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Matthias Uhl

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Beschreibung

Die GRU, der russische Militärgeheimdienst ist einer der effektivsten und geheimsten Nachrichtendienste weltweit. Bis heute gibt es im Westen kaum gesicherte Informationen über die GRU, vor allem, weil bis in die Gegenwart kaum ein Dokument aus den Archiven der GRU zugänglich ist.​ Das Buch stellt erstmals für einen breiten Leserkreis die Geschichte der GRU von ihrer Gründung 1918 bis heute dar. Matthias Uhl kann dabei auf Dokumente aus dem legendären Archiv des Militärgeheimdienstes zurückgreifen. Zudem lüftet er die Identität des GRU-Agenten »Murat«, der Moskau in den 1950er und 1960er Jahren Hunderte streng geheime Unterlagen aus dem NATO-Hauptquartier geliefert hat. Und beleuchtet Operationen und Spionageaktionen während des Kalten Krieges und des heutigen Russland – bis hin zu Mordanschlägen in Westeuropa sowie zum Einsatz der GRU bei der Besetzung der Krim und im Ukraine-Krieg.​

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Matthias Uhl

GRU

Die unbekannte Geschichte des sowjetisch-russischen Militärgeheimdienstes von 1918 bis heute

Impressum

wbg Theiss ist ein Imprint der Verlag Herder GmbH

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

Umschlaggestaltung: Agentur Hißmann & Heilmann, HamburgLektorat: Ute Maack

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print: 978-3-534-61012-9ISBN E-Book (EPUB): 978-3-534-61038-9ISBN E-Book (PDF): 978-3-534-61042-6

Inhalt

Einleitung
Entstehung und Entwicklung bis zum Ende des Zarenreiches
Sowjetunion
Die Russische Föderation, Putins Herrschaft
Die Forschungslage

I.DIE ORGANISATIONSGESCHICHTE DER RUSSISCHEN MILITÄRAUFKLÄRUN

1.Vom Zarenadler zur Roten Fahne – der Militärgeheimdienst des russischen Zarenreiches bis 1917

Die Anfänge bis zur Gründung des militärischen Geheimdienstes
Napoleons Feldzug gegen Russland 1812
Russisch-Türkischer Krieg 1877–1878
Russisch-Japanischer Krieg 1904/1905
Die Reformen seit 1906
Erster Weltkrieg

2.Zwischen Weltrevolution und »Sozialismus in einem Land« – die militärische Aufklärung in den 1920er- und 1930er-Jahren

Konkurrenz zwischen Tscheka und GRU, Bildung der INO
GRU-Tätigkeit in Deutschland
Aufbau der Residenturen im Ausland und die Komintern
Aufgabenprofilierung seit Mitte der 1920er-Jahre – Aufbau von Spionagenetzen
Die Krise Anfang der 1930er-Jahre – Enttarnungen von Agentennetzen
Reorganisation
Willi Lehmann – einziger Sowjet-Agent in der Gestapo
Quellen im Auswärtigen Amt, »Salon«-Spionage und »Honigfallen«
Erste »ethnische Säuberungen« und Stalins Misstrauen gegen die GRU

3.Die »Säuberungen« Stalins in der GRU

Verstärkte Überwachung der GRU durch den NKWD
Die erste Verhaftungswelle
Zerschlagung personeller Netzwerke
Austausch der alten Führungsgarde
Die Bilanz
Die verhängnisvollen Auswirkungen der »Säuberungen« für die GRU

4.Die GRU im Zweiten Weltkrieg

Der Angriff der Wehrmacht im Juni 1941 – Probleme des Kriegseinsatzes der GRU
Agenten melden deutschen Angriff auf Moskau
Vergebliche Warnungen: Stalin sitzt dem deutschen Täuschungsmanöver »Kreml« auf
Die Wehrmacht rückt auf Stalingrad vor
Die »Rote Kapelle« fliegt auf
Erneute GRU-Umbildung August 1942 – Abhängigkeit vom NKWD
Erfolge der Funkaufklärung – die Schlacht um Stalingrad
Die Papierflut: Lageberichte und ihre Analyse
Reorganisation der Truppenaufklärung der Roten Armee
Die GRU und das Unternehmen »Zitadelle«
Die Gegenoffensive »Kutusow«
Funkspiele mit enttarnten Doppelagenten
Fehlschlüsse zur Sommeroffensive der Roten Armee – eine Desinformationskampagne der GRU?
Operation »Bagration«
Verhandlungen über einen Separatfrieden und Churchills »Operation Unthinkable«

5.Die GRU im Kalten Krieg

Radikale Umbildung der Nachrichtendienste – die Schaffung einer Superbehörde, das Komitee für Information
Schwerpunkt USA
Westeuropa und die Bundesrepublik im Fokus
Die Nachrichtendienste unter Chruschtschow – vom Rohbericht zur Analyse
Berlin-Krise 1958
Aufrüstung und Rüstungswettlauf
»Rüstungswirtschaftliche Maßnahmen der BRD«
Aufrüstung der US Air Force – kosmische Waffen, Atomraketen, Abwehrsysteme
Die sowjetische »Raketenlücke«
Der Mauerbau
Die Kuba-Krise
Die GRU in den 1960er-Jahren unter Pjotr Iwaschutin
GRU-Offizier Nikolaj D. Tschernow im Dienst des FBI
Die 1970er- und 1980er-Jahre: die GRU verstärkt die Wirtschafts- und Rüstungsspionage
Die GRU-Struktur der 1970er- und 1980er-Jahre
Die selbstständigen Direktionen und Abteilungen
Die Militärdiplomatische Akademie
Spannungen zwischen GRU und KGB
Die GRU unter Wladen M. Michajlow bis zum Ende der Sowjetunion

6.Handlanger der Macht – die GRU unter Putin

Die Ära Fjodor I. Ladygin – mit Geschick durch die postsowjetische Krisenzeit
Karger Sold und Nebeneinkünfte. Die Affäre »Sowinformsputnik« 1995
Walentin W. Korabel’nikow übernimmt die GRU
Verteidigungsminister Iwanow reorganisiert die GRU – Die neue Zentrale
Zwiespältige Bilanz der Ära Korabel’nikow – gewaltsames Vorgehen und Fehlschläge in den postsowjetischen Staaten
Igor’ D. Sergun tritt an – »grüne Männchen« und »nicht lineare Kriege«
Igor’ W. Korobow: Cyberattacken, Putschversuch, Giftmorde
Igor’ O. Kostjukow – Ausbau der Speznas-Einsatzkräfte und »militärische Spezialoperation«

II.Die Arbeitsgebiete des Dienstes

7.HUMINT – von Agenten und Residenten

Die Anwerbung der Quelle »Murat«
»Murats« Beginn der Lieferungen
Der erste große Coup – der »Atomic Strike Plan« Nr. 110/59
»Murats« neuer Führungsoffizier, die Pannen häufen sich
Der »Atomic Strike Plan« Nr. 200/61
Ljubimow und »Luisa« treten auf den Plan
Flut der Geheimdokumente
Ljubimow bleibt Führungsoffizier – die Dokumentenflut hält an
Ljubimow kehrt nach Moskau zurück – System der toten Briefkästen
Die GRU trennt sich von »Murat«

8.SIGINT – die Fernmeldeaufklärung des russischen Militärgeheimdienstes

Funkaufklärung und Funksicherheit in der Zarenarmee – unterschätzt und versäumt
Funkaufklärung nach dem Ersten Weltkrieg
Bildung der OSNAZ-Funkabteilungen 1937
Funkaufklärung im Zweiten Weltkrieg
Funkaufklärung, das Unternehmen »Zitadelle« und die sowjetische Gegenoffensive
Die Operation »Bagration« – tiefgestaffelte Funkaufklärung
Das riskante System des Agentenfunk
Die Aufwertung der Funkaufklärung nach 1945
Die Beobachtung von AUTOVON
OSNAZ-Truppen in Deutschland
Funkaufklärung der sowjetischen Marine
Satellitenaufklärung – SIGINT aus dem All
Abhörstationen der GRU im Ausland
Internetspionage

9.TECHINT – die Atom- und Technikspionage des militärischen Nachrichtendienstes der UdSSR

Die 1920er-Jahre: Wostwag, KPD und andere als Beschaffer
Das militärtechnische Büro
1945: Das Atomwaffenprogramm der Alliierten und die deutschen Bemühungen um Kernwaffen
Rüstungstechnologische Aufholjagd, die 1950er- und 1960er-Jahre
Raketendiebstahl in Neuburg. Eine »Sidewinder«-Rakete verschwindet
Nach dem Ende des Kalten Krieges

10.IMINT – die Bild-Aufklärung der GRU

11.»Speznas« – die russischen Spezialeinheiten für den Einsatz an der »unsichtbaren« Front

Das Flottenbauprogramm und Kampfschwimmereinheiten
Das Ausbildungszentrum für Spezialtruppen und Shukows Entlassung
1957 bis 1968 – Neustrukturierung der Speznas-Kompanien
Einsätze außerhalb der Sowjetunion – Tschechoslowakei, Angola, Afghanistan
Einsatzpläne in Europa
Ausbau der Kampfschwimmereinheiten seit 1970 bis zu ihrer Reorganisation 1992
Erneuter Aufbau unter Putin seit 2014 – Syrien und Ukraine

III.Tod dem »Verräter« – Überläufer und Doppelagenten

12.Tod dem Verräter – die Ermordung von Überläufern des Militärgeheimdienstes der Roten Armee in den 1920er- und 1930er-Jahren

Der Fall Andrej Smirnow
Wladimir S. Nesterowitsch
Witold Szturm de Sztrem
Julius Trossin
Ignaz Reiss
Walter Kriwitzki

13.Der Fluch der drei »P« – die Fälle der GRU-Offiziere Popow, Pen’kowskij, Poljakow und deren Spionage für die CIA

Pjotr Popow – der erste GRU-Offizier im Sold der CIA
Der Spion der die Welt rettete? Oberst Oleg W. Pen’kowskij im Dienst von CIA und MI6
GRU-General Dmitrij F. Poljakow – das »Kronjuwel« der CIA im sowjetischen Militärnachrichtendienst

14.Giftanschlag aus Rache? – Die versuchte Ermordung von GRU-Oberst Sergej W. Skripal

Die mutmaßlichen Attentäter
Skripals Werdegang
Enttarnte Doppelagenten: Anatolij Filatow
Gennadij A. Smetanin und Wladimir Wasil’ew
Skripals Zusammenarbeit mit dem MI6
Die Enttarnung
Agentenaustausch und Beratertätigkeit Skripals
Der Anschlag und seine Botschaft
AUCH IN ZUKUNFT EFFEKTIV, AGGRESSIV UND SKRUPELLOS
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Ungedruckte Quellen
Gedruckte Quellen
Literatur
Personenregister
Abbildungsnachweis
Über den Autor

Einleitung

Die Glawnoje raswedywatelnoje uprawlenije (GRU), auf Deutsch Hauptverwaltung für Aufklärung – also der russische Militärgeheimdienst –, ist der wohl geheimste Nachrichtendienst Russlands. Die Behörde, die sich im Selbstverständnis einer über 200-jährigen Tradition sieht, kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Erste institutionelle Vorläufer des bis 1917 auch als Raswedka bezeichneten militärischen Geheimdienstes bildeten sich 1810 unter Kriegsminister Michael Barclay de Tolly heraus, dem späteren Bezwinger Napoleons, als dort die sogenannte Expedition für geheime Angelegenheiten eingerichtet wurde. Gleichzeitig begannen an den diplomatischen Vertretungen Russlands Militärattachés – damals noch als Militäragenten bezeichnet – mit der strategischen Auslandsaufklärung. 1812 entstand dann aus der Expedition für geheime Angelegenheiten die für den militärischen Nachrichtendienst zuständige Sonderkanzlei beim Kriegsministerium. Das neu geschaffene Amt verfügte mit vier Beamten nur über einen ausgesprochen kleinen Mitarbeiterstab, um geheime Aufgaben zu lösen. Die Beschaffung von nachrichtendienstlichem Material fiel deshalb im Wesentlichen den Militäragenten zu, die damals in Spanien, Frankreich, Österreich, Preußen, Bayern und Sachsen operierten. Mit der Bildung des Sonderbüros beim Kriegsministerium stand dem russischen Militär erstmals eine Organisation zur Verfügung, die systematisch den Nachrichtendienst gegen ausländische Streitkräfte betrieb. Deshalb gilt das Jahr 1812 bis heute als die Geburtsstunde des russischen Militärgeheimdienstes.1

Entstehung und Entwicklung bis zum Ende des Zarenreiches

Nach dem Ende der Napoleonischen Kriege löste Zar Aleksandr I. die Sonderkanzlei allerdings wieder auf, ihre Aufgaben übernahm ab 1815 die 1. Abteilung des russischen Generalstabes. Die Funktion der Militäragenten wurde abgeschafft. 1836 erfolgte eine Reorganisation des Kriegsministeriums, dort kam es zur Einrichtung eines Generalstabsdepartements, das aus drei Abteilungen bestand, von denen die zweite (militärwissenschaftliche) Abteilung nun nachrichtendienstliche Aufgaben erfüllen sollte. Ein Vorhaben, das jedoch nur unter großen Schwierigkeiten umgesetzt werden konnte. Erst die russische Niederlage im Krimkrieg 1856 führte zu einem Umdenken. Zar Aleksandr II. bestätigte damals eine Instruktion über die Tätigkeit der nun wieder eingeführten Militäragenten.21867 übernahm dann das Militärstatistische Komitee beim Generalstab die nachrichtendienstlichen Aufgaben der 2. Abteilung des Generalstabsdepartments. Diese neue Struktur sollte sich beständiger als ihre Vorläufer erweisen, denn bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts beaufsichtigte das genannte Komitee den militärischen Nachrichtendienst der Zarenarmee. Allerdings existierte noch immer keine klare Trennung zwischen den Bereichen Beschaffung und Auswertung. Ferner besaß das Referat keinen Zugriff auf die Truppenaufklärung bei den Militärbezirken.3

Die bittere Schlappe im Russisch-Japanischen Krieg von 1904/1905 führte zu umfangreichen Reformen in den Streitkräften des Zaren, die auch den militärischen Nachrichtendienst betrafen. Im April 1906 erfolgte endlich eine Aufteilung der Militäraufklärung in eine Beschaffungsabteilung und mehrere Auswertungsreferate. Die Nachrichtenbeschaffung lag nun beim Referat V (Aufklärung) bei der 1. Oberquartiermeisterverwaltung des Generalquartiermeisters. Die Auswertung der klandestinen Informationen erfolgte in den Referaten der 2. und 3. Oberquartiermeisterverwaltung des Generalstabes. Für die Beschaffung von Geheimmaterial sorgten zudem die Dependancen des Nachrichtendienstes in den Militärbezirken des Zarenreiches. Neben den Spionagenetzwerken des militärischen Nachrichtendienstes blieben auch die Militäragenten weiterhin eine wichtige Quelle für die Beschaffung von nachrichtendienstlichen Informationen.4

Der Beginn des Ersten Weltkrieges stellte die russische Militäraufklärung vor neue Herausforderungen, denen sie nur bedingt gerecht werden konnte. Bereits die Schlacht bei Tannenberg im Sommer 1914 zeigte, dass die Raswedka keine zuverlässigen Angaben zu den strategischen Plänen der Deutschen liefern konnte.5An der galizischen Front hingegen gelang es den russischen Streitkräften aufgrund ihrer personellen und materiellen Überlegenheit, bis Ende 1914 den größten Teil Galiziens und der Bukowina einzunehmen und den österreichisch-ungarischen Truppen hier eine schwere Niederlage zuzufügen.6

Das Fehlen einer zentralisierten Führung der Militäraufklärung erschwerte im Krieg den weiteren Nachrichtendienst des Zarenheeres. Zudem fehlte jegliche Koordination durch vorgesetzte Stellen. Insgesamt blähten sich die Agentennetze immer mehr auf. Im Herbst 1917 spionierten 46 Spionagenetzwerke mit mehr als 1000 Agenten für die Raswedka. Für deren Unterhalt musste die Militäraufklärung mit mehr als 1,5 Millionen Rubel jährlich beträchtliche Summen aufwenden.

Der Blick auf den russischen Militärnachrichtendienst während des Ersten Weltkrieges zeigt die für diese Zeit typischen Widersprüche. Zwar gelangen ihm zwischen 1914 und 1917 schrittweise Verbesserungen auf taktischer und operativer Ebene, doch verlief dieser Prozess viel zu langsam, um sich auf die Geschehnisse an den Fronten auszuwirken. Es erwies sich als bittere Ironie des Krieges, dass der Militärgeheimdienst zu einem Zeitpunkt begann, operativ nachrichtendienstlich verwertbare Informationen zu gewinnen, als Kampfkraft und Moral der Zarenarmee spürbar sanken und deren Untergang nicht mehr aufzuhalten war.7Die Revolutionen vom Frühjahr und Herbst 1917 führten schließlich zum Zusammenbruch des russischen Imperiums – und seiner Raswedka.

Sowjetunion

Doch wie sich bald zeigen sollte, brauchten auch die neuen Herrscher im Russischen Reich, die Bolschewiki, einen militärischen Nachrichtendienst, wenn sie sich weiter an der Macht halten und ihren Einfluss im Ausland ausbauen wollten. Der neu zu schaffende militärische Geheimdienst sollte jedoch nicht mehr dem Staat, sondern nunmehr der kommunistischen Partei treu ergeben sein. Die GRU selbst wurde 1918 als Registraturverwaltung der Roten Armee gegründet. Ihre Aufgabe lässt sich kurz und knapp mit Militärspionage beschreiben. Die spätere Hauptverwaltung für Aufklärung versuchte also vornehmlich an Informationen mit militärischer Bedeutung zu gelangen. Zu diesem Zweck hatten ihre Agenten im Ausland Truppenverbände jeder Art zu beobachten und Angaben über deren Struktur, Organisation und Bewaffnung zu sammeln. Weiterhin sollten Informationen über Stationierungsorte, rüstungswirtschaftliche Kapazitäten und zur politischen Stimmung in den Streitkräften beschafft werden. Haupteinsatzort war zunächst Europa, wobei sich die Nachrichtenbeschaffung neben Polen vor allem auf Deutschland konzentrierte. Allein zwischen Dezember 1918 und Januar 1920 investierte die GRU in die dortige Spionage mehr als sechs Millionen Rubel, 284 Agenten spionierten zwischen Rhein und Weichsel für den Nachrichtendienst der Roten Armee.8Aktiv waren ihre Agenten jedoch auch in Vorderasien und in Fernost. 1922 wurde die GRU dem 1. Stellvertreter des Stabschefs der Roten Armee unterstellt und 1926 zur 4. Verwaltung des Stabes erweitert. Unter der Leitung ihres Chefs Jan K. Bersin gelang es, eine straff organisierte und hoch qualifizierte Spionageorganisation zu schaffen, die 1934 in Statistische Informationsverwaltung der Roten Armee umbenannt wurde.9

Bei ihren Spionagenetzen wollte die GRU sicherstellen, dass diese auch unter Kriegsbedingungen arbeiten konnten. Zu diesem Zweck wurden in den betreffenden Ländern illegale Residenturen eingerichtet, d. h. ihre Mitarbeiter waren nicht durch einen Diplomatenstatus geschützt und sie besaßen auch keine Tarnung als Angehörige einer sowjetischen Auslandsoder Außenhandelsorganisation. Um ihre Tätigkeit im Kriegsfall sicherzustellen, verfügten die illegalen Residenturen über eigene Ressourcen sowie unabhängige Funk- und Kurierverbindungen zur Moskauer Zentrale.10

Daneben wurde in den 1930er-Jahren die Zahl der Militärattachés beträchtlich erhöht. Sie führten für die GRU die »offizielle« Militärspionage durch. Die Zahl der in den Einsatzländern tätigen Agenten hing von der Größe der Botschaft und der strategischen Bedeutung der Region ab. In wichtigen Ländern gab es neben dem Militärattaché auch noch Marine- und Luftwaffenattachés. Unterstützt wurden sie bei ihrer Arbeit von inoffiziellen Mitarbeitern der GRU, die getarnt in den verschiedensten sowjetischen Auslandsbehörden und -organisationen arbeiteten. Auch sie sammelten, wie die Attachés, offene Informationen über die Streitkräfte der betreffenden Staaten, versuchten aber auch geheime Quellen abzuschöpfen und führten eigene Agentennetze.11

Als günstig für die Anwerbung von sowjetischen Geheimdienstquellen stellte sich die politische Situation der UdSSR dar. Die Ideale des Kommunismus, die Ideen des proletarischen Internationalismus und der Solidarität mit dem einzigen sozialistischen Land der Welt erwiesen sich als guter Nährboden für die Anwerbung von Agenten. Um an dringend benötigte Quellen zu gelangen, nutzte der Militärgeheimdienst auch kompromittierendes Material und finanzielles Interesse. Dadurch vermochte es die GRU, bis Mitte der 1930er-Jahre wirksame Spionagenetze aufzubauen, die in der Lage waren, die sowjetische Partei- und Staatsführung mit den geheimen Informationen zu versorgen, die Einfluss auf wichtige Entscheidungsprozesse in Fragen der Außen- und Militärpolitik ausübten.12

Von den Massenrepressalien des sowjetischen Diktators Josef W. Stalin in den Jahren 1937 bis 1938 blieb freilich auch die GRU nicht verschont. Das gesamte Ausmaß dieses blutigen Aderlasses verdeutlicht ein Schreiben von GRU-Chef Iwan I. Proskurow vom 25. Mai 1940, der darauf verwies, dass das NKWD innerhalb der letzten zwei Jahre mehr als 200 Mitarbeiter der Militäraufklärung verhaftet hatte und die gesamte Führung des Nachrichtendienstes bis zur Ebene Abteilungsleiter ausgetauscht worden war.13

Die Informationsnetze der GRU brachen damit Ende der 1930er-Jahre fast völlig zusammen. Die für Kriegszeiten vorbereiteten Spionagegruppen waren in ihrer Wirksamkeit nachhaltig gestört worden. Ihr Neuaufbau, durchgeführt von schlecht ausgebildeten Geheimagenten, die oft nicht einmal die Sprache des Einsatzlandes beherrschten, erforderte viel Zeit. Zeit, die nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht mehr zur Verfügung stand. Zudem waren zahlreiche Geheimdienstangehörige demotiviert, verängstigt und nicht mehr in der Lage, selbstständig verantwortliche Entscheidungen zu treffen.14Bis Anfang 1941 gelang dennoch zumindest die organisatorische Wiederherstellung des Auslandsnetzes der GRU. Zu diesem Zeitpunkt verfügte der Militärgeheimdienst der Roten Armee über rund 1000 Mitarbeiter, von denen die Hälfte im illegalen Einsatz stand.15Für die GRU sollten die Folgen der Säuberungen eine denkbar schlechte Voraussetzung sein, um in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. So ist es nicht verwunderlich, dass das Deutsche Reich die Militäraufklärung der Roten Armee zunächst an die Grenzen ihrer Möglichkeiten brachte. Dennoch konnte der Dienst im weiteren Kriegsverlauf spektakuläre Erfolge erzielen.

Als besonders verhängnisvoll erwies sich allerdings, dass Stalin nahezu ausschließlich die Rohinformationen der GRU-Quellen interessierten. Von einer zusammenfassenden Analyse der Lage durch den Geheimdienst der Roten Armee hielt der Diktator im Allgemeinen herzlich wenig, betrachtete er sich doch selbst als uneingeschränkte Autorität auf dem Gebiet der Spionage. Damit ist ein Grundproblem des sowjetischen Militärnachrichtendienstes unter Stalin genannt, das sich auch durch die zahlreichen Reorganisationen nicht beheben ließ: das Fehlen von Strukturen, die sich mit einer qualifizierten Auswertung der gesammelten Informationen befassten. In der Militärspionage gab es bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges keine eigenständige Abteilung zur Bearbeitung und Analyse der eintreffenden Agentenmeldungen. Bei der GRU wurde eine solche Struktureinheit erst im Verlauf des Zweiten Weltkrieges aufgebaut. Deren Effektivität und Qualität erwies sich allerdings als gering. Mit viel zu wenigen Mitarbeitern ausgestattet, konnte sie die eintreffende Informationsflut nur selten sinnvoll auswerten und entsprechende strategische Rückschlüsse ziehen.16

Der Beginn des Kalten Krieges veranlasste Stalin im Mai 1947 zu einer radikalen Umbildung der bisherigen sowjetischen Nachrichtendienststrukturen. Ein Komitee für Information (KI) sollte unter der Leitung von Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow zukünftig die Einsätze der zahlreichen Auslandsnachrichtendienste koordinieren und für eine integrierte sowie kompetente Analyse der aus den verschiedenen Quellen beschafften Spionageinformationen sorgen.17

Gleichwohl zeigte sich rasch, dass die neu geschaffene Superbehörde die in sie gesetzten hohen Erwartungen nicht erfüllen konnte. Infolgedessen und aufgrund des ständigen Kompetenzgerangels zwischen den Führungsebenen des Komitees für Information gelang es der Militärführung bereits Ende 1948, die Hauptverwaltung für Aufklärung wieder aus dem KI herauszulösen. Die zeigte dann erneut die Fähigkeit, die sowjetische Führung mit erstklassigen Geheiminformationen zu versorgen. Doch Stalin und sein innerster Führungszirkel bevorzugten weiterhin von der GRU beschaffte Originaldokumente als Grundlage für ihre Politikentscheidungen, die jedoch nur allzu selten mit dem tatsächlichen Lagebild korrelierten. Geheimdienstliche Empfehlungen und Prognosen, die auf einer umfassenden Analyse des eingegangenen Nachrichtenmaterials beruhten, waren in der Sowjetunion bis zum Tod Stalins 1953 nicht sonderlich gefragt.18

Unter Nikita S. Chruschtschow und seinen Nachfolgern zeigte sich hingegen alsbald eine völlig neue Arbeitsweise der Auslandsgeheimdienste. Zunächst wurde der ohnehin begrenzte Zugang der Nachrichtendienstchefs zu den wichtigsten politischen Entscheidungsgremien noch stärker eingeschränkt als unter seinem Amtsvorgänger. Infolgedessen reichte es nach Stalins Tod nicht mehr aus, die Informationen der einzelnen Agenten und Quellen zusammenzustellen und ohne umfassende Analyse den politischen Entscheidungsträgern vorzulegen. Vielmehr kam es für die Führung der Nachrichtendienste unter dem neuen Parteichef darauf an, stärker als bisher gründliche Lageberichte zur jeweiligen politischen, ökonomischen, militärischen oder rüstungswirtschaftlichen Situation zu erstellen. Diese sollten der sowjetischen Führung als Entscheidungshilfe für die Lösung wichtiger politischer Fragen dienen.

Die von der GRU für die sowjetische Führung unter Chruschtschow beschafften Informationen machten vor allem während der Berlin-Krise (1958–1961) und der Kuba-Krise (1962) die politischen und militärischen Maßnahmen des Westens für die Entscheidungsträger im Kreml in einem hohen Maße transparent. Sie gewährten Einblick in fast alle wichtigen Entscheidungen der Westmächte bis hinauf zu den höchsten Regierungsebenen. Für die sowjetische Politik besaßen diese Spionageerkenntnisse einen hohen Wert. Chruschtschow war dadurch klar, wie weit er mit seinem Bluff im Machtpoker mit den USA gehen konnte. Sie ließen ihn bei Höhepunkten der Krise vor abenteuerlichen Entscheidungen zurückschrecken und die Lage realistisch bewerten.19

In den nachfolgenden Jahrzehnten blähte sich der Apparat des Militärgeheimdienstes immer weiter auf, was dessen Leistungsfähigkeit jedoch nicht unbedingt steigerte. Ende 1990 musste die GRU bekennen, dass die überwiegende Mehrzahl aller durch die Agenten gelieferten Dokumente aus offenen Quellen stammt. Nur ein verschwindend geringer Teil besaß zumindest den Vermerk »geheim«.20Als am 26. Dezember 1991 die rote Fahne auf dem Kreml eingeholt wurde, neigte sich unabänderlich eine Ära zu Ende, die über 73 Jahre die Geschicke des militärischen Nachrichtendienstes bestimmt hatte.

Die Russische Föderation, Putins Herrschaft

Den Zerfall der Sowjetunion überlebte die GRU trotz empfindlicher personeller und finanzieller Einschnitte weitgehend unbeschadet. Es gelang ihr Ende der 1990er-Jahre sogar hinsichtlich der Zahl ihrer Mitarbeiter endlich mit dem Konkurrenten, dem politischen Auslandsnachrichtendienst SWR gleichzuziehen – beide Dienste verfügten damals jeweils über rund 11.000 Planstellen.21Gleichzeitig konnte die GRU nach dem Machtantritt von Präsident Wladimir W. Putin den Versuch des SWR abwehren, weite Teile der Militärspionage zu übernehmen. Wohl auch aus diesem Grund fand der Militärnachrichtendienst schneller zu seiner »gewohnten« Angriffslust als sein ziviler Gegenspieler zurück. Damit gehörten aggressives, bewaffnetes und gewaltsames Vorgehen wieder zu den »Kernkompetenzen« der GRU. Die Fehlschläge während des georgischen Feldzugs von 2008 machten jedoch deutlich, dass die Militäraufklärung auch beträchtliche Schwächen aufwies. Diese Misserfolge nutzten Kritiker der GRU innerhalb des Militärs, aber auch des SWR. Der politische Auslandsnachrichtendienst argumentierte, der Geheimdienst der russischen Streitkräfte könne sich besser auf seine taktischen Aufklärungsoperationen konzentrieren, wenn er dem SWR die strategische Aufklärung endlich vollkommen überlassen würde. Der Vorschlag stellte eine direkte Einmischung in die Kernkompetenzen der Militäraufklärung dar und zeigt, wie sehr die damalige Position der GRU innerhalb des Systems der russischen Sicherheitsdienste geschwächt war.22Erstmals stand sogar ihre weitere Existenz auf dem Spiel.

Dieses Szenario trat jedoch nicht ein. Präsident Dmitrij A. Medwedew ernannte 2009 Generalleutnant Aleksandr W. Schljachturow zum neuen GRU-Chef. Der jüngere und weitgehend unbekannte Geheimdienstoffizier sollte den Dienst endlich für substanzielle Reformen öffnen. Der General wurde seiner Aufgabe gerecht, bis zu seiner Verabschiedung Ende 2011 hatte er der Behörde schmerzhafte Einschnitte verordnet. Sein Nachfolger Generalmajor Igor’ D. Sergun machte diese allerdings wieder weitgehend rückgängig. Hierzu trug vor allem der von der politischen Führung als erfolgreich angesehene Einsatz der sogenannten »Grünen Männchen« – in Russland auch als »Höfliche Menschen« bekannt – bei der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim bei. Hinter dem verharmlosenden Begriff verbargen sich in Wirklichkeit Elitesoldaten der GRU, die seit Anfang März 2014 auf der Halbinsel ukrainische Verwaltungsgebäude, Polizeieinrichtungen und Kasernen besetzten. Die GRU-Führung hatte offensichtlich ihre Lehren aus dem Krieg in Georgien gezogen und legte nun Wert auf den Einsatz von hochmobilen, leichten, allzeit einsatzbereiten Brigaden, an deren Spitze die Sondertruppen der Militäraufklärung standen.23Damit festigte der militärische Nachrichtendienst seine Position als entscheidendes Instrument der russischen Führung für die Durchsetzung ihres Konzepts der »nicht linearen Kriege«.24Gleichfalls als Erfolg dürften die GRU und die russische Militärführung die nachfolgenden Einsätze des Nachrichtendienstes im Donbass und in Syrien gedeutet haben. In den folgenden Jahren weitete der Dienst zudem seine Attacken in Westeuropa und den USA aus. Die spektakulärste Operation der GRU im Ausland traf 2018 jedoch einen ehemaligen Offizier des Dienstes, der in den 1990er-Jahren für Großbritannien spioniert hatte. Nachfolgend wegen Hochverrats zu dreizehn Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt, kam der ehemalige Oberst 2010 im Rahmen eines Agentenaustausches auf freien Fuß und lebte seither in England. Am 4. März 2018 fiel Sergej W. Skripal, so der Name des Doppelagenten der GRU, in der englischen Kleinstadt Salisbury zusammen mit seiner Tochter einem Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok zum Opfer, den beide nur knapp überlebten.25Was zunächst nach einer makellosen Geheimaktion aussah, hinter der die Öffentlichkeit russische Nachrichtendienste vermutete, entpuppte sich bald als eine Anhäufung von peinlichen Pannen der GRU.

In der Öffentlichkeit stellt sich die Militäraufklärung in ihrer Rolle als Auslandsnachrichtendienst gerne deutlich robuster dar als die Konkurrenz vom SWR. Während Letzterer auf die weitgehend »geräuschlose« Arbeit seiner als Botschaftsmitarbeiter getarnten oder als »Illegale« operierenden Agenten setzt, geht der Militärgeheimdienst mit deutlich mehr Risiko wie auch Gewaltbereitschaft zu Werke. Bei der GRU ist man offenbar weniger um die Außendarstellung besorgt als der SWR, der sich gerne als intellektuell geprägter Analyse- und Beschaffungsdienst inszeniert und der deshalb weitgehend auf jegliche James-Bond-Attitüde verzichtet.26Beim Nachrichtendienst der russischen Streitkräfte kommen die Erfahrung und das Gefühl hinzu, von der Konkurrenz in der eigenen Weiterexistenz bedroht zu sein. Folglich muss der Militärgeheimdienst aggressiver vorgehen, um seine Rolle im »Konzert« der russischen Geheimdienste weiterspielen zu können. Hieraus resultiert sein Auftreten als risikobereiter und waghalsiger Akteur an allen Brennpunkten der Außenpolitik Putins.

Der Angriff gegen die Ukraine zeigte jedoch deutlich die Grenzen der GRU. Ihr gelang es in den ersten Tagen der Invasion nicht, das mit zahlreichen finanziellen Mitteln aufgebaute Agentennetz des Militärgeheimdienstes in der Ukraine zu aktivieren, um die russischen Truppen merklich zu unterstützen. Im Gegenteil, diese stießen auf den erbitterten Widerstand der ukrainischen Verteidiger. Die gefürchteten Cyberattacken des militärischen Nachrichtendienstes liefen weitgehend ins Leere und vermochten es nicht, kritische Elemente der Infrastruktur des ukrainischen Staates und seiner Armee langfristig lahmzulegen. Doch auch auf den Gebieten ihrer militärischen Kernkompetenzen musste die GRU empfindliche Niederlagen hinnehmen. Zu Beginn der russischen Aggression schlugen nicht wenige Angriffe der Spezialtruppen des Militärgeheimdienstes auf strategisch wichtige Objekte fehl. Danach fanden die Elitekrieger in zahlreichen Fällen als gewöhnliche Sturminfanterie Verwendung, was zu hohen blutigen Verlusten führte. An der Frontlinie gebunden, stehen die Aufklärungsspezialisten nicht für die Aufgaben zur Verfügung, für die sie gedacht und ausgebildet sind: das Ausfindigmachen von Zielen mit hoher Priorität im Hinterland des Gegners. Diese Rolle wäre umso wichtiger, als es die russischen Luftstreitkräfte bislang nicht vermögen, die Luftherrschaft vollständig an sich zu reißen. Die dadurch fehlende Luftaufklärung macht die russischen Truppen weitgehend blind dafür, was hinter dem Frontgebiet geschieht. Hinsichtlich der Diversionseinsätze gelangen nicht der GRU, sondern ihrem Gegenüber – der ukrainischen Militäraufklärung HUR – spektakuläre Erfolge. Der russische Militärgeheimdienst vermochte es hingegen weder, Schlüsselobjekte der kritischen Infrastruktur beispielsweise auf dem Gebiet des Transportwesens auszuschalten, noch konnten in großer Zahl operativ-taktisch wichtige Waffen der Ukrainer, wie beispielsweise die zielgenauen Raketenwerfer vom Typ HIMARS, durch Angriffe von Kommandokräften außer Gefecht gesetzt werden.

Gleichwohl ist Putin weiter auf seinen militärischen Nachrichtendienst angewiesen, verfügt doch nur er innerhalb des russischen Geheimdienstsystems über die gesamte Palette an nachrichtendienstlichen Fähigkeiten. Die GRU kann sowohl auf Agenten und Spione (HUMINT), die Aufklärungsdaten von Satelliten, Drohnen und Flugzeugen (IMINT/GEOINT), die technische Erfassung und wissenschaftliche Auswertung der Signaturen von Waffentests (MASINT), die Sammlung und Analyse von elektronischen Signalen zur nachrichtendienstlichen Auswertung (SIGINT), die sich in die Bereiche Fernmeldeaufklärung (COMINT), also das Abhören von Funksprüchen, Telefonaten, E-Mails, Messenger usw. sowie in die elektronische Aufklärung (ELINT) von Radarwellen und Strahlungsquellen gliedert. Hinzu kommen die Auswertung von offenen Quellen (OSINT) sowie die Technikspionage (TECHINT) in den Bereichen Bewaffnung und Ausrüstung. Eine immer wichtiger werdende Rolle spielt weiterhin die CYBINT, die nachrichtendienstliche Informationen aus dem Cyberspace gewinnt. Zudem verfügt die GRU mit ihren Speznas-Brigaden über hochgerüstete und umfassend ausgebildete Spezialkräfte, die gleichfalls für die Erfüllung geheimdienstlicher Aufgaben bereitstehen. Es ist zu erwarten, dass auch im weiteren 21. Jahrhundert der russische Militärgeheimdienst eine gefährliche Waffe der politischen und militärischen Führung Russlands sein wird, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn außenpolitische Interessen mit Gewalt und klandestinen Instrumenten durchgesetzt werden sollen.

Die Forschungslage

Dass wir in Deutschland bislang kaum etwas über die GRU wissen, ist zweifelsohne dem Umstand geschuldet, dass sich das Interesse von Öffentlichkeit und Wissenschaft bis heute nahezu ausschließlich auf das Komitee für Staatssicherheit der UdSSR (KGB) und den daraus hervorgegangenen heutigen Auslandsnachrichtendienst der Russischen Föderation (SWR) sowie den Föderalen Sicherheitsdienst (FSB) konzentriert. Während über das KGB und seine führenden Mitarbeiter Hunderte, wenn nicht gar Tausende Bücher existieren, sind Veröffentlichungen zur GRU und ihrer Geschichte vergleichsweise rar. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist in deutscher Sprache bislang nur eine Monografie erschienen, die sich ausschließlich mit dem Wachsen und Werden der Hauptverwaltung Aufklärung beschäftigt. Es dürfte kein Zufall sein, dass ihr Autor – Viktor Suworow – selbst aus der GRU stammt. Der ehemalige Offizier des sowjetischen Militärgeheimdienstes, der in Wirklichkeit den Namen Wladimir B. Resun trägt, lief im Sommer 1978 in Genf, wo er an der dortigen Residentur als Spion eingesetzt war, zusammen mit seiner Familie zu den Briten über.27Der MI6 – der Auslandsnachrichtendienst des Vereinigten Königreichs – schaffte ihn dann nach London, wo er 1984 eine umfangreiche Abhandlung über die GRU veröffentlichte28, die ein Jahr später auch ins Deutsche übersetzt wurde.29Natürlich ist das Buch von Resun keine Darstellung der GRU im historischen Sinne, sondern die Beschreibung eines damals weitgehend unbekannten sowjetischen Nachrichtendienstes durch einen Insider und Überläufer. Vor Resun hatte bereits der noch aus der Raswedka stammende Geheimdienstoffizier Walter Kriwitzki 1939 seine Erlebnisse beim Militärgeheimdienst der Roten Armee veröffentlicht.30Der setzte sich, um Stalins Häschern zu entgehen, 1938 in die Vereinigten Staaten ab, wo er dennoch 1941 höchstwahrscheinlich einem Mordkommando des sowjetischen Geheimdienstes NKWD zum Opfer fiel. Damit sind die zwei deutschen Veröffentlichungen genannt, die ausschließlich die GRU zum Thema haben.

Im Gegensatz zu Russland, England und den Vereinigten Staaten stand in Deutschland die Beschäftigung mit Themen zur Geschichte der Nachrichtendienste lange im Schatten der historischen Forschung und wurde gerne Journalisten, ehemaligen Agenten und Sachbuchautoren überlassen. Erst zum Beginn des neuen Jahrtausends brach Wolfgang Krieger, Professor für Neuere Geschichte in Marburg, eine Lanze für die Geschichte der Nachrichtendienste in Deutschland und holte das Thema buchstäblich aus der »Schmuddelecke« der hiesigen Historiografie.31Gleichwohl sind deutsche Untersuchungen zum Militärgeheimdienst Russlands bis heute Mangelware, was natürlich auch damit zu tun hat, dass der Zugang zu Quellen über dessen Tätigkeit überaus schwierig ist.

In Russland verfügt der FSB über ein umfangreiches Archiv, und hier ist gelegentlich für Historiker zumindest ein ausgewählter Aktenzugang zu bestimmten Einzelthemen möglich. Der SWR hat immerhin ein Pressebüro und stellt in Einzelfällen Dokumente aus seinem Archiv zur Verfügung. Die GRU allerdings besitzt weder eine offizielle Pressestelle noch ein zugängliches Archiv. Was den Zeitraum bis 1941 betrifft, so wurde ein Großteil der Unterlagen des Nachrichtendienstes der Roten Armee an das Russische Staatliche Militärarchiv abgegeben, wo sie immerhin in Teilen einsehbar sind und Eingang in Dokumentenpublikationen gefunden haben.32Wesentlich schwieriger ist allerdings der Zugang zu Unterlagen des Militärgeheimdienstes, die nach dem Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im Sommer 1941 datieren. In einigen russischen Veröffentlichungen wird zwar ein Archiv Nr. 2 des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation erwähnt,33in dem angeblich die Dokumente der GRU aufbewahrt werden, doch ist bislang nirgends eine offizielle Bestätigung zu finden, dass ein derartiges Archiv auch tatsächlich existiert. Gegenwärtig kennen wir immerhin den Archivbestand, in dem die Unterlagen des militärischen Nachrichtendienstes gesammelt werden. Es handelt sich um den Bestand Nummer 23 im Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation, das sich in dem Moskauer Vorort Podolsk befindet. Da dieser in den größten Teilen immer noch streng geheim ist, existieren weder Übersichten zu den dort gelagerten Akten noch entsprechende Findhilfsmittel. Aus ihm sind bislang allenfalls einzelne Dokumente veröffentlicht.34Wie groß die Geheimhaltungsmanie der GRU tatsächlich ist, mag vielleicht der Umstand illustrieren, dass selbst bei internen Veröffentlichungen des militärischen Nachrichtendienstes auf die genaue Benennung von archivalischen Fundstellen verzichtet wird.35

Gleichwohl musste selbst eine verschwiegene sowjetische Behörde wie die GRU mit zahlreichen Partei- und Regierungsstellen interagieren. Sie hat deshalb ungewollt in nicht wenigen nun zugänglichen russischen Archiven ihre Spuren hinterlassen. Zu diesen Unterlagen gehören beispielsweise Berichte und Analysen zu beschafften Geheimdokumenten, die an die zuständigen Abteilungen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei gingen und heute im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte bzw. Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte zu finden sind. Berichte über die Technikspionage und die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen bei der Entwicklung von Aufklärungsflugzeugen oder -satelliten finden sich hingegen in den Akten des Russischen Staatsarchivs für Wirtschaft. Für das Buch erwies es sich zudem als ausgesprochener Glücksfall, dass der Historiker Michail E. Boltunow einige freigegebene Dokumente aus dem Archiv der GRU zur Tätigkeit des Agenten »Murat« und seines Führungsoffiziers Wiktor A. Ljubimow während der Hochphase des Kalten Krieges zur Verfügung stellte.

Den gleichwohl kaum vorhandenen Archivzugang versucht die GRU, die natürlich auf die Zeichnung eines positiven und erfolgreichen Selbstbildes in der Öffentlichkeit bedacht ist, durch den Einsatz von Historikern aus den eigenen Reihen abzufedern. Diese können für ihre Veröffentlichungen auf Dokumente des Dienstes zurückgreifen, wobei jedoch dessen unabhängige Überprüfung nur in den seltensten Fällen möglich ist. Zu den bekanntesten GRU-Historikern dürfte Oberst Wladimir I. Bojko gezählt haben, der bis zu seinem Tod 2017 zumeist unter dem Pseudonym Wladimir Lota zahlreiche historische Arbeiten zur Geschichte des sowjetischen Militärgeheimdienstes vorgelegt hat. Die wohl wichtigste ist der unter seiner Leitung zum 200-jährigen Jubiläum des Militärgeheimdienstes 2012 erschienene 550-seitige Prachtband Die Militäraufklärung Russlands.36Zu den Historikern und Journalisten mit einem privilegierten Zugang zu Aktenmaterial gehört auch der bereits erwähnte Boltunow, der gleichfalls zahlreiche seiner Publikationen der Thematik des Militärgeheimdienstes widmet, wobei er überwiegend einzelne seiner Bereiche – wie den Einsatz von Agenten, die Fernmeldeaufklärung oder die Speznas- Truppen beschrieb.37Genügen Veröffentlichungen zur Geschichte des militärischen Nachrichtendienstes der sowjetischen Streitkräfte bis 1945 noch im Allgemeinen den wissenschaftlichen Mindeststandards, so sieht dies für die Zeit danach bereits vollkommen anders aus. Hier müssen die Arbeiten in der Regel ohne entsprechende Belegstellen auskommen, was ihren Wert leider einschränkt.

Das Ende der Sowjetunion und der sich damit ergebende begrenzte Archivzugang für die Zeit bis 1941 löste ab der Jahrtausendwende in Russland eine wahre Flut von Büchern über die GRU aus. Aus der schieren Masse ist vor allem das zweibändige Werk von Aleksandr I. Kolpakidi und Dmitrij P. Prochorow Das Imperium der GRU hervorzuheben, das bis heute als Standardwerk gelten muss.38Einen guten Überblick gibt gleichfalls die von Kolpakidi 2004 herausgegebene Enzyklopädie der Militäraufklärung Russlands.39Für Recherchen zum Personal der GRU erweisen sich die Veröffentlichungen Enzyklopädie der Militäraufklärung. 1918–1945 sowie Die GRU. Angelegenheiten und Menschen als unverzichtbar.40Die Geschichte des Marinenachrichtendienstes wird in dem 2008 erschienenen Band Marineaufklärung. Geschichte und Gegenwart umfassend behandelt.41Angaben zu dessen wichtigsten Mitarbeitern finden sich in dem Nachschlagewerk Die Marineaufklärung der UdSSR, 1918–1960.42Der Nachteil all dieser Veröffentlichungen liegt darin, dass sie ausschließlich in russischer Sprache publiziert wurden und damit für die Masse der westlichen Geheimdiensthistoriker wegen mangelnder Sprachkenntnis nicht gelesen werden können. Das führt dazu, dass selbst in wichtigen Werken zu westlichen Geheimdiensten, wie beispielsweise der CIA, Namen historisch bedeutender Doppelagenten wie Pjotr S. Popow oder Oleg W. Pen’kowskij allenfalls kurz erwähnt werden.43

Im englischen Sprachraum kennen die Historiker weniger Berührungsängste zum Thema der Geschichte der Nachrichtendienste, doch auch hier ist ein gewisses Defizit hinsichtlich des russischen bzw. sowjetischen Militärgeheimdienstes spürbar. So wirft der in Princeton lehrende Historiker Jonathan Haslam in seinem anregenden und lesenswerten Buch zur Geschichte der sowjetischen Geheimdienste Near and Distant Neighbors zwar immer wieder Schlaglichter auf die GRU, deren Agenten und Überläufer, doch bleiben diese stets im Schatten des übermächtigen KGB.44Damit folgt er im Wesentlichen bereits dem immer noch als Klassiker geltenden Werk von David J. Dallin über die sowjetische Spionage, das 1955 erstmals veröffentlicht wurde.45Auch bei anderen neueren englischsprachigen Veröffentlichungen über die Geheimdienste der Sowjetunion und Russlands kommt die GRU zumeist nur am Rande vor.46Einzelne Publikationen widmen sich allenfalls Führungsoffizieren der CIA, die Quellen im sowjetischen Militärgeheimdienst anleiteten, oder aber den Doppelagenten selbst, die aus der GRU stammten.47Gelegentlich werden aber auch spezielle Einzelthemen, wie beispielsweise die Rolle der Raswedka während des Russisch-Japanischen Krieges von 1904/05 untersucht.48Eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der GRU bleibt bislang auch im englischen Sprachraum ein Desiderat.

Heute verfügt die GRU über die größte Zahl von Nachrichtendienstmitarbeitern in Russland, ihre Residenten und Agenten sind auf der ganzen Welt aktiv. Der Militärgeheimdienst besitzt in Gestalt der Militärattachés nicht nur weltweit sogenannte »legale Residenturen«, seine Mitarbeiter sind auch als Vertreter von Botschaften und Handelsvertretungen getarnt. Eine Sonderrolle spielen die bereits erwähnten illegalen Agenten, die ohne jede diplomatische Abdeckung arbeiten und damit besonders gefährlich, aber auch gefährdet sind. Anders als zahlreiche andere Nachrichtendienste kann die GRU für ihre Einsätze zu jeder Zeit auf ihr unterstehende militärische Strukturen wie Spezialoder Funkaufklärungseinheiten zugreifen und damit ganz erhebliche Ressourcen mobilisieren, um Spionageaufträge der russischen Regierung zu erfüllen.

Hier wird erstmals die Geschichte der GRU von ihrer Gründung bis heute erzählt. Dabei kann – ein Novum – zumindest zum Teil auf Dokumente zurückgegriffen werden, die aus dem Dienst selbst stammen. Sie geben uns neue Einsichten zu dramatischen Schlüsselereignissen des 20. Jahrhunderts – dem Zweiten Weltkrieg, dem Mauerbau und der Kuba-Krise, als die Welt nur einen Schritt vor dem Ausbruch eines Nuklearkrieges stand. Aber auch die Rolle des Militärgeheimdienstes im heutigen Russland wird untersucht.

Hierfür ist das vorliegende Buch in drei große Abschnitte unterteilt. Der erste Teil widmet sich der Geschichte der russischen Militäraufklärung. Zunächst werden deren Entstehung im Zarenreich und deren Tätigkeit bis zum Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 beleuchtet. Im Anschluss betrachten wir den Wandel zum militärischen Nachrichtendienst der Roten Armee im Spannungsfeld von Weltrevolution und dem später von Stalin geforderten Aufbau des Sozialismus in einem Land. Dass der Geheimdienst selbst zum Opfer der blutigen Säuberungen des sowjetischen Diktators wurde, wird nachfolgend gezeigt. Hunderte seiner Offiziere und Mitarbeiter endeten vor den Erschießungskommandos der Geheimpolizei NKWD oder mussten jahrelang in den Lagern des berüchtigten GULag vor sich hinvegetieren. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde es erforderlich, den Militärgeheimdienst vollkommen neu aufzubauen. Obgleich dies gelang, misstraute Stalin seinem Nachrichtendienst zutiefst, als ihn dieser seit Ende 1940 immer wieder vor einem drohenden deutschen Angriff auf die Sowjetunion warnte. Der Diktator wurde folglich im Sommer 1941 vom Unternehmen »Barbarossa« überrascht und die Rote Armee musste schwere Niederlagen hinnehmen. Doch Stalin zeigte sich – wie im vierten Kapitel des ersten Teils deutlich wird – lernfähig und begann, den Meldungen der GRU und deren Analysen Vertrauen zu schenken. Das half, im Winter 1941 vor Moskau die Kriegswende einzuleiten. Ohne die Agenten des Militärgeheimdienstes und den von ihnen gesammelten Informationen hätten auch die Schlachten von Stalingrad und Kursk anders verlaufen können. Zugleich gelang es dem Militärgeheimdienst der Roten Armee im Kriegsverlauf immer besser, die strategischen Absichten Hitlers und der Wehrmachtsführung zu prognostizieren. Damit leistete die GRU einen wichtigen Beitrag zum Sieg der Alliierten über das Deutsche Reich. Im nachfolgenden Kalten Krieg musste der militärische Nachrichtendienst seine Tätigkeit an die neuen Bedürfnisse der politischen Führung der Sowjetunion anpassen. Dass es ihm in entscheidenden Phasen der Ost-West-Konfrontation gelang, die Aggressivität der sowjetischen Entscheidungsträger zu zügeln und damit den nuklearen Overkill zu verhindern, zeigt das Kapitel zur Geschichte der GRU zwischen 1945 und 1991. Obgleich die Sowjetunion am Ende des Kalten Krieges unterging, gelang es dem Militärnachrichtendienst, sich weitgehend unbeschadet ins neue Russland zu retten. Ohne Zögern stellte er sich, nicht selten in der eigenen Existenz bedroht, in den Dienst der neuen Machthaber und sicherte damit sein Überleben. Durch die kompromiss- und widerspruchslose Ausführung der Befehle der politischen und militärischen Führung Russlands ist er zum unverzichtbaren Element der Struktur der Sicherheits- und Geheimdienste unter Präsident Putin geworden. Dass dieser Prozess jedoch mit einer Einbuße an Professionalität und politisch nötiger Resilienz sowie dem Abbau von Fähigkeiten einherging, zeigt das abschließende Kapitel der Darstellung zur Geschichte des Militärgeheimdienstes.

Im zweiten Teil werden dann die wichtigsten Tätigkeitsfelder der GRU beleuchtet. Dazu gehören der Agenteneinsatz (HUMINT), der seit jeher innerhalb des Dienstes einen hohen Stellenwert besitzt. Nicht weniger wichtig ist die Funk- und Fernmeldeaufklärung, die es ermöglicht, aus zahlreichen Puzzlesteinen ein Lagebild der aktuellen militärstrategischen Situation zu erstellen und die Kapazitäten der jeweiligen Gegenseite zu bestimmen. Gerade im Kalten Krieg, aber auch unter den Bedingungen der zunehmenden Isolation Russlands, spielte und spielt die Technikspionage eine wichtige Rolle bei der Tätigkeit des militärischen Nachrichtendienstes. Oft ist dies die einzige Möglichkeit, um an dringend benötigtes wissenschaftliches und technisches Know-how zu kommen. Unerlässlich für einen Nachrichtendienst mit dem Einsatzspektrum der GRU ist gleichfalls eine umfangreiche Aufklärung aus der Luft, die hierfür auf Flugzeuge und vor allem auf Satelliten zurückgreifen kann, die es ermöglichen, jeden Punkt auf der Erde zur Beobachtung ins Visier zu nehmen. Da sich die GRU als militärischer Geheimdienst versteht, darf natürlich auch die Einsatzkomponente der Spezialeinheiten nicht fehlen. Dort als Speznas-Truppe bezeichnet, zieht sich die Spur dieser Soldaten für klandestine Einsätze über die Tschechoslowakei, Afghanistan, Tschetschenien und Georgien bis heute in die Ukraine.

Ein dritter Teil ist schließlich den Angehörigen der GRU gewidmet, die sich entschieden, dem Dienst den Rücken zu kehren. Diese Entscheidung war zumeist mit einem Seitenwechsel bzw. dem Einsatz als Doppelagent verbunden. Dass ein Überlaufen zum vermeintlichen Gegner bis heute mit dem Tod bestraft werden kann, zeigen die Schicksale von Ignaz S. Reiss, Walter G. Kriwitzki, Pjotr S. Popow, Oleg W. Pen’kowskij, Dmitrij F. Poljakow und nicht zuletzt von Sergej W. Skripal.

Das vorliegende Buch wirft folglich den Blick auf einen Geheimdienst, der das Schicksal der Sowjetunion und Russlands wesentlich mitbestimmt hat und immer noch mitbestimmt. Es zeigt ein mächtiges und weltweit agierendes Geheimdienstimperium, das skrupellos die Interessen einer politischen Führung durchsetzt, die diese nach Gutdünken formuliert. Dabei wird der GRU, weil jegliche demokratische Kontrolle des Dienstes durch Behörden und Parlament fehlt, im Wesentlichen freie Hand bei der Wahl der hierfür nötigen Mittel gelassen. Dies führt in nicht wenigen Fällen dazu, dass der militärische Nachrichtendienst nicht vor dem Einsatz von Gewalt zurückschreckt. Im eigenen Selbstverständnis ist diese heute mehr denn je ein probates Mittel zur Durchsetzung der zu erreichenden Ziele. Es ist gegenwärtig davon auszugehen, dass der russische Militärgeheimdienst noch auf lange Zeit die Konfrontation Russlands mit den westlichen Gesellschaften und ihren Nachrichtendiensten mitbestimmen wird.

An dieser Stelle möchte ich mich noch bei all denen bedanken, ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre. An erster Stelle ist hier Wladimir N. Chaustow zu nennen, der leider das Erscheinen des Buches nicht mehr erleben durfte. Er war einer der wichtigsten und profundesten Kenner der sowjetischen Geheimdienste und stand ständig mit Rat und Tat zu Seite. Wladimir W. Sacharow begleitete die Entstehung des Manuskriptes mit unverzichtbaren Kommentaren und Hinweisen, hierfür gebührt ihm außerordentlicher Dank. Auch er konnte diese Publikation nicht mehr in seinen Händen halten. Die weiteren russischen Kollegen wissen um ihre Unterstützung und Hilfe, auch bei Ihnen möchte ich mich noch einmal ausdrücklich bedanken. Mein Dank gilt auch Wolfgang Krieger, der das Projekt nachhaltig unterstützte, wie auch zahlreichen anderen deutschen Kollegen.

Ganz besonderer Dank gilt der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und dann – in Nachfolge – dem Herder Verlag, die dieses Projekt in ihr Programm aufnahmen und mit großem Einsatz und unerschütterlicher Geduld unterstützten. Herr Clemens Heucke und mein Lektor Herr Daniel Zimmermann seien hier gesondert genannt. Natürlich gebührt auch der Familie mein Dank, musste sie doch viele Stunden auf Mann und Papa verzichten.

Abschließend noch ein Hinweis zur Schreibweise der russischen Namen. Sie wurden, bis auf wenige Ausnahmen, die – wie Trotzki, Jeschow oder Skripal in den allgemeinen Sprachgebrauch eingeflossen sind – allesamt nach dem Duden transkribiert. Im Literaturverzeichnis wurde dann zur besseren Wiederauffindung der russischen Titel die wissenschaftlichere Transliteration verwendet.

I.Die Organisationsgeschichte der russischen Militäraufklärung

1.Vom Zarenadler zur Roten Fahne – der Militärgeheimdienst des russischen Zarenreiches bis 1917

Spionage wird gerne als die zweitälteste Profession der Welt bezeichnet, auch in Russland kann der Einsatz von Agenten zur Gewinnung von geheimen Informationen auf eine lange Tradition zurückblicken. Institutionell verankerte Zar Iwan Grosny – in Europa auch als Iwan der Schreckliche bekannt – den Nachrichtendienst innerhalb der russischen Bürokratie erstmals 1549 mit der Bildung des sogenannten Gesandtenamtes (Posolskij Prikaz). Zu dessen Aufgaben gehörte neben der Pflege der auswärtigen Beziehungen des Zarenreiches auch die Sammlung von Informationen über die benachbarten Länder und deren Streitkräfte. 1654 richtete Zar Aleksej I. schließlich das Amt für geheime Angelegenheiten ein, das sich nunmehr mit nachrichtendienstlichen Fragen beschäftigte. Da die Behörde nach dem Tod des Zaren 1676 wieder aufgelöst wurde, übernahm erneut das Gesandtenamt die Funktion der Sammlung von strategisch wichtigen Informationen in den Bereichen Militärpolitik und Heerwesen.1

Die Anfänge bis zur Gründung des militärischen Geheimdienstes

Unter Zar Peter I. kam es 1702 im Heer zur Einführung von Quartiermeisterrängen, zu deren Aufgaben fortan auch die taktische militärische Aufklärung zählte. Die Quartiermeister organisierten bei den Armeen, Korps, Divisionen und Regimentern neben der Versorgung und Unterbringung der Truppen sowie der Anlage von Befestigungen auch die Erkundung des Geländes und des Gegners. Hierbei unterstanden sie dem Generalquartiermeister, der als Gehilfe des Oberkommandierenden in operativen Fragen fungierte. Ein Erlass des Zaren aus dem Jahre 1716 regelte dann erstmals die rechtlichen Grundlagen für die Tätigkeit der militärischen Aufklärung. Die 1763 erfolgte Bildung des Generalstabes führte zur Reorganisation des Quartiermeisterwesens. Mit der 1802 von Aleksandr I. vollzogenen Schaffung des Kriegsministeriums ging die Zuständigkeit für die Sammlung von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen nunmehr auf diese neue Behörde über. 1810 unterrichtete Kriegsminister Michael Barclay de Tolly den russischen Zaren über die Notwendigkeit, die Bemühungen zur Gewinnung von Informationen über die französische Armee zu verstärken. Das Kriegsministerium schlug die Schaffung einer speziellen Abteilung vor, die diese Aufgabe übernehmen sollte. Da Aleksandr I. der Empfehlung von Barclay de Tolly zustimmte, kam es zur Einrichtung einer sogenannten Expedition für geheime Angelegenheiten. Die Behörde sollte sowohl strategische Geheiminformationen beschaffen, indem sie im Ausland vertrauliche Dokumente erbeutete, als auch operativ-taktische Aufklärung betreiben, wofür sie die Streitkräfte Napoleons an den russischen Grenzen beobachtete. Schließlich hatte sie auch noch Funktionen der Spionageabwehr wahrzunehmen, also feindliche Agenten zu enttarnen und zu neutralisieren. Ihre Mitarbeiter erhielten zudem den Auftrag, Anweisungen und Bitten des Kriegsministers an die Befehlshaber der russischen Armeen und die Leiter der diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übermitteln. An den Gesandtschaften wirkten alsbald neben den Botschaftern im Generalsrang im Auftrag der Expedition für geheime Angelegenheiten ausgewählte Offiziere der russischen Armee als sogenannte Militäragenten. Zu den Entsandten gehörten u. a. Major Victor von Prendel ein Österreicher in russischen Diensten, der am sächsischen Hof in Dresden spionierte. Der aus einem finnischen Adelsgeschlecht stammende Leutnant Paul Grabbe kundschaftete die französischen Absichten in München aus, während Leutnant Pawel I. Brosin in Madrid wirkte. In der französischen Hauptstadt übernahm Oberst Aleksandr I. Tschernyschow die Funktion des Militäragenten. In Wien agierte auf diesem Posten der in russischen Diensten stehende Niederländer Oberst Diederik Jacob van Tuyll van Serooskerken, während in Berlin Oberstleutnant Robert E. Rennie diese Funktion wahrnahm. Bei diesen Generalstabsoffizieren handelte es sich um erfahrene Soldaten, die über exzellente Fremdsprachenkenntnisse verfügten und mit militärischen Angelegenheiten bestens vertraut waren.2

Um die Sammlung von militärischen Nachrichten zu intensivieren, wandte sich Barclay de Tolly persönlich an die in Westeuropa tätigen russischen Gesandten. Am 26. August 1810 übermittelte er beispielsweise in einem Brief an den russischen Botschafter in Preußen, Graf Christoph Heinrich von Lieven, eine detaillierte Liste der zu beschaffenden Informationen. Der Kriegsminister wünschte u. a. Angaben »über die Zahl der Truppen, namentlich jeder Macht, über ihren Aufbau, ihre Ausbildung und Bewaffnung sowie ihre Disposition in den Quartieren, über den Zustand der Festungen, die Fähigkeiten und Tugenden der besten Generäle sowie die Disposition des Truppengeistes«.3Der Kriegsminister forderte zudem Botschafter und Agenten auf, »Karten und militärische Werke, die im Lande veröffentlicht wurden, zu kaufen«, und versprach: »Ich werde es nicht versäumen, den erforderlichen Betrag rechtzeitig zu schicken.«4

Als besonders begabter Militäragent erwies sich der damals 25-jährige Oberst Tschernyschow. Dem jungen Adligen gelang es rasch, intensive Kontakte zur französischen Aristokratie zu knüpfen. Napoleon lud Tschernyschow mehrmals zur Jagd ein, und auch die Königin von Neapel, Napoleons Schwester, sah den russischen Offizier gerne als Gast in ihrem Haus. In Paris ging sogar das Gerücht um, Tschernyschow habe eine Affäre mit der Lieblingsschwester Napoleons, Pauline Borghese. Seine Tarnung als Playboy ermöglichte es dem russischen Offizier, unerkannt Informationen über Napoleons Pläne zur Invasion des Zarenreiches und den Zustand der französischen Armee zu sammeln. Anfang April 1811 sandte der Oberst Aleksandr I. eine Depesche, in der er mitteilte, dass »Napoleon bereits beschlossen hat, gegen Russland in den Krieg zu ziehen, aber wegen des unbefriedigenden Zustands seiner Angelegenheiten in Spanien und Portugal spielt er noch auf Zeit«. Beeindruckt von den Leistungen seines Agenten hinterließ der russische Kaiser auf dem Bericht die Notiz: »Warum habe ich nicht mehr Minister wie diesen jungen Mann.«

Wenig später sollte es Tschernyschow sogar gelingen, die streng geheime ordre de bataille der französischen Armee – eine Gliederungsübersicht ihrer Truppen – zu beschaffen. Dieses Dokument wurde alle fünfzehn Tage im Kriegsministerium in einem Exemplar erstellt und war nur für Napoleon bestimmt. Eine Quelle des Militäragenten in Paris kopierte dieses Dokument für den russischen Oberst, der den französischen Informanten hierfür großzügig entlohnte. Als weiterer wichtiger Agent Tschernyschows fungierte Fürst Charles-Maurice de Talleyrand, der ehemalige französische Außenminister. Gegen ein beträchtliches Entgelt informierte Talleyrand die Russen nicht nur über den Zustand der französischen Armee, sondern gab auch Napoleons militärische Pläne gegenüber dem Zarenreich weiter. Im Dezember 1810 berichtete Oberst Tschernyschow an Aleksandr I., dass »Anna Iwanowna« – so einer der Decknamen Talleyrands im Schriftverkehr mit dem Zaren – mitgeteilt habe, der französische Imperator werde mit seinem Angriff auf Russland im April 1812 beginnen. Anfang 1812 musste der Militäragent allerdings Paris verlassen, da die französische Polizei seine Spionagetätigkeit aufgedeckt hatte.5

Insgesamt erwiesen sich die nachrichtendienstlichen Bemühungen von Barclay de Tolly jedoch als nicht besonders effektiv. Kurz vor dem Feldzug Napoleons gegen Russland wurde immer deutlicher, dass die Militärführung des Zarenreiches genauere Kenntnisse über die Pläne des französischen Kaisers und seiner Generäle benötigte und hierfür der Einsatz einer größeren Zahl von Agenten erforderlich war. Deshalb kam es am 27. Januar 1812 zur Einrichtung der sogenannten Sonderkanzlei des Kriegsministeriums. Zu deren Leiter ernannte Aleksandr I. Oberst Aleksej W. Woejkow, einen Berufsoffizier, der seit 1810 als Flügeladjutant des Zaren diente. Das neu geschaffene Amt verfügte mit seinem Leiter, drei Expeditoren und einem Dolmetscher nur über einen ausgesprochen kleinen Mitarbeiterstab, um geheime Aufgaben zu lösen. Die Beschaffung von nachrichtendienstlichem Material fiel im Wesentlichen den mittlerweile sieben Militäragenten zu, die u. a. in Spanien, Frankreich, Österreich, Preußen, Bayern und Sachsen agierten. Die »Zentrale« in Sankt Petersburg wiederum wertete die Informationen über die Armeen der Nachbarstaaten aus und legte nach deren Analyse dem Kriegsminister entsprechende Empfehlungen vor. Mit der Bildung des Sonderbüros beim Kriegsministerium stand dem russischen Militär nun erstmals eine Organisation zur Verfügung, die systematisch den Nachrichtendienst gegen ausländische Streitkräfte betrieb. Deshalb gilt das Jahr 1812 bis heute als die Geburtsstunde des russischen Militärgeheimdienstes.6

Napoleons Feldzug gegen Russland 1812

Seit 1810 begann Napoleon, sich auf einen Krieg gegen Russland vorzubereiten. Hierfür wurden deshalb in verschiedenen Bereichen entsprechende Vorbereitungen getroffen: Die französische Grande Armée erfuhr eine merkliche Verstärkung, zugleich entsandte der französische Imperator Geheimagenten nach Russland, um dort die für seine Planung nötigen militärischen und politischen Informationen zu erhalten. Allerdings gelang es der russischen Spionageabwehr, zahlreiche dieser Zuträger zu enttarnen, zwischen 1810 und 1812 nahm sie 39 zivile und militärische Personen fest, die Frankreich mit der Sammlung von Geheimdienstinformationen im Zarenreich beauftragt hatte.7

Während sich die russisch-französischen Beziehungen rasch weiter verschlechterten, löste Mitte März 1812 Oberst Arsenij A. Sakrewskij, ein schlachtenerprobter Stabsoffizier, den bisherigen Direktor der Sonderkanzlei Woejkow ab, der das Kommando über eine Infanterie-Brigade erhielt. Sakrewskij beauftragte unmittelbar nach seiner Ernennung Oberstleutnant Pjotr A. Tschujkewitsch, den einzigen Offizier, der seit 1810 durchgehend in der Geheimen Expedition und dann in der Sonderkanzlei gedient hatte, mit der Abfassung eines Strategiepapiers für den bevorstehenden Krieg mit Napoleon, das detaillierte Empfehlungen für die künftige Kriegführung des russischen Oberkommandos enthalten sollte. Tschujkewitsch führte den Auftrag aus und verfasste eine Denkschrift mit dem Titel »Patriotische Gedanken, oder politische und militärische Überlegungen zum bevorstehenden Krieg zwischen Russland und Frankreich«. In dem Papier analysierte der Offizier die von den Militäragenten erhaltenen nachrichtendienstlichen Informationen und entwickelte daraus entsprechende Vorschläge für das militärische Vorgehen gegen die französischen Truppen. Tschujkewitsch kam schließlich zu dem Schluss, dass die Zarenarmee »genau das Gegenteil von dem tun und unternehmen muss, was der Feind wünscht«. Dementsprechend schlug der Oberstleutnant vor, eine allgemeine Schlacht zunächst zu vermeiden, was es erlauben würde, die Kampfkraft der russischen Streitkräfte weitgehend zu erhalten. Der Kampf sollte Napoleon erst dann aufgezwungen werden, wenn sich die eigenen Truppen in einer hierfür günstigen Lage befänden. Zudem regte der Offizier einen umfassenden Partisanenkrieg gegen die französischen Eindringlinge an: »Das Ausweichen vor einer Entscheidungsschlacht; ein Guerillakrieg durch bewegliche Abteilungen, vor allem im Rücken der gegnerischen Operationslinien, die Behinderung der Versorgung und die Entschlossenheit, den Krieg fortzusetzen: Das sind neue Maßnahmen gegen Napoleon, die die Franzosen ermatten werden und sich als unerträglich für ihre Verbündeten erweisen«. Um Napoleon in noch größere Schwierigkeiten zu bringen, schlug er zudem vor, in Deutschland einen bewaffneten Aufstand gegen die französische Fremdherrschaft auszulösen.8

Mit seiner Analyse legte Tschujkewitsch überzeugend die Notwendigkeit eines Rückzugs der russischen Armee dar, bis das Kräftegleichgewicht zwischen beiden Heeren hergestellt sein würde. Zudem müsse der Rückzug der russischen Armee von einem aktiven Partisanenkrieg begleitet werden. Kriegsminister Barclay de Tolly setzte wenig später die Vorschläge des Nachrichtendienstoffiziers im Krieg gegen Napoleon tatsächlich um.9

Berichte über die Annäherung der Grande Armée an die russischen Grenzen gingen nunmehr regelmäßig bei der Sonderkanzlei sowie den Befehlshabern der 1. und 2. westlichen Armee ein. Hierzu gehörten auch Meldungen über die Konzentration der Hauptkräfte Napoleons im Raum Elbing, Torun und Danzig. Auch das Datum, an dem die französischen Truppen und ihre Verbündeten die Grenze zum Russischen Reich überschreiten würden, der 24. Juni 1812, wurde von den russischen Agenten korrekt ermittelt. Tatsächlich begann die rund 475.000 Mann starke Grande Armée an diesem Tag damit, den Grenzfluss Memel zu überqueren. Gleichwohl gelang es dem russischen Militärgeheimdienst nicht, die genauen Orte der Flussüberquerung auszumachen, sodass der französische Einmarsch zu einer gewissen Desorganisation der Führung der russischen Streitkräfte und ihrer nachrichtendienstlichen Aktivitäten führte.10

Mitte August 1812, nach der Schlacht von Smolensk, übernahm Generalfeldmarschall Michail I. Kutusow den Oberbefehl über die russischen Armeen. Bei Borodino mussten seine Truppen eine empfindliche Niederlage hinnehmen, doch blieb Napoleon der Erfolg einer Entscheidungsschlacht mit der Vernichtung des Gegners versagt. Zwar konnten die französischen Streitkräfte und Napoleon noch Moskau besetzen, doch da die Russen entsprechende Friedensverhandlungen verweigerten, sah sich der französische Imperator Ende Oktober 1812 aufgrund von Nachschubschwierigkeiten gezwungen, den Rückzug anzutreten. Damit konnte die russische Seite weiter die Strategie umsetzen, die die Offiziere der Sonderkanzlei des Kriegsministeriums Anfang des Jahres ausgearbeitet hatten.

Besondere Bedeutung sollte nun der von Tschujkewitsch angeregte Partisanenkrieg erlangen. Zumeist aus Kosaken bestehende Aufklärungs- und Sabotageeinheiten der russischen Armee – in der Regel 50 bis 500 Mann stark – überfielen hinter den feindlichen Linien französische Garnisonen sowie Versorgungskolonnen, zerstörten deren Transportmittel und jagten sowohl versprengte Einheiten als auch die Kuriere, die die Verbindung zwischen Napoleon und seinen Truppen sicherstellten.11Vor allem die letztgenannten Operationen ermöglichten es, in den Besitz von Schlüsselunterlagen zu gelangen, die den russischen Militärnachrichtendienst in die Lage versetzten, die Geheimkorrespondenz zwischen der französischen Generalität zu dechiffrieren und deren Pläne aufzudecken. So erbeutete während der Schlacht von Tarutino am 18. Oktober 1812 eine Partisanenabteilung unter Oberst Nikolaj D. Kudaschew eine Depesche des französischen Generalstabschefs Marschall Louis-Alexandre Berthier. Das wenig später entschlüsselte Schreiben enthielt die Weisung, das gesamte schwere Gerät der Grande Armée über die Straße von Moshajsk abzutransportieren. Diese Information ermöglichte es Kutusow, mit seinen Hauptkräften den Franzosen den Weg nach Kaluga zu blockieren, über den sie sich nach Süden zurückziehen wollten. Die französische Streitmacht sah sich nunmehr gezwungen, über die bereits im Sommer geplünderte und verwüstete Straße von Smolensk nach Westen zu marschieren. Der Rückzug gipfelte schließlich in einer wilden Flucht, die Ende November 1812 ihren tragischen Höhepunkt beim verlustreichen Übergang über die Beresina fand und zur Vernichtung der Grande Armée führte.12Der Vaterländische Krieg von 1812 endete so mit einer vollständigen Niederlage der französischen Armee. Der russische Militärgeheimdienst hatte einen entscheidenden Anteil an diesem Sieg. Tschujkewitsch selbst übernahm Anfang 1813 dessen Führung.

Gut zwei Jahre später wurde mit dem Ende der Napoleonischen Kriege die Sonderkanzlei des Kriegsministeriums allerdings aufgelöst und ihre Funktionen an die 1. Abteilung der Verwaltung des Generalquartiermeisters beim Hauptstab übergeben. Diese befasste sich allerdings zunehmend – da eigene Agenten fehlten – mit der Auswertung von Informationen, die zumeist aus dem Außenministerium sowie anderen Quellen stammten. Gleichwohl gab es auch Versuche des Kriegsministeriums, eigene Offiziere ins Ausland zu kommandieren, die jedoch kaum von Erfolg gekrönt waren und eher die Ausnahme denn die Regel darstellten. Es gelang jedoch immerhin, einen Leutnant nach Bayern und einen Oberst nach Paris zu entsenden, aber auch im usbekischen Chiwa und Buchara zogen russische Offiziere, getarnt als Diplomaten, entsprechende Erkundigungen ein. Obgleich die Weisung bestand, dass die russischen Geschäftsträger militärische Informationen zu beschaffen hatten, riefen derartige Instruktionen bei den Beamten des Außenministeriums und dessen oberster Führung keine Begeisterung hervor. 1832 versuchte der damalige russische Außenminister Karl Robert von Nesselrode sogar, den lästigen Auftrag an das Finanzministerium weiterzureichen, indem er auf die Auslastung seiner Mitarbeiter mit politischen Fragen und deren unzureichende militärische sowie rüstungstechnische Kenntnisse verwies. Eine 1836 erfolgte Reorganisation des Kriegsministeriums besserte die Lage nicht. Zwar existierte dort nun ein aus drei Abteilungen bestehendes Generalstabsdepartement, von denen die zweite (militärwissenschaftliche) Abteilung nachrichtendienstliche Aufgaben erfüllen sollte, doch beschränkten sich diese wie bereits zuvor auf die Auswertung der vom Außenministerium übermittelten Informationen.13

Erst die empfindliche russische Niederlage im von 1853 bis 1856 dauernden Krimkrieg – Russland verlor während der Kämpfe mehr als 522.000 Mann und häufte Kriegsschulden in Höhe von 800 Millionen Goldrubeln an – führte zu einem Umdenken. Nur wenige Monate nach dem im März 1856 erfolgten Pariser Friedensschluss bestätigte Zar Aleksandr II. eine Instruktion über die Tätigkeit der nun wieder eingeführten Militäragenten. Die Agenten, deren Funktion mit heutigen Militärattachés vergleichbar war, erhielten den Auftrag: 1. genaue Informationen über die Zahl, die Zusammensetzung und Dislokation von Landwie Seestreitkräften des Gastlandes zu sammeln, 2. die Möglichkeiten der jeweiligen Regierung zur Verstärkung der Streitkräfte sowie zu deren Versorgung mit Waffen und Munition zu untersuchen, 3. Angaben zu Truppenbewegungen zu machen, 4. über den aktuellen Zustand von Festungen und Befestigungsanlagen zu berichten, 5. die Entwicklung und Produktion neuer Waffen zu beobachten, 6. das Kriegsministerium über Manöver und Übungen zu unterrichten, 7. die Moral der Truppen und die intellektuellen Fähigkeiten des Offizierskorps zu bewerten. Ferner hatten sie Informationen über die militärischen Ausbildungseinrichtungen, den Generalstab sowie die Fähigkeit zu sammeln, Truppentransporte per Eisenbahn durchzuführen. Die Militäragenten sollten zudem wichtige militärwissenschaftliche Veröffentlichungen und Kartenwerke beschaffen und diese nach Sankt Petersburg bringen lassen. All diese Aufgaben waren unter strengster Konspiration durchzuführen, sodass bei den »örtlichen Regierungen gegen den Agenten nicht der geringste Verdacht entstand«. Bereits im Sommer 1856 agierten daraufhin in London, Paris, Wien, Konstantinopel und Turin russische Generalstabsoffiziere als Militäragenten des Zaren.14

Dessen besondere Aufmerksamkeit erregte der Militäragent in der britischen Hauptstadt, Oberst Nikolaj P. Ignat’ew. Der brillante Offizier hatte zuvor Russland auf dem Pariser Kongress vertreten, der den Krimkrieg beendete. Nach seinem Aufenthalt in Großbritannien schlug er Aleksandr II. in einem Strategiepapier über Zentralasien vor, hier die russischen Positionen auszubauen, um die Engländer in dieser Region zu schwächen. Der Offizier regte deshalb an, Expeditionen in die zentralasiatischen Steppen auszusenden und diese für den Handel und militärischen Nachrichtendienst zu erforschen und zu kartieren. Durch den Ausbau der Beziehungen zu Russland könne man die Khanate Kokand, Buchara und Chiwa zu Pufferstaaten gegen eine weitere englische Expansion ausbauen. Da der Plan die Zustimmung des Zaren fand, nahm eine von Ignat’ew geleitete russische Delegation ab 1857 Gespräche mit Chiwa und Buchara auf, die im Sommer 1858 zum Abschluss entsprechender Wirtschaftsverträge führten. Da die offiziell dem Außenministerium unterstehende Abordnung insgeheim auch für das Kriegsministerium arbeitete, sammelte sie zudem zahlreiche topografische, statistische und nachrichtendienstliche Informationen über strategisch wichtige Verkehrswege in der Region, die bei der nachfolgenden Einrichtung von Stützpunkten und Protektoraten in den Khanaten eine große Hilfe waren. Von dort aus erfolgte dann seit dem Ende der 1860er-Jahre die weitere Expansion des russischen Reiches bis hin zur Grenze Afghanistans.15

Gleichzeitig kam es zur Einrichtung des Instituts von Flottenagenten, die praktisch die Aufgaben von Marineattachés erfüllten. Als erster Flottenagent in London wie auch Paris fungierte seit 1856 Generaladjutant Vizeadmiral Ewfimij W. Putjatin, der diese Aufgabe mit kurzer Unterbrechung bis 1861 wahrnahm. Sein Nachfolger wurde Konteradmiral Grigorij I. Butakow, der zwischen 1860 und 1862 auch den Posten des Flottenagenten in Italien innehatte. Von 1863 bis 1867 wirkte der Admiral dann in Personalunion als Marineattaché in Italien, Großbritannien und Frankreich. Seit 1872 existierte auch an der russischen Botschaft in Wien die Stelle eines Flottenagenten, dessen Funktionen zunächst für neun Jahre Konteradmiral Iwan A. Schestakow wahrnahm, der gleichzeitig auch als Marineattaché in Italien wirkte. Weil sowohl die Militärwie auch die Flottenagenten persönlich vom Zaren ernannt wurden, unterstanden sie zunächst weder dem Kriegsnoch dem Flottenministerium. Die Generalstabsoffiziere waren jedoch an die russischen Botschaften im Ausland angebunden, damit gehörten sie zum diplomatischen Korps und genossen dessen Privilegien und Immunität, was vor der strafrechtlichen sowie zivilrechtlichen Verfolgung bei der Spionage im Gastland schützte.16

1863 übertrug Aleksandr II. schließlich versuchsweise den militärischen Nachrichtendienst auf die neugebildete Hauptverwaltung des Generalstabes. Hier sollten die 2. (asiatische) und die 3. (militärwissenschaftliche) Abteilung, die dem Vizedirektor unterstanden, Aufgaben der Militäraufklärung wahrnehmen. Letztere hatte militärische und wehrtechnische Informationen im Ausland zu beschaffen sowie die Militäragenten und militärwissenschaftlichen Delegationen anzuleiten, die für die Nachrichtensammlung in die Nachbarstaaten Russlands entsandt wurden. Hierfür verfügte die 3. Abteilung über vierzehn Offiziersplanstellen. Ähnliche Funktionen übernahmen die acht Generalstabsoffiziere der 2. Verwaltung, die sich jedoch bei der Informationsbeschaffung auf Länder konzentrierten, die in Asien an das Zarenreich grenzten. Da sich diese Struktur offenbar bewährte, erfolgte im Zuge der 1865 vollzogen Reorganisation des Generalstabes im Wesentlichen nur eine Umbenennung der für den Nachrichtendienst verantwortlichen Abteilungen. Aus der 3. Abteilung wurde nun die 7. militärwissenschaftliche Abteilung des Generalstabes, die fortan unter Führung von Oberst Fjodor A. Fel’dman stehen sollte. Die 2. Abteilung firmierte jetzt als »Asiatischer Teil« des Generalstabes. Für den Militärnachrichtendienst spionierten nunmehr sechs Militäragenten – in Paris bis 1876 Flügeladjutant Oberst Fürst Peter zu Sayn und Wittgenstein, in Wien bis 1871 der Deutschbalte Generalmajor Baron Theodor von Tornau, in Berlin bis 1866 Generaladjutant Graf Nikolaj W. Adlerberg, in Florenz bis 1868 Generalmajor Wsewolod G. Gasfort, in London bis 1871 Generalmajor Nikolaj A. Nowizkij und in Konstantinopel bis 1870 Oberst Wiktor A. Frankini.17