Grog & Vanillekipferl - Veronika Lackerbauer - E-Book

Grog & Vanillekipferl E-Book

Veronika Lackerbauer

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Beschreibung

Das Winterspecial der "Kriminalgeschichten aus der bayerischen Provinz" vereint wie gewohnt mehrere Kurzkrimis in einem Band. Sie passen besonders gut unter den Weihnachtsbaum, aber auch zu anderer Gelegenheit! Zum vierten Mal treffen hier in drei Kurzkrimis die bayerische Provinz und das Chaos des modernen Lebens aufeinander. In diesem Band erwartet die LeserInnen eine Kreuzfahrt mit unerwarteter Begleitung, der ein oder andere Abstecher in die Vergangenheit und außerdem ein turbulentes Wiedersehen mit einer alten Bekannten.

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In dieser Reihe sind bisher erschienen:

„Hugo & Leberkäs – Kriminalgeschichten aus der bayerischen Provinz“

„Sushi & Weißbier – Kriminalgeschichten aus der bayerischen Provinz 2“

„Latte & Dampfnudeln – Kriminalgeschichten aus der bayerischen Provinz 3“

„Grog & Vanillekipferl – Kriminalgeschichten aus der bayerischen Provinz 4, Winteredition“

Für die beste

Familie

der Welt

Vorwort

Schön, dich wiederzusehen!

Vielleicht kennen wir uns bereits aus Hugo & Leberkäs, Sushi & Weißbier oder Latte & Dampfnudeln, möglicherweise bist du aber gerade erst zu uns gestoßen; in jedem Fall freue ich mich, dass du da bist!

Dieses Mal lade ich zu einem ganz besonderen Winter-Weihnachts-special der Kriminalgeschichten aus der bayerischen Provinz. Die drei Geschichten aus diesem Band möchte ich dir deshalb vorab ganz kurz vorstellen:

Los geht’s, wie es der inzwischen liebgewonnenen Tradition dieser Reihe entspricht, mit Kommissar Veitl. In seinem vierten Fall Grog & Vanillekipferl begibt sich das bayerische Urgestein auf eine Schlager-Kreuzfahrt. Doch anstatt die Feiertage mit seiner Familie und der Erholung auf See zu genießen, holt ihn auch im Urlaub das Verbrechen ein.

Die zweite Geschichte befasst sich mit etwas, das mir meine liebe Schwiegermama mal beiläufig erzählt hat. Ja, ja, man muss auf der Hut sein, was man im Beisein einer Schriftstellerin von sich gibt. Bei Glühwein mit Schuss handelt es sich um eine Begebenheit, die schon etliche Jahre zurückliegt und das Gruselige und Mystische der kalten Jahreszeit heraufbeschwört.

Damit es nicht nur kalt und grau wird, befasst sich die dritte Geschichte ganz konträr mit Sommer, Sonne und Dolce Vita und zaubert ein bisschen italienische Lebensart in die bayerische Provinz. Außerdem gibt es in Flitterwochen mit Mord ein Wiedersehen mit einer bereits aus Hugo & Leberkäs bekannten Protagonistin, der Serienkillerin Liz.

Das Jahresende, Weihnachten – eine Zeit, in der wir traditionell auch an jene denken wollen, die es weniger gut haben. Auch wenn keine Geschichte sich dieses Mal explizit mit den Themen Rassismus und Flucht beschäftigt, bleibt die Tradition dennoch erhalten:

Es geht wieder ein Anteil des Erlöses aus dem Verkauf dieses Buches an eine Hilfsorganisation für Flüchtlingskinder.

Und nun wünsche ich wieder spannende, gruslige, nachdenkliche sowie auch heitere Lesestunden mit meinem vierten Krimibuch! Ich freue mich über jede Anregung oder Kritik, auch gern in Form einer Rezension, zum Beispiel auf Amazon oder Lovelybooks.de.

Ansonsten bleibt mir nur noch, euch allen eine schöne Winterzeit zu wünschen. Frohe Weihnachten und einen guten Start ins neue Jahr!

Und jetzt: Viel Spaß!

Eure

Inhalt

Vorwort

Grog & Vanillekipferl

Extras

Glühwein mit Schuss

Flitterwochen mit Mord

Danksagung

Über die Autorin

Grog & Vanillekipferl

August 2017

Der Saal war mäßig gefüllt. Die Stehtische im hinteren Bereich schienen ganz gut bevölkert, obwohl sich eine genaue Zahl der Besucher im Dunkeln des Halbrunds nicht ausmachen ließ. Vorne jedoch, wo zur Sicherheit für die drängelnden Massen Metallzäune als Wellenbrecher aufgestellt worden waren, herrschte gähnende Leere. Vereinzelte Grüppchen standen herum, unterhielten sich aber rege miteinander, anstatt gespannt auf die Bühne zu schauen. Einige wenige Hardcore-Fans hatten sich mit Postern und Plakaten direkt vor dem ersten Wellenbrecher postiert. Sie sangen sich schon einmal warm, aber die Stimmen klangen dürftig. Hinter der Bühne, in der Künstlergarderobe, wo der einstige Star auf seinen Auftritt wartete, war davon nichts zu hören.

Roman Jung saß vor dem großen Spiegel am Schminktisch, die Augen geschlossen, und spulte routiniert sein Einsing-Programm ab. Er machte diese Routine bereits seit mehr als zwanzig Jahren. Damals hatte ihm ein Stimmtrainer, den er für teures Geld engagiert hatte, diese todsicheren Übungen gezeigt.

Jung ahnte, dass dieser Auftritt kein fulminantes Comeback sein würde. Manchmal beschlich ihn selbst das Gefühl, dass die großen Zeiten des Roman Jungs vorbei waren. Hielt er krampfhaft an etwas fest, dass einfach unwiederbringlich zu Ende war?

Oder musste er einfach noch auf den richtigen Zeitpunkt warten?

Sollte er besser einfach aufgeben? Sich zur Ruhe setzen?

Aber womit würde er dann seinen Lebensunterhalt bestreiten?

Er war leider darauf angewiesen, dass Konzertagenturen ihn buchten – für Möbelhauseinweihungen, zu Firmenjubiläen und für Vereinsfeiern. Früher hatte der große Roman Jung mit Leichtigkeit ganze Stadien gefüllt. Heute gelang ihm das noch nicht einmal bei der Mehrzweckhalle von Essen-Huttrop. Um das zu wissen, musste er gar nicht erst auf die Bühne hinausgehen. Er kannte die Zahlen des Kartenvorverkaufs, und die sprachen leider eine eindeutige Sprache.

Es klopfte.

So kurz vor dem Auftritt konnte das eigentlich nur einer sein: der Plattenboss und sein alter Wegbegleiter Jürgen Gmeiner. Er arbeitete mit Gmeiner bereits seit den späten Siebzigerjahren zusammen. Gmeiners Plattenfirma hatte Jung großgemacht. Er hatte seine Abstürze miterlebt und ihn trotzdem nie fallengelassen, in all den Jahren nicht.

„Du bist ein echter Freund“, sagte Jung, von einer sentimentalen Laune beseelt, ohne sich umzudrehen.

Die Antwort kam prompt. „Ich weiß …“

Die Stimme gehörte eindeutig nicht Jürgen Gmeiner.

Jung fuhr herum.

„Was willst du hier?“, knurrte er, doch hinter seiner coolen Fassade kroch die Panik in ihm hoch. Instinktiv schweifte sein Blick herum, ob es noch einen Ausgang aus der Garderobe gab. Das kleine, vergitterte Fenster war jedenfalls keine Option.

Die Gegenfrage kam in schmeichelnd-gurrender Tonlage: „Kannst du dir das nicht denken?“

November 2017

Inzwischen hatten Oberkommissar Veitl und seine Frau sich in der neuen, alten Heimat Landshut, nicht zuletzt auch dank des freundschaftlichen Verhältnisses zu Veitls Vorgesetztem Steindl, gut eingelebt. Margarete verbrachte viel Zeit bei ihren drei Enkelkindern in Adlkofen, wo ihre Älteste Andrea mit ihrer Familie auf einem Bauernhof lebte. In Haus und Hof gab es immer genug zu tun, sodass Margarete inzwischen den eigenen Garten und ihr Reihenhäuschen in Garmisch gar nicht mehr so vermisste. Wenn ihre Pflichten als Oma sie gerade nicht beanspruchten, ging sie gänzlich in ihrem neuen Hobby auf: ihrem Lifestyle-Blog.

Nachdem sie zum letzten Geburtstag einen Laptop bekommen hatte, war sie schnell in die Geheimnisse ihres neuen Spielzeugs eingetaucht. Eine Weile war sie schier nicht mehr zu bremsen gewesen und schien alle verfügbaren Rezepte ausprobieren zu wollen. Für ihren Mann eine schwere Zeit.

Dann stieß sie auf ein Blog über Ernährung und Lebensart und schnell war die Idee geboren, so etwas auch betreiben zu wollen. Seitdem verbrachte sie die Vormittage damit, sich neue kulinarische Inspirationen zu holen und darüber zu schreiben.

Kurz vor dem ersten Adventswochenende flatterte den Veitls eine Postkarte ins Haus. Ihr Sohn Benedikt, der schon seit etlichen Jahren zur See fuhr, meldete sich bei seinen Eltern in unregelmäßigen Abständen mit einer bunten Karte aus den entlegensten Winkeln der Erde. Für Mama Margarete immer ein Grund zur Freude. Dieses Mal versetzte er seine Mutter mit seinem flüchtig hingekritzelten Schreiben jedoch in besondere Aufregung.

Veitl rührte in seiner Kaffeetasse und kaute missmutig auf einem Löffel Müsli herum. Dass er nicht einmal am Wochenende, wenn er schon frei hatte, ein anständiges Frühstück bekam, wurmte ihn. Eigentlich hatte er gehofft, dass Margarete durch den Ortswechsel von ihrem Ökotrip herunterkommen würde. Stattdessen hatte sich ihre Versessenheit, ihn ernährungstechnisch umkrempeln zu wollen, durch den Blog sogar noch verstärkt.

Als sie ihm die Postkarte freudestrahlend unter die Nase hielt, sah er auf und griff nach seiner Lesebrille. Lange Zeit hatte er sich dagegen gesperrt, doch irgendwann hatte sich die Weitsichtigkeit einfach nicht mehr leugnen lassen. Umständlich setzte er sie sich auf die Nase und betrachtete das Bild auf der Vorderseite der Karte durch das Gestell.

„Schee, ja. Wo is er denn wieder, da Bub?“, nuschelte er zwischen den Körnern und Flocken in seinem Mund hindurch.

„Schluck doch erst amal runter, bevors’d mit mir redst“, tadelte Margarete.

„Konn i ned, des Zeig wird ja im Mund allerweil mehrer.“

Lautstark rumpelte ein Güterzug am offenen Esszimmerfenster der Veitl'schen Hochparterrewohnung vorbei. Als der letzte Containerwagon vorbeigefahren war, erklärte Margarete mit missbilligendem Unterton: „Lies halt amal die Rückseiten!“

Veitl drehte die Karte herum, sodass die Hula-Girls in ihren leichten Bikinis und den riesigen Blütenketten um den Hals zu Margarete schauten, und las.

„Ja, wos?“, machte er erstaunt. „Is des a Einladung, oder wia?“

„Les i scho so, oder ned?“ Margarete konnte ihre Aufregung schwerlich verbergen. „Mei, stell dir des vor! Mir zwei da auf dem Schiff, ha? Des wär scho was.“

„Ah geh, meinst wirklich? Da geht’s ja gwiss recht vornehm zu. Da musst dann a Abendkleid dabei ham und allerweil umziehen vorm Essen …“, gab Veitl zu bedenken.

„Geh, Flori“, widersprach seine Frau. „Du hast zu viel Traumschiff gsehen, so steif sind die Kreuzfahrten doch heute nimmer. Der Bene und der Vicky, die sind doch auf so einem Clubschiff. Da is bestimmt a rechte Gaudi, grad wenn des a no über die Feiertag is!“

Obwohl sich Veitl nur zögerlich mit dem Gedanken einer Schiffsreise anfreunden konnte, war bald klar, dass die beiden die Feiertage dieses Jahr nicht zu Hause verbringen würden. Benedikt besorgte für seine Eltern eine Kabine auf dem brandneuen Kreuzfahrtschiff seiner Flotte. Die Fahrt ging von Hamburg aus über den Atlantik nach New York. Die Endeavour-Line, bei der Benedikt arbeitete, hatte ein neues Flaggschiff: die Vasco da Gama. Bisher waren Benedikt und sein Freund Vicky auf der älteren Columbus gefahren, jetzt wechselten sie gemeinsam auf das neue Schiff und Benedikt nutzte die Gelegenheit, um seine Eltern endlich einmal von einer Kreuzfahrt zu überzeugen.

23. Dezember 2017, am Flughafen Hamburg

„Wann kommen jetzt unsre Koffer, sag amal? Ham's die verschmissen? Wenn i jetz ohne Gwand auf des Schiff muss …“, nörgelte Veitl kaum fünf Minuten, nachdem sie am Gepäckband Stellung bezogen hatten.

„Geh, jetzt lass dir halt Zeit. So schnell geht des a ned. Die müssen ja jetz den Flieger erst amal ausräumen“, versuchte seine Frau ihn zu beruhigen.

„Mir is des in München scho seltsam vorkommen“, ließ Veitl sich nicht davon abbringen, dass sein untrügliches Gespür für brenzlige Situationen ihn wieder einmal nicht getäuscht hatte. „Garantiert ham de de Koffer in den falschen Flieger nei tan. Und jetzt bin i in Hamburg und meine Unterhosen fliegen in d'Karibik oder so!“

Da bogen die ersten Gepäckstücke auf das Förderband ein. Die beiden in die Jahre gekommenen Koffer der Veitls waren allerdings immer noch nicht zu sehen.

„Mei Rasierzeug is a in dem Koffer“, fiel es Veitl unvermittelt ein. „Wenn des jetzt ned mitkommen is, dann schau i in a paar Tag aus wie a Seeräuber!“

„Passt doch dann“, kommentierte Margarete ungerührt.

„Passt eben ned!“, widersprach Veitl sofort. „Wenn ma da sogar a Krawatte braucht auf dem Schiff.“ Er hatte noch nicht überwunden, dass Margarete ihn extra zum Einkaufen in die Stadt geschleppt hatte, damit er sich vor der großen Fahrt neu einkleidete.

Doch da kamen glücklicherweise die Koffer in Sicht. Rasch drängelte Veitl sich zum Förderband durch und zog eines der beiden Gepäckstücke hoch, hievte es vom Band und stellte es neben Margarete ab. Dabei verlor er jedoch den anderen Koffer aus den Augen und musste um das halbe Rund hinterherlaufen, um ihn zu erwischen. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, als er endlich mit dem zweiten Koffer bei Margarete ankam.

„Geh, jetzt nehm'ma so a Wagerl für die Koffer. Komm!“, entschied Margarete und steuerte zielstrebig die Trolleystation an. „Wir hätten doch amal so moderne Koffer mit Radln unten dran kaufen sollen.“

Veitl folgte ihr schnaufend und japste: „Wofür daten jetz wir neue Koffer brauchen? Wir fahrn doch gar nirgends hin!“

„Und wenn uns des jetz gfallt? Vielleicht mach'ma na sowas öfter“, hielt Margarete dagegen.

„Des is no gar ned raus!“, widersprach Veitl sofort. „Des weiß i nämlich no ned, ob mir des gfallt.“

Vom Flughafen ging es direkt zur Hafen-City, wo die großen Ozeanriesen anlegten und auf ihre neuen Gäste warteten. Für die beiden Reisenden aus der bayerischen Provinz war schon die Fahrt quer durch Hamburg ein Erlebnis.

Dann standen sie am Kai und blickten fassungslos an der makellos weißen Fassade des Kreuzfahrtschiffs hinauf, an dessen Bug in verschlungenen Buchstaben Vasco da Gama zu lesen stand – das neuste Flaggschiff der Endeavour-Linie. Die Schiffe fuhren unter deutscher Flagge und hörten auf klangvolle Namen wie Marco Polo, Christopher Kolumbus, James Cook und nun eben Vasco da Gama. „Ja verreck, is des ein Drum Kasten!“, staunte Veitl. „Mechst ja nicht glaubn, dass so a Klotz überhaupt schwimmt.“

Auch Margarete war sichtlich beeindruckt. „Ned, dass es am End untergeht … so wie d'Titanic seimals. Jetzt is ma vei glatt a bissl blümerant …“

Das Zaudern seiner Frau brachte in Veitl wieder den Beschützer ans Tageslicht. Im Brustton der Überzeugung erklärte er: „Da fehlt se nix. Derfst glaubn, de Dinger san sicherer wie alles andre. So a Auto, des is gfährlich. Da passiert so viel. Beim Fliegen und aufm Wasser geht lang ned so viel schief. Aber wenn, dann is's halt immer glei a richtige Katastroph. Des lest dann wieder wochenlang in da Zeitung und dann kummt's da so vor, als ob da viel mehr passiern tät. Vorm Autofahrn fürchst dich ja a ned, oder?“

Margarete schluckte ihr ungutes Gefühl hinunter und setzte ein fröhliches Gesicht auf. „Hast recht. Wird scho schief geh. Petri Heil! Oder wie sagt ma jetzt da?“

„Naa, Petri Heil is für d'Fischer. Damit de was fangen. Schott- und Mastbruch oder so sagt ma da“, korrigierte Veitl.

„Was? Mastbruch? Des is aber nix, was ma se wünschen sollt, oder?“

„Ja, mei, des is halt so wie: Hals- und Beinbruch. Des is ja a ned wirklich wünschenswert, ned?“

Die beiden näherten sich ihrem vorübergehenden schwimmenden Zuhause. Vor dem Schiff stand ein überdachtes Gebäude, das an eine große Garage erinnerte. Dort fand die Registrierung der Schiffsgäste statt. Im Inneren führten Absperrungen die Wartenden in Schlangenlinien zur Kontrollstation. Wie zuvor schon am Flughafen, wurden hier noch einmal alle Gepäckstücke durchleuchtet und die Tickets kontrolliert. Es standen bereits eine Traube Menschen in der vorgegebenen Schlange. Die Veitls reihten sich ein und näherten sich Schritt für Schritt den Scannern.

Es dauerte eine ganze Weile, bis alle Wartenden abgefertigt waren. Dann bekamen die Veitls ihre Bordkarten ausgehändigt und ein paar allgemeine Erläuterungen zum Verhalten auf dem Schiff. Ihr Gepäck nahm man ihnen ab, was Veitl sofort wieder unken ließ: „Unsre Koffer nehmen's uns. Des is ma jetz zwider, jetz hamma's glückselig gschafft, dass ma's nach dem Flug wiederkriegt ham und jetzt reißen's es uns scho wieder davo.“

Ein tadelnder Blick von Margarete streifte ihn. „Geh, de helfen uns doch bloß, damit ma de schweren Dinger ned durch des ganze Schiff schleppen müssen. Sei doch froh, kann se a andrer schinden mit unsre unkamperten Koffer!“ Damit ging sie frohen Mutes voran, die Gangway hinauf zum Eingang des Schiffes.

„So, da samma jetzt.“ Veitl blieb stehen und stellte schnaufend seine schwere Last auf den flauschigen Teppich des Schiffsflurs auf dem achten Deck. Die langen Flure entlang hatte sich auch das Handgepäck noch als ziemlich anstrengend entpuppt. „8125. Mi leckst am Arsch. So viele Zimmer hat ja's Vier Jahreszeiten ned mal.“

„Hat's a ned", bekräftigte Margarete besserwisserisch. „De Vasco da Gama is eins der momentan größten Schiffe der Welt.“

Veitl klopfte sich die Hosenbeine ab. „So, und wo is jetzt der Zimmerschlüssel?“

Margarete verdrehte die Augen. „Da gibt's doch keine Schlüssel mehr! Du hast doch so a kleine Plastikkarte kriegt, wie a Scheckkarte so groß. De is zum Türöffnen.“

Tatsächlich förderte Veitl nach einigem Suchen so ein Plastikding zutage.

„Und was mach i da jetzt damit?“

Margarete nahm ihm die Bordkarte aus der Hand und hielt sie in unterschiedlicher Weise vor den kleinen Metallkasten über dem Türgriff. Wie sie es auch drehte und wendete, die Tür blieb verschlossen.

Veitl freute sich insgeheim diebisch, dass seine Frau, die sich schon die ganze Zeit so weltmännisch aufführte, auch an dieser Technik scheiterte.

Ein junger Mann in Uniform kam just in diesem Moment den Gang herunter, erkannte die Misere, blieb stehen und bot an: „Darf ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“

Mit einer routinierten Geste zog er das Kärtchen durch den Schlitz an der Oberseite des Kastens, das Gerät summte kurz und ein grünes Licht flammte auf. Die Tür ließ sich öffnen.

„Sie müssen das in der richtigen Geschwindigkeit machen. Das kriegen Sie aber schnell raus. Angenehmen Aufenthalt!“ Damit verabschiedete sich der freundliche Helfer.

Veitl und Margarete standen in ihrem kleinen Domizil für die nächsten zwei Wochen. Die Kabine vereinte auf engstem Raum allen Luxus, den man sich wünschen konnte: ein bequemes, wenn auch nicht allzu breites Boxspringbett, einen riesigen Flachbildfernseher, der fast die gesamte Breite des Schlafbereichs einnahm, eine gut sortierte Minibar, ein vollausgestattetes Bad inklusive Regendusche und LED-Lichteffekten. Benedikt hatte seinen Eltern sogar zu einer Balkonkabine verholfen. Hinter der spiegelglatten Glasschiebetür befand sich eine kleine Sitzgelegenheit mit Blick auf das Meer, oder momentan noch auf die Hamburger Elbe.

Margarete schob gleich die Tür auf und begutachtete die Aussicht. „I glaub, i kann die Elbphilharmonie sehen!“, rief sie und hing dabei fast über das blank geputzte Geländer.

Veitl folgte ihr, inspizierte dann jedoch eine andere Sehenswürdigkeit direkt an der Trennwand zum nächsten Minibalkon. Als besonderen Gag gab es noch eine Hängematte, die man bei Bedarf quer über den Balkon spannen und darin den Ausblick genießen konnte. Das musste Veitl natürlich sofort ausprobieren.

Dann dröhnte die Schiffshupe – das Signal zum Aufbruch. Langsam glitt das mächtige Schiff vorbei an den Sehenswürdigkeiten der Hansestadt zur Elbemündung bei Cuxhafen und von dort hinaus auf die See.

23. Dezember 2017, erstes Abendessen an Bord

Als Veitl und Margarete zum ersten Mal den großen Speisesaal im Oberdeck betraten, blieb ihnen beiden der Mund offenstehen.

Die Vasco da Gama verfügte über vier Restaurants, drei Bars und das große, über vier Etagen reichende Theatro. Im Hauptspeiserestaurant saßen die Gäste umgeben von einem verglasten Halbrund, das nahezu auf allen Sitzplätzen einen Blick auf das Meer bot. Die elegante Einrichtung harmonierte mit dem blitzblanken Himmel, den die Nordsee heute zur Schau trug.

Margarete trug ein knielanges Kleid mit Spitze in Rostrot, das sie eigens für die Kreuzfahrt gekauft hatte. Veitl hatte sich extra in ein Hemd gezwungen und sogar eine Krawatte angelegt, weil die Kleiderordnung an Bord das so vorsah. Da standen sie nun vor all der Pracht und Herrlichkeit und fühlten sich schrecklich provinziell.

Das exquisite Buffet ließ für anspruchsvolle Kreuzfahrer keine Wünsche offen. Dort türmten sich Speisen aus aller Herren Länder: italienische Antipasti, spanische Tapas, eine Salatauswahl, die allein schon vier laufende Meter Auslage einnahm, sowie Suppen mit verschiedenen Einlagen. Margarete zählte acht verschiedene Sorten Oliven in weiten Schüsseln, von kleinen schwarzen mit Kern aus Italien, über grüne mit Mandelfüllung aus Spanien, bis hin zu golfballgroßen griechischen. Die Hauptspeisen wurden à la minute an Show-Cooking-Stationen zubereitet und vom Koch persönlich gereicht. Für den ersten Abend hatte man ein französisches Coq-auvin zur Auswahl, daneben eine Fischstation mit Kabeljau oder Seesaibling und ein Stück aus der Keule vom Schwäbisch-Hällischen Landschwein direkt vom Grill. Die Beilagen warteten in gut gefüllten, blank geputzten Rechauds darauf, ausgewählt zu werden.

Nachspeisen gab es in kleinen bunt dekorierten Förmchen, und überhaupt war die Deko an allem das Beste.

„Schau dir bloß amal die Deko an!“, konnte Margarete diese deshalb nicht unerwähnt lassen und bestaunte sie mit leuchtenden Augen. „Der Vicky hat scho mal erzählt, dass de an Bord a ganzes Bataillon Köche ham, de nur für die Obstschnitzereien zuständig san. De schnitzen aus ana Ananas an Pfau, oder aus a Melone a ganzes Kunstwerk wie da die Venus von dem Dingens.“

„Ja dann, auf geht’s. Pack ma’s an“, forderte Veitl, denn sein Magen knurrte bereits vernehmlich.

Die Kuchen und Törtchen formten eine Nachbildung des Schiffes und über dem Fischbuffet hingen lebensgroße Repliken der zu verzehrenden Meerestiere. Obstberge türmten sich in einer Art Marktstand, vor dem Margarete beeindruckt stand. Sie erkannte Äpfel, Birnen, Trauben, ganze Ananas, Melonen und Pflaumen, Pfirsiche, Nektarinen, Orangen, Bananen, Maracujas, Mangos und Papaya. Daneben gab es Früchte, die sie so noch nie gesehen hatte. Die kleinen Tafeln zeigten, welche fruchtigen Exoten das Schiff noch zu bieten hatte: Drachenfrucht, Karambole, Physalis, Litschis, Naschi, Khaki, Granatäpfel, Kaktusfeige und Tamarillo. Auf der ganzen weiten Welt schien es nichts zu geben, was dieses Schiff nicht geladen hatte.

Veitl stand indes atemlos vor der Käseauswahl. Das Käse schließt den Magen-Dessertbuffet umfasste geschätzt vierhundert Sorten: Weichkäse, Hartkäse, mit Blauschimmel, mit Kümmel oder Pfefferkörnern, in Salzlake oder im Blütenmantel, streichfähig oder im ganzen Laib. Käse aus Frankreich, aus der Schweiz, österreichischen, holländischen und belgischen, bekannte deutsche und weniger bekannte Sorten aus Spanien, Italien oder sogar aus der Türkei. Kuhmilchkäse aus Rohmilch, pasteurisierter und auch Heumilch, aus Schafs-, Ziegen- und sogar Eselsmilch.

Veitl und Margarete waren schier sprachlos, bis ein livrierter Kellner sich schließlich ihrer annahm. „Herr und Frau Veitl?“, fragte er freundlich. Es klang mehr wie eine Feststellung. „Ihr Sohn Benedikt hat mich heute auf Sie angesetzt. Er hat noch Dienst und ist deshalb leider verhindert, Sie zum Essen zu begleiten. Darf ich Sie zu Ihrem Tisch führen?“

Margarete nickte stumm, erschlagen von den vielen Eindrücken. Auch Veitl stand noch ganz unter Schock aufgrund des riesigen Buffets. Der Kellner, der sich ihnen als Antonio vorstellte, führte sie zu einem Tisch direkt an der Glasfront. Von dort hatte man einen atemberaubenden Blick hinaus aufs Meer, wo die Sonne sich eben anschickte, als fulminanter, glutroter Ball im Ozean zu versinken.

„Des muss's Paradies sein“, murmelte Margarete fassungslos.

Antonio kehrte mit den Weinkarten zurück. „Wenn ich etwas empfehlen darf: der Château Clerc Milon Rothschild 1995 Paulliac AOC, eine Cuvée aus Cabernet-Sauvignan, Merlot, Cabernet Franc und Petit Verdot, passt sehr gut zu unserer heutigen Speisenauswahl. Sie werden von dem raffinierten Bukett aus reifen Kirschen und roten Beeren und der zarten Note von Lakritze begeistert sein. Er verfügt über einen vollmundigen Nachhall mit reifen Tanninen; ein Wein von echter Finesse. Oder wenn Sie Weißwein bevorzugen, kann ich Ihnen den Chablis ans Herz legen. Wir führen einen Chablis AC von 2014 aus dem Hause Domaine des Héritières aus einhundert Prozent Chardonnay, er passt mit seinem fruchtigen Aroma von Mangos, Ananas und Zitrus und seiner leichten Mineralität hervorragend zu Fisch und Meeresfrüchten. Zuerst überwiegt die fruchtig-frische Note, im Abgang kommen weiche, blumige Komponenten dazu, mit einer angenehm ausgebauten Säure. Als Aperitif empfehle ich heute außerdem ein Glas von unserem spanischen Jahrgangssekt Cava Reyes de Aragon von Bodegas Langa aus dem Calatayud, dagegen lassen Sie jeden Champagner stehen, das verspreche ich Ihnen! Die feine Perlage dieses aus hundert Prozent Chardonnay-Trauben in Bio-Qualität hergestellten Perlweins unterstreicht die intensiven, fruchtigen Aromen von Äpfeln, Pfirsichen und Quitten, gepaart mit einem lebhaften Nachhall.“

Margarete begann nervös in der Karte zu blättern, Veitl dagegen, der von Haus aus kein Weintrinker – geschweige denn -kenner – war, legte die Weinempfehlung gleich zur Seite und fragte: „Habt's ihr kein Bier hier?“

Antonio antwortete unverändert zuvorkommend und ohne mit der Wimper zu zucken: „Doch, selbstverständlich. Amstel oder Fosters vom Fass, Budweiser oder Guinness aus der Flasche und für Sie, als Kenner der bayerischen Braukunst, vielleicht am ehesten ein Franziskaner Weißbier aus München?“

Veitl strahlte über das ganze Gesicht: „Siehgst, so komm'ma ins Geschäft. So eins nehm i.“

Margarete strafte ihn mit einem Blick, der sagte: Musst du uns schon wieder blamieren?

Veitl zuckte bloß die Achseln. Der um seine Gäste bemühte Kellner hatte es doch schließlich selbst angeboten.

Einer apokalyptischen Plage gleich, fielen die knapp tausend Reisenden über das paradiesische Buffet her. An den diversen Stationen bildeten sich lange Schlangen, und obwohl die Köche und Kellner mit heinzelmännchenhafter Geschwindigkeit die leergefressenen Platten und Terrinen sofort wieder auffüllten, entstand in den Köpfen der Hungrigen anscheinend der Eindruck, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel auf den Teller häufen zu müssen, um nicht leer auszugehen.

Veitl stand völlig überfordert zwischen den vielen Menschen und den exotischen Speisen und konnte sich nicht entscheiden. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit zu Margarete an den Tisch zurückkehrte, überfiel ihn seine Frau mit einem Sturm der Begeisterung: „Hast du des gsehn? Also des Buffet … i muss morgen unbedingt Fotos machen, wenn i davon auf meim Blog erzähl, glauben mir des die Leut sonst bestimmt ned! Und die Qualität! Des is wirklich alles ganz hochwertige Ware. I hab mi da mit einem von den Köchen an so a Station unterhalten, es gibt jeden Tag vier vegetarische Vorspeisen und sogar drei komplett vegane. De ham da extra an Koch an Bord, der hat bei dem Attila Dingsbums glernt, weiß schon, dem veganen Starkoch! Unglaublich, oder?“

Veitl erwiderte nichts. Vegan war seine Ausbeute vom Buffet zwar nicht, allerdings hatte er auf seinem Teller nicht viel mehr als Kartoffelsalat, etwas, das aussah wie eine Frikadelle, und einen Klecks Senf.

„Is des alles, was du isst?“, fragte Margarete erstaunt, die ihrerseits den Teller mit einem Löffel von so ungefähr jeder Vorspeise des riesigen Buffets vollgehäuft hatte. „Und was hast jetz da so lang gmacht? I hab scho dacht, du findst nimmer her.“

Veitl murmelte unglücklich: „Mir san des z'viel Leut! Und z'viel Auswahl.“ Er begann in seinem Kartoffelsalat zu stochern. „I kenn ja da 's meiste gar ned und dann weiß i ned, ob i des überhaupt mag.“

„Da steht doch überall dran, was des is“, krittelte Margarete. „Und des sogar in drei Sprachen!“

„I kann aber da ned so lang davor stehen bleiben, bis i des alles glesen hab, da drucken's ja dann von hint scho wieder nachher! Ma hat des Gfühl, de Leut ham alle extra vierzehn Tag vorher nix mehr gessen, damit's da jetzt richtig reinhaun können. Direkt ekelhaft is des teilweis“, verteidigte er sich.

Da musste Margarete ihm nun doch recht geben. Die Leute trugen Teller zurück zu den Tischen, die vermuten ließen, dass der Inhalt für den Rest der vierzehntägigen Fahrt reichen sollte.

„Warum bist denn dann ned zum Vicky hingangen? Der hätt dir doch was empfohlen“, konnte Margarete sich einen weiteren Tadel nicht verkneifen.

„Zum Vicky? Wieso? Wo hast den gsehen?“

„Na, der steht doch hinter der einen Kochstation, da beim Fisch!“

Resigniert schob Veitl sich eine Gabel von seinem Kartoffelsalat in den Mund. Dann noch eine. Und noch eine. Da hellte sich seine Miene schlagartig auf. „Aber des muss ma eana jetzt doch lassen, von dem veganischen Zeugs da versteh i ja nix, aber Kartoffelsalat hab i selten an bessern gessen. Des können's!“

24. Dezember 2017

Der Heilige Abend an Bord fühlte sich irgendwie unwirklich an. Zu Hause hätte Margarete jetzt das ganze Haus auf den Kopf gestellt und mit dem Weihnachtsschmuck dekoriert, den sie teilweise von ihrer eigenen Oma geerbt hatte.

Sie hätte gebacken und zubereitet, um ihre Lieben drei Tage lang verwöhnen zu können. Am Heiligen Abend dann gehörte im Hause Veitl das Bedauern, dass man wieder einmal keine weißen Weihnachten haben würde, ebenso zur liebgewonnen Tradition wie die Christmette und der Stollen.

Heuer war alles anders.

Die Weihnachtsdekoration, da war man sich einig gewesen, konnte dieses Jahr im Schrank bleiben. Bis Margarete und Flori Veitl wieder in ihrer Landshuter Wohnung sein würden, war bereits das neue Jahr angebrochen, und nach Dreikönig hatte man ja eh keine Lust mehr auf Tannengrün und Sterne. Schweren Herzens hatte Margarete also darauf verzichtet, das Haus zu schmücken. Gebacken hatte sie trotzdem. Trotzig hatte sie den Teig geknetet und auf dem Küchentisch ausgerollt, wenigstens ein paar Vanillekipferl und Zimtsterne hatte sie machen wollen.

Doch auch auf der Vasco da Gama war über Nacht der Weihnachtswahnsinn ausgebrochen. Das Kreuzfahrtschiff hatte sich in die kitschigste Weihnachtshölle verwandelt, die sich nur denken ließ. Um jedes Treppengeländer wanden sich künstliche Tannenzweige, von den Decken hingen Mistelzweige aus Plastik, überall funkelten Sterne in Silber, Gold und Rot. Tannenbäumchen, über und über mit Lametta und Kugeln beladen, standen in jeder Ecke, darunter türmten sich Päckchen, eingewickelt in schillerndes Goldpapier, das das Licht reflektierte. Im Eingangsbereich des Hauptspeisesaals parkte Santas Schlitten mit überlebensgroßen Rentieren davor, deren plüschige Nasen schon ganz abgewetzt vom ewigen Streicheln waren.

Schon zum Frühstück hatte man die blütenweiße Tischwäsche durch grüne, rote und goldene ersetzt, das Buffet bog sich unter Lebkuchen, Christstollen, Baumkuchen und Plätzchen, der Geruch von Zimtstangen, Orangen und Gewürznelken hing über allem.

Margarete drehte nachdenklich den kleinen geschnitzten Weihnachtsmann zwischen den Fingern, der zur heutigen Tischdeko gehörte, und murmelte: „Sie bemühen sich ja scho recht, aber so a richtige Stimmung kummt do irgendwie trotzdem ned auf …“

„Mei, des is halt ned desselbe, wie wenn ma daheim is, des is scho klar“, pflichtete Veitl ihr bei. „Aber des hamma ja vorher gwusst, ned?“

Auch die Crew trug heute dem Anlass entsprechend rotweiße Zipfelmützen oder Elchgeweihe auf dem Kopf. Antonio, ihr treuer Schatten seit dem gestrigen Abendessen, begrüßte sie fröhlich und am Revers seiner Uniform blinkte eine bunte Lichterkette.

„Heute Abend gibt es unser Christmas Dinner mit Truthahn, Gans und Karpfen. Anschließend sollten Sie die traditionelle Endeavour X-mas Showgala nicht verpassen, sie findet ab zwanzig Uhr im großen Theatro statt. Ich will noch nicht zu viel verraten, aber wir haben einen Special-Guest an Bord …“, erklärte Antonio augenzwinkernd.

„An Spezialgast, ja sowas. Da samma aber gspannt“, sagte Veitl mit mehr Enthusiasmus in der Stimme, als er augenblicklich empfand. Doch er kannte die niedergedrückte Stimmung bei seiner Frau schon aus der Zeit gleich nach ihrem Umzug nach Landshut. Er wollte jetzt wegen der Feiertage nicht wieder so etwas erleben.

Antonio tänzelte davon und Veitl dirigierte Margarete ans reich bestückte Frühstücksbuffet.

Nach dem Frühstück ging Veitl sich auf der Kabine vom Stress des Buffetkampfes erholen und Margarete schlug den Weg zum Fitness & Spa Club ein. Benedikt hatte seiner Mutter auch Yoga und viele andere Kurse an Bord in Aussicht gestellt.

Tatsächlich hatte das morgendliche Yoga-Programm eben begonnen. Margarete beobachtete die Gruppe bewegungslustiger Damen, die in einem hellen Gymnastikraum mit ganzseitiger Glasfront in eleganter Sportkleidung den Übungen folgten. Das Training wurde geleitet von einer Kreuzung aus Jane Fonda in den frühen Achtzigerjahren und Sacha Baron Cohen im Film Borat. Er – oder sie? oder es? – trug einen silbernen Glitzer-Ganzkörperanzug, der so hauteng war, dass er, zumindest untenherum bei näherer Betrachtung doch keinen Zweifel zuließ, dass es sich um ein männliches Wesen handelte. Auf dem Kopf trug er einen winzigen Dutt aus langen, öligen, pechschwarzen Haaren mit blinkenden Rentierhörnern. Margarete konnte den Blick gar nicht abwenden, er haftete in einer Mischung aus Faszination und Grauen an der seltsamen Erscheinung.

Das Wesen musste den Blick gespürt haben, denn es strahlte Margarete von einem Ohr zum anderen an und gestikulierte wild mit den Armen, sie solle hereinkommen.

Margarete folgte der Aufforderung mit Skepsis und drückte die Klinke der Glastür. Augenblicklich schallte ihr in ohrenbetäubender Lautstärke frenetische Musik entgegen. Die Glastüren isolierten offenbar kolossal gut.

„Hola Chica! Willkommen bei unsere crazy Yoga-Training! Venga, venga! Mach mit!“, rief ihr das glitzernde Rentier-Double zu.

Margarete stellte sich in der letzten Reihe schnell auf eine freie Matte und kopierte die Haltung der Dame zu ihrer Linken.

„Vamos amigas! Yo soy Enrico y esta es unser crazy X-mas Yoga! Venga, venga!“, brüllte der eigenwillige Trainer gegen den Lärm der Musik an.

Das Lied hatte gewechselt, jetzt drang eine Version von Last Christmas aus den Boxen, die klang, als interpretiere Donald Duck auf Speed die größten Weihnachtshits der Achtziger. Aber Margarete hatte keine Gelegenheit, sich über die Musik Gedanken zu machen, denn der mutmaßlich südamerikanische Yoga-Trainer nahm sie und die anderen Damen ordentlich in die Mangel.

Anderthalb Stunden später kehrte Margarete verschwitzt und seltsam beschwingt zu Veitl in die Kabine zurück. Der hatte sich warm eingepackt und hing entspannt in der Hängematte auf dem Balkon. Durch sein Gewicht berührte er dabei fast mit dem Hintern den Balkonboden, doch er genoss sein Plätzchen augenscheinlich nichts desto trotz.

Die Vasco befand sich nun mitten im Ärmelkanal zwischen Großbritannien und dem europäischen Festland und hatte Kurs auf Southampton genommen. Vor dem verglasten Balkon der Veitls zogen träge Wellen mit gekräuselten Kämmen vorbei. Von Zeit zu Zeit kam ein Containerschiff oder eine Fähre ins Blickfeld, über denen Möwen kreisten und ihren Unmut hinaus in den bewölkten Himmel kreischten.

„Schee is des, ha? Sag selber!“, fasste Veitl zufrieden zusammen. „Und endlich amal keine Büroarbeit!“

Abends gesellte sich endlich auch Benedikt zu ihnen und leistete seinen Eltern beim weihnachtlichen Dinner Gesellschaft. Vicky war zwar auch da, hatte aber wieder Dienst hinter einer Kochstation. Im Kontrast zu seiner weißen Kochmütze und der Kochjacke sah seine Haut noch dunkler aus. Veitl fragte Benedikt beiläufig: „Wer war jetzt da eigentlich der Neger in der Familie vom Vicky?“

Margarete sah pikiert von ihrem Vorspeisenteller auf: „Geh, Neger sagt ma doch ned!“

„Was soll i denn sonst sagen? Maximalpigmentierter mit afrikanischem Migrationshintergrund? I mein des ja ned bös. Im Schwabenländle, wo er aufgwachsen is, is ma normal halt ned so braun, oder?“, verteidigte sich Veitl.

Benedikt sah an diesem Festtag über die Kabbelei seiner Eltern hinweg und antwortete: „Sein Vater stammt aus Angola, seine Mutter ist Deutsche.“

„Des spielt ja für uns sowieso keine Rolle, Hauptsach ihr habt's euch gern“, betonte Margarete und bedachte Veitl mit einem giftigen Seitenblick.

„Hab i was andres gsagt?!“, erwiderte Veitl und wechselte dann schnell das Thema: „Was wird jetzt dann da heut Abend alles geboten?“

Benedikt machte ein vielsagendes Gesicht: „Lasst euch überraschen! Ich darf noch nichts verraten. Aber wir haben ein paar ganz besondere Showacts an Bord.“

„Schowäkts glei? Na, da bin i aber gspannt“, entgegnete Veitl trocken.

Benedikt grinste. „Dürft ihr auch sein! Vor allem du, Mama …“

„Wer, i? Wieso i?“, wunderte sich Margarete.

„Weil du ganz bestimmt begeistert sein wirst.“

„D'Mama war scho vom Yogalehrer total begeistert heut“, hielt Veitl schmunzelnd dagegen.

Benedikt lachte. „Wer war denn da? Der Enrico? Der ist die Schau, ja. Aber gut! Der hat echt was drauf. Seine Aquazumbakurse sind heiß begehrt.“

„Aqua-was?“, wiederholte Veitl und schob sich eine große Gabel Nudelsalat in den Mund. Seine anfängliche Zurückhaltung am Buffet war inzwischen verflogen.

„Zumba. Weißt du, Papa, das ist sowas wie Aerobic früher. Heißt halt jetzt Zumba und man hat dafür so lateinamerikanische Musik“, tat Benedikt die Frage ab.

„Aha. Naa, des Gehüpfe is nix für mi“, winkte Veitl mit vollem Mund ab und fragte stattdessen: „Was empfiehlst jetzt als Hauptgang?“

„Probiert mal den Truthahn, der ist nach englischem Originalrezept zubereitet, sehr lecker“, schlug Benedikt vor.

„Ah, naa, so an Puter mog i glaub i ned. Und de Engländer und ihr Küche … na ja … i weiß ned recht …“

„Dann vielleicht von der Barbarie-Entenbrust auf Rotkohl mit zweierlei Knödel? Da machst du sicher nix verkehrt.“

Margarete kehrte mit einem von Vicky eigens für sie zubereiteten Lachsfilet zurück. Nach dem ersten Bissen verdrehte sie die Augen und sagte schwelgend: „Mmmmmhhh … also direkt himmlisch!“

Benedikt nickte triumphierend. „Der Lachs ist ein Gedicht, ja. Der wird ganz langsam auf der Haut gegart.“

„Also, kochen kann er auf jeden Fall, dein Vicky“, räumte Veitl gönnerhaft ein und die heiße Entensoße troff ihm vom Kinn.

„Siehste, Papa, da hat er deinem anderen Schwiegersohn schon mal was voraus.“

Benedikts Schwester war mit einem niederbayerischen Landwirt verheiratet, in dessen Weltbild die Homosexualität seines Schwagers schlecht passte, was das Verhältnis der Geschwister nicht unwesentlich belastete.

„Ja mei, dei Schwester führt halt a eher traditionelles Leben. Des muss ja deswegen ned alles schlecht sein“, erklärte Veitl diplomatisch. „Der kann halt andre Sachen. Es kann ja ned a jeder alles können, ned wahr?“

Nach dem Dessert waren die drei rechtschaffen vollgefressen. Irgendwie stand Veitl und Margarete der Sinn mehr nach einem gepflegten Verdauungsschläfchen, doch Benedikt bestand darauf, dass sie die Show keinesfalls verpassen durften.

Vicky, der nun auch frei und eine Ausnahmegenehmigung bekommen hatte, hatte sich rasch umgezogen und gesellte sich zu den drei Veitls.

„Das ist der Vorteil meiner neuen Position“, sagte Benedikt und legte demonstrativ den Arm um Vickys Schulter. „Ich muss mir als Chefsteward nicht mehr dauernd einen Passagierschein holen, wenn ich mich unter die Gäste mischen will. Im Gegenteil, ich darf die Dinger sogar ausstellen!“

Vicky zwinkerte ihm neckisch zu und konterte: „Zom Gligg bin i mit em Chefsteward befreindet, do ko e ma a Genehmigung gäba lassa. In da Kich isch sonst ällas subba und i hann ma Ruh!“

Im festlich geschmückten Theatro, das sich über die vier Hauptdecks erstreckte, herrschte bereits auf allen Rängen vorfreudiges Gedränge. Die Veitls hatten, dank Benedikt, exklusive Sitzplätze in der ersten Reihe unmittelbar am Bühnenrand. Von der Hauptbühne reichte ein Steg zwischen die gepolsterten Sessel mit den kleinen, runden Tischchen dazwischen, der zu einer zweiten, sternförmigen Satellitenbühne mitten im Raum führte. Noch war der glitzernde Vorhang fest geschlossen.

„Was wollt ihr trinken?“, fragte Benedikt in die Runde.

„An Glühwein vielleicht, ha? Gibt's sowas?“, fragte Margarete unsicher.

Vicky schwäbelte: „Nadierlich hem ma Gliehwei do, isch ja Weihnachda.“

Margarete seufzte. „Ja, aber so richtig wie Weihnachten fühlt sich des für mi ned an. Es is irgendwie scho komisch, wenn ma ned daheim is. Dabei hätt'ma heuer amal mit de Enkerl feiern können. Alle miteinander …“

Benedikt verzog schmollend das Gesicht. „Ich finde das jetzt ein bisschen ungerecht, Mama. Da bieten wir dir so eine tolle Reise und du kannst ausnahmsweise mal mit deinem Sohn Weihnachten feiern, und dann jammerst du nur, dass du nicht daheim bist. Bei Andrea und den Kindern. Die hast du doch jetzt eh das ganze Jahr. Alles auf einmal geht halt nicht …“

Sofort lenkte Margarete ein: „Hast ja recht. I sag ja a ned, dass's ma ned gfallt hier. Ganz im Gegenteil.“

„Dei Mutter is halt a alte Hehn, die ihre Singerl am Heilig Abend am liebsten alle unter ihrm Flügel hätt“, ergänzte Veitl grinsend.

Vicky schlang die Arme um Margarete und sagte treuherzig: „Hajo, jetz hasch ja uns!“

Margarete tätschelte Vicky die dunkelbraune Wange und pflichtete ihm bei: „Habt's ja recht! Jetzt mach'ma uns an recht schönen Abend, wir vier!“

Als Benedikt mit den Glühweintassen zurückkam, trat gerade der Unterhaltungschef des Schiffes vor die Wartenden.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie erwarten sicher mit Spannung den Höhepunkt unseres heutigen Abends, und ich glaube, ich verspreche nicht zu viel, wenn ich Ihnen eine kleine Sensation in Aussicht stelle! Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut und Ihnen ein ganz zauberhaftes Showprogramm zusammengestellt, das Sie auf unserer Reise über den Atlantik begleiten wird. Freuen Sie sich auf die Crème de la Crème des Varietés, der Zauberkunst, der Akrobatik und natürlich ganz besonders auf unsere musikalischen Highlights! Ich möchte Sie nun nicht länger auf die Folter spannen, meine Damen und Herren: Hier ist er! Unser Showstar … unser Schlagerkönig … der unvergleichliche … der einzigartige … der Titan des deutschen Schlagers! … Begrüßen Sie mit mir: Roman Jung!“ Die letzte Silbe verschluckte frenetischer Applaus und hysterische Schreie. Vor allem die älteren Damen an Bord – so wie Margarete – waren ganz aus dem Häuschen, als der Vorhang sich öffnete und der Angekündigte wirklich und wahrhaftig vor sein völlig überraschtes Publikum trat.

„Oh!“, machte Margarete schnappatmig.

„Gell, da hab ich nicht zu viel versprochen, Mama?“, grinste Benedikt.

Margarete war ein großer Schlagerfan und Roman Jung hatte in den Siebziger- und Achtzigerjahren zu ihren absoluten Favoriten gehört. Seit einiger Zeit war es nun schon still um den Sänger geworden, er war auch deutlich in die Jahre gekommen. So aus der Nähe, von direkt unterhalb der Bühne, war das unverkennbar.

Veitl lästerte: „Der hat aber seine besten Tage a scho hinter sich, ha? Kann der überhaupt no allein auf d'Bühne geh, dass der da kein so a Rollwagerl braucht?“

Margarete meinte schnippisch: „Der is fitter als du, mein Lieber, und des in seim Alter! Bin i gspannt, ob du a no so gut beinand bist, wenn du amal so alt bist wie der!“

„Schau ma mal, ob i überhaupt so alt werd. Der is doch bestimmt scho achtzig, oder ned?“

Benedikt zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Kann schon sein.“

„Der is noch keine achtzig!“, widersprach Margarete trotzig. „So lang is des a no ned her, dass der seine großen Hits ghabt hat.“

„Kommt mir scho so vor“, beharrte Veitl unbeirrt. „Wann war des? In de Achtziger? Der war ja da scho nimmer jung und des is dreißig Jahr her!“

Vicky warf fröhlich ein: „Ei, die Achtzigerjoha häde gern erlebt. Do war i no a glois Kendle. Subba Zeit war des!“

Und prompt stimmte Roman Jung einen seiner großen Hits aus den Achtzigern an und alle sangen aus voller Kehle mit:

Adios, mi amor

Adios, klang es mir im Ohr

Adios, das heißt Good-bye

Adios, wenn es aus ist für uns zwei.

Margarete wippte im Takt der Melodie und schwelgte in Erinnerungen. Veitl hingegen konnte es nicht lassen und feixte weiter: „Singt der allerweil no de alten Kamellen? Des wird dem a scho ganz schee aus'm Hals raushängen, wenn er seit dreißig Jahr immer denselben Schmarrn singen muss.“

Doch auch wenn er es nie zugegeben hätte, auch Veitl amüsierte sich an diesem Abend. Und so kehrten sie erst spät und ordentlich erledigt vom Mitsingen, Klatschen und Lachen zu ihrer Kabine zurück, wo sie sich noch aus der Minibar einen Absacker genehmigten, weil sie zu aufgewühlt waren, um sofort schlafen zu gehen.

Sommer 1984

„Wie machst du das bloß, sag mal?“ Jürgen Gmeiner, der Boss des Plattenlabels Endless-Records, klatschte vor Begeisterung seine Wurstfinger auf die nackten Knie.

Er saß aufgrund der Hitze in Bundfalten-Shorts und Kurzarm-Hawaiihemd am Schreibtisch, unter dem ein Ventilator rödelte, aber unter seinen Achseln bildeten sich trotzdem bereits enorme Schweißflecken. Gmeiner versuchte auszusehen wie Tom Selleck in Magnum, tatsächlich erinnerte er eher an den unehelichen Bruder des Komikers Jürgen von der Lippe. Der Drei-Zentner-Mann schnaufte wie ein Walross, als er fortfuhr: „Du bist mein bestes Pferd im Stall, Roman, und das weißt du genau, nicht wahr?“

Roman Jung lächelte bescheiden. „Man tut, was man kann.“

„Und du kannst, mein Lieber, du kannst! Adios hat Gold-Status, kaum dass die Single auf dem Markt erhältlich ist. Ich hatte noch keine Record, die das schneller geschafft hätte.“

Roman Jung stand mit neununddreißig Jahren auf dem absoluten Höhepunkt seiner Karriere. Jetzt erntete er endlich die Lorbeeren für seine jahrzehntelange Arbeit. Jung machte Musik seit er denken konnte, und nie hatte er etwas anderes gewollt, als damit erfolgreich zu sein. Der deutsche Schlager war nicht unbedingt seine Wunschliga, er hätte auch ein erfolgreicher Jazzmusiker werden können. Allerdings war mit Jazz derzeit einfach