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Florian Holl wird von einer Frau angestellt, deren gelähmten Bruder zu betreuen. Die Aufgabe ist, ihm pünktlich auf die Minute seine Medikamente zu geben. Einmal verabreicht er sie zu spät. Lichter flackern über den Köpfen der Geschwister und von der Tür zur Abstellkammer breitet sich ein Wispern im ganzen Haus aus. Ein kosmisches Grauen ist im Begriff, diese Welt zu überfluten. Kann Raphael Kurzhaus die Katastrophe noch aufhalten? Phillipsdorf – Bezirk des Wahnsinns Raphael Kurzhaus Band I
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2025
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In dieser Reihe bisher erschienen
3401 Jörg Kleudgen & Michael Knoke Batcave
3402 Ina Elbracht Der Todesengel
3403 Jörg Kleudgen & E. L. Brecht Der Fluch des blinden Königs
3404 Thomas Tippner Heimkehr
3405 Melanie Vogltanz Die letzte Erscheinung
3406 Jan Gardemann Die Seltsamen
3407 Jörg Kleudgen & E. L. Brecht Höllische Klassenfahrt
3408 Daniel Weber Phantasmagoria Park
3409 Jan Gardemann Die Rache der Seltsamen
3410 Daniel Weber Die zweifelhafte Erbschaft
3411 Daniel Weber Die unerwartete Zeugin
3412 Daniel Weber Das zerfallende Genie
3413 Daniel Weber Die andere Welt
3414 Daniel Weber Der ewig junge Herr
3415 Daniel Weber Geschwister des Abgrunds
3416 Daniel Weber Des Schreibers Katze
Grusel-Thriller
Buch 15
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Copyright © 2025 Blitz Verlag, eine Marke der Silberscore Beteiligungs GmbH, Andreas-Hofer-Straße 44 • 6020 Innsbruck - Österreich
Redaktion: Danny Winter
Titelbild: Mario Heyer
Umschlaggestaltung: Mario Heyer u.V. der KI Software Midjourney
Vignette: iStock.com/Hein Nouwens
Satz: Gero Reimer
Gedruckt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
www.blitz-verlag.de
3415 vom 04.10.2025
ISBN: 978-3-68984-498-1
Prolog
Das Einstellungsgespräch
Ankunft
Mario
Die erste Nacht
Gewöhnung
Der erste Zwischenfall
Flackernde Lichter und nächtlicher Besuch
Ein Hilferuf, der keiner war
Töten Sie mich
Legion
Die verschlossene Tür
Der Schlüssel zum Abgrund
In den Wald
Geschwisterliebe
Das Tor verschwindet
Danke!
Über den Autor
Für Jana.
Für Deine Ehrlichkeit und Hilfe.
Sein Name ist Raphael Kurzhaus.
Er ist nicht verrückt.
Prolog
Florian konnte nicht schlafen. Irgendetwas hielt ihn wach. Früher hatte er schon mit Schlafstörungen zu kämpfen gehabt, aus guten Gründen: Stress, Sorgen, Ängste. Seit er hier in diese ruhige Gegend gezogen war, hatte sich das gelegt. Anfangs hatte er durchschlafen können, aber jetzt ...
Er wälzte sich von einer Seite auf die andere in dem schmalen Bett des Gästezimmers. Er drückte auf den Knopf der Digitaluhr, um das Licht des Displays einzuschalten: 02:43 Uhr. Schon knapp drei Stunden lag er wach. Und er musste auf die Toilette. Mit diesem steigenden Druck auf der Blase könnte er ohnehin nicht einschlafen. Also leise aufstehen, um die beiden anderen Bewohner nicht zu wecken.
Er hüllte sich in einen flauschigen Bademantel – im Waldviertel waren die Nächte auch im Sommer kühl – und schlich sich zuerst in die Küche, wo er ein paar Schlucke Wasser trank. Das Haus lag nicht gänzlich still, aber das ignorierte er; durchs Fenster sah er undurchdringliche Finsternis. Irgendwo summte ein Insekt.
Obwohl er wusste, dass er nicht alleine hier war, kam er sich sehr einsam vor.
Einbildung.
Er schlich auf die Toilette, verrichtete sein Geschäft und ging weiter ins Badezimmer. Er schaltete das Licht in dem Raum ein und wusch sich die Hände. Bevor er den Wasserhahn wieder abdrehte, blickte er nach oben – einer Eingebung oder einem Instinkt folgend, wer könnte das schon sagen? Er sah in den Spiegel – und stockte. Durch den Spiegel sah er schräg hinter sich durch die geöffnete Badezimmertür in den Flur. Eine Tür dort stand offen. Es war die Tür, die zur Abstellkammer führte. Die Tür, die eigentlich immer abgesperrt war, der Schlüssel versteckt, damit Mario sie nicht öffnen und sich verletzen könnte.
Im Spiegel hatte die schwarze Öffnung der Abstellkammer etwas von einem dunklen Schlund an sich. Fast wie ein Abgrund. Florian konnte keine Silhouetten darin ausmachen, die zu den Gegenständen gepasst hätten, die man ansonsten darin erwarten würde. Dafür sah er andere Dinge. Unförmige Schemen.
Ein kühler Finger glitt über seinen Nacken.
Er schüttelte den Kopf. Die Tür musste er zumachen. Vielleicht steckte der Schlüssel. Wenn nicht, musste er Elisabeth aufwecken, damit sie ihn holte. Aber offen durfte er sie nicht lassen. Auf keinen Fall. Elisabeth würde ausrasten. Er wollte seinen Job behalten, auch wenn es langsam etwas sonderbar wurde.
Florian drehte den Wasserhahn ab. Doch er konnte sich nicht umdrehen. Aus irgendeinem Grund graute es ihm vor der Vorstellung, ohne den Spiegel als Mittler zu der Türöffnung zu schauen. Ein Teil seines Verstandes wusste ganz genau, dass das purer Schwachsinn war, aber der andere Teil ... Der andere Teil, der sich graute, übernahm die Kontrolle über seinen Körper und sperrte sich dagegen, sich umzudrehen. Schweiß brach ihm aus allen Poren und er begann zu zittern.
Was war los mit ihm?
Was war an dieser Türöffnung, das ihm solche Angst einjagte? Fast Panik.
Ihm kam eine Idee: das Licht. Ein Lichtschalter des Flurs befand sich direkt neben dem Türrahmen zum Badezimmer. Von hier aus könnte er ihn erreichen, ohne sich umzudrehen. Er brauchte nur einen Schritt zurückgehen, den Arm hinausstrecken und ein bisschen tasten, dann würde er ihn finden. Mit Licht im Flur würde er hoffentlich keine Probleme mehr mit dieser schwarzen Türöffnung haben.
Aufwecken würde er damit niemanden, Elisabeth und Mario hatten ihre Zimmer schließlich oben.
Gedacht, getan – mit pumpendem Herzen und schweißnassen Fingern tastete er um den Türstock herum, fand die raue Tapetenwand und – endlich – den Schalter. Ein Klick, das Licht ging an.
Florian stieß einen lang gezogenen Atem aus. Dann sah er zum Spiegel.
Die Tür, die vorhin offengestanden hatte, war geschlossen. Es war vollkommen still.
Er runzelte die Stirn. Sein Herz beruhigte sich von Schlag zu Schlag und auch das Grauen, das ihn gepackt hatte, verflüchtigte sich, bis er sich so ruhig fühlte, als wäre nie etwas gewesen.
Er flüsterte einen ungläubigen Fluch und ging zur Abstellkammer. Kurz zögerte er, dann griff er zur Klinke und versuchte, die Tür zu öffnen. Verschlossen. Merkwürdig.
Florian ließ von ihr ab, schaltete das Licht im Badezimmer noch aus und ging durch den erleuchteten Flur zurück zum Gästezimmer, neben dessen Türöffnung ebenfalls ein Lichtschalter für den Flur angebracht war. Er betätigte ihn, das Licht ging aus.
Sein Magen krampfte sich zusammen und aus dem Augenwinkel sah er, dass die Tür zur Abstellkammer wieder offen stand. Ein gähnender Schlund zur Finsternis. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf, Schweiß brach aus und mit einem Satz sprang er in sein Zimmer und schloss die Tür so schnell hinter sich, wie er es leise zuwege brachte. Dann drehte er den Schlüssel zweimal im Schloss herum.
Panik krallte sich in seine Innereien und er drückte sich mit dem Rücken gegen die Tür, als müsse er sie verstärken zur Abwehr eines Eindringlings. Langsam rutschte er an der Tür hinunter auf den kalten Fliesenboden. Er wimmerte sogar, was ihn noch mehr verstörte, weil er nicht wusste, woher das Wimmern kam.
Es dauerte lange, bis er endlich die Kraft fand, wieder ins Bett zu krabbeln. Wie ein Kind, das Angst vor dem Monster im Schrank hat, zog er die Bettdecke bis über seine Augen und schlief irgendwann ein. Immer noch zitternd vor einer ungreifbaren Furcht. Im Hintergrund hörte er das bekannte Wispern.
Am nächsten Morgen, als die Sonne durch alle Fenster schien, war alles so wie immer. Die Abstellkammer war verschlossen. Als hätte es nie einen Grund zur Panik gegeben ...
Ein paar Wochen zuvor ...
Das Einstellungsgespräch
Florians Geschichte beginnt an einem milden Tag Ende April im Café Maximilian nahe der Universität Wien. Er hatte sich dort mit seiner potentziellen Arbeitgeberin verabredet und war eine Viertelstunde zu früh vor Ort, bestellte sich also ein Bier beim grummeligen Kellner und setzte sich an einen der draußen stehenden Tische. Es war nicht warm genug, um ohne eine dünne Jacke zu sitzen, aber die frische Luft war dem Inneren eines jeden Gebäudes im Frühling vorzuziehen.
Er lauschte den Gesprächen der um ihn herum sitzenden anderen Gäste – großteils Studenten, die über Seminare oder Vorlesungen sprachen ... oder über Liebschaften – und schickte ein Stoßgebet zu wem auch immer, dass sein Plan aufgehen und er ein paar Monate Abstand zu allem gewinnen könnte. Bevor er allerdings weiter überlegen konnte, bemerkte er eine hoch gewachsene Blondine im Hosenanzug, die ihren Blick über die Tische schweifen ließ. Sie hatte harte Augen, einen verkniffenen Mund und einen insgesamt eher starren Gesichtsausdruck. Florian schätzte sie auf Anfang/Mitte dreißig. Als sich ihre Blicke kreuzten, ging sie schnurstracks zu Florian und baute sich vor ihm auf.
„Florian Holl?“, fragte sie in einem nicht unbedingt scharfen, aber doch schneidenden Ton. Es war eine Frau, der man nicht auf die Füße treten wollte.
Er erhob sich etwas umständlich und zwang sich zu einem Lächeln. „Ja.“ Er wunderte sich nicht darüber, dass sie ihn erkannte, hatte er doch bei seiner Bewerbung ein Foto von sich beigelegt. „Dann müssen Sie Frau Elisabeth Schlosser sein.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. „Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich habe mir derweil ein Bier bestellt. Ich hoffe, das stört Sie nicht.“
Frau Schlosser blickte kurz zu dem bereits halb leeren Glas und schüttelte ihm die Hand. Ihr Druck war fest. Sie setzte sich. Als der Kellner kam, deutete sie auf Florians Bier. „Das Gleiche bitte. Und einen Aschenbecher.“ Sie zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche ihres Blazers und ein Feuerzeug. „Auch eine?“ Sie bot Florian die Packung an.
„Danke. Ich möchte aufhören.“
„Gescheit.“ Sie zündete sich die Zigarette an. „Wäre mein Leben stressbefreiter, würde ich das auch tun wollen. Aber kommen wir gleich zum Geschäftlichen.“ Sie kramte in ihrer Handtasche und zog eine Mappe heraus. Darin befanden sich das Bewerbungsschreiben Florians, sein Foto, sein Lebenslauf. Sie hatte sich alles ausgedruckt. „Sie sind der Erste – und hoffentlich der Letzte –, mit dem ich dieses Gespräch führen muss. Warum haben Sie sich beworben? Hier steht, Sie sind Dramatiker und Schauspieler?“
Florian nickte abgehackt. Die Fragen überrumpelten ihn. „Ja, das bin ich. Noch nicht sehr erfolgreich. Aber mit Ende zwanzig in diesem Beruf ... Na ja. Man hält sich irgendwie über Wasser.“
„Warum dann eine Bewerbung bei einer Annonce wie der meinen?“
Er zuckte die Achseln. „Wenn ich ehrlich sein soll, brauche ich einen Tapetenwechsel. Meine letzten beiden Stücke sind von ein paar Bühnen abgelehnt worden und die Schauspieler, mit denen ich sie privat produzieren wollte, sind mir abgesprungen, weil sie lukrative Verträge mit größeren Häusern abgeschlossen haben. Ich bin ein wenig frustriert und wünsche mir eigentlich, ein bisschen aussteigen zu können. Aber man braucht eben Geld. Und auf einen schlecht bezahlten Nebenjob im Einzelhandel oder so hab ich keine Lust mehr. Das hab ich schon viel zu oft gemacht. Ihre Anzeige klingt da recht vielversprechend. Da würde ich vielleicht auch ein bisschen zum Schreiben kommen und abschalten können.“ Weil Frau Schlosser ihn ausdruckslos anblickte, fügte er hinzu: „In der Annonce stand ja, dass die Aufgaben zum Großteil in der Anwesenheit bestehen würden, ohne irgendwelche weiteren Verpflichtungen die meiste Zeit über.“
Der Kellner brachte das zweite Bier und Frau Schlosser nickte dankend. Sie prostete Florian zu. „Sehr gut. Sie sind ehrlich und wollen den Job nicht, um uns auszunutzen oder herumzuschnüffeln. Das gefällt mir. Sie sind eingestellt. Haben Sie irgendwelche Fragen?“
Florian klappte der Mund auf. Er stammelte: „Wie? ... Warum sollte ich herumschnüffeln? ... Ich hab den Job?“ Er verstand selbst nicht, was er da faselte.
Sie nickte knapp. „Alle anderen Bewerber – und es waren einige – sind irgendwelche Medizin- oder Psychologiestudenten, die zwischen den Zeilen ihrer Bewerbungen, ein paar davon sogar ganz offen, geschrieben haben, dass sie unseren Fall gerne studieren würden. Eine Bewerberin hat sogar gefragt, ob sie ihre Abschlussarbeit über meinen Bruder schreiben dürfe. Solche Geier brauche und will ich nicht in meinem Haus. Sie würden Mario außerdem nur zu sehr aufregen. Er mag neugierige Menschen noch weniger als ich selbst.“
„Verständlich.“ Florian erinnerte sich an die Annonce, auf die er sich gemeldet hatte. „In der Anzeige stand, Sie suchen nach einem Konversationspartner für Ihren gelähmten Bruder. Wie darf ich mir das vorstellen? Wie ... äh ... Wie krank ist er denn? Was fehlt ihm?“
Frau Schlossers Mund spannte sich an und sie musterte ihn. Einige Sekunden verstrichen, in denen Florian schon glaubte, etwas Falsches gesagt und seine Chance damit verspielt zu haben, aber dann nickte sie. Mehr für sich selbst als für ihn, wie es schien. „Dass Sie fragen, ist ganz natürlich. Entschuldigen Sie meine Skepsis, ich bin solche Fragen von neugierigen Nasen einfach leid. Die Ärzte können uns nicht weiterhelfen, weil niemand die Krankheit meines Bruders versteht. Ich will Ihnen die Headlines erläutern, damit Sie sich zumindest eine Vorstellung seines Zustands machen können.“
Ihr Gesicht entspannte sich etwas, sie nahm noch einen Schluck Bier, dämpfte die Zigarette aus, zündete sich aber gleich darauf eine weitere an. „Mario und ich sind zweieiige Zwillinge. Unsere Mutter starb bei der Geburt, irgendwelche Komplikationen, die wahrscheinlich auch mit der Krankheit meines Bruders zu tun haben. Unser Vater kümmerte sich lange liebevoll um uns, hätten wir allerdings nicht so viel Geld besessen, säße Mario jetzt vielleicht nicht im Rollstuhl, sondern wäre tot. Nach Vaters Ableben habe ich faktisch alles geerbt, weil ich den Erbteil meines Bruders als Sachwalterin verwalte. Er ist zu keiner vernünftigen Entscheidung fähig. Wir leben zurückgezogen nahe Stefansburg im Waldviertel. Vielleicht kennen Sie es, dort steht eine recht berühmte Burg.“
Florian nickte. „Jedes Jahr findet dort ein Mittelalterfest statt. Und eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ist auch dort, oder?“
„Ja, das auch.“ Frau Schlosser zuckte die Achseln. „Jedenfalls war früh klar, dass mit meinem Bruder etwas nicht stimmte. Er hatte bald Anfälle verschiedenster Art, entweder wurde er ohnmächtig oder er krampfte heftig oder er schrie wie am Spieß. Dabei entwickelte er sich ansonsten normal, lernte früh sprechen und gehen, war gut in der Schule. Die richtigen Probleme fingen erst in der Pubertät an. Er bekam Halluzinationen, redete wirres Zeug. Epileptische Anfälle kamen dazu und kein Arzt, den wir konsultierten, konnte uns sagen, was das alles auslöste. Lange Rede, kurzer Sinn, unser Vater wurde schwer krank und bald übernahm ich die Fürsorge von den beiden. Andere Verwandte haben wir keine mehr – Vater war schon damals sehr alt und Mutter kam aus den USA. Ich fing an, Medizin zu studieren, weil ich selbst nach einem Mittel suchen wollte, um meinem Bruder zu helfen. Na ja, das Studium zieht sich bis heute, weil die Pflege zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Deswegen suche ich vertrauenswürdige und verlässliche Unterstützung.“ Bei den letzten Worten schaute sie ihm durchdringend in die Augen.
Florian gefiel dieser Blick nicht. Er wandte sich seinem Bier zu und bat, entgegen seinem Vorsatz, doch um eine Zigarette. Sie schob ihm die Packung über den Tisch. Nur, um Zeit zu schinden, zündete er sich eine an und machte ein paar Züge. Sie schmeckte nach Abwasserkanal – noch ekelhafter, weil er schon ein paar Tage keine mehr geraucht hatte –, aber er hustete nicht. Nach einem Schluck Bier fragte er: „Worin ... Worin bestünden also meine Aufgaben?“
Wieder ein Nicken. Langsam kam es ihm vor, als sei das ein nervöser Tick von Frau Schlosser. „Denkbar einfach. Mario bekommt dreimal am Tag, genau alle acht Stunden, seine Medikamente. Pünktlich um acht Uhr morgens, um vier Uhr nachmittags und um Mitternacht. Das ist das Allerwichtigste. Sie müssten ihm seine Tabletten hauptsächlich morgens und nachmittags einflößen, nachts bin ich immer zu Hause, aber vom Waldviertel ist es ein längerer Weg nach Wien, also muss ich immer früh raus. Deswegen bekommen Sie bei uns Kost und Logis für die Dauer Ihres Aufenthaltes, und natürlich freie Verwendung der Waschmaschine und was Sie sonst noch brauchen oder wollen. Es wäre außerdem freundlich, wenn Sie mir auch beim Haushalt helfen würden.“
„Hört sich an wie eine WG“, versuchte Florian einen Scherz, bereute es aber angesichts der starren Miene seiner Gesprächspartnerin.
Doch sie nickte. „Da haben Sie recht. Das ist auch der Gedanke dahinter gewesen. Darum finde ich Ihre Profession sehr geeignet für den Job. Sie haben bei uns alle Ruhe, die Sie brauchen, um an Ihren Stücken zu arbeiten. Sie können sich frei bewegen, die Gegend ist herrlich, die Luft gesund. Es ist halt nicht viel los bei uns, aber wenn Sie sagen, Sie brauchen eine Auszeit, trifft sich das ja perfekt. Die Abende haben Sie vollkommen frei, außer ich komme mal später heim, was allerdings recht selten vorkommen wird.“
Florian winkte dem Kellner und deutete auf sein leeres Glas. Frau Schlosser trank daraufhin ihre letzten Schlucke und zeigte dem Kellner auch das ihre.
Als er mit zwei vollen Gläsern wiederkam, fragte Florian: „Das hört sich eigentlich wunderbar an. Was hat es allerdings mit dem Konversationspartner auf sich? In der Anzeige schrieben Sie davon, als sei es die Hauptaufgabe.“
Wieder dieses nervöse Nicken. „Ich wusste nicht, wie ich die Aufgaben sinnvoll formulieren sollte. Ich konnte schlecht schreiben, dass ich eigentlich jemanden brauche, der meinem Bruder alle acht Stunden seine Tabletten in den Mund stopft, oder? Aber wenn Sie gewillt wären, Konversation mit ihm zu treiben, dann würde ich Sie zusätzlich bitten, dass Sie immer nach der Einnahme der Medikamente ein bis zwei Stunden mit ihm verbringen und ihm vorlesen. Ich zeige Ihnen dann unsere Bibliothek und was er gerne hat. Nach der Einnahme ist er nämlich meistens unruhig. Das Zuhören lenkt ihn ab.“
„Und was ist mit Essen?“
Frau Schlosser lächelte zum ersten Mal. „Sie denken mit, das gefällt mir. Aber darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Mein Bruder kann nicht mehr selbstständig essen, er bekommt Flüssignahrung über eine Magensonde. Außerdem hat er einen Katheter. Aber für diese Dinge sind sie nicht qualifiziert. Das übernehme alles ich. Es geht mir wirklich nur darum, dass er seine Medikamente bekommt und dass er nicht so alleine ist.“ Sie hob einen Finger wie zur Mahnung. „Aber das ist sehr, sehr wichtig. Er muss die Medikamente pünktlich einnehmen, schon ein paar Minuten stören die Wirkung und das wäre sehr, sehr schlecht für ihn. Können Sie das?“
Es war da eine Dringlichkeit in ihrer Stimme, die ihm nicht behagen wollte. Er konnte sich kein Medikament – außer natürlich die Pille – vorstellen, das man zeitlich so genau einnehmen musste. Aber er war auch kein Mediziner. Und vielleicht war es ja auch so, dass sie als Schwester einfach übergenau handelte. Das kannte man ja. Trotzdem war da ein Unterton in ihrer Ermahnung, der ihm sagte, dass er sich an diese Vorgabe unbedingt halten sollte. „Das kriege ich hin. Darf ich fragen, wie viel Sie bezahlen? Kost und Logis sind ja enthalten, also ...“
„Sie bekommen zweitausend Euro im Monat“, sagte sie schnell. „Grund für diese hohe Summe ist außerdem, dass Sie Diskretion wahren. Ich werde Sie nicht nötigen, irgendetwas zu unterschreiben, möchte Sie allerdings trotzdem bitten, mit niemandem über uns zu reden. Wir hatten schon unsere Zusammenstöße mit ... Egal. Ich habe ja gesagt, wir mögen keine neugierigen Menschen und ich habe deswegen auch die meisten anderen Bewerbungen schlichtweg abgelehnt. Unser Fall ist ja nicht unbekannt in Fachkreisen, deswegen leben wir sehr zurückgezogen und deswegen steht auch keine Adresse in der Anzeige. Sehen Sie das Gehalt also als Vorsorge gegen etwaige Angebote an, wem auch immer gegen Geld von uns zu erzählen.“
Florian nickte langsam. Das klang alles schlüssig, trotzdem regte sich Skepsis in ihm. Frau Schlosser kam ihm ehrlich genug vor, allerdings fragte er sich, ob sie den Zustand Ihres Bruders nicht ... Nun ja, wirklich viel hatte sie über seinen Zustand nicht verraten. Wie schlimm war er wohl? Es wäre ihm taktlos vorgekommen, sie danach zu fragen.
„Sie zögern.“ Frau Schlosser zündete sich die dritte Zigarette an. „Keine Sorge, Sie brauchen keine Angst zu haben. Fragen Sie, was Sie möchten. Schließlich bitte ich Sie, bei uns zu wohnen und sich um meinen schwer behinderten Bruder zu kümmern.“
Er schluckte. „Wie ... Wie schlimm ist sein Zustand? Ich meine, ich weiß nicht ... Ich habe keine ...“
„Sie brauchen keine Ausbildung, das ist ja der Punkt.“ Jetzt klang sie etwas genervt. Wieder dieses Nicken. „Aber ich verstehe, was Sie meinen, denke ich. Jeder Job hat eine Probezeit. Kommen Sie, schauen Sie es sich an; vor allem schauen Sie sich meinen Bruder an. Bleiben Sie ein paar Tage und leben Sie sich ein. Wenn es Ihnen nicht gefällt, bekommen Sie ein Monatsgehalt für Ihre Mühen und können wieder nach Hause fahren.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.
Florian überlegte noch eine Sekunde. In Wahrheit hatte er nichts zu verlieren. Also nahm er die dargebotene Hand. „Abgemacht.“
„Dann nenn mich Elisabeth. In einer WG sollte man per Du sein.“ Sie lächelte wieder. Und nickte. „Wie ist deine Wohnsituation derzeit?“
„Florian“, beeilte er sich, das Du zu quittieren, bevor er die Frage beantwortete: „Ehrlich gesagt lebe ich seit einigen Wochen wieder bei meinen Eltern in Bachbrunn, nachdem ich meine Beziehung beendet habe. Die Wohnung gehört meiner Ex und bisher habe ich noch nichts Neues gefunden.“ Er hatte auch noch keine Motivation gehabt, sich überhaupt wegen einer neuen Wohnung umzuschauen.
„Bachbrunn im Weinviertel?“, fragte sie. „Das kenne ich. Dort gibt es einen guten Arzt, der uns geholfen hat, die Dosis der Medikamente für meinen Bruder einzustellen. Hast du ein Auto?“
Florian bejahte. Es war ein alter Opel Astra von seinem Vater mit ausgeleierter Handbremse und klemmender Heckklappe. Er fuhr ihn so gut wie nie, gerade so oft, dass die Batterie nicht ex ging.
„Mit dem Auto brauchst du von Bachbrunn gute zwei Stunden zu uns. Du bist damit bei uns in der Gegend auch mobil, weil ich brauche meines regelmäßig, um nach Wien zu fahren. Das ist sehr gut. Wäre es dir recht, bereits kommenden Freitagnachmittag zu uns zu kommen? Dann haben wir das Wochenende, an dem ich dir alles zeigen kann, bevor du am Montag die Verantwortung von sieben Uhr morgens bis abends gegen acht übernimmst, wo ich meistens heimkomme.“
Ankunft
Er fuhr nachmittags gegen drei Uhr von zu Hause los. Mit einem Zwischenstopp, den er an einer Raststelle einrechnete, würde er gegen sechs Uhr abends an seinem Ziel ankommen. Seine Eltern waren recht überrascht gewesen von dieser neuen Entwicklung, fanden es andererseits allerdings gar nicht schlecht, dass er einen Tapetenwechsel versuchte, der auch noch monetär recht lukrativ war. Wie oft hatte er sich schon ihre Sorgen anhören müssen, dass er als Künstler nie und nimmer überleben könne in der heutigen Zeit. Und wie gesagt hatte er selbst keine Lust mehr auf irgendwelche Arschlochjobs, wie er sie nannte. Den letzten im Einzelhandel hatte er sogar ein paar Jahre ausgehalten, bis es ihm wirklich zu sehr auf die Nerven gegangen war, der Punchingball für schlecht gelaunte Kunden zu sein. Diese Kunden waren fast immer schlecht gelaunt und suchten nach einer Möglichkeit, sich abzureagieren. Der Einzelhändler bietet eine perfekte Zielscheibe: In der Regel schlecht bezahlt, aber auf den Job angewiesen, muss er die meisten Beleidigungen über sich ergehen lassen, weil er selber ja seinen Job behalten will.
