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Wenn es um das Thema »Selbstverteidigung« geht, stellen sich viele Menschen oft Fragen wie: - Wie würde ich mich selbst in so einer Situation verhalten? - Was kann oder darf ich tun; was ist erlaubt oder verboten? - (Wie) kann ich mich auf so eine Situation vorbereiten? Dieses Buch richtet sich an Leserinnen und Leser in jedem Alter und soll helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden und einen guten Überblick über das weite Thema »Selbstverteidigung« zu erhalten. Anhand von rund 460 meist zweifarbigen Zeichnungen werden für typische Selbstverteidigungssituationen Prinzipien und Techniken beschrieben, die auch unter Stress noch funktionieren können. Detaillierte Erklärungen zu allen Techniken und Abläufen dienen sowohl Einsteigern als auch Fortgeschrittenen als gutes Nachschlagewerk. Darüber hinaus werden viele weitere wichtige Punkte angesprochen, die im Zusammenhang mit der rein physischen Selbstverteidigung leicht vergessen werden, z. B. die Vermeidung, Deeskalation und das Verhalten nach einer überstandenen Selbstverteidigungssituation sowie Training, psychologische Aspekte oder rechtliche Betrachtungen. Insgesamt soll dieses Buch ein besseres Verständnis dafür schaffen, dass in einer Selbstverteidigungssituation keiner der vielen weltweit existierenden Kampfstile der »beste« ist, sondern dass am Ende nur eines zählt: Jede Lösung, die im Ernstfall funktioniert, ist eine gute Lösung.
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Seitenzahl: 152
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Wichtige Hinweise für die Nutzung dieses Buches
Die in diesem Buch beschriebenen Techniken sind ausschließlich für den Einsatz in Selbstverteidigungssituationen vorgesehen und sollten nur unter Anleitung von erfahrenen Trainern eingeübt werden. Weder Autor noch Verlag haften für Schäden, die aus den im Buch beschriebenen Techniken entstehen könnten.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text nur die männliche Form verwendet. Unabhängig davon beziehen sich jedoch alle Angaben und Darstellungen in gleicher Weise auf die männliche und die weibliche Form.
Vorwort
1. Grundlagen
Selbstverteidigung und Selbstbehauptung
Selbstverteidigungssituation
Urinstinkte
Angst
Reaktionszeit
Hick'sches Gesetz
Aktion vs. Reaktion
Präventivangriff
Orientierungsphase
Alles hat ein Ende
Bewusstsein und Wahrnehmung
Mögliche Abläufe einer Selbstverteidigungssituation
Plan B
Deeskalation
Ruhe bewahren
Um Hilfe bitten
Kreativ sein
Kampf
Umschalten
Ganz oder gar nicht
Keine Regeln
Verletzungen
Atmung
Natürliche und improvisierte Waffen
Natürliche Waffen
Improvisierte Waffen
2. Distanzen und Positionen
Ampelprinzip
Distanz schaffen oder halten
Dead-Side (»toter Winkel«) und Life-Side
3. Bereitschaftsposition, Schutzhaltung und Kampfstellung
Rechtshänder und Linkshänder
Bereitschaftsposition
Schutzhaltung
Kampfstellung
Bewegung in Schutzhaltung und Kampfstellung
4. Kontertechniken, Schläge, Stöße und Tritte
Ziele
Schlagtechnik
Elementare Schläge und Stöße
Tritttechnik
Elementare Tritte
Distanzen und geeignete Kontertechniken
Schlag- und Trittkombinationen
Basis-Schlagkombination 1
Basis-Schlagkombination 2
Basis-Schlagkombination 3
Schlag- und Trittkombination 1
Schlag- und Trittkombination 2
Nahkampfkombination
5. Abwehrtechniken
Angriffssignale
Weiche und harte Abwehr
Passive und aktive Abwehr
Aggressive Abwehr
Intuitive Abwehr
Technische Abwehr
Abwehrprinzipien
Druck- und Kontrollpunkte am Kopf
Bodenkontakt
Abwehr von Schlägen und Tritten
Abwehr von geraden Schlägen
Ausweichen zur Dead-Side
Life-Side und Plan B
360 Grad Verteidigung
Coverdeckung und Doppeldeckung
Abwehr von Schwingern
Abwehr von Fußtritten
Befreiung aus Griffen
Griff an ein Handgelenk mit einer Hand von vorn oben
Greifen beider Handgelenke von vorn oben
Greifen beider erhobenen Handgelenke von vorn unten
Griff am Revers mit einer Hand
Griff am Revers mit zwei Händen
Verteidigung gegen Zug an den Haaren von vorn
Verteidigung gegen Würgen
Abwehr Würgegriff von vorn mit zwei Händen
Abwehr Würgen von hinten mit einem Unterarm
Abwehr Mata Leon Würgegriff
Abwehr gegen seitlichen Schwitzkasten
Abwehr gegen Schwitzkasten von vorn (»Guillotine«)
Umklammerungen und Haltegriffe
Blockieren des Angreifers in der Nahdistanz
Umklammerungen
Befreiung aus Umklammerung von vorn unter den Armen
Befreiung aus Umklammerung von vorn über den Armen
Befreiung aus Umklammerung von hinten unter den Armen
Befreiung aus Umklammerung von hinten über den Armen
Befreiung aus einem Muay Thai Clinch
Befreiung aus einem Doppelnelson
Verteidigung gegen mehrere Angreifer
Verteidigung am Boden
Weiches Fallen
Abrollen
Freier Fall
Verteidigung in der Bodenlage gegen stehende Angreifer
Aufstehen aus der Bodenlage
a) Geschütztes Aufstehen nach vorn
b) Geschütztes Aufstehen nach hinten (»Turkish Get-Up«)
c) Aufstehen aus dem seitlichen Wegrollen
Bodenkampf
Bodenkampftechniken
Knieblockade
Körperbewegungen
Mount- und Guard-Position
Verteidigung in der Bodenlage – Angreifer in Mount-Position
Verteidigung in der Bodenlage – Angreifer in Guard-Position
Befreiung aus einem Schwitzkasten in der Bodenlage
6. Exkurs – Bewaffnete Angreifer
Taktisches Verhalten bei bewaffneten Angreifern
Schlagwaffen
Abwehr eines Stockschlags von oben
Schneid- und Stichwaffen
Verhalten bei dynamischen Messerangriffen
Verhalten bei statischer Messerbedrohung
7. Training
Trainingsgrundlagen
Trainingsinhalte
Trainingsfallen
Stresstraining
8. Psychologische Aspekte
Friedensangebot
Kopfsache ... gewonnen oder verloren
Grenzen setzen
Niemals Angreifer unterschätzen
Mentale Vorbereitung – Drei-Phasen-Modell
9. Danach – alles vorbei?
Mögliche Szenarien »danach«
In Sicherheit
Bodycheck
Erste Hilfe
Polizei, Aussagen und Anzeige
Täterbeschreibung
Zeugen
Die Zeit »danach«
10. Rechtliche Betrachtungen
Das Recht, sich selbst zu verteidigen
Ausgangslage
Richtig und falsch
Fazit
Danksagung
Über den Autor
Weiterführende Literatur
Wenn das Thema »Selbstverteidigung« zur Sprache kommt, stellen sich viele Menschen oft Fragen wie:
Wie würde ich mich selbst in so einer Situation verhalten?
Was kann oder darf ich tun; was ist erlaubt oder verboten?
Wie lange dauert eine Selbstverteidigungssituation?
(Wie) kann ich mich auf so eine Situation vorbereiten?
Dieses Buch richtet sich an interessierte Leser in jedem Alter und soll helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Weiterhin soll es dem Leser einen guten, ersten Überblick über das weite Thema »Selbstverteidigung« verschaffen.
Im Buch werden für typische Selbstverteidigungssituationen Prinzipien und Techniken beschrieben, die auch unter Stress noch funktionieren können. Da die Geschichte der Menschheit auch eine Geschichte des andauernden (Überlebens)-Kampfes und der Selbstverteidigung ist, sind alle der hier dargestellten Techniken nicht »neu«, sondern sollen immer nur als Empfehlung aus einer Anzahl verschiedener existierender Möglichkeiten verstanden werden. Alle Menschen sind aufgrund von Körperstatur, Beweglichkeit, Alter, Fitness, usw. verschieden, daher gibt es keine »beste« Lösung in einer bestimmten Selbstverteidigungssituation. Das Einzige, was am Ende zählt, ist: Jede Lösung, die im Ernstfall funktioniert, ist eine gute Lösung.
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich in allen Teilen der Welt viele verschiedene Kampfstile und -systeme entwickelt, wie z. B. Karate, Judo, Jiu-Jitsu, Aikido, Boxen, Krav Maga, Muay Thai, Kung Fu, Wing Tsun, Taekwondo, Hapkido, Savate, Capoeira, Eskrima, Sambo, Systema, ... von denen einige sogar bis in die Antike zurückreichen. Dabei sind viele Techniken oft sehr ähnlich oder sogar gleich, so dass zur Selbstverteidigung allein die konsequente und kompromisslose Anwendung von nur einigen wenigen Techniken von Bedeutung ist. Vor diesem Hintergrund soll Verständnis dafür geschaffen werden, dass in einer Selbstverteidigungssituation weder der eine noch der andere Kampfstil der »bessere« ist. Daher gibt es hier auch keinerlei »neue« Techniken oder irgendwelche »Geheimtechniken« (woher auch ...?), sondern am Ende immer nur bekannte Anwendungen derselben uralten »Elementarwaffen«: Kopf, Hände, Unterarme, Ellbogen, Knie, Schienbeine und Füße, zusammen mit der richtigen mentalen Einstellung.
Zur besseren Verständlichkeit und klaren Darstellung sind alle im Buch verwendeten Abbildungen keine Fotos, sondern Zeichnungen, die auf der Grundlage von Fotos erstellt wurden. Dabei ist der Verteidiger in allen Zeichnungen durchgängig in grauer Farbe unterlegt, der Angreifer dagegen in Weiß.
Alle in den Abbildungen dargestellten roten Bewegungspfeile beziehen sich immer nur auf die Bewegungsrichtungen und Aktionen des Verteidigers.
Der wesentliche Unterschied zwischen Kampfkunst oder Kampfsport und Selbstverteidigung ist: Es muss nicht schön aussehen, es gibt keinen Schiedsrichter und auch keine Punkte – es geht ausschließlich nur darum, aus einer gefährlichen Situation so schnell und so gut wie möglich wieder heraus zu kommen.
Als »Selbstverteidigung« (SV) wird die Abwehr von physischen oder seelischen Angriffen durch körperlichen Einsatz bezeichnet, um Schaden von sich selbst abzuwenden. Dagegen ist »Selbstbehauptung« die Fähigkeit, seine eigenen Bedürfnisse und Ansprüche gegenüber anderen ohne Körperkontakt, allein nur durch Stimme, Mimik und Körpersprache erfolgreich behaupten oder durchsetzen zu können.
Selbstverteidigung fängt bereits in dem Moment an, in dem ein Mensch bewusst eine für sich potenziell gefährliche Situation gar nicht erst eingeht (SV-Prinzip: »Sei nicht da«). Dabei zeigt die Realität immer wieder, dass es gut ist, auf sein »Bauchgefühl« zu hören und Orte oder Personen zu meiden, bei denen aus unerklärlichen Gründen ein ungutes oder unsicheres Gefühl aufkommt. Anders gesagt: Wer aufmerksam ist und seine Umgebung bewusst wahrnimmt (»Achtsamkeit«), ist bereits den ersten Schritt auf dem Weg zur Selbstverteidigung gegangen.
Ist es aber doch irgendwie zu einer kritischen Situation gekommen, besteht das Ziel grundsätzlich immer darin, eine körperliche Auseinandersetzung (d. h. Kampf) so lange wie möglich zu vermeiden. Aus der Situation weggehen, fortlaufen bzw. Flucht sollte dabei stets als allererste mögliche Option erwogen werden (»Sei nicht da«). Dies hat nichts mit Feigheit zu tun, sondern ganz allein mit Vernunft. Selbstverteidigung bedeutet also nicht, irgendeinen Kampf zu »gewinnen«, sondern einzig und allein aus der Situation so unbeschadet wie möglich wieder heraus zu kommen (siehe auch Kapitel 8. »Psychologische Aspekte«).
Die »Selbstverteidigung« beginnt also genau zu dem Zeitpunkt, an dem jemand durch aktives Handeln (z. B. die Entscheidung, einen bestimmten Weg nicht zu gehen, die Straßenseite zu wechseln oder wegzulaufen) versucht, Schaden von sich abzuwenden.
Von einem vorsätzlichen geplanten Überfall einmal abgesehen, befindet sich niemand »plötzlich« in einer Selbstverteidigungssituation, sondern es gibt stets eine zeitlich zuvor ablaufende Folge von Ereignissen. Abgesehen von Ort, Uhrzeit und sozialem Umfeld gehören dazu immer:
a) die Wahrnehmung des Verteidigers als potenzielles Angriffsziel (d. h. als das geeignete »Opfer«) für den Angreifer;
b) die geplante oder spontane Entscheidung des Angreifers den Verteidiger anzugreifen;
c) sofern vorhanden, die Überwindung der räumlichen Distanz zwischen dem Angreifer und dem Verteidiger, oft begleitet von der verbalen Ansprache des »Opfers«, z. B. "Was willst Du ...?";
d) die Aufnahme von physischem Kontakt zwischen Angreifer und Verteidiger, z. B. durch Stoßen, Anfassen, Festhalten, Schlagen, Treten, Umklammern oder Würgen.
Möglichkeiten zur Deeskalation bestehen noch während der Phasen a), b) und (mit Einschränkung) in c). Allerspätestens in Phase d) muss der Verteidiger jedoch zum eigenen Selbstschutz aktiv werden, entweder durch Flucht oder mit entsprechenden Abwehr- bzw. Angriffstechniken.
Jede Selbstverteidigungssituation ist immer eine Bedrohung und damit eine Stresssituation, in der Körper und Geist auf unterschiedliche Weise reagieren; das Gesichtsfeld wird dadurch stark eingeengt (»Tunnelblick«) und der Verteidiger ist dann oftmals nur noch zu wenigen, meist grobmotorischen und instinktiv ablaufenden Bewegungsmustern fähig.
Plötzlich auftretende Bedrohungen werden beim Menschen seit Urzeiten im sog. »Reptiliengehirn« und im »Affenhirn« verarbeitet. Daher reagieren Menschen auf eine Bedrohung evolutionsbedingt mit einem von drei Urinstinkten:
1. Erstarren oder
2. Flucht oder
3. Angriff und Kampf.
Bei der Selbstverteidigung muss das »Erstarren« unter allen Umständen vermieden werden; stattdessen sollten die vorhandenen Energien möglichst effektiv entweder zur Flucht, oder – wenn nicht zu vermeiden – im Kampf eingesetzt werden. Sofern nicht bereits vorhanden, muss diese Fähigkeit des direkten Umschaltens durch entsprechendes Training erarbeitet werden.
Eine Möglichkeit, das Erstarren zu vermeiden, ist, dass man direkt von Anfang an immer etwas in Bewegung bleibt, z. B. durch kleine Schritte seitwärts, rückwärts oder vorwärts, Hände reiben, am Kopf kratzen, Kleidung richten, usw. Wenn der Körper in Bewegung ist, bleibt auch der Geist in Bewegung.
Angst ist ein wichtiger Schutzmechanismus bei Menschen und Tieren, der in tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Gefahrensituationen die körperliche oder seelische Unversehrtheit und im Extremfall das Überleben sicherstellen soll. Angst soll ein Lebewesen auf eine Kampf- oder Flucht-Situation (engl. "Fight or Flight") vorbereiten. Dabei werden verschiedene Hormone, darunter insbesondere Adrenalin freigesetzt, wodurch viele Körperfunktionen beschleunigt werden. Die wesentlichsten körperlichen Auswirkungen sind:
Schärfung der Sinne, die Pupillen weiten sich und Seh- und Hörnerven werden empfindlicher (für erhöhte Wahrnehmung).
Eingeschränktes Gesichtsfeld (»Tunnelblick«).
Erhöhte Reaktionsgeschwindigkeit, Muskelanspannung, und Energiebereitstellung in den Muskeln (zur Vorbereitung auf Kampf oder Flucht).
Gegebenenfalls Entleerung der Blase (zur Vorbereitung auf Kampf oder Flucht).
Erhöhter Puls; je nach Situation und Konstitution kann der Puls leicht auf über 200 Schläge pro Minute ansteigen.
Ab einem Puls von ca. 175 Schlägen pro Minute sind nur noch grobmotorische Bewegungen möglich!
Erhöhter Blutdruck.
Flachere und schnellere Atmung.
Schwitzen, Zittern und Schwindelgefühl, Zähneknirschen, Hitze- oder Kälteschauer, ggf. auch Übelkeit oder Atemnot.
Unterdrückung der Verdauungs- und Sexualfunktionen (um Energie zu sparen).
Schnellere Blutgerinnung (um möglichen Blutverlust zu minimieren).
Für die Selbstverteidigung ist es wichtig, sich dieser (völlig natürlichen) Reaktionen a) bewusst zu sein und b) durch geeignetes Training ein körperliches »Einfrieren« zu verhindern und die vorhandenen Energien positiv im Sinne von möglichst »Flucht« und ansonsten von »Kampf« einzusetzen.
Je nach Situation beträgt die zur Verfügung stehende Zeit bis zur ersten notwendigen Selbstverteidigungshandlung (z. B. Flucht, Präventivschlag oder Abwehr eines Angriffs) bei plötzlichen Überraschungsangriffen etwa 0,05 bis 0,1 Sekunden. Bei Situationen, in denen sich absehbar eine Selbstverteidigungssituation anbahnt (z. B. durch Körpersprache, Augenkontakt oder verbale Bedrohung), kann diese Zeitspanne im Vergleich dazu bis zu mehreren Sekunden betragen.
Die durchschnittliche Reaktionszeit eines Menschen liegt bei rund 0,2 Sekunden. Durch erhöhte Aufmerksamkeit und geeignetes Training kann die Reaktionszeit ebenfalls auf etwa 0,1 Sekunde verkürzt werden. Dadurch ergibt sich also zumindest eine Chance, auch Überraschungsangriffe abwehren zu können – allerdings nur bei entsprechendem Training und gleichzeitiger Wachsamkeit gegenüber der Umgebung.
Verschiedene Reaktionszeiten bei unterschiedlichen Reizen Quelle: Bertelsmann Enzyklopädie Discovery, 1998
Das Hick'sche Gesetz wurde 1952 von William Edmund Hick (britischer Mediziner und Psychologe, 1912 – 1974) entwickelt und beschreibt den Zusammenhang zwischen der Reaktionszeit und der Anzahl von möglichen Auswahlen. Grob gesprochen besagt das Gesetz, dass für jede Verdoppelung der Wahlmöglichkeiten die Reaktionszeit um ca. 150 ms steigt. Unabhängig von der Anzahl der Wahlmöglichkeiten stellt sich die Reaktionszeit jedoch durch regelmäßige Übung auf einen festen Wert ein.
Angewendet auf die Selbstverteidigung bedeutet dies, dass bei einem gerade stattfindenden Angriff die Reaktionszeit bis zur entsprechenden Abwehr umso länger ist, je mehr Abwehrtechniken dem Verteidiger zur Verfügung stehen und je mehr Entscheidungen er zur Auswahl der für diesen Angriff geeignetsten Technik treffen muss.
Fazit: Besser nur wenige Techniken gut beherrschen, als viele Techniken kennen, aber nicht wirklich können.
In 99 von 100 Fällen ist eine Aktion immer schneller als eine Reaktion. Für die Selbstverteidigung folgt daraus, dass der Verteidiger bei einem unausweichlich bevorstehenden Angriff nicht solange darauf warten sollte, bis der Angriff tatsächlich erfolgt, um ihn erst dann abzuwehren, sondern dass er stattdessen besser von vornherein selbst die Initiative ergreift und seinerseits den Angreifer zuerst attackiert (sog. »Präventivangriff«).
Allerspätestens dann, wenn der Angreifer sich dem Verteidiger ungeachtet dessen eindeutiger Deeskalationsversuche bis auf Tritt- oder sogar Armlänge genähert hat, sind alle weiteren Gedanken hinsichtlich Kampfvermeidung, die dem Verteidiger ggf. noch durch den Kopf gehen mögen ("Wird er wirklich angreifen oder nicht?"; "Soll ich nicht besser jetzt schon etwas machen, oder lieber doch noch abwarten?"; "Was kann ich jetzt am besten machen?"; usw.), hinfällig geworden.
Falls der Verteidiger zu diesem Zeitpunkt immer noch glaubt, sich im Falle eines Angriffs wirklich »verteidigen" zu können, muss er davon ausgehen, dass er zumindest den ersten Schlag, Tritt, Kopf- oder Kniestoß des Angreifers einstecken wird ... und kann dann nur darauf hoffen, danach immer noch soweit handlungsfähig zu sein, dass er nachfolgende Attacken abwehren und weiteren Schaden vermeiden kann. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit hierfür nicht sehr hoch . Ende.
Wenn es ohnehin zu einer körperlichen Auseinandersetzung kommen wird, ist Angriff tatsächlich die »bessere« Verteidigung! Wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, ist eine Aktion i. d. R. schneller als eine Reaktion, wodurch der Verteidiger seine Chancen für eine erfolgreiche Verteidigung durch einen Präventivangriff einmalig erheblich verbessern kann. Dieser Angriff darf jedoch niemals halbherzig erfolgen, sondern muss mit voller Konsequenz bis zum Ende der Selbstverteidigungssituation durchgezogen werden. Ansonsten kann der Angreifer sich zu schnell von dem Überraschungsmoment erholen und nach dieser Vorwarnung seinen eigenen Angriff nun umso heftiger fortführen. Unter dieser Prämisse muss jeder Präventivangriff immer mit dem unbedingten Vorsatz ausgeführt werden, keinen »Kampf« zu beginnen, sondern die sich entwickelnde Gefahrensituation bereits schon in der Entstehungsphase so früh wie möglich zu beenden.
In der Entstehungsphase einer Selbstverteidigungssituation sollte der Verteidiger im eigenen Interesse sicherheitshalber zunächst immer vom »schlimmsten Fall« ausgehen. Solange nicht das Gegenteil feststeht, gilt daher als allererste Annahme: Der Angreifer ist aggressiv, ggf. schmerzunempfindlich (z. B. aufgrund von Drogenkonsum), bewaffnet und nicht allein. Um die Situation schnellstmöglich wahrzunehmen und dann hoffentlich richtig einschätzen (und ggf. sogar noch entspannen) zu können, müssen die folgenden Punkte geklärt werden:
Stimmungslage und Absicht des Angreifers?
Ist der Angreifer bewaffnet?
Steht der Angreifer unter Drogen?
Ist der Angreifer allein?
(Wo) Gibt es gute Fluchtmöglichkeiten?
Können andere Leute helfen?
Können irgendwelche Gegenstände als improvisierte Waffen eingesetzt werden?
Der Verteidiger muss also stets solange von einem bewaffneten Angriff ausgehen (und auch entsprechend agieren), bis er den Angreifer gescannt und sich versichert hat, dass dessen Hände leer sind und auch sonst keine Waffe sichtbar ist (z. B. Messer im Gürtel). Obwohl also der Angreifer im Moment (noch) nicht bewaffnet ist, muss sich der Verteidiger trotzdem jederzeit bewusst sein, dass der Angreifer zu einem späteren Zeitpunkt immer noch eine bisher verborgene Waffe ziehen oder eine improvisierte Waffe gegen den Verteidiger einsetzen könnte.
Eine Selbstverteidigungssituation ist erst dann beendet, wenn ...
der Verteidiger sich durch Flucht in Sicherheit gebracht hat oder
der Angreifer einlenkt, aufgibt und nicht mehr angreifen will oder
der Angreifer kampfunfähig ist und nicht mehr angreifen kann ...
... und keine weiteren Angreifer mehr zu erwarten sind.
Anders ausgedrückt ist eine Selbstverteidigungssituation also nicht automatisch vorbei, nur weil z. B. irgendeine der in diesem Buch beschriebenen, Abwehr-, Befreiungs- oder Kontertechniken gerade mal gut funktioniert hat, sondern immer erst dann, wenn die vorgenannten Kriterien sicher zutreffen und keinen einzigen Augenblick früher.
Beim Rückzug aus dem Gefahrenbereich muss der Verteidiger stets die Umgebung solange im Blick halten und auf eventuelle weitere Angriffe vorbereitet sein, bis er in Sicherheit ist.
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine »Selbstverteidigung« im Ernstfall überhaupt funktioniert, ist umso höher, je öfter man sich bereits im Vorfeld mit diesem Thema beschäftigt hat. Schon von Natur aus ist die Welt voller Gefahren, und Mensch und Tier haben im Laufe der Evolution gelernt, damit umzugehen. Der Schutz davor beginnt also mit dem Wissen darum, wie man diesen Gefahren am besten begegnen kann.
Dazu gehört, dass man mit offenen Augen durch die Welt geht und seine Umgebung und das Geschehen rings herum bewusst wahrnimmt, wie z. B.: Auf welchen Wegen bin ich allein unterwegs? Wie kann ich mich am schnellsten in Sicherheit bringen? Wo gibt es Schutzmöglichkeiten? Wer kann mir helfen? Was kann ich ggf. als Waffe einsetzen? Zu welcher Zeit ist ein bestimmter Ort eher sicher oder eher unsicher? Auf dieser Basis kann man für die alltäglichen Wege und Situationen mögliche Gefahrensituationen in Gedanken durchspielen und sich so für verschiedene Szenarien die jeweils bestmöglichen Verhaltensweisen erarbeiten. Diese Art der mentalen Vorbereitung hat auch erst einmal gar nichts mit Selbstverteidigung zu tun, sondern kann für alle möglichen Lebenssituationen verwendet werden und wird z. B. auch von Leistungssportlern bei der Vorbereitung auf Wettkämpfe genutzt (siehe hierzu auch Kapitel 8. »Psychologische Aspekte«). Natürlich kann auch ein Kampfsport- oder Selbstverteidigungstraining helfen, sowohl die eigenen körperlichen Fähigkeiten als auch die mentale Einstellung individuell weiter zu entwickeln.