerecht« zu werden.

Sprachlich bewege ich mich in dieser Untersuchung zwischen einer rationalen, wissenschaftlich geprägten Ausdrucksweise und einer eher emotionalen Sprache. So überquert dieser Text auch die Grenze zwischen dem objektiven, vom Verstand geführten Blick und der spürenden, subjektiven Betrachtung.

Hierbei spielt noch eine andere, sehr grundlegende Grenzschicht eine Rolle: Bei dem sachlich-wissenschaftlichen Blickwinkel habe ich eine Distanz zu den Dingen und ihren Zusammenhängen, ich betrachte sie von außen. Bei der seelisch-emotionalen Haltung fühle ich die Dinge und was sie verbindet – in mir! Ich schreibe hier also manchmal mit nach außen gerichtetem, analysierendem Blick, manchmal mit nach innen gerichtetem Spüren.

Denn wir alle kennen die Erfahrung, und zwar von Beginn unseres Lebens an, innen zu sein, von Grenzschichten umhüllt, und uns darin zu spüren. Und genauso kennen wir die Erfahrung, außen zu sein, von außen etwas Umhülltes und Abgegrenztes wahrzunehmen: das Andere nämlich, das wir nicht sind.

Daher bin ich der Meinung, dass ein umfassender Blick auf ein so grundlegendes Phänomen wie Grenzschichten erst dann möglich wird, wenn wir sie gleichsam von beiden Seiten wahrnehmen und beschreiben können: analysierend von außen und spürend von innen. Denn auch das menschliche Ich ist ein wichtiger Aspekt dieses Phänomens, wie wir noch genauer sehen werden. Und unser Ich spüren wir von innen. Das Ich eines anderen Menschen können wir dagegen nie direkt wahrnehmen, sondern nur aus dessen Handlungen und Äußerungen erschließen. Die direkte Wahrnehmung eines Ichs ist daher immer eine innere Wahrnehmung: Ein Ich ist etwas Gespürtes, nichts analytisch Erkanntes.

Mit dieser Untersuchung plädiere ich für eine wissenschaftliche Haltung, die ich »spürende Wissenschaft« nennen möchte. Sie unterscheidet sich von einer gefühllosen, an-ästhetischen Wissenschaft, indem sie eine Ästhetik integriert im Sinne eines fühlenden Weltzugangs (griechisch »aisthesis« bedeutet Empfindung). Die spürende, ästhetische Wissenschaft verzichtet keineswegs auf Klarheit, mathematische Exaktheit und wissenschaftliche Überprüfbarkeit – diese gehören zu ihren Grundlagen. Ausgehend von der experimentell überprüfbaren Analyse findet sie jedoch zu einer spürenden Verbundenheit mit den Gegenständen ihrer Betrachtung. Wissenschaftliche Exaktheit und Objektivierbarkeit geben ihr ein sicheres Fundament, dem sie sich verpflichtet fühlt und das sie nicht für eine esoterische Agenda missbraucht. Dieses Fundament verhindert, dass sie in subjektive Beliebigkeit und »alternative Fakten« abdriftet. Von dieser sicheren Grundlage aus wagt es die spürende Wissenschaft, in den freien Raum des Empfindens auszugreifen und sich von der Welt berühren zu lassen. In dieser Bewegung gibt sie zwar ein gewisses Maß an wissenschaftlicher Neutralität auf, gewinnt dafür aber ein hohes Potenzial der Sinngebung und ethischen Orientierung, des Erlebens von Wert und von Schönheit.

Nun könnte man fragen: Dieser weite Bogen von der Naturwissenschaft hin zur spürenden Subjektivität und zur Ethik: Ist das nicht allzu gewagt? Ist es nötig? Ist es klug, all das »in einen Topf zu werfen«? Dazu wäre Folgendes zu sagen:

Erstens: Angesichts der Vielzahl an existenziellen Krisen, die – durch uns selbst verursacht – auf uns zurollen oder in denen wir schon mittendrin stecken, brauchen wir ethische Orientierung und Sinngebung – verzweifelt brauchen wir sie! Und zwar eine Orientierung und einen Sinn, die nicht im Gegensatz zur exakten Wissenschaft stehen, sondern aus ihr erwachsen und sie erweitern. Denn nur so wird uns vielleicht die große Transformation gelingen: dass wir aufhören, unseren Lebensraum und damit uns selbst zu zerstören.

Zweitens: Die Zeit ist reif für eine solche Erweiterung. Die exakten Naturwissenschaften haben mittlerweile viel davon verstanden, wie unendlich komplex, vielfältig und verwoben unsere Welt ist, sie haben sich selbst schon lange aus der mechanistisch-öden Vereinfachung herausentwickelt, in der sie noch vor wenigen Jahrzehnten steckten. So ist es nur noch ein kleiner Schritt, sich innerhalb dieser wissenschaftlichen Weltsicht berühren zu lassen von Wert und Sinn dieser Welt.

Drittens: Die »Natur« hat bezüglich Stabilität, Entwicklungsfähigkeit und Schönheit so viel vorzuweisen, dass psychologische, moralische und politische Ideen sich davon ruhig inspirieren lassen können. Auch mehren sich die Anzeichen, dass nicht nur die menschlichen Sphären, sondern die Natur und der gesamte Kosmos auf eine gewisse, noch näher zu untersuchende Art von Geist durchdrungen sind. Vielleicht deshalb, weil die grundlegendsten physikalischen Einheiten nicht Teilchen sind, sondern Information.

Und schließlich wecken die unendliche Vielfalt, die Schönheit und die Komplexität der natürlichen Welt Gefühle in uns, die uns zutiefst als ethische Wesen prägen können: Staunen und Ehrfurcht.

Denn wir alle – mit unseren innersten Gedanken und Gefühlen, unseren Familien, Beziehungen und Organisationen, unserer Kunst, Technik und Politik, unseren Staaten und multinationalen Firmen – sind letztlich doch nur ein kleiner Teil dieses einen großen Theaters, das sich seit etwa 13 Milliarden Jahren entfaltet: die Natur unserer Welt.

Aus der Untersuchung von Grenzschichten in der belebten und unbelebten Natur können sich daher neue Hinweise für uns ergeben auf die alten Fragen: »Was sollte sein? – Wie wollen wir leben?«.

Wir nähern uns dem Thema vom zeitlichen Anfang her.

Von verschiedenen Anfängen her – denn es gibt nie nur einen Anfang …

*

1 Die meisten Landtiere haben Gliedmaßen, mit denen sie sich fortbewegen, und dabei vollziehen sie voneinander abgegrenzte und sich wiederholende Bewegungseinheiten, die Schritte. Das ist ein völlig anderes Prinzip als die kontinuierliche Drehbewegung der Räder bei den meisten menschengemachten Fortbewegungsmitteln. Schrittweise Bewegung ist viel komplexer zu steuern, hat jedoch große Vorteile z. B. in schwierigem Gelände, bei Sprüngen oder schnellen Richtungswechseln.

2 Gehwege oder Bürgersteige gab es schon in der Antike im Römischen Reich. Die Bordsteinkante als Grenzschicht zwischen Fahrbahn und Gehweg dient dem Schutz der verletzlicheren Fußgänger vor Fahrzeugen aller Art, vom damaligen Fuhrwerk bis zum heutigen SUV. Grenzschichten können schützen.

3 Siehe Kapitel 27. Seitdem Menschen eigenen Wohnraum erbauten, wurde dieser nicht nur im Inneren gestaltet, sondern auch seine Grenzschicht nach außen wurde zum ästhetischen und symbolischen Ausdrucksmittel.

4 Diese Frage bezieht sich auf die schützende und Fremde ausschließende, aber immer wieder auch durchlässige Grenzschicht zwischen Privatsphäre und öffentlichem Raum.

5 Siehe Kapitel 2. Das irdische Leben ist ein Oberflächenphänomen – wir leben in der vergleichsweise dünnen Grenzschicht zwischen dem massiven Körper unseres Planeten und dem lichtdurchfluteten Raum, der die Erde umgibt.

6 Die Größenverhältnisse zwischen der Erde und ihrer Atmosphäre entsprechen dem Verhältnis zwischen der Dicke einer Zwiebelschale und der ganzen Zwiebel.

7 Siehe Kapitel 16. Die Grenzschicht der Haut ist vielleicht unser wichtigstes Sinnesorgan. Gemeinsam mit der Muskulatur ermöglicht sie unsere Feinmotorik, ohne die wir nichts »be-greifen« oder »er-fassen« könnten.

8 Siehe Kapitel 6. Das Jetzt ist die dünne Grenzschicht zwischen den riesigen Zeiträumen der Vergangenheit und der Zukunft.

9 Siehe Kapitel 8. Die Oberfläche von flüssigem Wasser mit ihrer hohen Oberflächenspannung hat entscheidend beigetragen zur Entwicklung von Leben auf der Erde.

10 Alle Sinnesorgane sind Grenzschichten zwischen Innen und Außen, die eine hohe, aber selektive Durchlässigkeit für Information besitzen.

11 Siehe Kapitel 9. Die Grenzschichten zwischen den biologischen Arten beziehen sich darauf, ob sich Individuen miteinander fortpflanzen können, und auf die jeweilige Rolle der Art in Ökosystemen. Wir werden jedoch nie wissen können, wie es ist, eine andere Spezies zu sein. Siehe das klassische Essay von Thomas Nagel: What is it like to be a Bat? (1974).

12 Siehe Kapitel 21. Blätter sind fotosynthetisch aktive Grenzschichten, auf denen der Energiefluss der irdischen Biosphäre zu großen Teilen beruht.

13 Siehe Kapitel 4. In der Lunge haben Menschen eine eingefaltete Grenzschicht zwischen der Luft und dem Körperinneren mit einer Fläche von etwa 100 Quadratmetern – fünfzigmal so groß wie die Fläche der menschlichen Haut.

14 Siehe Kapitel 5. Die semipermeable Zellmembran ist der Prototyp einer Grenzschicht. Sie trennt und verbindet, schützt die Identität der Zelle, ermöglicht ihr aber auch die Anpassung an die Umgebung.

15 Ein wesentliches Element des Erkennens – allgemein von Formen, speziell von Menschen – ist die Unterscheidung bezüglich der Grenzschicht zwischen Bekannt und Unbekannt. Diese Grenzschicht ist durchlässig: Eine Person, die mir vorhin noch unbekannt war, die erkenne ich jetzt wieder, ich habe sie »kennen gelernt«. Lernen bedeutet, dass ein Inhalt die Grenzschicht zwischen Unbekannt und Bekannt überquert.

16 Siehe Kapitel 16. Zwischenmenschliche Berührung findet statt an der Grenzschicht zwischen Ich und Du. Sie ist ein Symbol für Vertrauen und kann, wenn sie als stimmig empfunden wird, Wohlbefinden, Entspannung und Selbstwertgefühl fördern.

17 Hier ist die Grenzschicht des Eigentums angesprochen: was mir gehört und was nicht mir gehört. Auch sie ist durchlässig: durch Schenken, Kaufen, Verkaufen – oder durch Diebstahl.

18 Siehe Kapitel 15. Hier geht es um Vertrauen. Die Grenzschichten zwischen den Interessenbereichen verschiedener Menschen werden durch Vertrauen durchlässig – das ermöglicht die Bildung komplexer Gesellschaften.

19 Siehe Kapitel 12. Die Grenzschicht zwischen meinem Wohlergehen und deinem Wohlergehen ist durchlässig im Mitfühlen und in emotionaler Resonanz. Sie wird undurchlässiger in der Konkurrenz und im Kampf.

20 Siehe Kapitel 5. Die Grenzschicht zwischen Ich und Du bedeutet auch: Du kannst nicht in meinen Kopf »hineinschauen« und dadurch wissen, was ich weiß. Ich kann also Geheimnisse vor dir haben.

1.

Genesis

Am Anfang ist eine Zelle. Eine befruchtete Eizelle. Sie wird, wenn alles gut geht, eine Entwicklung vollziehen, sie wird sich teilen, immer wieder teilen, wird zu einem menschlichen Wesen heranwachsen. Dieses Wesen wird lieben, lachen und weinen, die Welt erkunden, denken, fühlen, Worte dafür finden. Und eines Tages sterben. Aber es beginnt mit der Zelle. Eine Zelle ist ein dynamischer Prozess, der von einer Grenzschicht umhüllt ist – der Zellmembran. Diese Grenzschicht ermöglicht es der Zelle, sie selbst zu sein: abgegrenzt von ihrer Umgebung und verbunden mit ihrer Umgebung. Das Wechselspiel zwischen Trennen und Verbinden werden wir in diesem Buch eingehender untersuchen.

Es ist wiederum eine Grenzschicht, eine seelische Grenze, die uns überhaupt zu individuellen Menschen macht. Die unser seelisches Inneres von der Außenwelt abgrenzt, die es uns ermöglicht, »ich« zu sagen, unseren Innenraum mit seinen Empfindungen zu spüren und uns im Kontakt mit einem »du« zu erleben, das von uns verschieden ist und eigene Gefühle und Bedürfnisse hat. Diese Grenzschicht zwischen »ich« und »du« ist es, die im »wir« durchlässig wird. Und als Grenze zwischen »ich« und »nicht-ich« führt sie dazu, dass wir die Welt als eine äußere erleben, die verschieden von uns ist und die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. Gesetzmäßigkeiten, die wir erkunden können.

Diese Grenzschicht zwischen »ich« und »nicht-ich« ist vielgestaltig und auf physischen, seelischen und sozialen Ebenen zu finden. Im Körperlichen ist sie verankert durch unsere Haut, diesem hochsensiblen Grenzorgan, und durch unsere willentlich steuerbare Muskulatur, die uns zum Beispiel zeigt: Diese Hand ist meine Hand, ich bewege sie, ich greife mit ihr: Ich be-greife. Aber diese andere Hand, die ich in der meinen spüre und an der ich mich festhalte, die steuere ich nicht, sie führt ein Eigenleben, du steuerst sie, und du greifst meine Hand – oder lässt sie los, wie du es willst.

Wann beginnen sich die Grenzschichten eines menschlichen Wesens zu entwickeln? Es geschieht viel früher, als man vielleicht meint. Lange vor unserer Geburt, ja sogar vor der Geburt des Wesens, das einmal unsere Mutter sein wird, bildet sich die Eizelle, aus der wir eines Tages entstehen werden, und mit ihr die Grenzschicht, die unser Inneres vom Äußeren trennt. Unsere zukünftige Mutter ist zu diesem Zeitpunkt ein nur wenige Zentimeter großer Embryo. In seinen winzigen Eierstöcken bilden sich die Eizellen, während er in der Gebärmutter des Wesens schwimmt, das einmal unsere Großmutter sein wird.

Betrachten wir eine einzelne menschliche Eizelle: Sie ruht still im Gewebe eines Eierstocks. Als ob sie schliefe, jahrzehntelang.

In ihrem Kern hat sie einen Satz aus 23 Chromosomen, einer zufälligen Auswahl aus den 46 (zweimal 23) Chromosomen der mütterlichen Zellen. Die Kombination der Erbanlagen in diesen 23 Chromosomen ist einmalig: Es gibt diese Kombination nur einmal auf der Welt, es gab sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nie vorher und es wird sie später nie wieder geben.

Die Eizelle ist umhüllt von einer Zellmembran – einer Grenzschicht –, durch die sie Sauerstoff und Nährstoffe aufnimmt und Abfallstoffe ausscheidet. Darüber hinaus ist sie eingehüllt in einen Follikel, ein Bläschen, bestehend aus kugelförmigen Schichten von Oberflächenzellen und Bindegewebszellen. So eingehüllt wartet sie, viele Jahre lang.

Irgendwann beginnt der Follikel zu reifen: Eine neue Dynamik entsteht. Es bilden sich immer mehr Zellschichten um die Eizelle herum – Grenzschichten umgeben Grenzschichten. Diese Zellen sind jetzt hormonell aktiv. Sie schütten Östrogen aus und entwickeln ein hormonelles »Gespräch« mit der Hirnanhangdrüse, die wiederum die Reifung des Follikels stimuliert.

Ausgelöst durch einen hormonellen Impuls kommt es zum Eisprung. Die Grenzschichten des Follikels öffnen sich und die Eizelle macht sich auf den Weg durch den Eileiter in die Gebärmutter. Etwa 24 Stunden lang kann sie befruchtet werden, ein Fenster der Gelegenheit hat sich geöffnet. In den meisten Fällen wird sie unbefruchtet absterben und mit der Monatsblutung ausgeschieden werden. Aber in diesem Fall schwimmt ein Spermium auf sie zu, eine bewegliche männliche Samenzelle, die Zelle eines anderen menschlichen Wesens. Ein Gegenüber. Die Eizelle lockt das Spermium mit Botenstoffen an, sodass es den Weg zu ihr findet; es kann die Eizelle sozusagen riechen. Bevor es mit ihr verschmelzen kann, muss es jedoch eine weitere Grenzschicht überwinden, die die Eizelle umgibt: ein zähes, engmaschiges Netz aus Glykoproteinen. Das Spermium löst sie auf mit Enzymen, die es an seinem Kopf bildet. Dann dockt es mit den Rezeptoren seiner Zellmembran an die Zellmembran der Eizelle an und wird von ihr ins Innere gezogen. Die beiden verschmelzen. Ihre jeweiligen Grenzschichten öffnen sich vollständig füreinander.

Innerhalb von Sekunden ändert sich daraufhin das elektrochemische Potenzial der Eizellenmembran und die Struktur der umgebenden Glykoproteine. Dadurch werden die Grenzschichten um die Eizelle für weitere Spermien unüberwindlich. Die beiden Zellkerne verschmelzen, der neue Zellkern enthält 46 Chromosomen, wieder eine einmalige Kombination von Erbanlagen, die es vorher nie gab und später nie wieder geben wird. Allein für ein einzelnes Menschenpaar gibt es 70 Billionen Möglichkeiten, wie das genetische Material eines gemeinsamen Kindes kombiniert sein kann.

Die befruchtete Eizelle beginnt sich zu teilen. Und wieder zu teilen. Immer wieder. Je mehr Zellen da sind, desto mehr kommen hinzu, sie haften aneinander. Der Zellklumpen hat schließlich so viele Zellen, dass nicht mehr alle Kontakt zur Oberfläche haben. Ein Innen und ein Außen entstehen, innere Zellen und äußere Zellen. Eine neue Gestalt.

In dem Zellklumpen entsteht ein wassergefüllter Hohlraum, der die inneren Zellen umgibt, während die äußeren Zellen den Hohlraum außen umhüllen. Aus ihnen entwickelt sich die Plazenta, aus den inneren Zellen der Embryo – ein neues menschliches Wesen, mit einer eigenen Geschichte. Es wird durch die Plazenta ernährt, der zusammengefalteten Grenzschicht zwischen dem Blutkreislauf der Mutter und dem des Kindes. Der Embryo nimmt im Laufe der Schwangerschaft immer mehr menschliche Gestalt an. Und seine inneren Organe entwickeln sich – vielleicht auch Eierstöcke, in denen sich Eizellen für die nächste Generation bilden.

Später nach der Geburt wird die Grenzschicht der Plazenta abgelöst durch andere Grenzschichten: Das Baby erlebt Körperkontakt durch die Haut, es lernt die Grenzen des eigenen Körpers wahrzunehmen, die Organe der Atmung und Verdauung bilden Grenzschichten zur Außenwelt, und es lernt vielfältige psychische und zwischenmenschliche Grenzen kennen.

Das Baby erlebt: Diese Hand bewegt sich, wenn meine Arme zappeln, und sie hängt an mir dran. Wenn die Hand gegen etwas stößt, tut es weh. Dieses rasselnde Ding bewegt sich auch, wenn meine Arme zappeln, aber dann fällt es runter und ist weg. Das große Wesen, das mich hält und herumträgt, gibt es mir manchmal wieder. Wenn mein Gesicht lächelt, lächelt das große Gesicht über mir auch und macht Töne, aber manchmal schaut es auch weg und lächelt nicht.

So erfährt das Baby ein erstes Gespür für »ich« und »nicht-ich«, für »ich« und »du«. An diesen Grenzschichten entlang entwickelt sich das neue Lebewesen, gemeinsam mit seiner Umwelt und seinem jeweiligen sozialen Gegenüber.

Irgendwann in dieser Entwicklung zündet der Prozess der Selbst-Bewusstheit. Ein Bewusstsein beginnt, »ich« zu sagen. Und »du« zu sagen. Eine Beziehung zu sich selbst aufzubauen und zum Gegenüber. Beides entwickelt sich aneinander. Etwas Neues ist entstanden, wie ein kleiner neuer Stern. Ein neues Licht des Bewusstseins.

Ich und Du. Eine Grenzschicht, ein Dialog. Ein neues Leben mit einem eigenen Bewusstsein, mit einer eigenen Welt, die nur dieses Wesen erlebt. Ein innerer Kosmos.

Und in seiner eigenen inneren Welt aus Gedanken und Empfindungen wird dieses Lebewesen sich vielleicht eines Tages mit Zellen beschäftigen oder damit, wie neues menschliches Leben entsteht, oder mit Gaswolken, Sternen und Planeten …

*

Szenenwechsel: Wir gehen an einen ganz anderen Anfang, weit zurück in der Zeit:

Vor 4,6 Milliarden Jahren schwebt eine Wolke aus Staub und Gas im All. Dunkel, diffus und ungeordnet, zeitlos und ohne Richtung. Wie ein langer Schlaf.

Ausgelöst vielleicht durch die Druckwelle einer fernen Supernova-Explosion oder durch den Sternenwind eines benachbarten Riesensterns: Die Wolke beginnt, sich durch die Gravitationskraft ihrer eigenen Masse zusammenzuziehen. Es entsteht ein Prozess, der eine Richtung hat. Eine Kontraktion. Winzige Ungleichmäßigkeiten der Bewegung führen zu einer langsam stärker werdenden Rotation. Die Massen der Wolke bewegen sich auf Spiralbahnen zur Mitte. Durch Fliehkräfte wird aus der Wolke eine sich drehende Scheibe. Sie hat eine eindeutige Mitte, eine Peripherie und eine Drehrichtung. Ein System ist entstanden, mit wirkenden Kräften und Beziehungen.

Eine Gestalt – mit einer eigenen Geschichte.

In dieser Akkretionsscheibe sammelt sich durch die Schwerkraft immer mehr Masse in der Mitte. Und je mehr das geschieht, desto stärker wird dort die Gravitation, die noch mehr Gas und Staub ins Zentrum zieht. Es ist eine sich selbst verstärkende Dynamik. Unumkehrbar und gerichtet auf etwas – wie auf ein Ziel.

In der Mitte dieser sich kontrahierenden und rotierenden Staubscheibe steigt der Druck der zusammenstürzenden Materie weiter an, immer weiter, weiter …

Bis schließlich der Moment gekommen ist – für etwas völlig Neues: Die Fusionsreaktion zündet. Ein Stern entsteht, der Strahlung aussendet. Er stabilisiert sich selbst durch den Strahlungsdruck und setzt der Gravitation etwas entgegen. Eine Grenze wird überschritten, ein abrupter Phasenübergang findet statt in eine völlig neue Dynamik mit neuen, elektromagnetischen Kräften. Die Strahlung des Sterns erfüllt den ihn umgebenden Raum.

Leichtere Bestandteile der Staubscheibe werden durch die Strahlung weiter ins All hinaus geblasen. Im nahen Bereich um den neuen Stern bleiben schwerere Staubteilchen zurück, die auf ihren Rotationsbahnen miteinander kollidieren und immer größere Brocken bilden. In der näheren Umgebung rund um die junge Sonne entstehen so allmählich Planeten aus festem Gestein. Ab einer gewissen Größe nehmen sie durch die Gravitation ihrer eigenen Masse eine kugelförmige Gestalt an. Sie haben eine Oberfläche, auf der sie die Strahlung des jungen Sterns empfangen.

Neue Gestalten entstehen: Flächen. Die im Licht liegen oder im Schatten.

Die Planeten kreisen auf einer jeweils eigenen Bahn mit einem bestimmten Abstand zum Stern, bei dem die Anziehungskraft des Sterns und die Fliehkraft der Kreisbahn genau ausbalanciert sind. Dieser Abstand vom Stern bestimmt die Strahlungsintensität, die den jeweiligen Planeten erreicht. Wenn die Intensität nicht zu hoch ist, aber auch nicht zu niedrig, können sich auf seiner Oberfläche komplexe Moleküle anreichern. Auch flüchtige Stoffe kann der Planet durch Gravitation an seiner Oberfläche binden. Zum Beispiel Wasser. Und eventuell – wenn ein eigenes Magnetfeld ihn von dem Sonnenwind aus geladenen Teilchen abschirmt – auch eine Atmosphäre.

Die Oberfläche ist die Grenzschicht zwischen der gravitativ wirksamen Masse des Planeten und dem von Strahlung erfüllten äußeren Raum.

Ein Stern mit Strahlung. Ein Planet mit fester Oberfläche.

Eine Grenzschicht. Ein Gegenüber. Zwei Gestalten treten in Beziehung zueinander, entwickeln eine gemeinsame Geschichte.

*

Ein paar Hundert Millionen Jahre später:

Auf einem dieser sonnennahen Gesteinsplaneten hat sich Wasser angesammelt, vielleicht durch Vulkanismus aus seinem Inneren emporgebracht, vielleicht durch die Einschläge wasserhaltiger Asteroiden. Und der Abstand des Planeten zum zentralen Stern ist so beschaffen, dass dieses Wasser größtenteils in seinem unwahrscheinlichsten Aggregatzustand vorliegt:

Es ist flüssig.

Dieser Zustand ist ein Dazwischen, ein schmaler Bereich, eine Grenzschicht zwischen dem starren Festkörper Eis und dem schwebenden, haltlosen Gas. Neben dem Druck hängt die Existenz dieses Zustands vor allem von der Temperatur ab.

Temperatur bedeutet die Energie, mit der sich Teilchen (Atome oder Moleküle) ungerichtet und ungeordnet bewegen. Das Maß dieser Energie kann sich in einem Bereich bewegen von Null – entsprechend −273,15 Grad Celsius, dem absoluten Temperatur-Nullpunkt – bis zu ca. 500 Milliarden Grad Celsius bei Supernova-Sternexplosionen. Der Bereich möglicher Temperaturen im Universum beträgt also Hunderte von Milliarden Grad. Der Bereich, in dem flüssiges Wasser vorliegen kann, umfasst dagegen nur 100 Grad. Was für eine hauchdünne Schicht!

Flüssiges Wasser – auf diesem zunächst unscheinbaren Gesteinsplaneten. Ein besonderer und seltener Stoff im Universum.

Meere sind entstanden, manche flach und sonnendurchflutet, andere tief bis in die Dunkelheit.

Vielleicht geschieht es in sonnenbeschienenen Gezeitentümpeln, vielleicht an vulkanischen Quellen in der Tiefsee, vielleicht in wassergefüllten Spalten der jungen Erdkruste – jedenfalls geschieht es an Grenzschichten, an denen wassergefüllte Räume mit einer Energiequelle (von der Sonne oder aus dem Erdinneren) zusammentreffen:

An einigen dieser Orte beginnen sich immer komplexer aufgebaute Stoffe anzureichern. Mit Wasser als Lösungsmittel und mithilfe von Energie aus Sonnenlicht oder Vulkanismus bilden sich Moleküle mit vielfältigen Ketten und Ringen aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und einigen anderen Elementen. Diese immer vielgestaltigeren Moleküle sind »reaktionsfreudig«, sie beginnen miteinander zu interagieren, sich zu verbinden oder sich gegenseitig zu regulieren, die Bildung anderer Moleküle zu hemmen oder zu fördern. Ein Netzwerk von wechselseitiger Beeinflussung entsteht, immer feiner und vielfältiger geflochten. Ein System, mit wirkenden Kräften und Beziehungen.

Irgendwann kommen in diesem Tanz der Moleküle noch solche hinzu, die Membranen bilden. Dadurch entstehen abgeschlossene Kompartimente, umgeben von Grenzschichten, sodass die Wolken miteinander interagierender Stoffe beieinanderbleiben und sich nicht mehr so leicht durch Diffusion verlieren. Schließlich entstehen noch Moleküle, die Information bewahren und speichern können. Dann ist der Moment gekommen für etwas völlig Neues.

Eine neue Gestalt ist entstanden. Eine lebende Zelle. Ein gerichteter Prozess, mit Zielen: sich erhalten, sich vermehren. Leben.

Bei jeder dieser Zellen gibt es ein Innen und ein Außen. Und eine Grenzschicht dazwischen, die sowohl trennt als auch verbindet. Das Außen wird dem Innen zu einem Gegenüber, das förderlich sein kann oder gefährlich. Und das Innen kann dem Außen gegenüber ein Verhalten entwickeln, zum Beispiel sich das Außen einverleiben. Innen und Außen treten in Beziehung zueinander. Sie entwickeln eine gemeinsame Geschichte.

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In diesem Kapitel haben wir Anfänge verschiedener Art betrachtet. Dabei kommt es zu Prozessen, die eine intensive Dynamik entwickeln und manchmal abrupte Phasenübergänge vollziehen. Es entstehen neue Gestalten, die miteinander in Verbindung treten, die Beziehungen eingehen. Dies geschieht an Grenzschichten, die sich entwickeln und differenzieren, sich falten, sich öffnen oder schließen, trennen und verbinden.

2.

Oberflächen

Die Gesamtheit des Lebens mit seiner unermesslichen Vielfalt finden wir nur in einer dünnen Schicht an der Oberfläche unseres heimatlichen Planeten.

Die Erde hat einen Radius von 6 370 Kilometern, das ergibt ein Volumen von ca. einer Billion Kubikkilometern. Aber der größte Anteil der biologischen Artenvielfalt (der mehrzelligen Lebewesen) findet sich auf der Oberfläche in einer Schicht, die nur etwa 200 Meter dünn ist. Das Volumen dieser zentralen Biosphäre beträgt nur ein Zehntausendstel des Erdvolumens. Hätte die Erde die Größe eines Apfels, wäre diese Schicht nur zwei Tausendstel Millimeter dick, das entspricht der Größe eines Bakteriums.

Wie ein unsichtbarer Bakterienrasen auf einem Apfel. So dünn ist zentrale Biosphäre, die belebte Grenzschicht zwischen massivem Gestein und lichtdurchflutetem Raum. Unsere Heimat ist nicht die Erde. Es ist ihre Oberfläche.

Diese Oberfläche ist allerdings geprägt vom Inneren des Planeten. Einerseits durch die Erdanziehung, die von der Masse der Erde abhängt. Auch durch den Vulkanismus, der die Atmosphäre beeinflusst und ursprünglich vielleicht einen Teil des Wassers vom Erdinnern auf die Erdoberfläche brachte. Durch die Plattentektonik, bei der die Kontinente über die Oberfläche wandern, ihre Gestalt verändern, Gebirge auffalten, Meeresströme und Klima beeinflussen. Und durch das Magnetfeld der Erde, das in ihrem Inneren entsteht und die Erde vor zerstörerischer Strahlung der Sonne abschirmt.

Die Gestalt der Oberfläche hängt vom Inneren ab. Und vom äußeren Raum.

Die Umlaufbahn der Erde um die Sonne ist nämlich nicht exakt kreisförmig, sondern leicht elliptisch. Die Form dieser Ellipse ändert sich zyklisch; ein Zyklus umfasst etwa 100 000 Jahre. Die Achse der Eigendrehung der Erde – die Erdachse – wiederum ist gegenüber der Ebene der Umlaufbahn geneigt. Durch diesen Neigungswinkel (Ekliptik) entstehen die Jahreszeiten auf der Erde, er beträgt etwa 23,5 Grad. Auch dieser Winkel ändert sich zyklisch alle 40 000 Jahre. Diese (und andere) sich überlagernde zyklische Veränderungen der Erdbewegung lösen zum Beispiel Eiszeiten aus, mit ihren weitreichenden klimatischen Veränderungen, mit dem Wachsen und Schwinden von großflächigen Vereisungen und deren Folgen für alle Lebewesen. So wirkt sich die Bewegung der Erde durch den äußeren Raum auf die Gestalt ihrer Oberfläche aus.

Das Licht, das unsere irdische Heimatschicht erfüllt, stammt von der Oberfläche der Sonne, von einer ebenfalls sehr dünnen Schicht, der Fotosphäre. Ihre Dicke beträgt weniger als ein Tausendstel des Sonnenradius (nämlich »nur« 400 Kilometer). Die Energie entsteht zwar tief im Sonneninneren bei der Kernfusion. Aber sie braucht durch Streuung und Absorption Jahrtausende, um bis zur Oberfläche der Sonne zu gelangen, zur Fotosphäre. Von dort gelangen die Photonen des Sonnenlichts dann in wenigen Minuten bis zur Oberfläche der Erde.

Diese beiden Grenzschichten – von der Sonne und von der Erde – sind verbunden durch Licht. Zwei Gestalten. Ein Gegenüber. Zugewandt und abgewandt. Tag und Nacht.

In der Beziehung dieser beiden, in deren Gespräch, entstand das Leben.

3.

Zellen

Alles Leben, das wir kennen, besteht aus eigenständigen und abgrenzbaren Einheiten: den Zellen. Sie sind mikroskopisch klein: Die meisten Zellen haben einen Durchmesser zwischen einem tausendstel und einem zehntel Millimeter. Sie sind das grundlegende Organisationsprinzip des Lebens.

Das erscheint selbstverständlich. Aber warum ist das so? Könnte Leben nicht auch in einem unbegrenzten Kontinuum bestehen, wie in einer Ursuppe? Ein Lebewesen wäre dann wie eine Wolke von miteinander interagierenden Stoffen in dieser Suppe. Und die Begegnung zweier Lebewesen wäre wie zwei verschiedene Wolken, die sich durchdringen. Allerdings würde das auf eine einfache Mischung hinauslaufen, bei der sich Unterschiede angleichen und sich dadurch die Vielfalt der möglichen Interaktionen verringert. Unter diesen Umständen könnte sich wahrscheinlich nicht viel entwickeln.

Für eine immer weiter gehende Entwicklung und damit Erhöhung von Vielfalt und Komplexität scheint die Verschiedenartigkeit eigenständiger und abgegrenzter Einheiten nötig zu sein.

Einheiten, die eigenständig sind – und miteinander verbunden. Die einander ein Gegenüber sein können.

Eigenständig ist eine Zelle durch eine dünne Grenzschicht: die Zellmembran. Sie besteht aus einer doppelten Lage von Phospholipid-Molekülen und ist etwa ein hunderttausendstel Millimeter dick. Sie trennt das Innere der Zelle vom äußeren Raum und ermöglicht es dadurch, dass die biochemischen Prozesse des Zellstoffwechsels ungestört ablaufen können. So kann die Zelle in ihrem Inneren ein eigenes chemisches Milieu entwickeln und aufrechterhalten. In der Zellmembran gibt es unterschiedliche Proteine, die eine Vielfalt von Funktionen erfüllen. Da gibt es Kanäle, die bestimmte Stoffe reguliert nach innen oder nach außen lassen und die sich öffnen oder schließen können. Da gibt es Pumpen, die Stoffe aktiv transportieren, Rezeptoren, die Reize von außen nach innen weiterleiten, und Vesikel, kleine Bläschen, die von innen mit der Zellmembran verschmelzen und Signalstoffe oder Abfallstoffe nach außen transportieren.