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Edwin Hoernle

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Beschreibung

Edwin Hoernle war der führende Pädagoge der Kommunistischen Kindergruppenbewegung der Weimarer Zeit. Seine Arbeiten gelten einer Erziehung, die sich gesellschaftliche Veränderungen zum Ziel setzt, einer Erziehung, die nicht mehr nur passive Widerspiegelung der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse ist, sondern die klassenspezifische Erkenntnis der Arbeiterkinder fördert und damit die Grundlage ihrer Emanzipation setzt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Edwin Hoernle

Grundfragen der proletarischen Erziehung

Herausgegeben von Lutz von Werder und Reinhart Wolff

FISCHER Digital

Inhalt

Vorwort1. Teil: Die Grundfragen der proletarischen ErziehungErziehung, Gesellschaft, KlasseErziehung und KlassenkampfDie Erziehung in der UrgesellschaftDie Entwicklung des Privateigentums und der KlassenerziehungDie Erziehung in der späteren Antike, in der Feudalgesellschaft, in den warenproduzierenden Stadtstaaten und im absolutistischen StändestaatDie ökonomisch-politische Revolution des Kapitalismus und die klassische PädagogikFamilie und ErziehungDie bürgerliche FamilieDie Sprengung der Familie durch den KapitalismusDie Familie des ProletariersKleinbürgerliche Versuche zur Neubelebung der FamilieDie Familie als Produktionsstätte billiger und williger ArbeitskräfteDie Familie als reaktionäre KraftDie Eltern als ErzieherSystem und Apparat der bürgerlich-kapitalistischen ErziehungDas Bildungsmonopol der herrschenden KlasseDie VolksschuleDie BerufsschuleDie Rationalisierung des BildungswesensDer MilitarismusDie KircheJugend- und KinderverbändeDas PfadfindertumFaschismus und arbeitende JugendRote Jungpioniere und weiße PfadfinderUnorganisierte Formen der KindermassenbeeinflussungGrundsätze kommunistischer ErziehungDie Großindustrie als Basis für die Revolution der ErziehungArbeiterkind und ArbeiterklasseDie soziale ErziehungDie revolutionäre ArbeitserziehungDie politische KampferziehungDie kommunistische MoralDie wissenschaftliche ErziehungDie Kommunistische Partei als Leiterin der proletarischen ErziehungAnhangAustromarxistische SchulreformerDer scheinrevolutionäre pädagogische Idealismus2. Teil: Die Arbeit in den kommunistischen KindergruppenErster TeilReformistische und kommunistische Erziehung – Unser ZielIllusionen und IrrwegeKind, Eltern und ErzieherDie Natur des proletarischen KindesDie AltersstufenDas Kind als KämpferDie Gruppe als EnergiezentraleDie Organisation der kommunistischen KinderbewegungDie kollektive ArbeitDas SexualproblemDie Entwicklung der WeltanschauungZweiter TeilDie Jüngsten – Spiele und MärchenHelden und Heldentum in der KindergruppeWanderungenKinderaufsätze, Kinderbriefe, KinderkunstSchaubühne, Rezitation und ChöreDer Kampf in der SchuleDie Arbeit unter den erwerbstätigen KindernLiteraturBücherAufsätzeReden im ReichstagSekundärliteratur

Vorwort

In der Auseinandersetzung um den bloß affirmativen und spekulativen Charakter der traditionellen geisteswissenschaftlichen Pädagogik hat sich ein neues Verständnis von Erziehungswissenschaft entfaltet: Erziehungswissenschaft betreibt die ständige Aufklärung über die affirmativen Implikate der Erziehungsprozesse und ist einer Strategie zur Emanzipation der Kinder verpflichtet.

Allerdings hat sich bis heute in der Erziehungswissenschaft noch keine umfassende Diskussion über Adressat, Methodik und Didaktik emanzipatorischer Erziehungspraxis entwickelt. Es ist zu bezweifeln, ob die etablierte Erziehungswissenschaft bis zur Initiierung und begleitenden Reflexion emanzipatorischer Erziehungsprozesse tatsächlich vorstoßen wird. Eine politisch-praktische Dimension wird sie schwerlich gewinnen. Um so wichtiger ist darum der historische Rückgriff auf eine Pädagogik, die als theoretische und praktische Vernunft sich entworfen hat.

Einen Begriff einer solchen emanzipatorischen Pädagogik, die nicht nur um die Hindernisse der Emanzipation weiß, sondern sie praktisch zu beheben sucht, vermittelt die revolutionäre kommunistische Kinderbewegung der Weimarer Zeit.

Ihr bedeutendster Pädagoge ist Edwin Hoernle. In Schriften und Aufsätzen, mit denen er sich in die Reihe der kritischpraktischen Pädagogen, angefangen von Robert Owen über Clara Zetkin, Käthe Dunker bis zu Theodor Neubauer, Fritz Ausländer und Ernst Schneller einreiht, formuliert Hoernle die Probleme einer anti-kapitalistischen Erziehung auf dem Hintergrund des politischen und ökonomischen Herrschaftssystems der Weimarer Zeit. Hoernles pädagogisches Werk, das neben seinen agrarpolitischen, parteipolitischen und poetischen Schriften entstanden ist, reflektiert zugleich die Kämpfe der deutschen Arbeiterbewegung von 1919 bis 1929. Es enthält neben dem 1919 entworfenen Schulprogramm »Die kommunistische Schule« und vielen Aufsätzen im führenden Organ der marxistischen Pädagogik »Das proletarische Kind« (1920–1932) als wichtigste Beiträge »Die Arbeit in den kommunistischen Kindergruppen« (1923) und »Die Grundfragen der proletarischen Erziehung« (1929). Die Neuherausgabe dieser beiden Texte macht es möglich, sowohl die Theorie als auch die Praxis kommunistischer Erziehung in der Phase des Klassenkampfes zu studieren. Erziehung, die die Gesellschaft wirklich verändern will, darf Veränderung nicht nur appellativ fordern, sondern muß Erziehung zur Gesellschaftsveränderung, praktische Erziehung zum Klassenkampf sein.

Hoernle kann für die heutige Situation keine unmittelbare Handlungsanweisung geben. Er kann aber einer sozialistischen Erziehungsbewegung Erfahrungen vermitteln, die den heutigen Kampf konkretisieren und antizipatorische pädagogische Experimente fördern.

Hoernles organisations- und strategiepraktischer Beitrag zur emanzipatorischen Erziehung ist darum heute noch aktuell.

Berlin, im Sommer 1969

L. v.W.       R.W.

1. Teil: Die Grundfragen der proletarischen Erziehung

Erziehung, Gesellschaft, Klasse

Erziehung und Klassenkampf

Auf die Frage: Was ist Erziehung? gibt die bürgerliche Pädagogik eine Reihe von Antworten, die alle das eine gemeinsam haben, daß sie an die Stelle der konkreten, geschichtlichen Feststellung, was die Erziehung praktisch bis heute gewesen ist, also an die Stelle von beweisbaren Tatsachen, irgendwelche metaphysische und teleologische Spekulationen, sogenannte »Ideale« setzen, denen angeblich die Erziehung gedient habe oder dienen soll.

Nirgends wird mehr mit schönklingenden Phrasen wie »Menschlichkeit«, »Persönlichkeit«, »Kulturgut« operiert als gerade auf dem Gebiete der Erziehung. Für uns Marxisten ist dieses Umsichwerfen mit wohlklingenden Phrasen eine Warnung, die uns verrät, daß die Bourgeoisie auf diesem Gebiete etwas ganz besonders Gefährliches im Schilde führt und dem Proletariat zu verbergen wünscht. Um so mehr ist es unsere Aufgabe, den realen, historischen Inhalt des Begriffes Erziehung rücksichtslos herauszuschälen, um dadurch den Boden frei zu machen, auf dem wir das Fundament einer neuen, revolutionär-proletarischen Erziehung legen können.

Die Bourgeoisie beruft sich bei ihren Täuschungsmanövern auf die großen Klassiker des bürgerlichen Geisteslebens im allgemeinen und auf die Klassiker der bürgerlichen Pädagogik im besonderen. Ein Herder und Lessing sahen das Erziehungsziel ihrer Zeit in der »Humanität«, ein Pestalozzi in der »harmonischen Entwicklung der menschlichen Anlagen«, ein Jean Paul in dem »Freimachen des idealen Menschen«, ein Immanuel Kant in der Anpassung an den »zukünftig möglichen besseren Zustand des Menschengeschlechts«, ein Herbart verlangte die Erziehung zum »sittlichen Charakter«.

Während aber diese Worte im Munde der bürgerlichen Klassiker vor 100 bis 150 Jahren etwas geschichtlich Bestimmtes, durchaus Greifbares bedeuten, denn sie waren Kampflosungen des revolutionären Bürgertums gegen die feudale, zünftige und kirchliche Unterdrückung, bedeuten dieselben Worte im Munde der sattgewordenen Epigonen nichts anderes als einen Versuch, den reaktionären und volksfeindlichen Charakter der heutigen Schule und bürgerlichen Erziehungseinrichtungen hinter einer klassisch ausgestatteten Kulturkulisse zu verbergen[1].

Demgegenüber erklären wir Kommunisten mit aller Unzweideutigkeit, daß innerhalb der Klassengesellschaft bis auf den heutigen Tag die Erziehung weder der »Kultur« noch der »Menschlichkeit«, noch dem »sozialen Aufstieg« dient, sondern kurz und kraß gesprochen eine Klassenerziehung ist, gehandhabt von der herrschenden Klasse mit dem Ziele, die arbeitenden Massen in dienstwilligem Gehorsam zu erhalten und die bestehenden Produktionsverhältnisse zu konservieren bzw. im Interesse der Besitzenden weiter auszubauen.

Auch die Geschichte der Erziehung entspricht jener grundlegenden Feststellung von Karl Marx im Kommunistischen Manifest, wonach die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft eine Geschichte von Klassenkämpfen war. Lenin hat in seiner berühmten Rede auf dem VIII. Allrussischen Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes diese marxistische Erkenntnis für den Bereich der Schule und Erziehung folgendermaßen formuliert:

»Die alte Schule erklärte, daß sie die Schaffung eines allseitig gebildeten Menschen bezwecke, daß sie die Wissenschaften im allgemeinen lehre. Wir wissen, daß dies durch und durch verlogen war, denn die ganze Gesellschaft beruhte auf der Einteilung der Menschen in Klassen, in Ausbeuter und Unterdrückte. Es ist ganz natürlich, daß die ganze alte Schule, da sie vollständig vom Klassengeist durchsetzt war, nur den Kindern der Bourgeoisie Kenntnisse verlieh. Jedes ihrer Worte war im Interesse der Bourgeoisie gefälscht.«

Auch die Erziehung ist nichts anderes, als eine Funktion der Gesellschaft und innerhalb der Klassengesellschaft eine Funktion der herrschenden Klasse. Sie ist so lange ausschließlich eine Funktion der herrschenden Klasse, als die Unterdrückten sich nicht zur Wehr setzen und im Zusammenhang mit ihrem Kampf um wirtschaftliche und politische Befreiung eine ihren Klasseninteressen entsprechende neue und revolutionäre Klassenerziehung hervorbringen. Der Kampf zweier Erziehungssysteme ist stets eine Begleiterscheinung des Kampfes zweier Klassen um die Macht.

Aber, so sagen die bürgerlichen Reformpädagogen, das mag zutreffen für die Erziehung, wie sie früher war, und leider zum großen Teil heute noch ist. Jedoch das ist nicht die »Aufgabe« der Erziehung. Die wahre Erziehung muß über den kämpfenden Klassen und über den politischen Parteien stehen. Ja, die Hauptaufgabe der Erziehung besteht eben darin, die leidigen Klassengegensätze zu überbrücken, die Klassenkämpfe zu mildern und allmählich zu beseitigen, Unrecht und Krieg aus der Welt zu schaffen. Seht ihr denn nicht, rufen sie aus, daß gerade darin das Große und Herrliche unseres Erzieherberufes liegt, daß wir jenseits der Klassen stehen, um »vom Kinde aus«, geleitet nur durch die menschliche Vernunft und die hehren Ideale der vollkommenen Menschlichkeit, die Neugestaltung der Gesellschaft in Angriff zu nehmen?

Die pädagogischen Idealisten, die so sprechen, gehen aus von der Ansicht, daß es jenseits der realen, geschichtlich gewordenen Produktionsverhältnisse und Klassenkämpfe noch irgendwo eine besondere Welt des Geistes, sozusagen der reinen Idee, gäbe, aus der die Erzieher ihre Maßstäbe und Ziele entnehmen können, um mit diesen Ideen die Menschheit allmählich wie mit einem Sauerteig zu durchdringen und umzuformen. Sie sehen in den Klassenkämpfen nicht die geschichtlich gegebene, notwendige Bewegungsform der menschlichen Entwicklung auf dem Boden des Privateigentums, sie glauben an die Möglichkeit, durch eine »rationale Erziehung« den Klassenkampf ausschalten zu können, der für sie nur eine Verirrung oder ein unangenehmes Beiwerk bedeutet.

Die gesamte kleinbürgerlich-sozialistische Reformpädagogik ist von dieser »idealistischen« Weltanschauung durchdrungen. Die Internationale Pädagogische Konferenz in Heidelberg, die im August 1925 vom »Internationalen Arbeitskreis der Erneuerung der Erziehung« veranstaltet wurde, und an der die ersten Namen der modernen Pädagogik aus Amerika, England, Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei, Deutschland etc. teilnahmen, war ein einziger Hymnus auf den angeblichen Beruf des Pädagogen, durch »Weckung der schöpferischen Kräfte im Kinde« ein vollkommenes neues Zeitalter heraufzuführen, die »menschliche Brüderschaft« ins Leben zu rufen. An hohem Ideenflug, an feinem psychologischem Verständnis für die »Seele des Kindes«, an Mut zur Aufopferung, an ehrlichem Willen, gegen den kapitalistischen Drill und die Knebelung des jugendlichen Geistes zu kämpfen, fehlte es diesen pädagogischen Utopisten gewiß nicht. Sie übersahen nur eine Kleinigkeit, daß nämlich die heutige Erziehung und alle ihre Einrichtungen nicht eine zufällige Erscheinung, sondern in der Klassenherrschaft der Bourgeoisie und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen tief verwurzelt sind, daß der bekämpfte Drill, die kasernenhofmäßige Autorität, die Trennung von Theorie und Praxis, nicht nur Auswüchse und Mängel einer an sich gesunden Institution sind, sondern unvermeidlicher Zubehör eines in sich geschlossenen Systems, eines Systems, das im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten zusammen mit dem Kapitalismus, auf dem Boden des Kapitalismus entstanden ist. Dieses System kann deshalb auch nicht durch einen Appell an die »Vernunft« der Machthaber oder durch schrittweise Reformen innerhalb des Kapitalismus, sondern allein durch die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, d.h. durch die revolutionäre Vernichtung des Kapitalismus und mit Hilfe der proletarischen Diktatur beseitigt werden.

Die radikalsten bürgerlichen Reformpädagogen bleiben mit ihrem »Appell an die Vernunft« weit hinter der Erkenntnis des großen utopischen Sozialisten und Erziehers Robert Owen zurück, der schon vor 100 Jahren in seiner Selbstbiographie die Worte schrieb:

»Mein großes Experiment sollte beweisen, daß die elende Umgebung der Menschen von der Geburt bis zum Tode sie schlecht macht, eine neue, veränderte, gute und gehobene Umwelt ihr Leben in ein gutes, vernünftiges und glückliches wandeln müsse.«

Robert Owens Fehler bestand nur darin, daß er, wie alle sozialen Utopisten seiner Zeit – insbesondere auch wie Charles Fourier – die Rolle des Klassenkampfes nicht begriff und das neue Milieu, das die Menschen ändern sollte, gleichsam experimentell im Laboratorium zu züchten und in kleinen Dosen dem großen kapitalistischen Körper einzuverleiben suchte. Die bürgerliche Gesellschaft hat sich dann auch bald des Owenschen Fremdkörpers wieder entledigt. Die Lehre Owens jedoch von der grundlegenden Bedeutung des sozialen Milieus für die Charaktergestaltung des Menschen wurde von Karl Marx übernommen und bildet heute eine der Grundprinzipien der revolutionären Pädagogik Sowjetrußlands.

Man kann eine Revolution auf dem Gebiete der Erziehung nicht herbeiführen, ohne gleichzeitig das soziale »Milieu« zu verändern, d.h. ohne die ökonomisch-politische Revolution des Proletariats und ohne eine Wechselwirkung zwischen Politik und Erziehung herzustellen. Nur in der Atmosphäre des proletarischen Klassenkampfes, nur in dem Milieu der für den Sozialismus kämpfenden Arbeitermassen, nur in engster Verbindung von Schule und Massenbewegung können die neuen Erziehungsgrundsätze und Einrichtungen, die neuen Erzieher und Schüler entstehen, deren die sozialistische Gesellschaft bedarf. Im Fegefeuer der proletarischen Revolution ändern sich ja nach Marx nicht allein die Verhältnisse, sondern auch die Menschen, die von diesen Verhältnissen geformt werden und rückwirkend selber wieder die Verhältnisse formen.

Indem die reformistischen Pädagogen diese Verbindung von Pädagogik und proletarischer Politik ablehnen, reichen sie den offen reaktionären Schulmeistern des Bürgertums die Hand, die ja ebenfalls behaupten, daß Erziehung mit Politik nicht das geringste zu tun habe und daß die Kinder des Proletariats von jeder Berührung mit dem Klassenkampf des Proletariats sorgfältig gehütet werden müssen. Sie versuchen damit die Erziehung aus einer Funktion der Gesellschaft in eine private Tätigkeit einzelner Eltern oder Berufserzieher zu verwandeln; sie verhüllen damit den Charakter der bürgerlichen Schule als eines Instruments der bourgeoisen Klassenherrschaft und zeigen dafür den Massen die schillernde Kulisse der »Humanität«. Unser Kampf richtet sich deshalb ebenso entschieden gegen den pädagogischen Reformismus wie gegen die pädagogische Reaktion. Bereits im Kommunistischen Manifest hat Karl Marx der bürgerlichen Erziehungslüge die Larve vom Gesicht gerissen, indem er schrieb:

»Aber, sagt ihr, wir heben die trautesten Verhältnisse auf, indem wir an die Stelle der häuslichen Erziehung die gesellschaftliche setzen. Und ist nicht auch eure Erziehung durch die Gesellschaft bestimmt? Durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer ihr erzieht, durch die direktere oder indirektere Einmischung der Gesellschaft vermittels der Schule usw.? Die Kommunisten erfinden nicht die Einwirkung der Gesellschaft auf die Erziehung: sie verändern nur ihren Charakter, sie entreißen die Erziehung dem Einfluß der herrschenden Klasse.«

Alle Erziehung ist also nach Karl Marx eine gesellschaftliche Erziehung und liegt, solange die ausgebeuteten Klassen sich nicht dagegen auflehnen, ausschließlich in der Hand der herrschenden Klassen. Die erste Aufgabe der proletarischen Erziehung ist also, dieses zu erkennen und daraus den Schluß zu ziehen, daß auch die proletarische Erziehung eine Klassenerziehung, und zwar eine politische Klassenerziehung sein muß. Auf dem Ersten Allrussischen Kongreß für Volksbildungswesen 1918 hat Lenin diese Erkenntnis folgendermaßen formuliert:

»Manche werfen uns vor, wir machten die Schule zu einer Klassenschule. Aber die Schule war zeit ihres Bestehens eine solche … Wir sagen, daß auch unsere Schule eine Klassenschule sei, jedoch ausschließlich die Interessen der werktätigen Bevölkerungsschichten verfolgen wird.«

Die Erziehung in der Urgesellschaft

Ein kurzer Rückblick auf die Geschichte der Erziehung, sowohl der Erziehungspraxis wie der Erziehungstheorien wird die Richtigkeit dieser These Lenins beweisen.

Schon bei den sogenannten Naturvölkern, auf der Stufe der primitivsten, noch urwüchsig kommunistischen Wirtschaftsverfassung, hat eine mehr oder weniger planmäßige gesellschaftliche Erziehung des Nachwuchses stattgefunden. Wir sind zu dieser Behauptung berechtigt auf Grund von Rückschlüssen, die wir aus der ziemlich komplizierten und bis in die einzelnen Kleinigkeiten geregelten Ordnung des Nahrungserwerbs und der Nahrungsverteilung bei den verschiedensten primitivsten Völkerschaften Australiens, Amerikas, Afrikas und Indiens ziehen können. Ohne eine gewisse planmäßige und gesellschaftlich organisierte Erziehung konnte diese Ordnung gar nicht von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben werden.

In ihrer »Einführung in die National-Ökonomie« entwirft Rosa Luxemburg in kurzen Umrissen ein Bild der Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation bei den verschiedensten sogenannten Urvölkern. Von den Australnegern sagt sie, daß der »Plan der Produktion« bei ihnen »außerordentlich kompliziert und bis ins einzelne ausgearbeitet war«. Sie schildert dann die Bedeutung und die Tätigkeit der sogenannten Totemgruppen, von denen sie sagt, daß in ihnen »jedermann auf den ersten Blick eine ausgebildete Organisation der gesellschaftlichen Produktion« erkennen müsse.

»Alle Gruppen zusammen bilden ein geordnetes, planmäßiges Ganzes, und auch jede Gruppe für sich verfährt ganz organisiert und planmäßig unter einer einheitlichen Leitung. Die Tatsache aber, daß dieses Produktionssystem in religiöser Form auftritt, in Form von allerlei Speiseverboten, Zeremonien usw., beweist nur, daß dieser Produktionsplan uralten Datums ist, daß vor vielen Jahrhunderten, ja Jahrtausenden diese Organisation bereits bei den Australnegern bestand, so daß sie Zeit hatte, in starren Formen zu verknöchern, daß zu Artikeln des Glaubens an geheimnisvolle Zusammenhänge wurde, was ursprünglich einfache Zweckmäßigkeit vom Standpunkte der Produktion und der Nahrungsbeschaffung war.«

Die Erziehung in der primitiven Gesellschaft muß demnach in einer ziemlich mechanischen Weitergabe bestimmter durch Erfahrung gewonnener Kenntnisse, erworbener Fertigkeiten und erstarrter »Zauberformeln« von Generation zu Generation bestanden haben, wobei aber die Kinder die Erwachsenen beim Sammeln von Früchten, Würmern, Muscheln, beim Zusammentragen des Feuerungsholzes und teilweise auch schon bei der Jagd begleiteten, ferner am Zerlegen, Zubereiten und Verteilen der Beute, an der Einrichtung des Lagers und der Herstellung von Geräten aktiv beteiligt waren. In seiner Schrift über »Die Verwandtschaftsorganisation der Australneger« (Dietz, Stuttgart, 1894) berichtet Heinrich Cunow:

»Mit dem fünften, sechsten Jahr beginnt für die Kinder beiderlei Geschlechts die Lernzeit: Die Mädchen müssen das Hüttenbauen, Flechten, Wurzelsuchen usw. erlernen, während die Knaben sich im Schwimmen, Speerschleudern, Gebrauch der Steinaxt und im Jagen üben. Für ihren Unterhalt haben sie in diesem Alter schon teilweise selbst zu sorgen.«

Also schon die älteste Erziehung war zweifellos eine gesellschaftliche Erziehung und bestand aus einer Kombination von Unterricht und gesellschaftlich notwendiger Arbeit, wobei zwischen Männern und Frauen, Knaben und Mädchen, sowie zwischen den einzelnen Totemgruppen strengste Arbeitsteilung, aber keinerlei Unordnung bestand. Form und Methoden dieser Erziehung waren durch die Produktionsverhältnisse bedingt.

Da diese Erziehung noch keine Klassenerziehung war, denn die primitive Horde kannte weder Privateigentum noch Klassengliederung, fehlte in ihr auch jede Unterdrückung der Frauen und Kinder. Dies wird uns ausdrücklich von vielen Forschern bestätigt. So wird – wir zitieren immer nach Rosa Luxemburg – vom australischen Stamm der Chepara mitgeteilt:

»Männer, Weiber und Kinder verlassen das Lager am frühen Morgen, um Nahrung zu suchen. Nachdem sie genügend gejagt haben, tragen Männer und Weiber ihre Beute zur nächsten Wassergrube, wo Feuer gemacht und das Wild gebraten wird. Männer, Weiber und Kinder essen alle freundschaftlich zusammen, nachdem die Alten die Nahrung unter alle gleich verteilt haben.«

Und der englische Forscher Howitt, der die Völkerschaften im Südosten Australiens beobachtet hat, erklärt: »Die Kinder sind in allen Fällen von den Großeltern wohl versorgt.« Von einem anderen Stamme wird berichtet: »Die Weiber erhalten gleiche Teile wie die Männer, und die Kinder werden von beiden Seiten sorgfältig bedacht.« Von einem Indianerstamm an der kalifornischen Küste berichtet MacGee:

»Es ist die Pflicht der ersten Person, bei einem Mahle dafür zu sorgen, daß für die unter ihr Stehenden genügend übrigbleibe, und diese Pflicht steigt dann in der Weise abwärts, daß selbst für die Interessen der hilflosen Kinder gesorgt ist.«

Altersrang ist hier also gleichbedeutend mit Fürsorgepflicht! Von verschiedenen südamerikanischen Indianerstämmen ist es bekannt, daß sie ihre Kinder nie schlagen, sondern mit äußerster Sorgfalt behandeln.

Auf einer späteren Stufe, auf der mit der fortschreitenden Technik und Arbeitsproduktivität ein, wenn auch unbedeutendes Privateigentum aufkam, finden wir auch die ersten Anfänge einer gesellschaftlichen Gliederung, d.h. einer Über- und Unterordnung verschiedener Schichten innerhalb ein und desselben Geschlechtsverbandes. (Vgl. H. Eildermann: Urkommunismus und Urreligion.) Damit entstehen auch die ersten Keime einer autoritativen, mit Zwang verbundenen Kindererziehung. Jetzt erst entstehen jene für die bürgerlichen Geschichtsschreiber so geheimnisvollen Männerbünde (ursprünglich nichts anderes als Jagdgefährtenschaften) und die scharfe Abgrenzung der verschiedenen Altersklassen mit verschiedenen Rechten und Pflichten. Jetzt erst werden den bevorzugten Personen größere Anteile an der Jagd- und Sammelbeute zugewiesen, werden für die Jüngeren Speiseverbote erlassen.

Mit den ersten Keimen des Privateigentums entsteht auch das Übergewicht der Männer über die Frauen, seltener der Frauen über die Männer und die Herrschaft der Erwachsenen über die Kinder. Der neue, autoritative Charakter der Erziehung offenbart sich besonders deutlich in den feierlichen, oft wochenlang dauernden, meist recht schmerzhaften und stets mit geheimnisvollen Zeremonien verbundenen Mannbarkeitsprüfungen, denen sich der Jüngling unterwerfen muß, ehe er für würdig erachtet wird, in die Reihen der bevorzugten und regierenden Altersklasse bzw. in den Geheimbund der Männer einzutreten.

In seinem wertvollen Buche: »Urkommunismus und Urreligion« (Berlin, Seehof, 1921) schreibt Heinrich Eildermann:

»So wurden also die angehenden Jäger von den alten Männern schärfer vorgenommen und nicht nur in den Gebrauch der Jagd- und Kriegswaffen eingeführt, sondern sie empfingen auch Belehrung über Wohlverhalten gegen die älteren Hordenmitglieder sowie über die Speisen, die ihnen zuträglich oder nicht zuträglich waren; daß die nicht bekömmlichen an das Lager zu liefern seien und die alten Leute stets die größten und besten Stücke erhalten mußten … Während ihrer Lehrzeit wurden die Jungen nun durch schmerzhafte Prüfungen (Mutproben) gepeinigt, durch Drohungen eingeschüchtert und gefügig gemacht.«

Auch Frauenbünde entstehen. An Stelle der primitiven Zauberformel treten in dieser Periode der differenzierten Horde kunstvolle Zeremonien, Tätowierungen und kultische Handlungen, die mit der Anrufung von Geistern, mit Opfern, Beschneidung, evtl. auch Entmannung der Mindertauglichen, verbunden sind. Dann tritt die Religion in die Erziehung ein. Wir sehen: Privateigentum, Klassenherrschaft, Religion stehen in innerem Zusammenhang, sie bestimmen von nun an das Wesen der gesellschaftlichen Erziehung, die einen autoritativen Charakter erhält und die Unterordnung der Kinder unter die Erwachsenen, der Frauen unter die Männer zur Voraussetzung hat.

Die Entwicklung des Privateigentums und der Klassenerziehung

In der folgenden Periode der »Barbarei« wird das Privateigentum an Produktionsmitteln, insbesondere an Viehherden, ausschlaggebend. Der Übergang zur Seßhaftigkeit beschleunigt bei Ackerbau treibenden Völkerschaften diese Entwicklung, vor allem in jenen Landstrichen, wo infolge der geographischen und klimatischen Verhältnisse größere Dammbauten, Kanalisationssysteme, große Vorratskammern für periodische Mißernten, erforderlich sind. Als Leiter dieser öffentlichen Arbeit und Einrichtungen, als Vorsteher der periodischen Flurverteilung und Verwaltung der gemeinsamen Vorratskammern, als Organisator der Landesverteidigung gewinnt der Häuptling ungeheuer an Macht und Ansehen. Aus dem Verwaltungsapparat macht der Häuptling mit der Zeit einen Unterdrückungsapparat, die bewaffneten Wächter der heiligen Vorratskammern, der Kanal- und Dammbauten, sowie der Landesgrenzen werden zu bewaffneten Dienstleuten des Herrschers. Alle öffentlichen Einrichtungen, insbesondere aber die Vorratskammern, werden mit einem religiösen Nimbus umgeben; verwandeln sich in Tempel und Königsburgen. Der Häuptling selbst wird zum Oberpriester und damit zu einem »Sohne Gottes«. Die Vererbung der Häuptlingswürde gelingt um so leichter, je stärker ausgeprägt diese priesterliche Stellung des Häuptlings ist, und je mehr zur Ausübung des Häuptlingsberufes ganz bestimmte Verwaltungskenntnisse und Fertigkeiten erforderlich sind. Im Interesse der sich herausbildenden Häuptlingsdynastie werden diese Kenntnisse und Fertigkeiten zu einer Geheimwissenschaft der Priester und königlichen Schreiber gemacht.

Die Zunahme der Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern des Geschlechtsverbandes, die sich aus der Zunahme des Privateigentums ergeben, das wachsende Verlangen der wirtschaftlich Stärkeren, sich von dem hergebrachten Flurzwang und der periodischen Ackerverteilung frei zu machen, stärkt natürlich noch die Stellung des Häuptlings als obersten Richter. Während ursprünglich die richterliche Befugnis bei den Markgenossen selbst, beim sogenannten »Gerichtsumstand« lag, wird jetzt der Häuptling zur entscheidenden, das Urteil sowohl findenden wie vollziehenden Macht.

Da auch der Nahrungsspielraum sich mit dem Wachstum der Bevölkerung verengert, und die wirtschaftliche Wohlhabenheit der fortgeschrittenen Völkerschaften immer mehr zum Anreiz kriegerischer Raubüberfälle von seiten wandernder Nomaden wird, so gewinnt der Häuptling als Heerführer diktatorische Machtbefugnisse. Aus dem »Vordersten« wird der »Fürst«, aus dem »Kühnen« der »König«. Ihn umgeben die Edelsten und Besten, d.h. seine Unterfürsten, Hauptleute, Vögte, die er der wohlhabenden Jugend entnimmt als kriegerischer Adel. Der Krieg wird eine der Hauptfunktionen der neuentstehenden Klassengesellschaft und beschleunigt selbst wieder die Klassengliederung ungeheuer.

Entsprechend der zunehmenden Klassenscheidung und Militarisierung wird auch die Erziehung der Jugend jetzt sowohl differenziert wie militarisiert. Knechte und Abhängige werden vollkommen von der öffentlichen Erziehung ausgeschaltet. Da Handarbeit von jetzt an gegenüber Krieg und Verwaltung als minderwertig gilt, so entfällt auch jede öffentliche Erziehung zur Handarbeit, die allmählich als eine Sache der Unfreien der Verachtung anheimfällt. Aus den jährlichen Mannbarkeitsprüfungen der Jugend wird die jährliche Heerschau des Herrschers, der bei dieser Gelegenheit sein bewaffnetes Gefolge ergänzt, also seinen Unterdrückungsapparat vervollständigt. Gleichzeitig wird der Anteil des weiblichen Geschlechts am öffentlichen Leben und damit auch der öffentlichen Erziehung mehr und mehr zurückgedrängt. Als grundsätzliche Merkmale der Klassenerziehung auf dieser Stufe bilden sich heraus:

Beschränkung der öffentlichen Erziehung auf die Herrenklasse,

Verachtung der Handarbeit und daher Ausschaltung der Arbeitserziehung,

Minderbewertung des weiblichen Geschlechts und dementsprechend Trennung der Knaben- und Mädchenerziehung,

Durchdringung der ganzen Erziehung mit religiösem Kult.

Auf die Entstehung der Klassen wirken kriegerische Eroberungen besonders beschleunigend. Es kommt vor, daß ein noch vollkommen kommunistisch organisierter Geschlechtsverband einen anderen, auch noch kommunistisch organisierten unterwirft und ihn zwingt, die Überschüsse seiner Produktion an den Sieger abzuliefern. Rosa Luxemburg erwähnt in ihrem oben genannten Buche zwei klassische Beispiele solcher kriegerischer Staaten- und Klassenbildung: Den Staat der Inkas in Peru und die Dorischen Staatenbildungen auf Kreta und auf dem Peloponnes. Während aber die Inkas in Peru auch noch als herrschende Klasse den unterjochten Markgenossenschaften ihren Boden belassen und sich mit einem fortgesetzten Tribut begnügen, ja sogar selber noch einen Teil des Landes in alter, markgenossenschaftlich-kommunistischer Weise bebauen, zwingen die Dorer in Kreta die Urbevölkerung zur Ablieferung des ganzen Ernteertrages, von dem sie ihnen nur noch eine gering bemessene Notdurft überlassen. Sie selbst ergeben sich ausschließlich dem Waffenhandwerk und dem Müßiggang. Einen Schritt weiter gingen die Spartaner. Sie nahmen den unterworfenen Markgenossenschaften nicht nur die Ernte, sondern sogar den gesamten Grund und Boden weg, den sie nach urkommunistischen Grundsätzen unter sich aufteilten. Die unterworfenen Ureinwohner wurden zusammen mit den Ackerlosen an die neuen Markgenossen als unfreie Arbeitskraft verteilt. Da aber die Ackerlosen kein Privateigentum der einzelnen Spartaner waren, so bildeten auch die Heloten kein Privateigentum ihrer jeweiligen Herren, sondern blieben, wie der Boden, das Gemeineigentum des herrschenden Stammes.

Mit Recht erklärte Rosa Luxemburg, daß dieser parasitäre Kommunismus, wie wir ihn in Kreta und Sparta finden, alle Keime des Verfalls in sich trug. Nicht nur bei den ihrer ökonomischen Grundlage beraubten Heloten, sondern ebenso bei den sie ausbeutenden Spartiaten lösten sich die alten Geschlechtsverbände sehr rasch auf.

Rosa Luxemburg schreibt:

»Schon die Eroberung und die Notwendigkeit, die Ausbeutung als ständige Einrichtung zu festigen, führt zu starker Ausbildung des Kriegswesens, was wir sowohl im Inkastaat wie in den spartanischen Staaten sehen. Damit ist die erste Grundlage zur Ungleichheit, zur Ausbildung bevorrechtigter Stände im Schoße der ursprünglichen und freien Bauernmasse gelegt.«

Unter ähnlichen Bedingungen haben auch die als Eroberer während der Völkerwanderung im frühen Mittelalter vordringenden siegreichen Germanenstämme ihre urkommunistische Verfassung eingebüßt. Hier kam noch hinzu, daß die unterworfenen Völkerschaften bereits ein entwickeltes Privateigentum mit weitfortgeschrittener Klassenscheidung besaßen; soziale und rechtliche Institutionen, die sehr schnell von den Siegern übernommen wurden.

Welche Wirkung hatten diese Vorgänge auf die Erziehung?

Die von den bürgerlichen Historikern so hoch gefeierte spartanische Erziehung ist nur verständlich auf dem Boden dieses »parasitären« Kommunismus. Da die alte gesellschaftliche Verfassung des Geschlechtsverbandes innerhalb des Herrenvolkes noch bestand, so war diese Erziehung noch eine öffentliche und gesellschaftliche. Da aber der Kommunismus der Spartaner bereits ein parasitärer Kommunismus geworden war, so war diese Erziehung gleichzeitig beschränkt auf die Kinder der Herrenklasse. Da die privilegierte Stellung der Spartiaten nur mit Waffengewalt gegen außen und besonders gegen innen aufrechterhalten werden konnte, produktive Arbeit von den Spartiaten verabscheut wurde, so beschränkte sich die klassische spartanische Erziehung im wesentlichen auf kriegerische Ausbildung und Züchtung kriegerischer Tugenden. Die berühmten Syssitien der spartanischen Männer mit ihrer schwarzen Blutsuppe waren Überreste aus der Zeit der urkommunistischen gemeinsamen Mahlzeit der Jagdgefährtenschaft bzw. der Männerbünde. Die periodischen Auspeitschungen der älteren Knaben, um sie gegen Schmerzen zu stählen, waren Überreste der einstigen Mannbarkeitsprüfungen. Die möglichst frühzeitige Absonderung der Knaben aus der Einzelfamilie und deren gemeinsame öffentliche Erziehung waren die Vorschule für die militärischen Formationen und gleichzeitig ein Überrest der ursprünglichen Einteilung des Geschlechtsverbandes in Altersklassen. Die waffenfähigen Jünglinge Spartas bildeten zugleich die bewaffnete Polizeitruppe gegenüber den geknechteten Ackerbauern, die absichtlich aus ihrer urkommunistischen Organisation herausgerissen und damit auch jeder organisierten Erziehung beraubt worden waren.

Auch die von den bürgerlichen Historikern soviel gerühmte, verhältnismäßig freie und geachtete Stellung der spartanischen Frau erklärt sich aus der Tatsache, daß die Herrschaftsorganisation der Spartiaten ihre urkommunistische Verfassungsform noch lange Zeit bewahrte. Die ständige Gefahr verzweifelter Aufstände von seiten der Unterworfenen machte die körperliche Ausbildung auch der Mädchen notwendig. Sie nahmen an den öffentlichen Wettkämpfen, wenn auch von den Jünglingen streng gesondert, teil.

Die Erziehung in der späteren Antike, in der Feudalgesellschaft, in den warenproduzierenden Stadtstaaten und im absolutistischen Ständestaat

Im antiken Athen fehlte der Zwang, die kriegerische Ausbildung der gesamten Herrenklasse zwecks dauernder Überwachung versklavter Völkerschaften derartig in den Vordergrund zu stellen. Das ökonomisch fortgeschrittenere Athen hatte eine weit kompliziertere gesellschaftliche Struktur. In der Periode der Demokratie traten deshalb dort neben die körperliche Ausbildung in den Gymnasien, die staatlich waren, die ebenso öffentliche, politische Erziehung der wahlberechtigten Kleinbürgermassen durch Theater und Volksversammlung. Mit Hilfe dieser politischen Erziehungseinrichtungen lenkte die kleine Minderheit der großen Grundbesitzer und Handelsherren die scheinbar freie Masse der Bürger. Für die spezielle Erziehung zu leitenden politischen Funktionen sorgte ein Stand von gewerbsmäßigen Lehrern, die »Sophisten«. Das Erziehungsideal Platos ist übrigens nichts anderes, als das idealisierte Spiegelbild der spartanischen Herrenpädagogik und zugleich ein utopischer Versuch, der Auflösung des alten, auf der hörigen Bauernwirtschaft beruhenden Ständestaates durch die fortschreitende Warenproduktion mit den Mitteln einer staatlich organisierten Zwangserziehung entgegenzuwirken.

Auch die römische Sklavenwirtschaft des späteren Altertums konnte trotz ihrer relativ hohen technischen Entwicklung auf breite Massenbildung verzichten. Der Sklave bedurfte keiner organisierten Erziehung, hatten doch die antiken Sklavenhalter auf ihren Landgütern und in ihren Werkhäusern den Arbeitsprozeß durch weit fortgeschrittene Arbeitsteilung derartig vereinfacht, daß dem einzelnen Sklaven nur ganz bestimmte einförmige Handgriffe zu leisten übrigblieben. Kostspielige oder komplizierte Werkzeuge (Maschinen) wurden in der Sklavenwirtschaft nicht verwendet. Die Schulen in Rom waren ausschließlich Schulen für die Söhne der besitzenden Klassen. Die großen Grundbesitzer und Kapitalisten hielten sich gelehrte Haussklaven für die private Erziehung ihrer Kinder.

Die von den bürgerlichen Pädagogen so hoch gerühmte politische Demokratie im alten griechisch-römischen Kulturkreis besaß also keineswegs eine umfassende Massenbildung. Sie erstreckte sich auf eine dünne Oberschicht von Vollbürgern, die in der Blütezeit Athens und Korinths z.B. nur noch etwa 13 Prozent der Gesamtbevölkerung betrug. Da die Ausübung politischer Rechte im Römischen Reiche an die Anwesenheit in der Hauptstadt gebunden war, hatten die breiten Massen der in Italien, Nordafrika, Asien wohnenden »römischen Bürger« politisch überhaupt nichts zu sagen. Der in der Hauptstadt wohnenden Nobilität fiel es leicht, das dort künstlich gezüchtete Lumpenproletariat für ihre jeweiligen Zwecke zu kaufen. Es ist klar, daß eine solche »Demokratie« jede Erziehung und Aufklärung der Massen aufs entschiedenste bekämpfen muß. Periodische Brotverteilung und Zirkusspiele reichten vollkommen aus, um den jeweiligen Wahlkandidaten die notwendige Stimmenzahl der proletarisierten römischen Bürger zu sichern.

Sowohl in der Antike wie in der mittelalterlichen Feudalzeit konzentriert sich die Erziehung der herrschenden Klassen um Tempel und Königsburgen. Auch die griechischen Theater sind ja aus Kultstätten hervorgegangen. Wo innerhalb der herrschenden Klasse sich besondere Priester- und Kriegerkasten herausbildeten, spaltete sich die Erziehung insofern, als die körperliche Ausbildung zum Monopol der Kriegerkaste, die gelehrte Erziehung zum Monopol der Priesterkaste wird. Diese Spaltung finden wir nicht nur im alten Ägypten oder Indien, sondern ebenso im europäischen Mittelalter (Kloster- und Domschulen einerseits, das ritterliche Knappenwesen und die Turniere andererseits). Soweit die mittelalterliche Feudalgesellschaft eine gewisse Erziehung der hörigen Bauernschaft im Interesse einer leichteren Leitung der Massen für notwendig hielt, besorgte das der Dorfpriester mit Hilfe der Ohrenbeichte, des Katechismus und insbesondere der oft barbarisch strengen Kirchenbußen. Was an bodenständigem Kulturwuchs in der mittelalterlichen Bauernschaft vorhanden war, hat sich teils aus der Zeit der freien Markverfassung herübergerettet, teils innerhalb der auch im Feudalismus noch bestehenden Dorfgemeinschaft gegen den Willen der Feudalherren und der Kirche, jedenfalls ohne sie entwickelt. Eine »Kulturträgerin« war die Kirche auch damals schon nur in sehr bedingtem Maße und keineswegs für die breiten Massen.

Erst mit der Erstarkung des städtischen Bürgertums am Ausgange des Mittelalters erkämpfte sich die Kaufmannschaft und der freie Handwerker einen gewissen Anteil an der Bildung seiner Zeit. In den spätmittelalterlichen Stadtstaaten finden wir die ersten Anfänge einer öffentlich organisierten bürgerlichen und relativ weltlichen Erziehung. Aber auch jetzt noch bleiben die Bauern auf dem Lande und die städtischen Proletarier von jeder Bildung ausgeschlossen. Das erstarkende Kleinbürgertum schafft sich im Gegensatz zu den Kloster- und Domschulen des meist geistlichen Stadtoberhauptes seine kommunalen Bürgerschulen. Die Zünfte und Gilden entziehen einen Teil der beruflich-technischen Erziehung der Familie und stellen sie unter ihre organisierte Kontrolle. Die Ausübung des Handwerkes wird von der Ablegung einer Gesellen- oder Meisterprüfung abhängig gemacht. Die organisierte Gesellschaft, die in den blutigen Klassenkämpfen gegen die feudalen Stadtherren die Hauptrolle spielten, besorgten die notwendige politische Erziehung.

Mit der Ausdehnung der Warenproduktion auch auf das flache Land entsteht auch dort ein wachsendes Bedürfnis nach planmäßig organisierter Bildung. Im 14. und 15. Jahrhundert unserer Zeitrechnung produziert der west- und mitteleuropäische Bauer ja nicht mehr ausschließlich für seinen individuellen Bedarf bzw. für den Bedarf seines Grundherrn, er produziert im wesentlichen für den städtischen Markt, während seine Feudallasten zum großen Teil in Geld abgegolten werden. Der wachsende Druck des immer mehr kapitalistisch orientierten Grundherrn und die zunehmende Knappheit des Bodens zwingen ihn zur Hausindustrie. Der Bauer braucht nicht nur als Lieferant des städtischen Marktes bzw. des kapitalistischen Unternehmers, sondern auch als Steuerzahler des Landesfürsten und Pächter des Grundherrn eine gewisse primitive Schulbildung. Die Einführung der »Volksschule« auch auf dem Dorfe war die notwendige Folge dieser ökonomischen Umwälzung. Sie geschah in einer außerordentlich primitiven, halb kirchlichen und halb grundherrschaftlichen Gestalt, deren Überreste noch heute im Schulpatronat vieler adliger und kirchlicher Grundherren vorhanden sind. Kein idealer »Kulturwille« aufgeklärter Fürsten, auch nicht die von den Protestanten so hoch gerühmte Reformation – die übrigens für einen Comenius weder Interesse noch Verständnis aufbrachte – haben also die öffentliche Volksschule geschaffen, sie trat überall dort ins Leben, wo die ökonomischen Grundlagen in der frühkapitalistischen Warenproduktion gegeben waren, sie blieb überall dort in den Kinderschuhen stecken, wo Junkerterror und Leibeigenschaft die Entwicklung des Bauern zum freien Warenproduzenten verhinderten, so vor allem im Preußen Friedrich des Großen, oder wo der Bauer direkt den Sturz aus der Hörigenschaft ins Lumpenproletariat erleiden mußte (England).

Bis zu einem gewissen Grade freilich hat der fürstliche Absolutismus zur Entwicklung des Volksschulwesens beigetragen. Der absolutistische Staat hatte nämlich ein hohes Interesse an einer regelmäßigen Steuerzahlung, einer schlagfertigen Armee und einer geregelten Verwaltung. Darum legte er Wert darauf, daß auch die Bauernsöhne, die die Masse seiner Soldaten und Steuerzahler ausmachten, neben dem Katechismus, der ihnen Gehorsam lehrte, auch etwas lesen und schreiben lernten. Die meisten Schulmeister waren deshalb auch einstige Feldwebel, das Haupterziehungsmittel war neben der Religion der Stock. Die enge Verbindung von Schule und Kaserne bestand schon in den ersten Anfängen des bürgerlichen Volksschulwesens.

Für die Ausbildung ihres Beamten- und Offizierstabes schufen die absoluten Fürsten eine Menge Akademien und Universitäten. Die Entwicklung der Wissenschaft, der Künste, der Philosophie ist an diesen Universitäten und Akademien nicht mit Hilfe der Fürsten, sondern trotz ihnen vorwärtsgeschritten. (Vgl. Franz Mehring, Lessing-Legende.)

Das Bildungswesen der frühkapitalistischen Epoche spiegelt also in allen Einzelheiten den damaligen Ständestaat wider, den Ständestaat mit seiner breiten Grundlage fast vollkommen roher und dumpfer, vielfach noch leibeigener Bauern, mit seiner Mittelschicht lokalbornierter, aber immerhin wirtschaftlich regsamer und persönlich freier Kleinbürger, mit seiner – trotz Humanismus und Renaissance – im wesentlich scholastisch-geschulten, trocken überheblichen Bürokratie, mit seinem geschminkten und gepuderten, äußerlich formgewandten, innerlich aber um so roheren Hofadel.

Die ökonomisch-politische Revolution des Kapitalismus und die klassische Pädagogik

Die im 18. Jahrhundert einsetzende industrielle Revolution, verbunden mit der gewaltigen Ausdehnung des Weltmarktes und der sozialen Gärung in den Massen des Bürgertums, sowie des neu entstandenen Proletariats, brachte in diese stickige Atmosphäre einen frischen Wind. Es begann das Zeitalter der großen bürgerlichen Revolutionen, die klassische Zeit der bürgerlichen Philosophie und Kunst. Die Pädagogen spielen im revolutionären Bürgertum eine wichtige Rolle. Kein bürgerlicher Geistespionier, Politiker oder Dichter, der sich nicht tiefgründig mit Erziehungsproblemen beschäftigt. Hatte noch John Locke im 17. Jahrhundert trocken und nüchtern die Pädagogik als eine praktische Anleitung zur Erziehung des soliden Geschäftsmannes und gebildeten Gentleman aufgefaßt, jetzt sieht man in der Erziehung den gewaltigen Hebel, mit dem man die alte Welt aus den Angeln zu wuchten glaubt. Ein Rousseau und ein Lessing sehen in der Erziehung das Mittel zur Herbeiführung der bürgerlichen Idealgesellschaft. (Vgl. vor allem Lessing: Freimaurergespräche.) Die ganze Geschichte der Menschheit wird unter dem Gesichtspunkte der Erziehung betrachtet (Herder). In seinen »Reden an die deutsche Nation« entwickelt Fichte das System einer geschlossenen nationalen Erziehung, die zugleich durch und durch politisch ist. Erziehung ist für ihn das Hauptmittel zur Schaffung des bürgerlichen »Nationalstaates«.

Auch die utopischen Sozialisten sehen in der Erziehung das Mittel, um ihre großen Pläne zu verwirklichen. Robert Owen war es, der den ersten praktischen Versuch unternahm, mit der Umgestaltung der Gesellschaft auch die Erziehung auf die Basis einer materialistischen Gesellschaftsauffassung und der modernen maschinellen Industrie zu stellen. In seiner Selbstbiographie gibt Owen eine kurze, außerordentlich anschauliche Schilderung seiner Erziehungsprinzipien und Erziehungspraxis. Eine Anzahl der wichtigsten Elemente unserer kommunistischen, proletarisch revolutionären Erziehung sind hier vorgebildet, nämlich: die radikale Beseitigung der Prügel- und anderer autoritativer Strafen, die Erziehung der Arbeiterkinder durch Arbeiter selbst, d.h. die Beseitigung eines besonderen, von der Arbeiterklasse gesonderten Berufslehrerstandes, die Verwendung älterer Kinder und Jugendlicher als pädagogische Helfer, die Öffentlichkeit des Schulwesens, die engste Verbindung von geistiger und körperlicher Erziehung, von Spiel und Arbeit, die Weckung der kindlichen Neugier und Initiative, die Verbindung von Freiwilligkeit mit militärischer Disziplin und nicht zuletzt die Förderung internationaler Gesinnung.

Die ökonomische Rückständigkeit Zentraleuropas und vor allem der Schweiz gegenüber dem industriell mächtig vorauseilenden England kommt sehr klar zum Ausdruck, wenn man die pädagogischen Theorien und die Praxis eines Pestalozzi mit den pädagogischen Theorien und Taten eines Robert Owen vergleicht[2].

Es waren aber keineswegs die begeisterten Predigten der bürgerlichen Philosophen und auch nicht das bahnbrechende Experiment eines Robert Owen, die in der jungen Bourgeoisie ein steigendes Interesse an der öffentlichen Massenbildung erweckten. Auch nicht allein politische Interessen im Kampfe gegen Absolutismus und Klerikalismus. Die Triebfedern waren reale kapitalistische Geschäftsinteressen. Im ersten Bande des Kapitals (MEW23, S. 391ff) schildert Karl Marx die ökonomischen Ursachen, die zu den Anfängen der Fabrikschutzgesetzgebung und eines allgemein obligatorischen Schulunterrichts in England führten. Die »naturwüchsigen« Formen der schrankenlosen Kinderausbeutung, des unbeschränkten Arbeitstages, der Nachtarbeit hatten eine derartige Verwüstung von Menschenleben und Arbeitskräften zur Folge, daß die Fundamente der Gesellschaft und der bürgerlichen Ordnung bedroht erschienen. Das englische Fabrikgesetz stellte zunächst eine Anzahl Industriezweige unter Kontrolle, verbot hier die Ausbeutung von Kindern unter 13 Jahren und zwang die Eltern, die Kinder unter 14 Jahren in die kontrollierten Fabriken schickten, diesen gleichzeitig Elementarunterricht erteilen zu lassen. Der Fabrikant wurde für die Befolgung dieses Gesetzes verantwortlich gemacht. »Fabrikunterricht ist obligatorisch und eine Bedingung der Arbeit«, heißt es in dem Bericht der Gewerbeinspektion vom 31. Oktober 1863. Marx schrieb hierzu:

»Armselig wie die Erziehungsklausel des Fabrikaktes im ganzen erscheint, proklamierte sie den Elementarunterricht als Zwangsbedingung der Arbeit. Ihr Erfolg erwies zuerst die Möglichkeit der Verbindung von Unterricht mit Gymnastik und Handarbeit, also auch von Handarbeit mit Unterricht und Gymnastik.«

Das englische Fabrikgesetz wurde zunächst im Interesse der Großbourgeoisie geschaffen, die sich damit die Schmutzkonkurrenz der Winkelunternehmer vom Halse schaffte und durch die Hebung der Intelligenz ihrer Arbeiter die technische Entwicklung beschleunigte. Über das Interesse, das die industrielle Bourgeoisie an dem Elementarunterricht der Arbeiterkinder hatte, schreibt Marx a.a.O.:

»Die Fabrikinspektoren entdecken bald aus den Zeugenverhören der Schulmeister, daß die Fabrikkinder, obwohl sie nur halb soviel Unterricht genießen wie die regelmäßigen Tagesschüler, ebensoviel und oft mehr lernen.«

Hierzu kam die Tatsache, daß die vollkommen ungebildeten und verwahrlosten Kinder, nachdem sie jahrelang in den Werkstätten ausgepreßt und durch die Eintönigkeit der Arbeit sowie die Überanstrengung verdummt worden waren, später in der entwickelten, maschinellen Großindustrie nicht mehr zu verwenden waren. »Sie werden Rekruten des Verbrechens«, heißt es in einem Bericht der »Childrens employment commission« 1866, »einige Versuche, ihnen anderswo Beschäftigung zu verschaffen, scheiterten an ihrer Unwissenheit, Rohheit, körperlichen und geistigen Verkommenheit.«

Die Einführung des allgemeinen Volksunterrichts durch die Bourgeoisie war also weder eine Erfüllung sittlicher Gebote, noch eine kulturelle Fürsorge, als welche sie die bürgerlichen Historiker hinzustellen belieben. Sie geschah im wohlerwogenen Interesse der großindustriellen Bourgeoisie, die sich gegen den Widerstand der kleinen Bourgeoisie und des Feudaladels durchsetzte. Die Interessen des Proletariats liefen in dieser Periode noch teilweise parallel mit den Interessen der großkapitalistischen Ausbeuter. Darum war auch die Industrie-Bourgeoisie in allen Ländern zunächst »liberal« und gab sich sogar mitunter ein arbeiterbildungsfreundliches Gesicht. Waren doch die Arbeiterbildungsvereine der proletarischen Frühzeit fast durchweg Gründungen liberaler Unternehmer.

Niemals aber ging die Bourgeoisie über eine gewisse Grenze hinaus. Als Robert Owen mit seinen sozialen und pädagogischen Prinzipien über den Rahmen eines Einzelexperiments in New Lannark hinaus Ernst zu machen versuchte, blieb er sofort allein und ging mitsamt seinen utopischen Einrichtungen zugrunde. Für das Gebiet der Erziehung gilt also genauso wie für das Gebiet des Arbeiterschutzes und der technischen Rationalisierung das Wort von Karl Marx, wonach »die kapitalistische Produktionsweise ihrem Wesen nach über einen gewissen Punkt hinaus jede rationelle Verbesserung ausschließt.«

Familie und Erziehung

Die bürgerliche Familie

Die bürgerliche Pädagogik und Gesellschaftsphilosophie sehen in der Familie die »Urzelle« der menschlichen Gemeinschaft und dementsprechend auch die für alle Zeiten und Verhältnisse grundlegende Erziehungsgemeinschaft. Die Eltern sind nach bürgerlicher Lehre die natürlichen und besten Erzieher des Kindes. Diese These wird religiös, moralisch, biologisch und soziologisch begründet. Das Erziehungsrecht der Eltern wird aus dem »Naturrecht« oder aus der göttlichen Offenbarung abgeleitet. Die staatlich organisierte öffentliche Erziehung ist nur zur »Ergänzung, Unterstützung und Fortführung der elterlichen Erziehung« (Schulgesetzentwurf 1927 der Marx-Keudell-Regierung in Deutschland) da. Bestenfalls übt der Staat eine gewisse Kontrolle über die Erziehung der Eltern aus, aber auch diese staatliche Funktion wird abgeleitet aus dem Willen der Gesamtelternschaft. So heißt es in der Weimarer Verfassung der deutschen Republik aus dem Jahre 1919:

»Die Erziehung des Nachwuchses zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit ist oberste Pflicht und natürliches Recht der Eltern, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht.«

Faktisch mischt sich der bürgerliche Staat natürlich nur in die Verhältnisse der proletarischen oder halbproletarischen Familie ein. Die öffentliche Schulpflicht, die staatliche Zwangs- (Fürsorge-)Erziehung ist praktisch nur für diese vorhanden. Die Familie der Bourgeoisie und der Großgrundbesitzerkaste umgeht den Schulzwang durch Privatschulen und Hauserziehung.

Obwohl also der bürgerliche Staat selbst die Rechte der Eltern, dort wo es ihm paßt, bedeutend einschränkt, die »elterliche Gewalt« nach Gutdünken beschneidet und die »Heiligkeit der Familie« dauernd verletzt, wird von seinen Verehrern dennoch das Lob der Familie als unantastbares Fundament jeder »sittlichen« Ordnung nach wie vor in allen Tonarten gesungen. Und obwohl die fortschreitende kapitalistische Industrie die Kinder des Proletariats rücksichtslos dem Schoße der Familie entreißt, bzw. die Eltern den Kindern wegnimmt, erklären dennoch alle Pädagogen, Geheimräte, Generale, Bankiers und Großindustrielle, die Familie sei die wahre Quelle der Sittlichkeit und Menschheitserneuerung. Die Kirche aber hat die Eheschließung in den Rang eines »Sakraments«, bzw. einer »heiligen Handlung« erhoben und damit die Diktatur der Eltern über die Kinder, des Mannes über die Frau heiliggesprochen.

Auch die Massen des Proletariats sind noch von diesen Auffassungen mehr oder weniger vollständig beherrscht. Die heutige Sozialdemokratie hat die Ausführungen von Karl Marx über die Zerstörung der Familie durch den Kapitalismus und die Entschleierung des »verschleierten Bildes zu Sais« derartig vergessen, daß sie sich vollkommen kritiklos in die Reihen der bürgerlichen Lobredner auf die Familie, und zwar auf die Familie in ihrer gegenwärtigen bürgerlichen Form eingliedert. Diese bürgerliche Familie wird als die ewige, unabänderliche und endgültige Form der Familie dargestellt.

Um so wichtiger ist es, sich die Worte von Karl Marx ins Gedächtnis zu rufen: »Es ist natürlich ebenso albern, die christlich-germanische Form der Familie für absolut zu halten, als die altrömische Form oder die altgriechische oder die orientalische, die übrigens untereinander eine geschichtliche Entwicklungsreihe bilden.« (Marx, Kapital, MEW23 a)

Wie die Forschungen der Völkerkunde einwandfrei ausweisen, hat sich die heutige Familienverfassung überhaupt erst auf der Grundlage des entwickelten Privateigentums und der Hegemonie des Mannes herausgebildet. Als älteste Form der Familie, auf dem Boden der alten Geschlechtsverbände, und der sich auflösenden urkommunistischen Wirtschaftsverfassung finden wir neben Resten der Promiskuität (ungeregelter Geschlechtsverkehr) die Gruppenfamilie. Die Familien wohnen noch nicht gesondert, sondern vielfach in großen, gemeinsamen Häusern. (Vergl. die gemeinsamen Wohnhäuser kalifornischer und peruanischer Indianerstämme.)

Auf der Grundlage des primitiven Ackerbaues entwickelte sich später die patriarchalische Großfamilie, deren Reste heute noch im östlichen Europa lebendig sind. Wohl ist die Einehe in der patriarchalischen Großfamilie beim arbeitenden Volke schon durchgeführt, doch wohnen die verheirateten Söhne und zum Teil auch die Schwiegersöhne mit Weib und Kindern alle noch zusammen unter dem Dache und unter der Oberherrschaft der Eltern, bzw. Schwiegereltern. Das älteste jüdische Familienrecht, das die Vielehe der Vornehmen anerkennt, stellt ausdrücklich das Kind der Sklavin dem Kinde der legitimen Gattin rechtlich vollkommen gleich, was auch bei den Arabern heute noch gültiges Recht ist.

Die bürgerliche Familienverfassung mit strenger Monogamie, Unterordnung von Frau und Kinder unter den Mann, Erblosigkeit der unehelichen Kinder, Verbot der Verwandtschaftsheirat, ist die der Stufe der kleinbürgerlichen Warenproduktion und des Frühkapitalismus entsprechende Familienform. Der entwickelte Kapitalismus hat diese kleinbürgerliche Familienverfassung zwar praktisch zersetzt, rechtlich jedoch fast ohne jede Lockerung (vergl. Ehescheidungsrecht!) beibehalten. Er hat die Ehe dadurch in eine unerschöpfliche Quelle von körperlichen und geistigen Qualen, Familientragödien, Mißhandlungen, Gemeinheiten und Erziehungsfehlern verwandelt. Trotzdem wird sie heiliggesprochen, denn sie entspricht am besten den Ausbeutungs-, Eigentums- und Herrschaftsinteressen der besitzenden Klassen.

Ein besonderes Merkmal dieser kleinbürgerlichen Familie ist die »väterliche Gewalt«, die nur ab und zu die erweiterte Form der »elterlichen Gewalt« annimmt. Die »elterliche« oder »väterliche« Gewalt umfaßt das Recht der Berufs- und Religionsbestimmung, der Erziehung und der körperlichen Züchtigung des Kindes. Das bürgerliche Gesetzbuch in Deutschland leitet ausdrücklich das Züchtigungsrecht des Vaters gegenüber den Kindern von der metaphysischen, nicht näher zu begründenden »elterlichen Gewalt« ab. Kraft dieser »elterlichen Gewalt« bestimmt der Vater (man beachte, nicht die beiden Eltern gemeinsam, geschweige denn die Mutter allein) den Aufenthalt des Kindes, die Konfession, der es angehört, die Schule, die es besucht und den Beruf, den das Kind erlernt. Gewiß darf der Vater das Kind nicht mehr töten, wie im alten Rom, aber es müssen schon ganz außerordentliche, lang andauernde, die Öffentlichkeit schwer beunruhigende Mißhandlungen eines Kindes durch die Eltern eintreten, ehe der Staat sich bewogen fühlt, in die »geheiligte elterliche Gewalt« einzugreifen. Um so schneller greift der bürgerliche Staat dort ein, wo es sich darum handelt, das Kind dem Einfluß revolutionärer Proletariereltern zu entziehen, oder auch dann, wenn die Eltern sich kriminell gegen die ebenso geheiligte Ordnung des bürgerlichen Geldbeutels vergangen haben. Für solche Zwecke steht die »Fürsorgeerziehung« bereit.

Die wesentlichen Merkmale der bürgerlichen Familie, wie sie heute noch in allen kapitalistischen Ländern gesetzlich geschützt ist, sind folgende:

Ihre Grundlage ist die lebenslängliche Einehe, deren Scheidung entweder ganz verboten, oder doch mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbunden ist.

Familienhaupt ist der Vater, demgegenüber Mutter und Kinder in einem abgestuften Untergebenenverhältnis stehen. Nur in Ausnahmefällen, wenn der Vater tot oder entmündigt ist, kann die Mutter rechtlich an die Stelle des Vaters treten. Aber auch das bleibt Ausnahme.

Wirtschaftlich ist die Ehe des bürgerlichen Zeitalters eine Wohn- und meistens auch eine Gütergemeinschaft (Gütertrennung muß ausdrücklich bei der Eheschließung zu Protokoll gegeben werden).

Die Ehegatten sind untereinander moralisch zum Geschlechtsverkehr verpflichtet (Weigerung Scheidungsgrund), was für den Proletarier faktisch Fortpflanzungspflicht bedeutet. Verbot der Abtreibung.

Das Erbrecht ist ein wesentliches Moment dieser Familie, uneheliche Kinder sind vom Erbrecht ausgeschlossen. Die Eltern haben das Recht, die Kinder zu enteignen.

Die Frau ist zu absoluter Treue verpflichtet. In vielen bürgerlichen Staaten ist der Ehebruch strafbar, und zwar in den meisten Fällen nur bei der Frau. Die uneheliche Mutter kann nur in einigen Ländern und in Ausnahmefällen Vormund ihrer eigenen Kinder sein.

Die Eltern sind »erziehungsberechtigt« und erziehungsverpflichtet, wozu auch das Recht gehört, die Kinder körperlich zu züchtigen.

Diese Familienordnung wurde geboren aus den Verhältnissen der einfachen Warenproduktion und der beginnenden kapitalistischen Unternehmerwirtschaft. Auf dieser Stufe ist die Familie noch in erster Linie Produktionsgemeinschaft