Gruppenimprovisation - Rosemarie Tüpker - E-Book

Gruppenimprovisation E-Book

Rosemarie Tüpker

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Beschreibung

Gruppenimprovisation verbindet die freie musikalische Gestaltung mit der Beziehungsgestaltung in einer überschaubaren Gruppe. Als ein Musizieren ohne Noten ist sie dem Augenblick gewidmet und in der Musiktherapie ebenso Zuhause wie in künstlerischen, sozialen und pädagogischen Kontexten. Die hier zusammengestellten Spielformen stammen aus der Praxis der Musiktherapie mit Erwachsenen, aus der Arbeit mit Studierenden und mit freien Gruppen, mit Laien und Profis. Sie möchten eine Anregung sein für alle, die im eigenen Anwendungsbereich mit Gruppen improvisieren wollen. Ausführungen zur Gruppenimprovisationsbewegung und zur Gruppenmusiktherapie eröffnen die Beschreibung der Spiele und der Erfahrungen, die mit ihnen gemacht wurden. Anwendungsbezogene Aspekte und ein Register sollen das rasche Auffinden von Spielen erleichtern. "Was für ein Buch! Aus jeder Zeile springt einen neben fundiertem Wissen der große Erfahrungsschatz der Autorin an, gekrönt durch tiefgründige Analyse. (... ) Auf eine prägnante Spielbeschreibung folgt jeweils eine Erläuterung der Einsatzmöglichkeiten und einer Zuordnung der entsprechenden Aspekte in einem grau unterlegten Kasten. Fazit: lesen und anwenden!" Manuela Widmer, üben & musizieren 6/2024 , Seite 57 https://uebenundmusizieren.de/artikel/gruppenimprovisation/

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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Überblick

2. Gruppenimprovisation

3. Gruppenmusiktherapie

3.1 Der Einzelne in der Gruppe – die Gruppe als Ganzes

3.2 Interaktion – Atmosphäre

3.3 Problemlösung – Regression

3.4 Musik – Gespräch

4. Rahmenbedingungen

4.1 Auftrag – Arbeitsformen

4.2 Setting – Kontinuität

4.3 Gruppengröße – Beeinträchtigungen

4.4 Heterogenität – Homogenität

4.5 Protokollierung

4.6 Instrumentarium

5. Aspekte

Abwechselnd im Mittelpunkt

Affektivität und Emotionalität

Anfangsspiel

Auflockerung

Ausdrucksbildung

Ausgleichen und Regulieren

Atmosphäre

Besondere Materialien

Bewegung

Die Gruppe kennt sich

Eine Wahl haben

Einfach und offen

Einfach und strukturiert

Einstieg in Gespräche

Einzelne in der Gruppe

Entspannung

Experimentieren

Fantasie und Kreativität

Große Gruppen

Gruppe als Ganzes

Hemmungen überwinden

Initiative

Interaktion

Musikhören

Musikorientiert

Problemlösung

Regression

Selbstwertgefühl stärken

Stimme

Vertiefung

Vom Gegenteil her

Wiederholbare Form

6. Spiele-Repertoire

Am Schluss alle zusammen

Arrangieren

Begegnungen im Freien

Beziehungsrondo

Der kranke König

Der Wasserkönig

D-dorisch

Dirigierspiele

Dorfklatsch

Draußen lauschen

Einfache Runde

Ein-Klang

Explorieren

Extra falsche Töne

Filmmusik I

Filmmusik II

Freie gemeinsame Improvisation

Für-Spiel

Gehen und Singen

Glasmusik

Gute Wünsche zum Abschied

Grüppchenbildung erwünscht

Ich passe nicht

Imaginative Improvisation

Im Gehen zu spielen

Improvisation über ein Bild

Klangfarben

Klangweben

Klingende Steine

Leiden-Können und Nicht-Leiden-Können

Malen zur eigenen Musik

Meine Sonne

Mein Tempo

Musikalisches Psychodrama

Musik der Punkte

Musikhören

Musik zu Texten

Musik zu Träumen

Musik und Bewegung

Musik und Bewegung wechseln im Kreis

Nur ein Klang

Papiermusik

Pausen spielen

Programmmusik (Verklanglichung)

Raten wie beim Kindergeburtstag

Rumklimpern

Reigen

Spaziergang der Königinnen und Könige

Soli auf einem Klangteppich

Tonraum Ganztonleiter

Tonraum Pentatonik

Still – Klang – Stille

Stille wird Musik – Musik wird Stille

Traummusik

Trommelrunde und Schluss

Wanderndes Duo

Wassermusik

Wir für Dich

Wetterspiele

Wah-Wah-Musik

Zeitungsmusik

Zum Schluss (Bonus)

7. Persönlicher Hintergrund

8. Literaturverzeichnis

Bildnachweise

9. Register

1. Einleitung und Überblick

Gruppenimprovisation ist eine in den 1960er Jahren entstandene, faszinierende Form des musikalischen Miteinanders. Sie verbindet die freie, dem Augenblick gewidmete, musikalische Gestaltung „ohne Noten“ mit der Beziehungsgestaltung in einer überschaubaren Gruppe. Sie kann l’Art pour l’Art sein, Musik um der Musik willen, oder eingebunden in psychotherapeutische, fördernde, soziale, pädagogische und andere gesellschaftliche Aufgabenstellungen.

Dieses praxisorientierte Buch stellt Spielvorschläge für die Gruppenimprovisation mit Erwachsenen vor: für die Gruppenmusiktherapie, die psychologische, pädagogische und soziale Arbeit mit Musik, musikbezogene Kurse und für andere Anwendungsfelder wie eine durch die musikalische Improvisation erweiterte Supervision. Es hat sein Vorbild in den beiden Büchern „Durch Musik zur Sprache“ (Tüpker 2009/2020b), die – weit über den ursprünglichen Anlass der musiktherapeutischen Sprachförderung hinaus – Anwendung in sehr unterschiedlichen Bereichen fanden.

Zur inhaltlichen und historischen Einordnung wurden dem Praxisteil des Buches einige Grundgedanken zur Gruppenimprovisation (Kapitel 2) und zur Gruppenmusiktherapie (Kapitel 3) vorangestellt. Kapitel 4 beschäftigt sich mit den Einflüssen von Rahmenbedingungen auf die Arbeit, bietet eine einfache, aber vielfach bewährte Vorlage zur Protokollierung von Gruppensitzungen sowie einige Hinweise zum Instrumentarium.

Kapitel 5 erläutert die Aspekte, die den Spielen zugeordnet sind. Sie beschreiben Anwendungskontexte, Charakteristika, besondere Gesichtspunkte sowie Verwendungsmöglichkeiten in der Gruppenarbeit. Sie sind aus den Spielen abstrahiert und kategorial recht unterschiedlich. Sie tauchen dann als Stichwort jeweils bei den Spielen wieder auf und finden sich noch einmal zum Überblick im Register am Schluss des Buches.

Im Zentrum dieses Buches steht die Sammlung musiktherapeutischer Spielvorschläge für die Arbeit in Gruppen, das Spiele-Repertoire (Kapitel 6). Es ist alphabetisch nach den Titeln der Spiele angeordnet. Nach der eigentlichen Erläuterung des Spiels folgen kurze Notizen zu Erfahrungen, die mit dem Spiel gemacht wurden: sowohl eigene als auch solche, von denen mir berichtet wurde. Das beinhaltet manchmal auch Hinweise zum Anwendungsbereich, der aber offen ist und von den Nutzer:innen des Buches im eigenen Tätigkeitsbereich erprobt werden kann. Grau unterlegt folgen die Aspekte, die mit dem Spiel angesprochen sind.

Die hier zusammengestellten Spielformen stammen aus meiner persönlichen Erfahrung im Umgang mit Gruppenimprovisation in unterschiedlichen Kontexten: aus der freien Improvisation unter Musiker:innen, der Musiktherapie und der Arbeit mit Studierenden und Teilnehmer:innen von Weiterbildungen und Workshops. Näheres habe ich im letzten Abschnitt Persönlicher Hintergrund (Kapitel 7) erläutert. Überschneidungen mit andernorts beschriebenen Spielen sind naturgemäß möglich, denn mit den Spielideen in diesem Bereich ist es ein wenig wie mit den Märchen: Sie werden meist mündlich weitergegeben und entstehen bisweilen an mehreren Orten zur gleichen Zeit. Dort, wo ich weiß, dass ich etwas von anderen übernommen habe, habe ich das kenntlich gemacht.

Nach dem Literaturverzeichnis (Kapitel 8) folgt das Register (Kapitel 9) mit der Zuordnung von Aspekten und Seitenzahlen, durch die es möglich ist, gezielt nach Spielen zu suchen.

Das Buch will kein Lehrbuch zur Gruppenimprovisation oder zur Gruppenmusiktherapie sein und bietet auch keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen. Einige Anregungen zu weiterführender Literatur finden sich im laufenden Text. In den Spielvorschlägen wie in den einleitenden Kapiteln spiegeln sich naturgemäß meine eigene theoretische Ausrichtung sowie die Begrenztheit meiner Erfahrung. Deshalb sei in der Nutzung ausdrücklich zur Veränderung und Anpassung an den eigenen Arbeitskontext wie an die persönliche Orientierung ermuntert. Aus diesem Grunde wechsele ich sprachlich bei den Spielvorschlägen zwischen Bezeichnungen wie Patient:innen, Klient:innen, Bewohner:innen, Teilnehmende sowie Musiktherapeut:innen, Gruppenleitung, Anleitende. Das ergab sich teilweise aus dem Hintergrund der bisherigen Nutzung, ist aber nicht als Einschränkung im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Spiele gemeint.

Gruppen so zu leiten, dass die Teilnehmenden davon einen persönlichen Gewinn haben, ist immer eher eine Kunst als die Anwendung eines wissenschaftlich erprobten Verfahrens. Musiktherapiegruppen finden oft unter suboptimalen institutionellen Bedingungen statt, was Kreativität und Reflexion gleichermaßen herausfordert. In anderen, mir nur teilweise bekannten, Arbeitskontexten, sind die institutionellen Bedingungen anders, aber vermutlich oft nicht weniger schwierig.

Deshalb kann und will dieses Buch in Bezug auf eine spezifische Konzeptentwicklung und Methodik keine Vorgaben machen, sondern möchte lediglich dabei behilflich sein, eine jeweils geeignete Form zu finden. Sie sollte auf der einen Seite möglichst stark an den Bedürfnissen der Teilnehmenden orientiert sein und auf der anderen Seite so zu dem oder der Anleitenden „passen“, dass Ernst und Freude, Begeisterung und Offenheit an der Arbeit möglichst gut erhalten bleiben. Denn unter der Voraussetzung, dass kritische Selbstreflexion und eigene Weiterentwicklung zum Beruf dazugehören, bin ich der festen Überzeugung, dass wir alle dann am besten arbeiten, wenn wir es entlang unserer persönlichen Fähigkeiten und Vorlieben, Begabungen und Neigungen tun. Das erscheint mir der vielversprechendere Weg zu sein als der einer Standardisierung.

Danken möchte ich allen, mit denen ich im Laufe der über 50 Jahre meines Lebens Erfahrungen im gemeinsamen Improvisieren machen durfte: Musiker:innen, Musiktherapeut:innen, Patient:innen, Studierenden und Kursteilnehmer:innen.

Im Hinblick auf das sprachliche Gendern nutze ich im Plural die alle einschließende Form wie Leser:innen. Als Kompromiss zwischen Lesbarkeit und Berücksichtigung beider Geschlechter im Singular schreibe ich in lockerer Form abwechselnd die grammatisch männliche und weibliche Form. Gemeint sind jeweils alle Personen, natürlich auch diejenigen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen.

2. Gruppenimprovisation

Improvisieren ist in der Musik eine Form des Musizierens, bei der die musikalischen Ideen im Moment des Spielens entstehen. Sie erklingen unmittelbar, entwickeln sich im Spiel selbst weiter und sind deshalb oft mit Begriffen wie spontan, frei oder kreativ verbunden, auch wenn sich diese Zuordnung kritisch hinterfragen lässt. Im Gegensatz zur notierten Komposition, ist die Improvisation eine Augenblicksgestalt, die nicht wiederholbar ist.

Mit der Entwicklung der tontechnischen Aufzeichnungsmöglichkeiten wurde dieser Gegensatz allerdings relativiert. So war das berühmte Köln-Concert am 24. Januar 1975 von Keith Jarrett durchgängig improvisiert und wurde zugleich zur meistverkauften Jazz-Soloplatte: ein Widerspruch, der Keith Jarrett selbst sehr zu schaffen machte.

Den Begriff Gruppenimprovisation (manchmal auch Kollektivimprovisation) prägte im deutschsprachigen Raum Lilli Friedemann (1969, 1973, 1983). Er bezeichnet ein freies Improvisieren in kleineren Gruppen mit Instrumenten und Stimmen. Dabei entstehen in der Interaktion musikalische Ideen und Formen, auf die ein Einzelner nicht gekommen wäre. Diese Form der Gruppenimprovisation ist ein gemeinsames Kind der Neuen Musik und der Gruppen(dynamik)-bewegung. Sie zeigte ein Cross-Over von ästhetischen, pädagogischen, politisch intendierten, sozial- und tiefenpsychologischen und spirituellen Dimensionen (vgl. Harmut Kapteina o. J.).

Im Kontext der westlichen „Neuen Musik“ war sie eine Antwort auf eine historische Entwicklung in der komponierten Musik, wie die zunehmende Komplexität und Technisierung, die vor allem von den ausführenden Musiker:innen, den sogenannten Interpret:innen, als sich zuspitzende Einengung erlebt wurde. Betont werden kann auch der Einfluss John Cages, dem es gelang, verkrustete Strukturen aufzuweichen.

Im Kontext der Gruppenbewegung stand die Gruppenimprovisation in der Tradition der Entwicklung neuer Formen der therapeutischen und gesellschaftlichen Arbeit in Gruppen und der damit einhergehenden Reflexion von Gruppenprozessen für die persönliche Entwicklung wie für eine demokratische und friedlichere Gesellschaft. Stellvertretend für dieses Elternteil sei auf die beiden Werke: „Die Gruppe“ (1972) und „Lernziel Solidarität“ (1974) von Horst-Eberhard Richter verwiesen. Die Gruppenbewegung hatte einen großen Einfluss auf die Sozialpädagogik bzw. Soziale Arbeit, die Psychotherapie und Pädagogik, ferner bildete sich eine Gruppenbewegung im christlich-kirchlichen Bereich heraus.

In Deutschland entwickelte sich in den 1960er Jahren eine Gruppenimprovisationsbewegung, die wesentlich von Lilli Friedemann inspiriert war: Menschen trafen sich und musizierten ohne Noten gemeinsam, mit und ohne musikalische Vorgaben, Profis und Laien, aus unterschiedlichen musikalischen Genres kommend, Komponierende und Interpretierende, Pädagog:innen und Therapeut:innen. Schon 1964 gründete sich der Ring für Gruppenimprovisation, der bis heute tätig ist.1 Als ein weiteres bedeutsames Zentrum der freien Improvisation ist das von Matthias Schwabe 2004 gegründete und bis heute aktive Exploratum in Berlin zu nennen.2

Bis heute können Gruppen und Arbeitsformen unterschieden werden, bei denen künstlerische Intentionen im Vordergrund stehen und die auch mit Aufführungen verbunden sein können und solchen, bei denen es um die persönliche Ausdrucksbildung geht, die Entwicklung von Kreativität, das Zusammenwirken in einer Gruppe und die Erforschung des Eigenen (vgl. Stockhausen 1968, 1976; Tüpker 1976; M. Schwabe 1992). Beide Formen bleiben aber miteinander verbunden, denn auch die künstlerischen Formen des Improvisierens wollen das Hören auf den anderen und die Erforschung der Musik als kommunikativen Prozess fördern und auch die therapeutische Improvisation impliziert ein Kennenlernen der Musik als Ausdruck, Form und Gestaltungsmöglichkeit.

Weitere Formen des Improvisierens in Gruppen finden sich in pädagogischen Kontexten, verbunden mit dem auf die Reformpädagogik zurückgehenden Paradigma eines handlungsorientierten Unterrichts. Die Arbeitskontexte reichen hier von der Grundschule bis zur Hochschulausbildung. (Vgl. Meyer-Denkmann 1970; Schaarschmidt 1981; Lenz, Tüpker 1998; Hogl 2009; Gagel/Schwabe 2013, Treß 2022). Auch aus der Musiktherapie finden sich Anregungen für die Improvisation, auch in Gruppen (vgl. Bruscia 1987; Hegi 2010).

Einen Überblick sowie eine Darstellung der persönlichen Ausformungen von Improvisationserfahrung im Leben Einzelner, gibt der Musiktherapeut Eckhard Weymann, der zwölf Personen befragte, in deren Leben das Improvisieren eine bedeutsame Rolle spielte. Zusammenfassend werden Erleben und Bedeutung dieser Form der Musikausübung dargestellt (Weymann 2004). Eine weitere Text- und Interviewstudie zur Frage des Musiklernens durch Gruppenimprovisation erstellte Verena Seidl (2016).

Der große Bereich des Improvisierens im Jazz bleibt hier ausgespart, auch wenn er sich im Grunde ebenfalls als das Improvisieren in Gruppen definieren ließe. Gerade im Bereich des Free Jazz gab es historisch eine Weile einen Überschneidungsbereich zwischen Neuer Musik und Jazz. Dies darzustellen würde den gewählten Rahmen überschreiten, so dass hier nur einige Literaturverweise gegeben werden sollen: Hans Kumpf 1981, Ekkehard Jost 1987 und Todd Jenkins 2004. Ebenso werde ich auf die großen Traditionen improvisierter Musik in der klassisch-indischen Musik und weiteren Kulturkreisen nicht eingehen. Ein Blick über den eigenen Kulturkreis und die historische Epoche hinaus lässt allerdings ahnen, dass möglicherweise nicht das Improvisieren die Ausnahme in der Musik ist, sondern die Trennung der an der Musik Beteiligten in Komponist:innen und Aufführende, in Komposition und Interpretation.

1 Website https://impro-ring.de/ Abgerufen am 10. März 2024

2 Website https://exploratorium-berlin.de/ Abgerufen am 10. März 2024

3. Gruppenmusiktherapie

Wie in der Psychotherapie wird in der Musiktherapie zwischen der Behandlung im Einzelsetting und in Gruppen unterschieden. Anders als in der Psychotherapie gab es in der modernen Musiktherapie beide Formen von Beginn an, also etwa ab den 1960er Jahren sowohl in den sogenannten rezeptiven als auch in den aktiven Verfahren. In diesem Buch werden vorrangig Spielformen der aktiven Gruppenmusiktherapie mit Erwachsenen vorgestellt.3 Es finden sich aber auch einige Beispiele des Musikhörens, da die Unterteilung in diese beiden Verfahren unter Musiktherapeut:innen nicht mehr in der alten Form aufrecht erhalten wird.

Zu speziellen Settings und Praxisbeispielen von Gruppenmusiktherapie sei auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen. Neben zahlreichen Aufsätzen seien als Monografien genannt: Ronald Borczon 1997, Christoph Schwabe 1997, Frank Grootaers 2001, Urte Reich 2009, Alison Davies et al. 2014 und Christof Kolb 2016.

Wesentliche Ebenen des Handelns und Verstehens in der Gruppenmusiktherapie insgesamt lassen sich nach meiner eigenen Erfahrung von drei Polaritäten her beschreiben. Als vierter Gesichtspunkt ist der in der Musiktherapie fast durchgängig übliche Austausch von Musik und Gespräch hinzuzufügen. Mit diesen vier Gesichtspunkten lässt sich das Feld umschreiben, in dem die Gruppe sich bewegt und welches der Musiktherapeut unterschiedlich konzeptualisieren und gestalten kann.

Dass ich mich in diesem Kapitel im Wesentlichen auf musiktherapeutische Settings beziehe, liegt an meinen eigenen Erfahrungsschwerpunkt. Ich hoffe, dass sich die Darstellung anhand dieser Polaritäten ausreichend gut auf die Arbeit in anderen Arbeitsfeldern wie der Sozialen Arbeit, des Coachings, in pädagogischen Kontexten sowie in der Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen auch jenseits eines therapeutischen Auftrages, übertragen lässt. An einigen Stellen habe ich versucht, entsprechende Hinweise zu geben.

Die herausgearbeiteten Polaritäten lassen sich unter den folgenden Stichworten beschreiben:

Die Gruppe als Ganzes und der Einzelne in der Gruppe

Interaktion und Atmosphäre

Problemlösung und Regression

Musik und Gespräch

Abb. 1: Polaritäten Gruppenmusiktherapie

3.1 Der Einzelne in der Gruppe – die Gruppe als Ganzes

Es gibt Formen, bei denen die musiktherapeutische Arbeit sich auf einzelne Personen aus der Gruppe zentriert und die Gruppe eher den Hintergrund für die Interaktion zwischen Patient und Therapeut bildet. Die Gruppe wird einbezogen, gibt Rückmeldungen, spielt mit, gibt Resonanz, aber der Gruppenprozess selbst ist eher der Hintergrund, vor dem sich die Arbeit mit dem Einzelnen abspielt. Die Entwicklung des Einzelnen steht im Vordergrund.

Den anderen Pol bildet eine Arbeit, bei der sich die Aufmerksamkeit der Musiktherapeutin auf die Gruppe als Ganzes richtet. Sie achtet darauf, was für eine seelische Figur die Gruppe insgesamt ausbildet, um welchen Konflikt sie kreist, auf welcher strukturellen Ebene sie agiert und welches Gruppenthema sich unbewusst ausbildet. Spielvorschläge und Deutungen beziehen sich dann auf die Gruppe als Ganzes. Die Entwicklung gestaltet sich als eine Gruppenentwicklung, die sich dann in jeweils spezifischen Ausprägungen der Einzelnen zeigt. Hat z. B. das musikalische Zusammenspiel immer wieder die Frage hervorgebracht, ob die Verwirklichung eigener Spielimpulse und die gewünschte Harmonie in der Gruppe sich wirklich immer widersprechen müssen, so kann es bei einem Mitglied um die Loslösung von den Eltern gehen, bei einem anderen um ein Liebesverhältnis, bei einem Dritten um berufliche Fragen.

Die Gewichtung der beiden Pole kann innerhalb eines Gruppenverlaufs immer wieder abwechseln, wie dies z. B. in der Arbeit mit einer Gruppe von Bewohner:innen einer Einrichtung der Fall sein wird, die über einen langen Zeitraum miteinander die Gruppe besuchen. In der Beratungsarbeit hängen sie mit der Aufgabenstellung einer Supervision zusammen. So zentriert etwa die Fallsupervision eher auf denjenigen, der einen Fall vorstellt, während in der Teamsupervision oft die Gruppe in ihrem Zusammenwirken und ihrer Interaktion im Vordergrund steht. Zwischen diesen Polen lassen sich verschiedene Ausprägungen entwickeln auf der Suche nach einer bestmöglichen Form unter den jeweils gegebenen Rahmenbedingungen wie z. B. einer hohen Fluktuation oder Stabilität der Gruppenzusammensetzung, ihrer speziellen therapeutischen oder sonstigen Zielsetzung. Auch aus Sicht der einzelnen Teilnehmer:innen können Vorder- und Hintergrund wechseln, auch wenn aus dieser Sicht das eigene Erleben stets das Zentrum bilden wird.

Die beiden Pole haben einen Einfluss auf die therapeutische Beziehung. Bei der Arbeit mit dem Einzelnen in der Gruppe ist die Beziehung zwischen Therapeut und dem einzelnen Patienten oft näher an der intensiven Beziehung, wie sie in einer Einzeltherapie entsteht. Das betrifft auch die Ebene der Übertragung. Bei einer stärkeren Zentrierung auf die Gruppe als Ganzes hingegen kann die Ressourcenaktivierung gefördert werden, gerade auch für zurückhaltende Personen, und die Beziehungen der Klient:innen untereinander werden im Erleben bedeutsamer. Auch dies gilt ebenfalls auf der Ebene der Übertragung, die sich auch untereinander einstellen kann. Oft können motivationale Klärung und Problemaktualisierungen beim Pol der Gruppe als Ganzes aber auch dann stattfinden, wenn dies nicht für jeden einzelnen Patienten expliziert wird. Das kann auch in eine bisweilen überraschend konkrete Problembewältigung münden, etwa wenn die gesamte Gruppe dem Einzelnen konkrete Rückmeldungen gibt. Für zurückhaltende Patient:innen, die lieber im Hintergrund bleiben, ermöglicht gerade auch der Schutz der Gruppe als Ganzes positive Bewältigungserfahrungen. Dies geschieht oft unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle des Therapeuten, der vielleicht erst in einem Nachgespräch darüber etwas erfährt.

In anderen Arbeitszusammenhängen macht es Sinn, anhand der Zielsetzung einer Gruppenarbeit vorab zu überlegen, von welchem Schwerpunkt man als Gruppenleiter:in ausgehen möchte. Hat man sich diesbezüglich entschieden, fällt es leichter, den jeweils anderen Pol als Ergänzung mitwirkend zu beobachten und zu handhaben. Bei einem Workshop kann dies z. B. dazu beitragen, eine gute Umgangsform dafür zu finden, wenn unbeabsichtigt eine einzelne Person sich zu sehr in den Vordergrund drängt. Dies rechtzeitig zu regulieren, hilft die Anliegen aller zum Zuge kommen zu lassen und schützt zugleich diese Person vor den bald einsetzenden Aggressionen der anderen.

Die Spielformen des Spiele-Repertoires können dem einen oder anderen Pol zugeordnet werden. Durch eine entsprechende Auswahl lässt sich so über die Musik die Ausrichtung mitbestimmen oder auf sich einstellende Gegebenheiten reagieren. Sie tauchen deshalb auch unter den Aspekten auf (Kapitel 5). Dasselbe gilt auch für die weiteren Polaritäten.

3.2 Interaktion – Atmosphäre

Mit dem Pol der Interaktion sind die konkreten musikalischen Interaktionsmöglichkeiten der Gruppenmitglieder untereinander gemeint. Sie können sich auch zwischen zwei oder drei Personen abspielen, und sie können beispielhaft für Interaktionen im realen Alltag der Gruppenmitglieder sein. Der Begriff steht für das wechselseitige aufeinander Einwirken von Personen oder Systemen.

Einerseits lassen sich wichtige Beziehungen, die im Gruppengespräch thematisiert werden, explizit in ein musikalisches Spiel übertragen, etwa die Beziehung zur Mutter, dem Partner, dem Arbeitskollegen oder der Chefin. Ähnlich wie im Psychodrama können solche Beziehungen im Zusammenspiel zwischen einem Protagonisten und einer stellvertretenden Rollenübernahme durch andere Gruppenmitglieder mit verschiedenen Zielsetzungen arrangiert werden. Zielsetzungen können z. B. eine Vertiefung des Verstehens der Beziehung sein, eine Klärung von Fragen oder Konflikten im geschützten therapeutischen Raum oder eine Einübung in neue Verhaltensweisen. Die nicht beteiligten Gruppenmitglieder können z. B. zuhören und ihre Eindrücke zu dem musikalischen Spiel äußern.

Andererseits ereignen sich im musikalischen Zusammenspiel – wie darüber hinaus im gesamten Gruppengeschehen – spontan und unbeabsichtigt Interaktionsformen und -muster, die sich erst im Nachhinein als eine Widerspiegelung von bekannten oder typischen Mustern im Alltag herausstellen. Sie können dadurch entdeckt oder bewusstwerden und Veränderungsmöglichkeiten gefunden werden. Nicht übersehen werden sollte dabei, dass es immer auch Interaktionen geben kann, die neu sind, in psychoanalytischer Terminologie: jenseits des Übertragungs- und Gegenübertragungsgeschehens.

Dem Pol der Interaktion gegenüber stehen Momente und Phasen des Atmosphärischen. Sie entstehen oft spontan, wenn ganz ohne Vorgaben improvisiert wird. Dann breitet sich z. B. die momentane Anspannung der Gruppe aus, etwas Lähmend-Bedrückendes oder Entgrenzendes, Abenteuerlust oder Ängstlichkeit, Hemmung oder Aufbruchstimmung, Aggression oder Traurigkeit. Sie stärken das Gruppengefühl, können eine wichtige Ressource der Gruppe sein und damit eine gute Vorbereitung für eine vielleicht anstehende Klärung in der Interaktion oder umgekehrt, eine Entlastung nach einer anstrengenden Auseinandersetzung.

Sie können aber auch durch bestimmte Spielformen initiiert werden und einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenhalt der Gruppe leisten, dem Gefühl der Geborgenheit oder Sicherheit in der Gruppe, dem Sich-Wohlfühlen, der Freude an der gemeinsamen musikalischen Tätigkeit und dem Stolz darauf, dass die Gruppe als Ganzes eine „schöne Musik“ hervorbringen kann.

Zwischen diesen beiden Polen können sich als ein Drittes spezifische Szenen einstellen, die nicht geplant sind, sondern sich aus der Gruppendynamik heraus entwickeln. Ihr Verstehen kann einen wesentlichen Beitrag zur Problembewältigung liefern. Dieses „szenische Verstehen“ (vgl. Leimböck 2015) nach Hermann Argelander und Alfred Lorenzer fügt der Frage, worüber und wie miteinander in einer Interaktion gesprochen wird, eine weitere, unbewusste Ebene hinzu. Szenisches ist oft durch eine zunächst unverständliche Interaktion und durch eine prägnante Atmosphäre gekennzeichnet. Sie verweisen darauf, dass hier etwas anderes „mitspielt“ als die aktuelle Interaktion. Das, was sich „in Szene setzt“, verweist auf eine andere, frühere Szene eines Gruppenmitglieds, etwa aus der Mutter-Kind- oder Vater-Kind-Beziehung, der Schulzeit oder auch des Alltags außerhalb der Gruppe.

Wir entdecken die Ebene des Szenischen, wenn wir ein Gespür dafür entwickeln, was sich im Hintergrund einer Interaktion auszubreiten beginnt: Was ist das für eine Szene, in der eine Person immer meint, sich verteidigen zu müssen? Was ist das für eine Szene, wenn alle so aneinander vorbeireden, dass man immer weniger versteht? Was ist das für eine Szene, in der man plötzlich eine tiefe Bedrückung spürt, obwohl die verbale Interaktion sich um „Harmloses“ dreht?

Abb. 2: Szenisches Verstehen

Solche bedeutsamen Szenen entstehen sowohl in der Musik als auch im Gespräch. Ebenso können beide Medien zu ihrer Entschlüsselung oder Auflösung beitragen. Das kann entlastend und weiterführend sein. Dazu kann eine verbal ausgesprochene Deutung dienen. Es kann sich aber auch schon alleine dadurch etwas ändern, dass der Therapeut die Szene für sich versteht.

3.3 Problemlösung – Regression

Gruppen unterscheiden sich auch dadurch, dass sie stärker auf Problemlösungen ausgerichtet sind oder einer regressiven Richtung folgen.

Problemlösung ist in der Musiktherapie sowohl im Gespräch als auch in der Improvisation möglich und spielt sich vor allem im ständigen Wechsel zwischen