Grimm & Sohn: Mord am Niederrhein - Erwin Kohl - E-Book

Grimm & Sohn: Mord am Niederrhein E-Book

Erwin Kohl

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Beschreibung

Mutter und Sohn auf Verbrecherjagd DAS KOPFLOSE SKELETT: Im beschaulichen Alpen, einem Dorf am Niederrhein, kochen die Gemüter: Ausgerechnet auf einem jahrhundertealten Erdhügel soll ein Hotel erbaut werden. Doch als dort ein Skelett gefunden wird, mit einem Einschussloch im Schädel, nimmt das Bauprojekt plötzlich eine mörderische Wendung. Vor allem, als Kommissar Heinrich Grimm kurz darauf feststellen muss, dass der Kopf des Skeletts verschwunden ist … DER TOTE IM HEIDSEE: Am Ufer des Weseler Heideweihers wird ein toter Obdachloser gefunden, aber der Fall wird schnell als Unfall zu den Akten gelegt. Doch der pensionierte Kommissar Heinrich Grimm und seine Mutter Gertrud – ihres Zeichens Hobbydetektivin – zweifeln: Am Tatort wurde eine Angel gefunden, allerdings gibt es in dem Heidesee überhaupt keine Fische! Voller Elan beginnt Gertrud zu ermitteln und auch Heinrich fragt sich bald, ob die Polizei diesem Fall alleine gewachsen ist … DAS HORNVEILCHENINDIZ: Grabraub auf dem Rheinberger Friedhof? So etwas hat Gertrud Grimm in ihrem ganzen langen Leben noch nicht gehört, aber anscheinend ist die Stadt vor nichts mehr sicher! Gertrud ist fest entschlossen, den Fall aufzuklären. Zumal plötzlich ein alter Schulfreund von ihr unter Verdacht gerät … Die ersten drei Fälle für Grimm & Sohn in diesem humorvollen Regiokrimi-Sammelband – für alle Fans von Volker Klüpfel & Michael Kobr.

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Seitenzahl: 882

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

DAS KOPFLOSE SKELETT: Im beschaulichen Alpen, einem Dorf am Niederrhein, kochen die Gemüter: Ausgerechnet auf einem jahrhundertealten Erdhügel soll ein Hotel erbaut werden. Doch als dort ein Skelett gefunden wird, mit einem Einschussloch im Schädel, nimmt das Bauprojekt plötzlich eine mörderische Wendung. Vor allem, als Kommissar Heinrich Grimm kurz darauf feststellen muss, dass der Kopf des Skeletts verschwunden ist …

DER TOTE IM HEIDSEE: Am Ufer des Weseler Heideweihers wird ein toter Obdachloser gefunden, aber der Fall wird schnell als Unfall zu den Akten gelegt. Doch der pensionierte Kommissar Heinrich Grimm und seine Mutter Gertrud – ihres Zeichens Hobbydetektivin – zweifeln: Am Tatort wurde eine Angel gefunden, allerdings gibt es in dem Heidesee überhaupt keine Fische! Voller Elan beginnt Gertrud zu ermitteln und auch Heinrich fragt sich bald, ob die Polizei diesem Fall alleine gewachsen ist …

DAS HORNVEILCHENINDIZ: Grabraub auf dem Rheinberger Friedhof? So etwas hat Gertrud Grimm in ihrem ganzen langen Leben noch nicht gehört, aber anscheinend ist die Stadt vor nichts mehr sicher! Gertrud ist fest entschlossen, den Fall aufzuklären. Zumal plötzlich ein alter Schulfreund von ihr unter Verdacht gerät …

Über den Autor:

Erwin Kohl wurde 1961 in Alpen am Niederrhein geboren und wohnt noch heute mit seiner Frau in der herrlichen Tiefebene am Niederrhein. Neben der Produktion diverser Hörfunkbeiträge schreibt Kohl als freier Journalist für die NRZ / WAZ und die Rheinische Post. Grundlage seiner bislang 15 Kriminalromane und zahlreichen Kurzgeschichten sind zumeist reale Begebenheiten sowie die Soziologie der Niederrheiner und ihre vielschichtigen Charaktere.

Die Website des Autors: www.erwinkohl.de/

Bei dotbooks veröffentlichte Erwin Kohl seine humorvolle Krimireihe um »Grimm & Sohn« mit den Bänden:»Grimm & Sohn – Das kopflose Skelett«

»Grimm & Sohn – Der Tote im Heidesee«

»Grimm & Sohn – Das Hornveilchen-Indiz«

»Grimm & Sohn – Der tote Schornsteinfeger«

Auch bei dotbooks erscheint seine »Kommissar Trempe«-Reihe:»Kommissar Trempe – Zugzwang«

»Kommissar Trempe – Grabtanz«

»Kommissar Trempe – Flatline«

»Kommissar Trempe – Willenlos«

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Sammelband-Originalausgabe Juni 2025

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Romane, die im Sammelband enthalten sind, finden Sie am Ende dieses eBooks.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Vasya Kobelev, Snapshot freddy, Frnk Wagner und AdobeStock/Papugrat

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (vh)

ISBN 978-3-98952-717-1

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Erwin Kohl

Grimm & Sohn: Mord am Niederrhein

Drei Krimis in einem eBook:

»Das kopflose Skelett«, »Der Tote im Heidesee« & »Das Hornveilchen-Indiz«

dotbooks.

Grimm & Sohn: Das kopflose Skelett

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Danksagung

Grimm & Sohn: Der Tote im Heidsee

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Danksagung

Grimm & Sohn: Das Hornveilchen-Indiz

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Danksagung

Rechtenachweis

Lesetipps

Grimm & Sohn: Das kopflose Skelett

Skandal! Im beschaulichen Alpen, einem Dorf am Niederrhein, ist die Stimmung der Bewohner kurz vor dem Überkochen: Ausgerechnet auf einem jahrhundertealten historischen Erdhügel soll ein Hotel erbaut werden. Doch als dort ein Skelett gefunden wird, mit einem Einschussloch im Schädel, nimmt das Bauprojekt plötzlich eine mörderische Wendung. Vor allem, als Kommissar Heinrich Grimm kurz darauf feststellen muss, dass der Kopf des Skeletts verschwunden ist. Gibt es etwa einen Zusammenhang mit einem 30 Jahre lang zurückliegenden Mordfall? Die Polizeiakten von damals sind allerdings mehr als löchrig. Wie gut, dass Heinrichs Mutter, die rüstige Gertrud Grimm, ein besonderes Köpfchen für Kriminalfälle hat. Blöd nur, dass sie nun vorhat, ihn selbst zu lösen …

Motto

In den Flüssen schwimmen Träume und die Träume die sind schwer Aus den Häusern wachsen schon die BäumeMutter ruft schon lang nicht mehr

Hanns Dieter Hüsch

Kapitel 1

Alpen, 18.10.1977

Die Abenddämmerung legte sich wie ein dunkles Tuch über die kleine niederrheinische Gemeinde. Im Ortskern am Fuße der Bönninghardt ließen die Straßenlaternen bereits ihr milchiges Licht durch den Abenddunst schimmern. Eine Greisin ging gebückt aus dem zum Altersheim umgebauten Hotel Terheggen und sah sich neugierig um. Vor der Pommesbude an der Lindenallee saßen einige Jugendliche in Bundeswehrparkas auf ihren Vespamofas und hielten lässig ihre Zigaretten zwischen Daumen und Zeigefinger. Ihr Atem verwandelte sich in kleine Nebelwölkchen.

Kurz bevor sich die Straße den Alpener Berg hochzog, steuerte Walter Jansen den NSU RO 80 in die Einfahrt der kleinen Tankstelle hinter dem Lindenhof. Seiner Tochter gegenüber hatte er erwähnt, am nächsten Morgen in aller Frühe nach Düsseldorf fahren zu wollen. Jedes Detail sollte stimmen. Die Tankstelle öffnete erst um acht Uhr, ebenso die des Autohauses Artz auf der Rathausstraße. Bevor er ausstieg, schaltete er das Radio aus. Die Berichte über die Geiselbefreiung in Mogadischu und die anschließenden Selbstmorde der Terroristen Baader, Ensslin und Raspe in ihren Zellen in Stuttgart-Stammheim hatte er im Laufe der letzten zwei Stunden bereits ein halbes Dutzend Mal gehört. Im kleinen Verkaufslokal der Tankstelle wetterten zwei Rentner über die Politik der Regierung Schmidt. Er kannte sie und grüßte flüchtig. Wenn die so weitermachen, vernahm er die Stimme des Bauern Steffens hinter seinem Rücken, würde die Arbeitslosenzahl in diesem Winter wohl erstmalig die Millionengrenze erreichen.

Walter Jansen bog an der Bönninghardter Kreuzung links Richtung Kamp-Lintfort ab. Wie eine Furche durchtrennte diese Straße die Leucht, das Waldgebiet bei Alpen. Versonnen betrachtete er die kahlen Wipfel der Bäume, die wie Mahnmale der Natur an ihm vorbeihuschten. Der saure Regen hatte bereits ein Drittel des Waldes in Mitleidenschaft gezogen. Abhilfe war nicht in Sicht. Der Verkehr nahm immer weiter zu. Für viele Niederrheiner war es der kürzeste Weg zur nächsten Autobahnauffahrt in Kamp-Lintfort.

Jansens Gedanken flogen zu dem Gespräch vor einer Stunde zurück. Sein zukünftiger Schwiegersohn hatte unterwegs aus einer Telefonzelle angerufen und ihn um eine Aussprache gebeten. Die bloße Befürchtung, seine Tochter an diesen Windbeutel zu verlieren, ließ die feinen Härchen auf seinem Handrücken emporstehen. Nächtelang hatte er mit ihr darüber diskutiert, sie immer wieder gefragt, weshalb sie ausgerechnet diesen Aufschneider heiraten wolle. Hilde, seine Frau, mahnte ihn, den Willen ihrer Tochter zu akzeptieren. Immerhin hätte Ackermann Mut bewiesen, als er sich gegen den sicheren Posten des Juniorchefs im elterlichen Betrieb entschieden und ein Studium der Architektur begonnen habe. Bei dem Gedanken daran wurde sein Ärger beinahe übermächtig. Mit dem Geld des Vaters ein kleines Bauunternehmen gründen, um damit das Studium zu finanzieren, war in den Augen seiner Frau Mut. Walter Jansen hatte sich alles mühevoll erarbeiten müssen, hatte den Beruf von der Pike auf gelernt. Und nun wollte dieser Schnösel ihm die Tochter nehmen. Beim Blick in den Innenspiegel erschrak Jansen. Sein Gesicht war dunkelrot, eine Ader auf der Stirn trat so stark hervor, dass er befürchtete, sie könne platzen. Der hohe Blutdruck bereitete ihm seit einiger Zeit Sorgen. Er nahm sich vor, am Nachmittag Doktor Schwarze aufzusuchen.

Warum sollte er unsere Birgit heiraten wollen, wenn nicht aus Liebe.

Jansen hatte die Naivität seiner Frau kaum glauben können.

Das Motiv war so klar wie der heutige Nachmittag. Ackermann hat große Pläne. Er will sich nicht für andere die Hände schmutzig machen, stattdessen die Luftschlösser seiner jugendlichen Träume realisieren. Dafür würde er mehr Startkapital benötigen, als sein Erzeuger jemals bereit wäre, ihm zu geben. Die Juweliergeschäfte hatten für beträchtlichen Wohlstand gesorgt, Birgit war ihr einziges Kind und somit Alleinerbin.

Aber da hast du dich geschnitten, Ackermann.

Im Innenspiegel zeichnete sich hämisches Grinsen ab. Gestern Abend hatte er die Reißleine gezogen, seiner Tochter verkündet, dass er am Tag ihrer Hochzeit mit diesem Nichtsnutz das Testament ändern würde. Birgit war stumm geblieben, hatte ihm einen hasserfüllten Blick zugeworfen und das Elternhaus wortlos verlassen.

Lichter blendeten ihn. Blitzschnell trat er aufs Bremspedal und zog die Limousine hinter den Traktor auf die rechte Fahrspur zurück. Wie ein Schwamm, der über eine Tafel gleitet, löschte das Bewusstsein die finsteren Gedanken und gab die Sicht auf die Realität frei. Als er die Zugmaschine endlich überholt hatte, erkannte er in der Ferne die Hinweistafel an der Einfahrt zum Waldparkplatz. Allmählich drosselte er das Tempo. Nur das Rauschen des Fahrtwindes und der flüsternde Wankelmotor drangen an seine Ohren. Erst jetzt wunderte sich Jansen über den ungewöhnlichen Treffpunkt. Vor einer Stunde war es ihm noch logisch erschienen. Aus seinem Haus hatte er ihn schon vor Wochen geschmissen. Und die Annahme, dass er, Walter Jansen, die Wohnung dieses Aufschneiders betreten würde, wäre absurd. Aber warum sollten sie sich nicht im Ort treffen, im Café Schölten beispielsweise oder bei Maria, der Wirtin seiner Stammkneipe? Will dieser Bengel mir etwa Angst einjagen? Er kann nichts beweisen.

Na warte, Junge, ich habe was für dich, das wird dir gar nicht schmecken.

Über sein Gesicht glitt ein breites Grinsen, als er den Blinker setzte. Obwohl die Parkstreifen rechts und links des Weges mehr als hundert Fahrzeugen Platz boten, waren sie an den Wochenenden im Sommer restlos überfüllt. Die Idee, einen sogenannten »Trimm-dich-Pfad« mit zahlreichen im Wald verteilten Sportgeräten einzurichten, war ein voller Erfolg. Die einsetzende Dunkelheit schluckte die Konturen. Birken am Rand des Parkplatzes warfen unheilvolle Schatten. Im Schritttempo steuerte Jansen den NSU geschickt an den größten Schlaglöchern vorbei. Er schien allein zu sein. Als er das Fernlicht einschaltete, erkannte Jansen kurz vor dem Holzbalken am Ende des Weges den knallgelben Opel Commodore von Birgits Verlobtem. In Jeansjacke, Jeanshose und Cowboystiefel gekleidet saß dieser lässig auf der Motorhaube. Das Gesicht lag im Halbdunkel, Jansen erkannte nur die Glut einer Zigarette. Er parkte neben ihm und stieg aus. Das Scheinwerferlicht einer heranrollenden Limousine erleuchtete sein Gesicht.

»Lass uns ein paar Schritte gehen, ich habe mit dir zu reden«, Ackermann deutete mit ausgestrecktem Arm in den dunklen Weg, der zum Schwebebalken führte, dem ersten Gerät des Trimm-dich-Pfads. Walter Jansen ballte die rechte Hand zur Faust. Er mochte den schroffen Umgangston Ackermanns nicht, wollte aber unbedingt den Grund für das Treffen erfahren. Mit stählernem Blick deutete er ein Nicken an.

Ackermanns Gesichtszüge wirkten ungewohnt scharf, fast steinern. Zum ersten Mal vernahm Walter Jansen eine Spur Unsicherheit.

Kapitel 2

Alpen, über 32 Jahre später …

Wie ein kahlgeschorener und halb eingeschlagener Kopf ragte der ehedem so anmutige Hügel über den Bretterzäunen empor. Bagger gruben sich Meter für Meter in sein Inneres. Zwei Mitarbeiter des Naturschutzbundes stellten eine Informationstafel am Rand der Weseler Straße auf. Auf dem Radweg lag ein durchnässter Handzettel des Heimat- und Verkehrsvereins. »Rettet die Motte« war auf dem gewellten Papier zu lesen.

Konrad Walther vom Rheinischen Boten kramte schlecht gelaunt die Gummistiefel aus dem Kofferraum des altersschwachen Mustang. Undenkbar, dass sein großes Idol Carl Bernstein damals Gummistiefel im Kofferraum seines Mustang hatte, bevor er mit seinem Kollegen Bob Woodward Richard Nixon zu Fall brachte.

Seit einem halben Jahr war der Redakteur des Lokalteils für das »Bauvorhaben Motte« zuständig. Anfangs hatte es sich noch gelohnt. Fast täglich war er an einen interessanten Artikel gekommen. Dieses Projekt hatte die bis dahin friedlich vor sich hin schlummernde Volksseele Alpens zum Kochen gebracht. Dabei war im vorigen Jahr die Ankündigung, die Vorburg wieder aufzubauen, von den Bürgern Alpens wohlwollend bis euphorisch zur Kenntnis genommen worden. Die öffentliche Meinung hatte sich allerdings ins Gegenteil verkehrt, als die Gemeinde erste Planungsskizzen veröffentlichte. Die postmoderne Zweckarchitektur, so des Volkes Meinung, dürfte wenig bis gar keine Ähnlichkeit zur damaligen Burg aufweisen. Laut dem Heimat- und Verkehrsverein würde die Gemeinde Alpen eine historische Chance durch reines Profitdenken für immer zunichtemachen. Eine öffentliche Diskussionsveranstaltung, zu der der Gemeinderat die Bürger ins Schulzentrum an der Fürst-Bentheim-Straße geladen hatte, wurde zum Eklat. Zwei Dutzend Alpener Bürger hatten keinen Einlass gefunden und ihrem Unmut auf dem Schulhof freien Lauf gelassen. Die Gemeindevertreter, besonders der junge und dynamische Bürgermeister Rudi Ahrens, hatten die Verbundenheit der Einwohner mit ihrer Gemeinde auf fatale Weise unterschätzt. Dabei hätten sie es ahnen können. Schließlich waren sie im vorigen Jahr dabei gewesen, als Tausende Bürger Alpens auf der Bönninghardt in einer vier Kilometer langen Menschenkette gegen den geplanten Kiesabbau protestiert hatten. Aber sie hatten es nicht geahnt. Lediglich Christoph Schmaleck von den Grünen hatte Bedenken geäußert. Niemand sonst hatte sich vorstellen können, dass dieser Erdhügel vor den Toren der Gemeinde den Lokalpatriotismus der Bürger neu entfachen würde.

Eine halbe Ewigkeit lagen die Grundmauern des alten Kasteeis bereits unter diesem Erdwall begraben. Für eine Restaurierung des Bodendenkmals war nie das nötige Kapital vorhanden gewesen. Die Idee, unter Einbezug der alten Fundamente die ehemalige Vorburg wieder aufzubauen und in ein Burghotel zu verwandeln, war verlockend gewesen. Als auch noch ein ortsansässiger Architekt und Projektleiter gefunden worden war, der darüber hinaus mindestens 30 Arbeitsplätze offerierte, hatte im Sitzungssaal parteienübergreifende Freude geherrscht. Darauf hatte zwischenzeitlich vor dem Hintergrund der immensen Auflagen, welche die Träger der öffentlichen Belange erwirkten – allen voran das rheinische Amt für Bodendenkmalpflege – niemand mehr gehofft. Fast alle Interessenten hatten ihr Angebot zurückgezogen oder ein deutlich erhöhtes nachgereicht, als die Nachricht durchgesickert war, dass eine archäologische Grabungsfirma die Bauarbeiten begleiten würde.

Camel, wie der Journalist aufgrund seines stetigen Konsums der gleichnamigen Zigarettenmarke genannt wurde, bahnte sich seinen Weg durch knöcheltiefen Schlamm zum Ort des Geschehens. Missmutig betrachtete der Einundfünfzigjährige den durchnässten Trenchcoat. Vor zwei Wochen hatte er den 35 Jahre alten Überzieher im Internet ersteigert. Es bereitete ihm zunehmend größere Mühe, an die begehrte Kleidung der Siebzigerjahre zu gelangen. An den Wochenenden fuhr er gelegentlich einige hundert Kilometer für ein seltenes Kleidungsstück aus dieser Zeit. Zum Glück genügte dem gertenschlanken Redakteur die Standardgröße. Er war mit Manfred Ackermann, dem Architekten des Burghotels, verabredet. Wobei von einer Verabredung eigentlich keine Rede sein konnte. Die Wahrheit bestand aus einem knurrigen »meinetwegen« am Telefon. Aber davon hatte ihm sein Redaktionsleiter nichts gesagt. Ohnehin war Camels anfängliche Hoffnung erloschen, sein Talent könne durch diese Story endlich über die Kreisgrenze hinaus beachtet werden. Die Berichterstattung verkam zunehmend zum provinzpolitischen Possenspiel.

Camel erinnerte sich zwei Monate zurück: Der fast sechzigjährige, korpulente Ackermann hatte ihn als Schmierfinken bezeichnet und aus seinem Büro geworfen. Ackermann galt als äußerst egoistisch und cholerisch. Aber er hatte Erfolg, was ihm zumindest Respekt einbrachte. Dennoch gab es für ihn mittlerweile ein nicht unerhebliches Imageproblem. Innerhalb weniger Monate hatte der ohnehin nicht sehr beliebte Ackermann es geschafft, den spärlichen Rest an Sympathie vollends zu verspielen.

Auf einem provisorischen Weg aus Gerüstbrettern gelangte Camel zur Rückseite der Motte. Achtlos warf er die Zigarette ins Gebüsch. Über den Schotterweg hinter ihm lief eine Horde Kinder vom nahe gelegenen Schulzentrum zum Supermarkt an der Weseler Straße. Als sie ihn sahen, brachen sie in lautes Gelächter aus.

Camel schüttelte verächtlich den Kopf. Die langen, dunkelblonden Haare und die Kleidung aus den Siebzigern prägten eben seinen individuellen Stil. Als er sich umdrehte, wurde er von einem korpulenten, älteren Mann mit blauem Helm angerempelt. Ihm folgten fluchend drei weitere Kollegen. Im Hintergrund, direkt vor dem Ausgrabungsort, sah er Ackermann mit einem Grabungstechniker streiten. Augenblicke später rannte dieser wutentbrannt los. Camel stellte sich quer auf den Weg und stoppte den Mann.

»Konrad Walther, Gemeinde Alpen. Ich soll hier Bauabschnittfotos für die Chronik machen. Gibt es Probleme?«

Peter Stolberg, wie ein Schild auf der gelben Regenjacke verkündete, stoppte abrupt, sah ihn mit gerötetem Kopf an. Seine Lippen vibrierten, der Blick fiel auf Camels Kameratasche.

»Da machen Sie mal direkt Beweisfotos. Der spinnt doch«, mit ausgestrecktem Arm deutete er auf Manfred Ackermann.

»Beleidigt den ganzen Tag meine Leute, schmeißt uns Knüppel zwischen die Beine, wo es nur geht, und dann«, er schluckte, »jagt er meine Leute weg und lässt mit der Baggerschaufel den Bunkereingang freilegen!«

Stolberg verlieh seinen Worten eine derart empörte Betonung, als sei es selbstverständlich, diese Arbeit von Archäologen ausführen zu lassen. Camel erinnerte sich an die Pressemappe zur Motte. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hatten die Alpener unter Anleitung erfahrener Bergleute einen Stollen quer durch die Motte getrieben und darin einen Schutzbunker errichtet. Zu seiner Verwunderung war dieser Bunker ebenfalls auf die Liste der Bodendenkmäler gesetzt worden. Camel fragte sich, was damit geschehen würde.

»In Ordnung, Herr Stolberg. Ich werde dem Gemeinderat umgehend Bericht erstatten.«

»Ich auch, darauf können Sie sich verlassen.«

Wütend stapfte der Grabungsleiter an ihm vorbei.

Camel stieg einen schmalen Pfad hinauf. Dabei musste er gebückt gehen, sich an Wurzelballen klammern, um nicht abzurutschen. Nach wenigen Metern erreichte er eine kleine Ebene. Man hatte zunächst einen Teil des Hügels, der der Weseler Straße zugewandt war, zur Hälfte abgetragen, um Platz für Bauwagen und schweres Gerät zu schaffen. Unterhalb des Plateaus befanden sich laut Aufzeichnungen die Überreste des ehemaligen Kasteeis. Sie mussten später sorgfältig freigelegt werden. Die Baugenehmigung war mit der Bedingung verknüpft worden, die alten Fundamente sichtbar in das Burghotel einzufügen. Allein zwei Wochen waren von der Grabungsfirma dafür veranschlagt worden, die mittelalterlichen Reste zu sichern, was Ackermanns Wut von Tag zu Tag ansteigen ließ.

Von der Weseler Straße führte eine kleine, geschwungene Auffahrt hierher. Manfred Ackermann stand wie ein Feldherr auf einem zerborstenen Betonquader, aus dessen Längsseite Muniereisen wie Speere herausragten. Neben ihm schien die Motte den Mund weit aufgerissen zu haben. Ein dunkles, metertiefes Loch befand sich in Brusthöhe in der steilen Erdwand. Ackermann schrie den Baggerführer an:

»Sofort aufhören! Genug für heute. Feierabend!«

Der Lärm des Baggers gab seiner Stimme keine Chance. Den Kopf zwischen übergroßen Ohrmuscheln eingekeilt, drückte der Maschinenführer langsam einen Hebel nach vorne. Wie das Maul eines Haifisches krallte sich die Schaufel in ihre Beute. Der Motor heulte auf, während der Eingang zum Bunker mit einem Ruck komplett aufgerissen wurde. Kleine Betonbrocken und Reste eines alten Bretterverschlages flogen durch die Luft. Mit einem mächtigen Satz sprang Ackermann aus der Gefahrenzone. Der Lärm verstummte. Zufrieden lächelnd kletterte der korpulente Mann von dem Bagger.

»Du Riesenpfeife! Ich hatte gesagt: Feierabend. Wie sollen wir den Bereich denn nun sichern? Da rennt mir doch jetzt jeder rein!«

Der Baggerführer machte ein betroffenes Gesicht, als würde er es maßlos bedauern, sein Lieblingswort überhört zu haben.

Camel konnte nicht widerstehen. Seine Augen glänzten beim Blick in das geheimnisvolle Dunkel. Er nutzte die Ablenkung, zog die kleine MagLite für Notfälle aus der Innentasche und lief durch die mannshohe Öffnung in den Bunker.

»Was macht der Schmierfink denn da?«, vernahm Camel die energische Stimme Ackermanns hinter seinem Rücken. Wenige Schritte später herrschten Stille und Dunkelheit um ihn herum. Hastig lief er weiter. Der Lichtkegel wanderte über alte, auf dem Boden verteilte Kleidungsstücke. Es roch klamm, Camel dachte an einen schlecht gelüfteten Kellerraum. Feuchtigkeit glänzte silbern an den Wänden. Er konnte nicht sagen, was er erwartete, ob es überhaupt eine Erwartung gab, die ihn vorantrieb. Er wusste nur, dass es in diesem Moment nichts gab, das ihn hätte aufhalten können. Einige Meter hinter sich vernahm er Schritte. Der Lichtkegel der kleinen Lampe reichte nicht sehr weit. Dahinter hielt eine bedrohliche Finsternis jede Gewissheit verborgen. Camel leuchtete so gut es ging die Umgebung aus. Der feuchte Lehm der Wände spiegelte das Licht der Taschenlampe. Halb verrottete Eichenbalken stützten die Decke und sorgten für unheimliche Schatten. Neben sich an der Wand verharrte eine pechschwarze Winkelspinne. Camel überlegte kurz, wovon sie sich in dieser tristen Umgebung ernähren konnte. Der etwa einen Meter fünfzig breite Gang ähnelte einem alten Bergwerksstollen. Nach ungefähr zwanzig Metern zweigte er rechtwinklig ab. Die Schritte kamen näher, Camel glaubte fremden Atem zu spüren. Er wich einer Stahlkonstruktion aus. Sie hatte Ähnlichkeit mit dem Gestell eines Doppelbettes. Aus der Dunkelheit tauchten schemenhaft Umrisse auf. Eine Pranke packte ihn an der Schulter, Camel riss sich los. Der Lichtkegel tanzte an der Decke entlang, verfing sich einen Augenblick im Gebälk unterhalb der Decke, während der Redakteur vorwärts stolperte. Hinter sich vernahm er ein schepperndes Geräusch.

»Au! Verdammt! Bleib stehen, Du Schmierfink!«

Im Gehen drehte Camel sich herum, richtete die Taschenlampe auf Ackermann. Der Architekt hielt schmerzverzerrt das linke Auge zu. Vom Bunkereingang waren Stimmen und Schritte vernehmbar. Der Journalist fuhr herum, lief schneller. Die Tatsache, dass Ackermann ihn aufhalten wollte, steigerte seine Neugier ins Unermessliche. Wilde Gedanken formten sich zu einem Knäuel, präsentierten seinem Bewusstsein das Bild einer alten Holztruhe. Gold, das die Nazis in den letzten Kriegstagen beiseiteschaffen wollten? Camel atmete in immer kürzeren Zügen. Wenige Meter vor ihm erkannte er etwas auf dem Boden. Den Lichtstrahl darauf gerichtet, verhedderten sich seine Füße in einem Seil. Panisch suchte er mit den Händen nach Halt. Die Finger berührten nur kalten, nassen Lehm. Camel verlor das Gleichgewicht. Er schlug mit dem Hinterkopf gegen einen Stützpfeiler, prallte ab und fiel der Länge nach auf den Boden. Der Aufprall hörte sich an, als wäre jemand in einen Haufen trockenes Brennholz gefallen. Sein Kopf dröhnte, Schritte wurden lauter. Die rechte Hand umklammerte die kleine MagLite so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten. Der Gang schien in seichten Bewegungen zu schaukeln. Camel drehte den Kopf zur Seite und hob den Arm, der die Lampe hielt. Wie ein Blitz durchzuckte der Schreck seinen Körper. Ruckartig spannte sich seine Muskulatur. Der Journalist blickte direkt in die leeren Augenhöhlen eines Totenkopfes. Eine Rippe rutschte von seinem Unterarm und fiel klackernd herab. Ackermann war inzwischen angekommen und starrte wortlos auf das Szenario. Wie in Trance erhellte Camel den Totenkopf. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Seine Finger tasteten den diffus glänzenden Schädel ab, bestätigten die Sensation. Raus hier, sofort, schoss es ihm durch den Kopf. Mit dem rechten Unterarm stützte er sich vom Fußboden ab. Hektisch befreite er seinen linken Fuß aus dem Seil, winkelte das Bein an. Halb gebückt nahm er den Schatten wahr, der über ihn hinweg huschte. Camel wollte sich herumdrehen, spürte in diesem Augenblick einen brachialen Schlag auf den Hinterkopf. Bewusstlos fiel er zu Boden.

Kapitel 3

Schwere Wolkenberge hingen am nächsten Morgen über der Stadt. Der Radiosprecher meldete Herbststürme in Ostdeutschland. Im Zimmer Nummer Siebzehn des Kommissariats an der Reeser Landstraße in Wesel wurde das Schweigen nur gelegentlich durch ebenso einsilbige wie nebensächliche Kommentare unterbrochen. Während Andreas Steilmann wie immer widerwillig den Bericht vom Vortag verfasste, blätterte sein Kollege Heinrich Grimm in den aktuellen geistigen Ergüssen des Innenministeriums, die sich in Form von Erlassen und Abhandlungen zu Dienstvorschriften auf seinem Schreibtisch stapelten.

»Das wird dich wohl kaum noch tangieren.«

Andreas Steilmanns Fröhlichkeit wirkte echt. Er schien es kaum abwarten zu können. Heinrich Grimm verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln. Schwermütig blickte der Hauptkommissar nach draußen. Neonlicht spiegelte sich in den Fenstern. Der Westwind hämmerte den einsetzenden Regen an die Scheiben. Die dicken Tropfen zerplatzten am Glas, krochen in langen Schlieren herunter. Er fühlte die Dunkelheit.

»Ich verstehe dich nicht, Heinrich.«

Andreas Steilmann, den die Kollegen aufgrund der dunklen Haare, der mandelbraunen Augen und einer leichten Ganzjahresbräune schlicht Adriano nannten, trieb den Stachel weiter in die Seele seines Mitarbeiters.

»Ich würde jedenfalls sofort mit dir tauschen.«

Die Lippen aufeinandergepresst, nickte Grimm. Das kann ich mir vorstellen, dachte er. Der Gedanke würde ihm sogar gefallen. Warum trifft es immer die Falschen? Einen Monat nach dem zweiundfünfzigsten Geburtstag in Pension, viele Kollegen beneideten ihn. Für Heinrich kam der Tag mindestens zehn Jahre zu früh. Er wollte sich nicht mit der Tatsache abfinden, den ganzen Tag seine nörgelnde Mutter ertragen und auf Annette warten zu müssen. Bei dem Gedanken an seine Freundin Annette Gerland, die als Weseler Staatsanwältin gleichzeitig seine Vorgesetzte war, besserte sich die Laune für einen kurzen Augenblick. Nach dem Krebstod seiner Frau vor acht Jahren war er lange Zeit auf dem besten Weg gewesen, ein griesgrämiger, introvertierter Einzelgänger zu werden. Freundschaften hatte er einschlafen lassen, Hobbys wie Radfahren oder Angeln keinerlei Interesse mehr gewidmet. Früher hatte er im Herbst und Winter regelmäßig das Heubergbad in der Stadtmitte besucht, bis das Wasser im Auesee warm genug war und er dort schon vor dem Dienst einsam das Gewässer hatte durchqueren können. Auch dazu hatte sich der bis dahin schlanke Grimm nicht mehr aufraffen können. Dieser Mangel an Bewegung in Verbindung mit den üppigen Mengen relativ fettreicher Hausmannskost, die seine Mutter ihm täglich servierte, war natürlich nicht folgenlos geblieben. Zunehmend enger werdende Kleidung hatte die Seele des Polizisten belastet, dafür gesorgt, dass er sich mehr und mehr zurückgezogen hatte. Ein Teufelskreis ohne Notausgang. Bis Staatsanwältin Annette Gerland aus der Eifel nach Wesel versetzt worden war. Einen Tag zuvor war Heinrich Grimm der festen Überzeugung gewesen, den Rest seines Lebens als Witwer zu versauern. Von Beginn an fühlte er sich von der smarten Juristin angezogen. Beim Blick in ihre Augen hatte er plötzlich das Gefühl, ein Buch aufzuschlagen. Sie hatten schnell festgestellt, dass sie sich sehr ähnlich waren. Eine zufallende Tür beförderte Heinrichs Gedanken zurück in die bitter schmeckende Realität.

Er musste sich mit der Pensionierung abfinden und hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das schaffen sollte. Es war unausweichlich, der Bericht der Polizeipsychologin Britta Obermann ließ keinen Spielraum für Alternativen. Lediglich den Zeitpunkt der vorzeitigen Pensionierung hatte er noch erfolgreich um fast zwei Jahre hinauszögern können. Wenn ihm eine gute Fee die Möglichkeit einräumen würde, einen Tag aus seinem Leben zu streichen, er würde keine Sekunde zögern.

Zwei Jahre waren seitdem vergangen, immer noch wachte Heinrich mitten in der Nacht schweißgebadet auf und sah diese Bilder vor sich.

Sie hatten den Unternehmer Wolf Eilers des zweifachen Mordes überführt. Dieser hatte nichts davon geahnt. Er hatte sich mit dem Journalisten Konrad Walther in der Zitadelle, den Resten des ehemaligen Fort Blücher, im Schatten der Rheinbrücke, verabredet. Er wollte Camel lediglich einschüchtern, wusste Heinrich heute. Damals, als er mit Adriano in das Gemäuer gestürmt war, hatte alles ganz anders ausgesehen. Eilers hatte die Waffe an die Schläfe des Reporters gepresst. Heinrich hatte die prekäre Lage entspannen, Eilers zur Aufgabe überreden, ihm die Sinnlosigkeit seines Handelns begreiflich machen wollen. Für Sekunden war es still geworden. Was dann geschah, spielte sein Bewusstsein immer und immer wieder wie einen Film ab:

Etwa fünf Meter vor ihm steht der sich windende, vor Angst zitternde Journalist. Heinrich blickt in die vor Panik weit aufgerissenen Augen. Völlig unerwartet schleudert Eilers plötzlich Camel zur Seite und hebt den Arm mit der Pistole. Er richtet die abschussbereite Waffe auf Adriano, der ihn wie versteinert ansieht. Heinrich bemerkt den sich krümmenden Zeigefinger und reagiert sofort. Ein Wimpernschlag – zu wenig für einen Gedanken – aber genug für den entscheidenden Reflex.

Es war der Bruchteil einer Sekunde, der seine Seele in ein Trümmerfeld verwandeln sollte. Immer öfter spürte er diese Leere in sich. Annette fiel es zunehmend schwerer, dieses Vakuum zu füllen. Sie gingen seit geraumer Zeit gemeinsam zu einem Therapeuten. Annette hatte ihn lange dazu überreden müssen. Sie hatte Sorge, dass dieses Erlebnis sich wie ein Dämon in ihre Beziehung schleichen, sie von innen aushöhlen könnte. Wie wäre das Leben wohl verlaufen, wenn er damals nicht seinen Dickkopf durchgesetzt hätte, sinnierte Heinrich. Wenn er auf seinen Vater gehört und den elterlichen Betrieb in Sonsbeck-Hamb als Hufschmied weitergeführt hätte? Es hätte diesen einen Schuss, der noch Jahre später in seinen Gedanken nachhallte, nicht gegeben. Bereits in der Polizeischule hatte man sie mit Statistiken beruhigt, die aussagten, dass die Mehrheit von ihnen die Waffe bis zur Pensionierung lediglich bei Übungen gebrauchen werde. Bis zur Pensionierung. Erst jetzt bemerkte er die bittere Ironie.

In über dreißig Jahren Polizeidienst war es das erste Mal gewesen, dass er seine Waffe außerhalb des Schießkellers benutzt hatte. Seitdem zitterten seine Hände, wenn er das kalte Metall nur berührte. Manchmal kam es ihm vor, als habe er den Geruch des verbrannten Schießpulvers noch in der Nase. Seiner Meinung nach hatte er es geschafft, das schreckliche Erlebnis von seinem Beruf zu trennen. Frau Obermann nannte diesen Aspekt in ihrem Gutachten allerdings »verdrängen«. Ein Unterschied, der seine Zukunft entscheiden sollte. Nach wie vor war Heinrich mit ganzem Herzen Polizist. Man hatte ihm goldene Brücken gebaut, eine Tätigkeit in der Verwaltung angeboten. Heinrich hatte barsch abgelehnt, er wollte sich nicht ausmustern lassen, wie er es ausdrückte. Günther Engels, ihrem Behördenleiter, war vor einer Woche die Aufgabe zugefallen, ihm die baldige Pensionierung mitzuteilen. Sie verrichteten seit über zwanzig Jahren gemeinsam ihren Dienst, Engels kannte Heinrich wie kein Zweiter. Über eine Stunde hatte er sich bemüht, das Gespräch in die richtige Bahn zu lenken. Dabei hatte er sich wirkungslos hinter Dienstvorschriften verschanzt, Heinrich war wütend aus Engels’ Büro gestürmt.

»Wir kommen sofort, niemand fasst etwas an!«

Die Freude war Heinrich anzusehen. Die fahle Gesichtsfarbe wich einem lebendigen Rosa.

»Das war die Gemeinde Alpen. Man hat auf einer Baustelle ein Skelett gefunden.«

Mit einer schnellen Armbewegung in Richtung Steilmann sprang Heinrich auf und riss die Jacke vom Haken.

»Sind die Knochen noch warm oder warum die Eile?«

Grimm winkte lässig ab. Einige Minuten später standen sie an einer Baustellenampel vor der alten Rheinbrücke. Der Turm wenige Meter neben der neuen Brücke, die den Strom bereits seit Ostern überspannte, aber noch nicht für den Verkehr freigegeben war, wirkte imposant. Heinrich verzog das Gesicht. Bei dem Gedanken an die neue Führung der B58, die sich wie ein Tranchiermesser durch das malerische Gest mit seinen alten Gehöften und den verschlungenen Wegen schneiden würde, beschlich ihn Wut und Ohnmacht. Ein weiteres Filetstück des Niederrheins, das der Mobilität, letztendlich also dem Kommerz geopfert wird, regte er sich erneut auf. Steilmann schwieg. Im Gesicht des Kollegen glaubte Heinrich ein leichtes Kopfschütteln bemerkt zu haben. Er wusste, womit Adriano sich beschäftigte.

»Hast du dich überhaupt um meinen Posten beworben?«

Adriano schluckte. Diese Frage schien er schon seit Tagen befürchtet zu haben. Seit zehn Jahren saß er an Grimms Seite. Es wäre nur logisch gewesen, sich auf das frei werdende Amt des Hauptkommissars zu bewerben. Gestern Morgen hatte Engels verkündet, eine vierzigjährige Kollegin namens Manuela Warnke würde den Posten in der nächsten Woche übernehmen.

»Natürlich. Engels sagte mir vor zwei Wochen, ich hätte Chancen«, er klang zynisch, »jetzt werde ich wohl als Oberkommissar in Rente gehen.«

Desillusioniert wandte Adriano sich ab. Sie hatten mittlerweile die Ortsdurchfahrt von Büderich passiert. Grimm wusste, dass Engels seinem jüngeren Kollegen diesen Posten nicht zutraute. Für Adriano war es ein Job wie jeder andere. Nach Dienstende streifte er ihn ab wie ein lästiges Übel. Den Dienstvorschriften genügte diese Auffassung, Engels aber verlangte mehr für das Amt eines Hauptkommissars. Heinrich hatte sich oft darüber gewundert, mit welcher Leichtigkeit der junge Kollege damals über die Situation hinweggekommen war. Kurz nach dem tödlichen Schuss hatte Adriano unter Schock gestanden. Aber bereits drei Tage später hatte er seinen Lebensretter aus lauter Dankbarkeit zum Essen eingeladen und war kurz darauf zum Alltag übergegangen. Adriano hatte sich nie in Heinrichs Lage versetzen können, seinem Kollegen nicht den Hauch von Mitgefühl entgegengebracht. Engels war aus demselben Holz geschnitzt wie Heinrich, er konnte ihn gut verstehen. Grimm war die zuweilen phlegmatische Arbeitsweise Adrianos ein Dorn im Auge. Allerdings hatte er sich in den letzten zwei Jahren mehr als einmal gewünscht, manche Dinge etwas gelassener sehen zu können. Viel zu sehr steigerte sich der Hauptkommissar in die Arbeit. Während einer Ermittlung konnte er vierundzwanzig Stunden am Tag an nichts anderes denken. Adriano war völlig anders. Heinrich dachte an den Sommer 2006. Während er einen Angelurlaub im Sauerland verbrachte, hatte Adriano ihn vertreten. Aus Bislich war ein ominöser Vorfall gemeldet worden. Eine Frau war dabei beobachtet worden, als sie nachts auf einem frischen Grab getanzt hatte. Heinrich hätte die Hintergründe so lange durchforstet, bis er eine logische Erklärung dafür gefunden hätte. Adriano hatte eine Anzeige nach StGb 164, Störung der Totenruhe, gefertigt und die Akte geschlossen. Später sollte sich herausstellen, dass es der Beginn einer Mordserie gewesen war. Ihre Behörde war von den Kollegen aus Krefeld und Düsseldorf nur milde belächelt worden. Diese Blamage verzieh Engels ihm wohl bis heute nicht.

Eine junge Frau, die einen Kinderwagen den Fußweg entlang der Platanen an der Weseler Straße in Büderich schob, spannte einen Regenschirm auf. Heinrich fragte sich, was wohl aus diesem Ort werden würde, wenn die Umgehungsstraße ihn demnächst vom öffentlichen Interesse abschnitt. Zehn Minuten später erreichten sie die Weseler Straße in Alpen. Grimm erinnerte sich an seine Jugend. Immer, wenn er bei seiner Tante an der Drüpter Straße auf der gegenüberliegenden Seite des alten Patersbau zu Besuch war, durfte er sich in dem Lebensmittelgeschäft an der Ecke eine Tafel Schokolade kaufen. Das Geschäft gab es nicht mehr, den Parkplatz nutzten die Mitarbeiter der Pflugfabrik Lemken.

Der Regen wurde stärker, Heinrich erkannte einen Streifenwagen auf dem Grünstreifen gegenüber der Motte. Das Auto parkte halb auf der Straße. Sie werden sich im Anschluss an diesen Einsatz vermutlich um Autofahrer kümmern, die dasselbe machen, dachte er. Einige Meter weiter an der Einfahrt zu einem Supermarkt stand ein alter Ford Mustang. Heinrich verdrehte genervt die Augen. Ihm war es unerklärlich, wie Camel so schnell an die Informationen gelangen konnte. Der Polizeifunk hatte diesmal nicht darüber berichtet. Der Reporter hatte ihm damals hoch und heilig versprochen, nie wieder auf eigene Faust zu ermitteln. Grimm wusste, dass ein Versprechen Camels nicht mehr wert war als einer seiner Artikel vom Vortag. Er fuhr hundert Meter weiter und parkte den Wagen auf einem Schotterplatz kurz vor dem Ortseingang. Adriano zog mit hängenden Mundwinkeln die Kapuze auf. Über die mit grobem Schotter versehene Baustellenauffahrt gelangten sie auf den Hügel. Ein Kollege der Schutzpolizei nahm sie in Empfang und führte sie zum Eingangsbereich des Bunkers. Ein schlanker Mann um die vierzig mit blonden Haaren und dunklem Kinnbart kam ihnen entgegen. Er trug einen schwarzen Trenchcoat und Regenschirm. Neben ihm stand eine schlanke dunkelhaarige Dame, die sie freundlich anlächelte.

»Rudi Ahrens, Bürgermeister der Gemeinde Alpen. Darf ich vorstellen«, er deutete mit einem Nicken auf seine Nachbarin, »Frau Hüsch vom Bauamt. Sie müssen von der Polizei sein.«

Heinrich hatte sich daran gewöhnt, offensichtlich das Gesicht eines Polizisten zu haben. Bei dem Gedanken an Camel war er allerdings froh, nicht für einen Journalisten gehalten zu werden. Er gab den Gemeindevertretern freundlich die Hand. Zwischen dem Bürgermeister und Frau Hüsch drängelte sich Manfred Ackermann. Der Architekt schob die beiden unsanft zur Seite. Mit einem herablassenden Blick auf Grimm und Adriano fuhr er sie an.

»Was haben Sie denn hier zu suchen?«

»Grimm, das ist mein Kollege Steilmann. Uns wurde ein Leichenfund gemeldet, Herr …«

»Ackermann. Ich bin der Leiter dieses Projektes. Leichenfund? Wer hat Ihnen denn den Blödsinn erzählt? Ein Haufen Knochen liegt in dem Bunker. Die können Sie gerne einsammeln und dann Avanti! Hier wird gearbeitet. Reicht schon, wenn diese Wühlmäuse von Braun den Betrieb aufhalten.«

Heinrich zwang sich zur Ruhe. Er war es gewohnt, in gewissen Kreisen nicht den allerbesten Ruf zu genießen, aber eine derartige Respektlosigkeit hatte er noch nicht erlebt. Der Bürgermeister rang sichtlich irritiert nach Worten. Die Peinlichkeit war dem Mittvierziger mit der sportlichen Figur anzusehen. Grimm drückte das Kreuz durch und trat dichter an den Baustellenleiter heran.

»Herr Ackermann, zuerst werden wir uns den Fundort ansehen, anschließend beurteilen wir die weitere Vorgehensweise. Niemand betritt die Baustelle, bevor wir sie freigegeben haben. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Seine Stimme klang ruhig und sachlich, lediglich ein dumpfes Grollen im Unterton deutete auf die Gefühlslage des Kommissars. Auf Ackermanns Stirn trat eine Ader hervor. Das Gesicht verdunkelte sich.

»Das hier ist eine Baustelle, wie Sie ganz richtig bemerkt haben. Hier wird gearbeitet, verdammt noch mal. Wir können es uns nicht erlauben, den ganzen Tag Fliegen zu zählen. Haben Sie eine Ahnung, was es mich kostet, wenn der Betrieb auch nur einen Tag ruht?«

»Nein, Herr Ackermann, und offen gestanden interessiert mich das im Augenblick auch gar nicht.«

Grimms Stimme wurde lauter. »Sollten Sie die Ermittlungen behindern, bekommen Sie Ärger, ist das klar?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er sich an Ackermann vorbei und ging mit Adriano und dem Kollegen der Schutzpolizei in den Bunker. Mehrere Strahler erleuchteten den kahlen Raum. Er ließ sich nun komplett einsehen. Das grelle Licht spiegelte sich auf den feuchten Wänden. Holzbalken boten Schutz vor den schweren Erdmassen. Heinrich hatte in der Zeitung von dem Vorhaben der Gemeinde Alpen gelesen, anstelle der ehemaligen Vorburg ein Hotel zu errichten. Camel hatte die Lage derart dramatisch geschildert, als ginge es darum, mitten auf dem Konrad-Adenauer-Platz in der Ortsmitte eine Giftmülldeponie anzulegen. Nach den Schilderungen des Journalisten fürchteten Alpens Bürger, einen Teil ihrer über neunhundertjährigen Geschichte unwiederbringlich zu verlieren. Dass es ausgerechnet der unbeliebte Ackermann war, dem die Gemeinde den Auftrag gegeben hatte und dessen Profitgier die Motte mitsamt der von ihr behüteten Vorburg geopfert würde, so Camel in einem Kommentar, hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.

Zwei Kollegen in weißen Schutzanzügen kamen ihnen entgegen, sie trugen Metallkoffer. Die Spurensicherung ist also auch schon durch, offensichtlich hatte man ihn als Letzten informiert, ärgerte sich Heinrich. Er bat den älteren der beiden, am Eingang auf sie zu warten.

Ein langer Gang, einen Meter fünfzig breit und zwei Meter hoch, der nach etwa zwanzig Metern links abging, befand sich vor ihnen. Auf dem Boden lagen alte Kleidungsstücke, ein Hanfseil und etliche vergilbte Zigarettenkippen.

»Halt!«

Hans-Gerd Schmeink hielt ihnen den ausgestreckten rechten Arm entgegen, während er mit der linken Hand die Kamera verstaute.

»Das muss alles noch eingesammelt werden. Ihr könnt hier nicht durch.«

Nachdem der Kriminaltechniker Heinrichs fordernden Blick sah, erlaubte er ihnen mürrisch, dicht an der Wand entlang zum Fundort der Leiche zu gehen. Kaum um die Ecke gebogen, war der hell erleuchtete Bereich am Ende des Bunkers einzusehen.

Die Knochen lagen wild durcheinander. Adriano deutete auf eine Stelle neben dem Skelett. Auf dem staubigen Betonboden zeichnete sich ein dunkelroter Fleck von der Größe einer Untertasse ab. Aus der Mitte hatten die Kriminaltechniker eine Probe abgeschabt. Nach einem kurzen Blick darauf drehte Heinrich sich um.

»Wo ist der Kopf?«

Adriano zuckte hilflos mit den Schultern. Heinrichs Geduld neigte sich bedrohlich dem Ende entgegen. Er hatte das Gefühl, ihm würden wichtige Informationen gar nicht oder erst auf ausdrücklichen Wunsch preisgegeben. Strammen Schrittes verließ er den Bunker und stellte dem vor dem Eingang wartenden Bürgermeister ebenfalls die Frage nach dem fehlenden Körperteil.

»Das haben wir uns auch gefragt.«

Heinrich drehte sich seinem uniformierten Kollegen zu.

»Lassen Sie den Bunker bitte absperren, hier darf vorläufig niemand mehr rein.«

»Meine Güte, wozu der Aufstand?«, Ackermann drängte sich erneut am Bürgermeister und seiner nun nicht mehr lächelnden Begleiterin vorbei, »der Bunker ist seit gestern Nachmittag offen. Wer weiß, wie viele hier schon durchgelatscht sind? Jemand wird sich den Schädel mitgenommen haben, fürs Regal oder als Aschenbecher. Überhaupt, was soll der Quatsch? Der ist doch schon ewig hinüber«, er deutete mit dem ausgestreckten rechten Arm in den Bunkereingang.

»Mord verjährt nicht, Herr Ackermann. Im Übrigen ist dieser Fleck neben dem Skelett ziemlich frisch. Sollte mich wundern, wenn es sich dabei nicht um Blut handelt.«

Ackermann atmete tief durch.

»Deshalb der Zirkus. Das ist Blut. Stammt von einem Schmierfinken der Presse, Konrad Walther oder so. Der konnte es gar nicht abwarten, wollte unbedingt als Erster in den Bunker. Der ist so schnell gerannt, dass er über das Seil gestolpert ist und sich neben dem Skelett auf die Fresse gelegt hat. Beim Sturz hat er sich den Kopf eingeschlagen. Wir haben ihn von einem Krankenwagen abholen lassen. Damit dürfte wohl alles geklärt sein, schönen Tag noch.«

Mit einer ausladenden Armbewegung wies Ackermann auf die Baustellenzufahrt. Grimm ignorierte die Geste. Der fast zwei Meter große Kollege des Schutzbereichs flüsterte:

»Wir haben den Eingangsbereich gestern Abend mit Holzlatten und Absperrband gesichert, sind ein Dutzend Mal in der Nacht hier gewesen. Ich glaube nicht, dass jemand unbefugt in dem Bunker gewesen ist. Zumal die Absperrung heute Morgen unversehrt war.«

»Gestern Abend? Wieso erfahren wir erst heute davon?«

Der Hüne hob abwehrend die Arme.

»Wir waren nicht drin. Wir sollten die Baustelle sichern beziehungsweise darauf achten, dass niemand den geöffneten Bunker betritt. Heute Morgen bekamen wir einen anonymen Anruf, in dem uns der Leichenfund mitgeteilt wurde. Wer konnte denn damit rechnen?«

Grimm bedankte sich bei dem Kollegen, er hatte Ackermanns These ohnehin nicht geglaubt.

»Meine Herren, ich darf Sie bitten, den Tatort zu verlassen.«

»Tatort? Ich höre wohl nicht richtig.«

»Herr Ackermann, ich halte es für unwahrscheinlich, dass hier jemand hereinspaziert ist und auf seinen Tod gewartet hat. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«

»Das gibt es doch nicht!« Ackermann war außer sich vor Wut. »Mein Anwalt wird Ihnen eine Dienstaufsichtsbeschwerde reinhauen, die sich gewaschen hat, darauf können Sie sich verlassen.«

»Ist sein gutes Recht. Schönen Tag noch, Herr Ackermann.«

Grimm ging langsam um den Fundort herum, die Augen auf den Boden gerichtet. Er bemühte sich, jedes Detail zu erfassen. Oft genug entstanden auf diese Art erste Ermittlungsansätze. Grimm nannte es »den Tatort lesen«. Diese Eindrücke konnte er über den gesamten Verlauf der Fahndung in seinem Bewusstsein gespeichert halten.

Rippen, Schulter- und Armknochen waren wild durcheinandergestreut, die ursprüngliche Lage des Skelettes nicht mehr erkennbar. Heinrich fielen die Bein- und Fußknochen auf. Sie lagen parallel zueinander ausgestreckt. Wenige Meter weiter endete der Tunnel an einer Wand aus verdichteter Erde. Auf dem staubigen Boden waren unscheinbare Konturen erkennbar. Adriano deutete auf kleine Dellen im Lehm der rechten Seitenwand kurz vor dem Fundort. Heinrich ging näher heran und schüttelte den Kopf. Die Einbuchtungen waren im Gegensatz zur umgebenden Wand trocken, mussten also relativ frisch sein. Nachdem Heinrich sich einige Notizen gemacht hatte, entschied er, die Baustelle weiträumig sichern zu lassen. Zur Verstärkung wurden zwei weitere Streifenwagenbesatzungen angefordert.

Kurz bevor sie den Dienstwagen erreichten, meldete sich die Rufbereitschaft. Konrad Walther war vor einer halben Stunde aus der Narkose erwacht und wollte nun dringend Heinrich Grimm sprechen.

»Da bin ich sehr gespannt«, grinste Heinrich.

»Vermutlich präsentiert er uns stolz den Totenkopf als Beutestück«, antwortete Adriano. Wäre bei Camel durchaus nicht abwegig, dachte Heinrich.

»Mal im Ernst«, Adrianos Lachen verschwand, »was ist, wenn jemand den Schädel wirklich mitgenommen hat? Was macht dich so sicher, dass es sich um ein Verbrechen handelt?«

»Die Kleidung«, gab Grimm trocken zurück.

»Welche Kleidung?«

»Eben. Wo ist die Kleidung des Toten? Das Skelett jedenfalls war unbekleidet. Das kann nicht alles verrotten. Zumindest Gürtel oder Knöpfe müssten vorhanden sein. Alles ein bisschen merkwürdig, oder?«

»Na ja, da liegen zwar überall alte Klamotten herum, aber du hast recht. Da wird sich wohl kaum jemand in dem kalten Bunker zum Sterben ausgezogen haben. Ich habe auch keinen Ring gesehen«, grübelnd rieb Adriano das Kinn.

»Richtig. Keinen Ring, keine Halskette, keine Uhr. Nichts.«

Kapitel 4

Die Besucherparkplätze vor dem Sankt Josef-Hospital waren nur spärlich besetzt. Das kleine Krankenhaus lag idyllisch am Fuße der Hees, dem Waldgebiet bei Xanten. Deswegen und aufgrund der besonderen Atmosphäre nannten die Bewohner der Region das Hospital auch liebevoll »Heeswaldklinik«. Der Verkehrslärm der nahen Hauptstraße mit dem mittlerweile unpassenden Namen »Veener Weg« drang nur verhalten herüber.

Nach wenigen Minuten erreichten die Ermittler die chirurgische Station. Aus dem Krankenzimmer kamen in diesem Moment ein Mann und zwei Frauen in weißen Kitteln.

»Tut mir leid, Herr Walther darf keinen Besuch nicht haben.« Der Gesichtsausdruck der Krankenschwester mit dem polnischen Akzent wirkte streng. Heinrich zeigte ihr seinen Dienstausweis. Sie biss die Lippen aufeinander.

»Gutt, aber bitte keine Aufregung. Der Patient hat schwere Gehirnerschütterung, braucht absolute Ruhe. Sein Handy habe ich abgenommen ihm«, sie hielt ihm das kleine Mobiltelefon wie eine Trophäe vor die Augen, »Herr Walther ist so unvernünftig.«

Heinrich versprach ihr äußerste Vorsicht. Als Camel sie sah, wedelte er nervös mit den Armen. Er sah völlig verändert aus. Man hatte ihm den Kopf großflächig um die Wunde kahlgeschoren. Ein weißes Netz zierte seinen Schädel. Heinrich musste lachen.

»Morgen Camel, wurde auch höchste Zeit, die Matte mal abzurasieren.«

»Geschenkt. Endlich kreuzt ihr mal hier auf. Zuerst möchte ich einen Diebstahl anzeigen. Diese Furie hat mein Handy gestohlen, ausgerechnet jetzt! Die spinnt doch! Und meine Zigaretten sind auch weg.«

»Ruhig, Camel, die wollen nur dein Bestes. Jetzt erzähle uns doch mal, was du gestern in Alpen erlebt hast.«

Camel füllte seine Lunge mit der stickigen Raumluft. Genervt verdrehte er dabei die Augen.

»Die Megastory! Und dieser Satan in Weiß klaut mir das Handy. Ich muss Trixie alles diktieren. Sag mal, kannst du mir nicht vielleicht dein Handy borgen? Kriegst es morgen zurück.«

»Camel, bitte.«

»Okay. Aber absolutes Stillschweigen. Nichts an die Presse, in Ordnung? Das ist meine Story.«

»Natürlich, Camel. Kein Wort an die Presse. Von denen kann man doch keinem trauen«, verschwörerisch sah Heinrich den Journalisten an. Camel wurde misstrauisch, erzählte aber schließlich eine ausschweifende Geschichte von einem mutigen Reporter, der auszog, gegen übermächtige Bauherren und Spekulanten zu kämpfen. Selbstverständlich nur zum Wohle der Gerechtigkeit und um seinen Lesern einen ungetrübten Blick auf die wahren Hintergründe zu gewähren. Heinrich deutete ein breites Gähnen an.

»… als ich meine Taschenlampe anhebe, blicke ich dem Toten direkt in die Augen, also quasi in den Schädel.«

Mit einem Ruck saß Grimm aufrecht.

»Der Kopf des Skelettes lag dort?«

»Äh … ja, natürlich. Warum nicht?«

»Weil dieser Kopf mittlerweile verschwunden ist«, entfuhr es Adriano. Heinrich stupste ihn verärgert an.

»Was?«, Camel schoss hoch. Sofort verzog er schmerzverzerrt das Gesicht. Instinktiv wollte er sich am Kopf kratzen, zog die Hand im letzten Moment zurück.

»Wundert mich nicht«, stöhnte er und sackte in die Kissen zurück. Die Polizisten sahen ihn auffordernd an.

»Der Schädel hatte ein Loch in der Stirn«, Camel tippte mit dem Zeigefinger auf eine Stelle oberhalb des Nasenansatzes, »Durchmesser – schätze mal neun Millimeter. Die Kuppe meines kleinen Fingers passte fast hinein.«

Instinktiv sahen Heinrich und Adriano sich an. Auf einmal erschien das Verschwinden dieses Körperteils vor einem anderen Hintergrund.

»Sag mal, Camel, du hast den Totenkopf nicht zufällig mitgenommen?«

»Ich? Nein!«, in seinen Augen spiegelte sich Entsetzen. »Was denkt ihr von mir? Dazu bin ich ja gar nicht mehr gekommen. Als ich aufstehen wollte, wurde ich niedergeschlagen.«

»Journalistenblut also«, konstatierte Adriano. Heinrich nickte. Der Fall kam schneller in Fahrt, als er vermutet hatte.

»Hast du eine Ahnung, wer dich niedergeschlagen hat?«

»Eine Ahnung? Es war dieser arrogante Ackermann.«

Was die kurze charakterliche Beschreibung betraf, war Heinrich einer Meinung mit Camel.

»Weißt du das genau?«

Camel zögerte. Für eine Sekunde sah er aus dem Fenster neben sich in den wolkenverhangenen Himmel über Xanten.

»Ich habe es nicht gesehen, aber Ackermann stand hinter mir. Er muss es gewesen sein.«

»Was wolltest du überhaupt auf der Baustelle? Ich meine, du hattest doch schon sehr ausführlich darüber berichtet. Gab es etwas Neues?« Camel zögerte. Heute Morgen hatte es ihn geärgert, abermals nach Alpen beordert worden zu sein. Aber die Alternative, über das fünfzigjährige Jubiläum des Taubenzüchtervereins »Keer Tröch e. V.« zu berichten, hatte ihn überzeugt.

»Ich hatte so eine komische Ahnung. Irgendwie lag dort ein Geheimnis in der Luft. Als guter Journalist spürt man so etwas.« Grimm seufzte vernehmlich. Adriano schüttelte den Kopf.

»Aha. Sagt dir deine Ahnung denn auch, ob außer Ackermann noch jemand in dem Bunker war, als du niedergeschlagen wurdest?«

»Nein. Das heißt, ja, schon. Kurz bevor ich gestürzt bin, konnte ich vom Eingang her noch weitere Schritte hören. Aber die waren zu weit weg«, schob er noch hastig hinterher. »Ihr müsst diesen Ackermann sofort festnehmen, der ist ein Mörder und … und beinahe Totschläger.« Die schwere Körperverletzung wäre ein Grund, dachte Heinrich. Wenngleich noch keine Beweise vorlagen, was sich allerdings durch den Bericht der Kriminaltechnik ändern könnte.

»Mal sehen, was sich machen lässt. Wenn du wieder draußen bist, lass dich bei uns blicken. Wir brauchen deine Aussage schriftlich.«

Kapitel 5

Zweifel, die immer dann aufkamen, wenn eine Ermittlung in irgendeiner Form von der Aussage des windigen Konrad Walther abhängig war, hielten sich beharrlich. Dennoch bestellte Heinrich Grimm die Kollegen Josef Wolters und Mareike Verstappen in sein Büro. Es war ihre Pflicht, die Aussage Camels ernst zu nehmen. Zumal Grimm nicht an einen natürlichen Tod glauben wollte. Die üblicherweise für einen solchen Fall gebotene Eile einer Umfeldermittlung war zwar nicht gegeben, aber Heinrich wollte nichts unversucht lassen, schnellstmöglich Hintergründe zu erfahren und vor allem an das fehlende Körperteil zu gelangen. Kurz und knapp klärte er seine Kollegen über den bisherigen Kenntnisstand auf. Wolters, dessen kreisrunde, kahle Stelle auf dem Kopf im Neonlicht glänzte, kamen erste Zweifel.

»Der Bunker wurde im Krieg errichtet. Die Leiche kann also durchaus schon über sechzig Jahre dort gelegen haben. Vielleicht hat es sich um eine Exekution gehandelt. Die fehlenden Kleidungsstücke und den eventuell vorhandenen Schmuck könnten Grabräuber an sich genommen haben. Waren schlechte Zeiten damals.«

»Und der fehlende Kopf?«

»Den sehen wir morgen früh auf Seite eins des Rheinischen Boten. Kennst doch Camel. Für eine gute Story würde der seine Mutter in Zahlung geben.«

Mareike, die sich lässig neben Wolters an den Schreibtisch gelehnt hatte, strich ihre langen, schwarzen Haare nach hinten. Sie konnte die Argumentation ihres Kollegen nicht nachvollziehen.

»Wenn Camel dieses Risiko eingehen sollte, müsste der Schädel tatsächlich ein Loch in der Stirn aufweisen. Da dies natürlicherweise nicht der Fall ist, hätten wir es dann wohl mit einer Straftat zu tun. Exekution wäre ebenfalls denkbar. Meine Oma erzählt mir jeden Winter, dass die Nazis einen fünfzehnjährigen Jungen, der mit vollen Hosen in den Bunker geflüchtet war, wegen Fahnenflucht standrechtlich erschossen hatten. Aber ich denke, die Rechtsmedizin wird zumindest ungefähr den Todeszeitpunkt angeben können.«

An eine Exekution mochte Heinrich nicht glauben. Erschießungskommandos zielten auf das Herz, nicht auf die Stirn. Bei dem Gedanken an die von Mareike geschilderte Grausamkeit bekam er eine Gänsehaut. Automatisch tauchte das Skelett vor seinem geistigen Auge auf. Die Extremitätenknochen erschienen ihm zu groß für einen Jungen in dem Alter. Der Gedanke beruhigte ihn.

»Gut, ich fahre nach dem Mittagessen dorthin«, Heinrich wollte nicht den schriftlichen Bericht abwarten, »wäre nett, wenn ihr zwei in der Zwischenzeit mal diesen Ackermann beleuchten würdet.«

Heinrich zog die Jacke an, als Engels das Büro betrat. Die ernste Miene seines Vorgesetzten ließ den Ermittler für einen Augenblick in der Bewegung verharren.

»Kam vor wenigen Minuten von der Personalstelle, Heinrich. Kannst nach Hause gehen und brauchst nicht mehr wiederkommen.«

Engels stellte sich schräg neben Heinrich und legte das Blatt vor ihm auf den Tisch. Sein Gesichtsausdruck wurde eine Spur ernster. Es schien so, als erwarte er Protest.

»Deine restlichen Überstunden ergeben noch genau zwei Tage Urlaub«, Engels tippte mit dem Zeigefinger auf eine Tabelle. Heinrich schluckte. Es kam ihm vor, als sei ihm die Realität in Form eines Vorschlaghammers begegnet.

»Das kann nicht sein, ich habe doch gerade erst zwei Monate abgebummelt«, seine Stimme vereinte eine Mischung aus Empörung und Ungläubigkeit in sich.

»Heinrich«, Engels legte die rechte Hand freundschaftlich auf Grimms Schulter, »seitdem hast du aber wieder 16 Überstunden angesammelt. Die kannst du schlecht mit in den Ruhestand nehmen. Meine Güte, sei doch froh, aus diesem Moloch zu kommen.«

Heinrich schüttelte die Hand ab.

»Müsst ihr die Überstunden mal ausnahmsweise auszahlen, wir stecken mitten in einer Mordermittlung«, übertrieb er.

»Mordermittlung? Davon weiß ich ja noch gar nichts. Was sagt denn deine Liebste dazu, oder sollte die leitende Staatsanwältin etwa auch noch nichts davon wissen?«

Süffisant grinste der Dienststellenleiter seinen Hauptkommissar an. Engels vermutete, Heinrich würde krampfhaft einen letzten Fall suchen. Seine Freundin Annette Gerland nahm in Düsseldorf an einem Seminar teil, würde erst am Abend zurück sein.

»Ich konnte sie noch nicht erreichen«, antwortete er kleinlaut, »Mensch Günther, gönne mir doch wenigstens die zwei Tage. Darauf kommt es doch nicht mehr an.«

Günther Engels atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Wortlos verließ er den Raum. Heinrichs Hoffnung ruhte auf dem Ergebnis des Rechtsmediziners. Am liebsten wäre er sofort losgefahren, aber es war zwecklos, dort hatten sie um dieselbe Zeit Mittagspause. Er zog sich den Mantel an und ging über die Jülicher Straße nach Hause.

Kapitel 6

Als Heinrich die Haustür öffnete und zur Garderobe gehen wollte, musste er kräftig drücken. Der kleine Flur stand übervoll mit Kisten. Er stieß einen lauten Fluch aus. Seine Mutter kam aus der angrenzenden Küche. Die Dreiundsiebzigjährige sah ihn mit schelmisch glänzenden Augen an.

»Was ist das denn hier?«

»Da staunst du, was? Brunhilde war so freundlich, mit mir heute Morgen zum Baumarkt zu fahren. Wir waren vorher bei ihrer Enkeltochter in Lackhausen, da haben wir auf dem Rückweg an der Nordstraße angehalten. Kennst du die Ramona eigentlich schon?«

Heinrich antwortete nicht. Er schob seine Mutter sanft zur Seite, öffnete einen der Kartons und sah hinein. Er war randvoll gefüllt mit Tapetenrollen. Fragend blickte er seine Mutter an.

»Hier muss überall tapeziert werden, das ganze Haus. Sollte eigentlich schon im Sommer gemacht werden, du hast ja lange genug Urlaub gehabt. Aber nein, der Herr geht jeden Tag angeln. Samstag kommt der Tapezierer!«

Sie drückte ihr Kreuz durch und sah ihren Sohn mit strenger Miene an.

»Samstag?«

»Ja, Brunhilde ihr Mann macht das nebenher, bessert seine Rente damit auf. Aber die Vorarbeiten müssen bis dahin fertig sein.«

Mahnend wedelte sie dabei mit dem Zeigefinger dicht vor seinem Gesicht. Der entschlossene Blick sollte direkt in sein Gewissen Vordringen. Als habe er seiner Mutter hoch und heilig Hilfe versprochen. Ihre Bitte jedenfalls, wenn es denn eine solche war, hatte suggestiv wie immer geklungen:

Wir müssen hier mal wieder tapezieren. Wann hast du endlich Zeit für deine alte Mutter?

Überhaupt war es eine Marotte seiner Mutter, im Plural zu reden, wenn sie ihn meinte. Natürlich wusste er genau, wer gemeint war, wenn wir mal wieder den Rasen schneiden müssen, oder es hieß: Wir müssen das Auto waschen. Dennoch regte er sich immer wieder darüber auf. Was selbstverständlich nichts änderte. Einmal hatte er die Idee gehabt, den Spieß umzudrehen:

Wir müssen mal wieder einen leckeren Sauerbraten machen.

Wir?, hatte sie brüskiert geantwortet, wer steht denn den halben Tag am Herd?

Heinrich ließ den Blick langsam über die Kartons gleiten, schüttelte dabei den Kopf.

»Mutter, ich habe morgen und übermorgen noch Dienst.«

Das schien sie schon wieder vergessen zu haben. Heinrich gewann mehr und mehr den Eindruck, dass seiner Mutter eine gewisse Altersdemenz zu schaffen machte.

»Du wirst doch noch ein paar Überstunden haben. Kannst du nicht einen Tag eher in Pension gehen?«

»Unmöglich! Wir haben einen Mordfall. Da wird jede zur Verfügung stehende Kraft benötigt.«

Im selben Augenblick bereute er die Auskunft. Mutter Grimm wurde hellhörig. Die Tapeten gerieten in Sekundenschnelle in Vergessenheit, was nicht ihrem Alter zuzuschreiben war.

»Komm doch in die Küche, mein Junge.«

Blitzschnell trat sie an die Seite und winkte ihren Sohn mit einer einladenden Geste hinein. Der Duft von Kohlrouladen lag wohltuend in der Luft. Während sie den Tisch deckte, konnte sie ihre Neugierde kaum noch zügeln. Frau Grimm war Krimifan und eine Art Hobbyermittlerin, sehr zum Leidwesen ihres Sohnes. Ihre »Fälle« hatten ihm schon einigen Spott in der Dienststelle eingetragen. Als sie vor Jahren ein Liebespaar in der Gartenlaube des Nachbarn nicht als solches erkannt hatte, alarmierte sie sofort die Polizei. Bis zu ihrem Eintreffen hatte sie den nackten Freund der Nachbarstochter mit der Mistgabel durch den Garten gescheucht. Es dauerte Monate, bis Heinrich das Verhältnis zum Nachbarn wieder halbwegs gekittet hatte. Kurz vor dem letzten Weihnachtsfest schlug sie auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Willibrordi-Dom einem vermeintlichen Handtaschendieb so lange den Regenschirm auf den Kopf, bis dieser flüchten konnte. Der Zivildienstleistende hatte der Seniorin lediglich helfen wollen, ein Kerzengesteck zu bezahlen. Immer wieder mischte sie sich in die Ermittlungen ihres Sohnes ein, befragte Zeugen oder observierte verdächtige Personen.

»Und?«

Heinrich nahm sich Kartoffeln und eine Roulade. Die Ungeduld seiner Mutter blieb ihm nicht verborgen. Amüsiert sah er in ihre Augen.

»Das ist mein letzter Fall. Den möchte ich ausnahmsweise ohne deine Mithilfe lösen. Ich will mir die Pension schließlich verdienen. Denkst du, das ist möglich?«

Ihr Kinn glitt langsam Richtung Tischplatte. Heinrich meinte es ernst. Er hatte sich fest vorgenommen, ihr diesmal kein Wort über die aktuelle Ermittlung mitzuteilen.

»Dann ruf ich eben Annette an. Ich wollte sie sowieso fragen, wann sie zu Abend essen möchte. Sie kann auch bestimmt dafür sorgen, dass du einen Tag eher in Pension gehen kannst.«

Sie klang kämpferisch. Heinrich hatte sich verschluckt, musste husten. Mutter Grimm würde niemals einen Fall ihres Sohnes verpassen, schon gar nicht den letzten.

»Na schön. Aber du mischst dich nicht ein! Keine Zeugenbefragungen, keine Observationen, nichts. Verstanden?«

»Natürlich. Denkst du, ich habe nichts anderes zu tun, als dir bei der Arbeit zu helfen?«

Empört stemmte die Seniorin die Arme in die Hüfte. Heinrich verschluckte sich erneut. Nach kurzem Räuspern erzählte er seiner Mutter von dem Fund in Alpen. Details verschwieg er wohlweislich.

»Wie heißt denn dieser Architekt?«

»Manfred Ackermann«, antwortete er grummelnd.

»Ackermann, … Ackermann«, seine Mutter dachte angestrengt nach. Auf einmal schlug sie zum Zeichen einer Eingebung mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Gläser wackelten bedenklich.

»Natürlich. Manfred Ackermann. Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin«, sie schlug abermals mit der Hand, diesmal vor ihre Stirn. Er hätte es sich denken können. Durch ihre Aktivitäten in zahlreichen Seniorenvereinen und ihr bewegtes Leben kannte sie praktisch jeden am unteren Niederrhein.

»War eine tragische Geschichte damals.«

Heinrich holte sich eine Tasse Kaffee von der Küchentheke und machte es sich in Erwartung einer bildhaft vorgetragenen Uraltgeschichte gemütlich.

»Sie waren ein tolles Paar, der Manfred und die Birgit. Birgit Jansen vom Leitgraben.«

Heinrich zuckte die Schultern. Er war in Sonsbeck-Hamb aufgewachsen. Es war ihm unerklärlich, woher er diese Birgit Jansen kennen sollte. Sie hatten damals viele Kunden aus Alpen gehabt, seine Mutter hatte jedes aktuelle Gerücht aus der Gemeinde mitbekommen, aber ihn hatte es schon damals nicht interessiert.

»Die beiden wollten heiraten, haben sie dann ja auch getan. Aber Walter Jansen, Birgits Vater, war strikt gegen die Hochzeit mit Manfred Ackermann. Kann man auch ein bisschen verstehen. Der Manfred hatte es faustdick hinter den Ohren.«

Da hat sich anscheinend nichts geändert, sinnierte Heinrich. »Drei Tage vor der geplanten Hochzeit ist Walter Jansen plötzlich spurlos verschwunden.«

»Moment. Das kommt mir bekannt vor.«