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Dieser Band enthält folgende Krimis: Corcoran und der Todesengel (Alfred Bekker) Ich darf mich nicht verwandeln (Alfred Bekker schrieb als Chris Heller) Tiberius Elroy und der ewige Tod (Alfred Bekker) Darry Pendor hat ein Problem: Er muss dem Drang widerstehen, sich in einen Werwolf zu verwandeln. Er ist ein Gestaltwandler und diese Eigenschaft macht sein Leben kompliziert - egal, ob er eine Frau kennenlernt oder in seinem Job bestehen muss. Er ist ein Mensch, der sich in ein Monster verwandelt - aber in seinem Job als Ermittler jagt er Monster in Menschengestalt und es stellt sich die Frage, wer das größere Monster ist: Ein Werwolf oder ein Serienkiller. Auch der Fall, an dem er gerade arbeitet hat etwas mit einer Verwandlung zu tun - allerdings auf eine ganz andere Art... Und dann sind da noch die selbsternannten Dämonenjäger, die ihm das Leben zur Hölle machen! Darry Pendor schwebt in der dauernden Gefahr, dass das Tier in ihm die Oberhand gewinnt… Und so gilt für ihn der Satz: Ich darf mich nicht verwandeln!
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Seitenzahl: 584
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Gruselkrimi Dreierband 3122
Copyright
Corcoran und der Todesengel
Ich darf mich nicht verwandeln
Tiberius Elroy und der ewige Tod
Titelseite
Cover
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
Dieser Band enthält folgende Krimis:
Corcoran und der Todesengel (Alfred Bekker)
Ich darf mich nicht verwandeln (Alfred Bekker schrieb als Chris Heller)
Tiberius Elroy und der ewige Tod (Alfred Bekker)
Der tote Björn Renner ist in der JVA Ewig ermordet worden. Davon ist Dr. Böttcher überzeugt. Doch die Umstände sind mehr als eigenartig, und so beginnt der Gerichtsmediziner auf eigene Faust zu recherchieren, wobei er unerwartet Hilfe durch den Orden vom Heiligen und Weißen Licht bekommt. Aber scheinbar stehen sehr viele Leute unter dem Einfluss von Arthur Tanner, oder King Arthur, der sich auch gerne „Meister“ nennen lässt. Zu Dr. Böttchers eigener Überraschung ist er fähig, sich vor dem bösen geistigen Einfluss abzuschirmen. Aber wird das reichen, um den Schwarzmagier zu überwinden?
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
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© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen .
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alles rund um Belletristik!
von Alfred Bekker
Der Umfang dieses Buchs entspricht 190 Taschenbuchseiten.
In alter Rechtschreibung
Auf der Erde herrscht ein verborgener Krieg zwischen den Dämonen der Dämmerung und dem Orden vom Weißen Licht.
Da taucht der Vernichter auf, ein uraltes Wesen, dass im Buch Exodus als Todesengel die Strafe der zehnten Plage vollstreckte und die Erstgeburt der Ägypter tötete.
Der Todesengel ist zurückgekehrt und hinterlässt eine blutige Spur. Er ist erfüllt von einem unheimliche Hunger nach menschlichem Hirn...
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.
© by Author
© dieser Ausgabe 2016 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen.
Alle Rechte vorbehalten.
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Prolog
In der Schädelhöhle von Maskatan...
Corcoran nahm den geweihten Dolch aus dem Feuer. Eine Lichtaura umflorte die Waffe.
"Man sollte das Ritual in regelmäßigen Abständen wiederholen", erklärte Meister Darenius, der plötzlich aus dem Schatten getreten war. Seine Augen leuchteten grell.
Ein Umstand, dessen Ursache Corcoran im übertriebenen Konsum einer Substanz wähnte, die sich Salz des Lebens nannte.
Aber in dieser Hinsicht war Corcoran auf dem besten Weg, es dem Meister gleichzutun.
Meister Darenius streckte die Hand in Corcorans Richtung aus. Er reichte ihm ein goldfarbenes Döschen.
"Dein Vorrat des Salzes war ziemlich schnell verbraucht, Bruder David..."
"Das ist wahr."
"Die Nebenwirkungen sind unkalkulierbar. Ich habe dich gewarnt. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung."
"Es ließ sich nicht vermeiden."
"Das mag sein. Dennoch erneuere ich meine Warnung."
David Corcoran nahm die Dose mit dem Salz des Lebens an sich.
Meister Darenius, die geheimnisumwitterte graue Eminenz des Ordens vom weißen Licht, legte Corcoran eine Hand auf die Schulter.
"Dies ist ein Zufluchtsort jenseits von Raum und Zeit. Ein Ort, um Kraft zu schöpfen in den kurzen Pausen, die Kampf gegen das Böse uns läßt..."
"Ein Kampf, der vielleicht schon verloren ist", entgegnete Corcoran. "Das Böse regiert bereits. Alles..."
"Warum so pessimistisch, Bruder David?"
"Hat sich die Macht der Finsternis nicht bereits in unseren Reihen breitgemacht? Sind nicht auch viele Ordensbrüder bereits von ihr infiziert? Wem soll man noch trauen, außer sich selbst?"
"Willst du aufgeben, Bruder David?"
David Corcoran atmete tief durch.
"Nein", sagte er.
"Trotz allem?"
"Trotz allem."
*
New York City, Bronx, 2.April 2002, 23:30 Uhr
"Wo müssen wir genau hin, Billy?" meinte der Cop am Steuer und blinzelte in die Nacht hinein.
Sein Partner zuckte die Schultern.
"Keine Ahnung, Ed!" knurrte er zwischen den Zähnen hindurch. Er hatte das Pump-Action-Gewehr auf den Schoß genommen und überprüfte nun die Ladung. "Ist wirklich 'ne miese Gegend hier. Und an den Häusern scheint es nicht mal Nummern zu geben..."
"Meinst du, daß du das Riesengeschütz dort brauchst?" fragte Ed, der sich immer noch sehr anstrengte, draußen etwas erkennen zu können. Die Straßenbeleuchtung funktionierte nicht. Es war nur zu hoffen, daß sie sich nicht verfahren hatten.
Billy verzog das Gesicht und gähnte. Eigentlich hätte er Feierabend gehabt, aber dann war diese Sache dazwischengekommen...
Verdammter Mist! fluchte er innerlich.
Ich könnte jetzt auf dem Weg nach Hause sein und mich aufs Bett freuen. Stattdessen werde ich meinen Hals dabei riskieren müssen, um diesen Spinner dingfest zu machen...
Und das nur, weil sie gerade am nächsten dran gewesen waren.
So ist das Schicksal! dachte Billy sarkastisch. Zur falschen Zeit am falschen Ort...
"Vorsicht, Ed!" schrie Billy dann und sein Partner trat in die Eisen. Eine Gestalt stand auf der Straße und winkte erst im letzten Moment. Sie war nicht allein, da waren noch andere Leute.
Billy machte die Tür auf und stieg aus, das Gewehr hielt er in der Rechten.
"Gott sei Dank, Polizei! Kommen Sie schnell!" rief die Frau.
"Haben Sie uns gerufen?" fragte Billy.
"Ja, ich war das. Braden, unser Hausmeister ist da oben!" Sie deutete auf das mehrgeschossige Haus zur Rechten. In mehreren Stockwerken brannte Licht. "Schnell! Wahrscheinlich ist es schon zu spät!"
So etwas hört man gerne! dachte Billy sarkastisch. Und dabei waren sie nur ein paar Straßen entfernt gewesen, als sie verständigt wurden. Keine fünf Minuten hatten sie bis hier her gebraucht, trotz der Lichtverhältnisse und der Tatsache, daß man hier von Hausnummern nichts zu halten schien.
Billy sah die Frau prüfend an. Im Schein der Wagenlampen sah er ihr Gesicht. Billy hätte sie unter normalen Umständen für fünfundvierzig geschätzt. Ihre Zähne waren schlecht, ihr Teint auch.
Billy atmete tief durch. Wahrscheinlich ist sie zehn Jahre jünger als sie aussieht! Wäre nichts Ungewöhnliches für diese Gegend.
Und noch ein anderer Gedanke kam ihm. Ein Gedanke, der sich wie eine kalte, glitschige Hand anfühlte, die ihm jemand auf die Schulter legte. Billy schluckte.
Wenn hier jemand die Polizei ruft, dann sicher nicht ohne triftigen Grund!
Ed schloß indessen den Polizeiwagen ab. Schließlich sollte hinterher nicht die halbe Ausrüstung fehlen. Er hielt das Walky talky in der Hand und lauschte angestrengt dem Gemisch aus Rauschen und der Stimme vom Polizeirevier.
"Hast du den Captain, Ed?"
"Captain Delrios ist unterwegs. Mit Verstärkung."
"Sollen wir warten? Wenn du mich fragst, ist der Kerl sowieso längst über alle Berge. Und ich habe ehrlich gesagt keine Lust, hier..."
"Wir sollen ihn schnappen", sagte Ed ernst. "Um jeden Preis."
Jetzt meldete sich wieder die Frau zu Wort. "Ich habe gesehen, wie Braden den Toten in seine Wohnung gebracht hat! Ich stand unten im Treppenhaus, er hat mich nicht bemerkt..."
Billy hob die Augenbrauen.
"Und das war nicht zufällig eine Schaufensterpuppe..."
"Hören Sie! Nach allem, was hier in der Gegend passiert ist, nach all den Toten und diesen Perversen..."
"Schon gut", schnitt Billy ihr grob das Wort ab. Er würde nicht um diese Sache herumkommen, es sei denn er riskierte ein Disziplinarverfahren. Er kannte Captain Delrios von der Mordkommission gut genug, um zu wissen, daß der mit hundertprozentiger Sicherheit eines einleiten würde, wenn dieser Braden nicht in Handschellen war, sobald der Captain auftauchte...
"Ist er bewaffnet?" fragte Ed unterdessen die Frau.
"Ich weiß nicht. Aber..."
Ed kniff die Augen zusammen, seine Brauen beschrieben dabei eine geschwungene Linie, die Skepsis ausdrückte. "Aber was?" fragte er.
Die Frau flüsterte nur.
Aus ihren Augen leuchtete das blanke Entsetzen.
"Er muß es sein..."
"Was?"
"Das Monstrum!"
Dermaßen vage Aussagen liebe ich! Billy verzog das Gesicht.
Er machte seine Taschenlampe an, die er am Revers seiner Jacke hängen hatte. Der Lichtkegel ließ die Nase der Frau rötlich leuchten.
Alkohol!
Aber Billy fröstelte trotzdem.
"Wenn er aus dem Haus gekommen wäre, hätten wir das gesehen!" meinte einer der anderen Leute, ein Mann in den Sechzigern, der sein linkes Bein nachzog.
Billy schob sich die Mütze in den Nacken. Er sah kurz zu seinem Partner hinüber.
"Also los", knurrte er.
In seiner Magengegend spürte er einen Krampf.
Der Aufzug war defekt und die Treppe ziemlich schmal. Auf manchen der Stufen war der Belag durchgelaufen. Ein undefinierbarer Geruch hing in der Luft. Wenn Braden hier als Hausmeister tätig war, dann hatte er seine Pflichten wohl nicht sonderlich ernst genommen.
Billy nahm immer zwei bis drei Stufen auf einmal, so daß Ed, der außerdem noch einen Kopf kleiner war, Mühe hatte, mit seinem Partner Schritt zu halten.
Keine Minute verging, dann hatten sie ihr Ziel erreicht.
Die Frau war auch mit hochgekommen. Um sich das entgehen zu lassen, war sie einfach zu neugierig. Billy deutete auf die Tür, an der sich sogar ein Namensschild befand. 'Cal Braden' hatte da sicher mal draufgestanden, jetzt war da nur noch 'Cal raden' zu lesen. Billy faßte die Pump Action fester, während Ed mit dem Griff seines Polizeirevolvers an die Tür klopfte.
"Mr. Braden!" rief Ed. "Hier ist die Polizei! Machen Sie sofort die Tür auf!"
Aus der Wohnung war ein Geräusch zu hören. Es klang wie ein lautes Atmen oder Ächzen. Ein fast tierischer Laut. Eine volle Sekunde verstrich, ohne daß etwas geschah. Die beiden Cops sahen sich gegenseitig an. Billy nickte, und Ed trat die Tür ein. Es war eine wuchtige Bewegung, viel heftiger, als sie nötig gewesen wäre, um das morsche Holz splittern zu lassen.
Die Tür flog auf und Billy hob das Gewehr.
Der Blick war frei auf ein mieses Ein-Zimmer-Apartment, das lange nicht mehr neu tapeziert worden war. An einer Stelle begann Schimmel sich die Decke entlang zu fressen.
Die Einrichtung war karg. Ein Sofa, ein Tisch, ein Stuhl. Außerdem ein Kleiderschrank und eine Matratze.
Ausgestreckt auf dem Fußboden lag eine Leiche. Männlich. Der rechte Arm schien seltsam verrenkt zu sein.
Ein Mann - Braden, wie Billy annahm - hatte sich über das Gesicht des Toten gebeugt. Es sah aus wie bei der Mund zu Nase Beatmung, die man in Erste-Hilfe-Kursen gezeigt bekam. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Billy noch zu sehen, wie Braden die Nase des Toten im Mund gehabt hatte.
Dann schreckte Braden hoch.
Mit weit aufgerissenen Augen sah Braden in die Mündung von Billys Pump-Action Gewehr. Billy schätzte ihn auf etwa fünfundzwanzig. Braden trug eine Jeans und ein knappes Sweat-Shirt, durch das man sehen konnte, wie sich die Muskeln und Sehnen anspannten. Wie bei einer Katze vor dem Sprung.
"Cal Braden! Sie sind verhaftet!" rief Billy und kam langsam näher. "Sie haben das Recht zu schweigen. Wenn Sie von diesem Recht keinen Gebrauch machen, kann alles, was Sie von jetzt ab sagen, vor Gericht gegen Sie verwendet werden..." Billy hörte seiner eigenen Stimme wie der eines Fremden zu. Wie automatisch betete er diese Litanei hinunter und dabei hielten seine Augen nach irgendetwas Ausschau, was wie eine Waffe aussah.
Aber er fand nichts.
Hinter sich wußte er Ed.
Billy hatte die ganze Zeit über Bradens Gesicht fixiert, der noch immer bewegungslos neben der Leiche kauerte. Aus den Augenwinkeln heraus sah Billy das Gesicht des Toten, dann drehte er den Kopf und das Entsetzen packte ihn.
"Mein Gott...", flüsterte er und fühlte, wie ihm übel wurde.
Er war zehn Jahre Polizist und hatte schon viel gesehen. Auch zerstörte Gesichter.
Aber noch nie so etwas...
Diesen Moment nutzte Braden. Er schien gut durchtrainiert zu sein und sprang auf wie ein Panther. Es kam völlig überraschend und eine volle Sekunde verging, ehe Billy irgendetwas tun konnte.
"Machen Sie keinen Unfug, Braden! Sie haben keine Chance!"
Billy hob das Gewehr.
Bradens Bewegung war eine Mischung aus Taumeln seitwärts und gewandtem Sprung. Dann war er beim Fenster und machte einen Satz.
"Nein!" schrie Billy.
Aber es war zu spät. Glas klirrte und Braden segelte durch ein Meer von messerscharfen Scherben.
Billy fühlte den Puls bis zum Hals schlagen.
Mein Gott, das hat mir heute noch gefehlt! Ein wahnsinniger Selbstmörder, dessen Knochen wir gleich einzeln einsammeln können. Genau das richtige für einen ruhigen, traumlosen Schlaf.
"Verdammter Mist", hörte er Ed sagen.
Billy ging zum Fenster und sah hinunter. Er nahm seine Taschenlampe von der Brust und leuchtete hinunter. Irgendwie hatte er erwartet, etwas unappetitliches dort unten zu sehen. Aber nichts dergleichen. Kein Blut. Kein zerschmetterter Körper, keine verrenkten Gliedmaßen...
Ein Stöhnen drang mit der kühlen Nachtluft hinauf zu Billy. Der Lichtkegel traf eine Gestalt. Braden.
Er erhob sich von dem asphaltierten Boden und blickte hinauf. Braden wankte etwas. Sein Sweat-Shirt war zerschlissen, aber er selbst schien den Sprung durch das Fenster und den Sturz über drei Stockwerke unbeschadet überstanden zu haben.
"Das gibt's doch nicht", flüsterte Billy.
Ed stand jetzt neben ihm.
"Der Kerl haut ab", rief er.
Billy hob die Pump-Gun. "Stehen bleiben, Braden!"
Aber Braden blieb nicht stehen. Er taumelte davon. Die Pump-Gun krachte los, aber der Warnschuß schien ihn nicht zu beeindrucken. Er lief weiter. Die Dunkelheit verschluckte ihn und ließ ihn wie einen schattenhaften Umriß erscheinen. Billy suchte ihn mit der Taschenlampe. Es war ein trister Hinterhof, von allen vier Seiten von Hauswänden umgeben. Aus dem Hintergrund waren Polizeisirenen zu hören, die sich rasch näherten.
Captain Delrios, dachte Billy.
"Er kann hier nicht raus", meinte Ed.
"Bist du aber optimistisch!"
Sie sahen gerade noch, wie er ein Rost löste, daß zu einem Kellerfenster gehörte. Und im nächsten Moment war Braden buchstäblich wie vom Erdboden verschluckt.
*
Die ganze Straße war voll von bis auf die Zähne bewaffneten Polizisten. Ein Sonderkommando der State Police war auch dabei.
Captain Delrios war nicht sehr begeistert, als er hörte, daß Braden immer noch frei herumlief. Und als er hörte, daß Braden einfach durch ein Fenster gesprungen sei und sich dabei nicht den Hals gebrochen hätte, verzog der Leiter der Mordkommission nur müde das Gesicht.
"Sie glauben, ich erzähle Ihnen was", schimpfte Billy.
"Ich glaube gar nichts, aber ich weiß, daß wir das Monstrum fangen müssen, wenn wir verhindern wollen, daß es noch mehr Menschen tötet..."
Er spricht von Braden wie von einem Tier! Billy erschrak bei dem Gedanken. Andererseits, wenn man bedachte, was er mit seinen Opfern anstellte... Billy wurde allein bei der Erinnerung an das, was er oben, in Bradens Wohnung gesehen hatte, übel.
"Der ganze Block ist umstellt", meldete einer der Sergeants an Delrios gewandt. Dieser nickte und zog dabei die Automatik aus dem Schulterholster unter seiner Jacke.
"Kommen Sie!" sagte Billy.
*
Sie stiegen dort in den Keller ein, wo Billy Braden zuletzt gesehen hatte. Alle anderen Ein- und Ausgänge des Gebäudes waren von bewaffneten Posten bewacht. Billy ging voran, dann Captain Delrios.
Im Keller war es kalt und muffig. Der Putz blätterte von den Wänden. Ein paar halbverrottete Möbel standen hier und das Licht funktionierte nicht.
Ein Geräusch ließ Billy die Pump-Gun herumreißen, aber dann sah er, daß es nur eine riesige Ratte war, durch das Polizeiaufgebot wohl etwas in ihrer Ruhe gestört worden war. Vorsichtig tasteten sie sich in einen finsteren Flur voran. Irgendwo hier mußte er sein...
Er muß Todesangst haben! dachte Billy. Und das macht ihn besonders gefährlich, unberechenbar. Er hat nichts zu verlieren. Wenn er wirklich der Kerl ist, der für die Mordserie im Viertel verantwortlich ist, dann wird er wissen, was ihm vor Gericht blüht...
Der Stuhl.
Andererseits... Leute wie der kommen nicht so leicht auf den Stuhl. Eher schon ins Irrenhaus.
Dann sahen sie plötzlich eine Bewegung. Ein Schatten schnellte zur Seite. Die Lichtkegel der Taschenlampen wirbelten herum und einen Augenblick lang war Billy sich gar nicht sicher, ob das, was sie da schemenhaft wahrnahmen, wirklich ein Mensch war...
"Stehen bleiben, Braden!" Das war Billy, die Pum-Gun im Anschlag.
Die Gestalt grunzte, stöhnte merkwürdig.
Ein Lichtkegel erfaßte Braden und der blinzelte. Eine Hand hob er vor das Gesicht, die andere befand sich in Bauchhöhe unter seinem Sweat-Shirt.
"Keine Bewegung!"
Er bewegte sich doch und kam näher.
Es war Delrios, der feuerte, wahrscheinlich weil er gedacht hatte, Braden würde eine Waffe ziehen. Aber Braden hatte keine Waffe. Die Hand unter dem Sweat-Shirt war leer. Sein Blick auch.
Er wankte auf die Polizisten zu. Der Schuß schien ihn nicht getötet zu haben, obwohl Delrios ihn mitten in der Brust erwischt hatte.
Eine Sekunde verging, ohne daß die Polizisten reagierten. Dann erst begriffen sie, was vor sich ging. Braden griff sie mit bloßen Händen an. Er faßte Billys Pump-Gun am Lauf und riß ihn mitsamt seiner Waffe zur Seite. Braden schien eine schier unwahrscheinliche Kraft entwickeln zu können, die man ihm gar nicht zutraute, wenn man ihn so sah. Billy kam schmerzhaft gegen eine der feuchten Kellerwände. Putz rieselte im ins Gesicht und die Augen. Braden bewegte sich indessen auf den Captain zu.
Zweimal feuerte Delrios noch, dann war Braden bei ihm und ehe sich der Captain versah, hatte Braden ihm seine Hände um den Hals gelegt. Delrios röchelte.
Billy nahm indessen die Pump-Gun und feuerte wild drauflos. Dreimal erwischte er Braden im Rücken. Bradens Gestalt schien zu erstarren, dann sackte er schließlich in sich zusammen und blieb reglos auf dem feuchten, brüchigen Betonboden liegen.
Delrios lehnte an der Wand und hielt sich den Hals. Der Captain rang nach Luft.
Er zitterte leicht.
Und als er wieder sprechen konnte, murmelte er halblaut vor sich hin: "Mein Gott, so etwas habe ich noch nicht erlebt."
*
In der Nähe von Albany, New York State, 4.April, 12:26 Uhr David Corcoran lenkte das Winnebago-Wohnmobil schon seit gut drei Stunden den Highway entlang. Sein Blick fiel auf den Tankanzeiger, der bereits bedenklich gefallen war.
Corcoran war Mitte dreißig, rothaarig und korpulent. Sein Bart hatte denselben deutlichen Rotstich wie sein Haar.
Der Blick seiner Augen war ruhig und besonnen.
Er unterdrückte ein Gähnen, murmelte dann eine Formel vor sich hin. Die Müdigkeit war daraufhin erst einmal verflogen. Wirkt besser als Kaffee. Wahrscheinlich hat schon der gute alte Hermann von Schlichten sein okkultes Kompendium ABSONDERLICHE KULTE nur unter dem Einfluß dieser Formel schaffen können...
Für einen Mann wie David Corcoran, seines Zeichens Mitglied des ORDENS VOM WEISSEN LICHT, war das eine seiner leichteren Übungen. Dieser Orden hatte sich dem Kampf gegen das Böse verschrieben. Dem Kampf gegen die Bedrohung durch finstere Mächte aus anderen Daseinsebenen, die in den Bereich der Erdmenschen vordrangen. Namentlich die Dämonen der Dämmerung gehörten zu jenen finsteren Wesenheiten, deren Einfluß immer größer wurde. Das Böse regiert. Alles. Diese Festellung hat schon fast den Status eines Naturgesetzes erreicht!
Auf dem Beifahrersitz saß Mara Pearson, sechs Jahre jünger als er und eine dunkelhaarige, leicht exotisch wirkende Schönheit. Ihre dunkle Haarpracht hatte sie zu einem praktischen Zopf zusammengefaßt und es war das dritte Mal innerhalb von zehn Minuten, daß sie sich vorbeugte, um im rechten Seitenspiegel sehen zu können, ob ihnen jemand folgte. Mara Pearson war eine junge Novizin des ORDENS VOM WEISSEN LICHT, deren Probezeit noch nicht vorbei war. Die Kraft des Übernatürlichen hatte in ihrer Familie von jeher eine starke Rolle gespielt. Auch von daher hatte sie sich schon früh der Frage zugewandt, was dran war am Übernatürlichen. Eine gemeinsame Mission im Auftrag des Ordens hatte Corcoran und Mara zusammengebracht.
Eine Gemeinschaft auf Zeit.
"Was sind wir eigentlich mehr, Mara: Jäger oder Gejagte?" fragte Corcoran mit einem milden Lächeln, als er bemerkte, wie Mara sich zum x-ten Mal umdrehte.
Mara wischte sich eine verirrte Strähne aus den Augen und sah Corcoran etwas erstaunt an.
Dann zuckte sie ihre schmalen Schultern.
"Weiß nicht. Eine Mischung aus beidem, würde ich sagen."
"Und was überwiegt?"
"Du kannst Fragen stellen!"
"Ist das eine Antwort?"
Maras Lächeln bekam etwas Schalkhaftes. "Wir gehören per se zu den Jägern, würde ich sagen."
Corcoran lachte. "Wirklich?"
"Eigentlich schon."
"Und in unserem Fall?"
"David..."
"In unserem Fall scheint nichts zu gelten, was normalerweise gilt."
Sie seufzte und nickte dann. "Da könntest du leider Recht haben."
"Wir leben in einer paranoiden Welt, Mara", sagte Corcoran mit beruhigendem Timbre.
"Wem sagst du das, Corcoran! Für uns gilt das mehr als für die meisten anderen..."
"Wir sollten uns von dieser Paranoia nicht anstecken lassen, Mara. Das tötet den Verstand."
"Du weißt, ich habe als Polizeipsychologin gearbeitet. Also erzähl mir nichts über Paranoia..."
"Du meinst, wenn die Psychologie den Knopf im Gehirn gefunden hätte, mit dem sie sich abschalten ließe, hättest du ihn schon benutzt!"
Mara nickte und verschränkte die Arme vor der Brust.
"So ähnlich, ja."
Schließlich sahen sie eine Tankstelle mit Drugstore auftauchen und Corcoran lenkte den Winnebago vom Highway herunter.
"Wir haben nichts mehr im Tank", sagte er dazu.
Corcoran fuhr an die Zapfsäulen heran. Sie stiegen beide aus. Nachdem sie getankt und bezahlt hatten, fuhr Corcoran den Winnebago ein paar Meter weiter, so daß er nicht mehr im Weg stand. Dann gingen sie noch auf eine Tasse Kaffee in den Drugstore.
Ein dicker Mann mit einer Mütze der Los Angeles Lakers stand hinter dem Tresen und dem Engagement nach, mit dem er sich um die Kunden kümmerte, hätte Corcoran seinen letzten Cent dafür verwettet, daß dem Dicken dieser Laden nicht gehörte.
Der Kaffee war ziemlich dünn.
Corcoran kaufte noch eine Zeitung.
"Brauchen wir sonst noch irgend etwas?" fragte Mara. Corcoran schüttelte den Kopf.
"Nein, nicht, daß ich wüßte."
Sie waren allein im Drugstore.
"Die nächsten zweihundert Kilometer fahre ich, okay?" meinte Mara, nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte.
"Okay."
Corcoran faltete die Zeitung auseinander. Er überflog die Meldungen. Das meiste schien ihn nicht sonderlich zu interessieren, aber auf der zweiten Seite war das Foto eines Mannes, das ihn stutzen ließ. Die Überschrift lautete: MORDSERIE AUFGEKLÄRT! MUTMAßLICHER TÄTER STARB DURCH POLIZEIKUGELN! Aß ER DIE GEHIRNE SEINER OPFER?
"Was ist los?" fragte Mara.
Sie kannte Corcoran inzwischen genug, um die Veränderung in seinem Gesicht bemerkt zu haben.
Sie sah ihm über die Schulter.
Corcoran deutete auf das Foto. Es stand ein Name darunter: Cal Braden, Hausmeister (25).
"Ich habe dieses Gesicht schon mal gesehen und der Name sagt mir auch etwas."
"Klar!" meinte Mara. "Im Fernsehen oder in einer vorherigen Zeitung... Vielleicht auch als Phantombild."
"Nein."
Corcoran rieb sich kurz die Nasenwurzel und schloß für einen Augenblick die Augen dabei, um sich besser konzentrieren zu können.
Dann sah er sie an und in seinen grauen Augen schien es zu blitzen.
"Jetzt erinnere ich mich."
"Ach, ja?"
Mara hob die Augenbrauen, aber ihr Interesse war nicht sonderlich groß.
"Es war auf dieser CD-Rom mit dem geheimen Daten-Material, die uns Großmeister Delacroix gegeben hat... Ich bin mir sicher."
*
Als sie weiterfuhren, setzte sich Mara ans Steuer des Winnebago, während sich Corcoran in den hinteren Bereich zurückzog, dort wo sich die hochmoderne Computeranlage befand.
Corcoran nahm die silberne Scheibe hervor, die sie von Delacroix, einem der Großmeister des Ordens, erhalten hatten. Äußerlich sah sie wie eine Eminem-CD aus und tatsächlich enthielt sie sogar ein paar Songs des Provo-Rappers, die man auf einem ganz normalen CD-Player abspielen konnte.
750 Megabyte war der Speicherplatz, den diese Scheibe enthielt - mehr als alle Telefonbücher der USA zusammen. Es war ein ganzes Aktenarchiv, was hier Platz hatte.
Corcorans geübte Finger glitten über die Tastatur des Terminals. Er gab den Code ein, der die Darenius-Files freigab: SCHLICHTER HERMANN.
Eine Anspielung auf den deutschen Okkultisten Hermann von Schlichten, der um 1900 durch sein ursprünglich in mittelalterlichem Latein verfassten Werk ABSONDERLICHE KULTE von sich reden gemacht hatte.
Der Computer akzeptierte.
Corcoran wurde aufgefordert, einen Suchbegriff einzugeben und so tippte er einen Namen: CAL BRADEN.
Es dauerte nur einen Augenblick und dann wußte Corcoran, daß er sich nicht getäuscht hatte. Nur, daß es bei dem Cal Braden aus der Datei um jemanden ging, der mit einer Mordserie in Phoenix in Verbindung gebracht worden war, bevor er spurlos verschwand.
Vor mehr als vierzig Jahren!
Und damals war Braden auch schon 25 Jahre gewesen.
*
New York City, Gerichtsmedizinisches Institut des Bethesda Hospitals, Bronx, 10.April 2002,12:40 Uhr
"Sind Sie Dr. Jason Cromer?"
"Ja, und Sie?"
"Mein Name ist Conroy, wir haben miteinander telefoniert. Darf ich Ihnen meine Kollegin, Miss Pearson vorstellen?"
"Angenehm."
Cromer war Mitte dreißig, hatte aber ein recht jugendlich wirkendes, glattes Gesicht. Ein Allerweltsgesicht, bis auf ein Muttermal auf der linken Kinnseite.
Er ist ziemlich jung für seine Position! ging es Corcoran durch den Kopf. Also ist er höchst wahrscheinlich auch sehr gut. Examen mit Auszeichnung und so weiter.
Cromer musterte zunächst Corcoran und dann Mara. Er sagte: "Sie sind also wegen Braden hier..."
"Ja", sagte Corcoran.
"Wenn's recht ist, möchte ich doch ganz gerne Ihre Ausweise sehen..."
Hätte ich mir denken können! ging es Corcoran durch den Kopf. Cromer war ein vorsichtiger, sehr korrekter Mann. Aber es gab ein Mittel, um diesen Fehler zu kurieren. Wenigstens für kurze Zeit...
Magie!
"Sekanet kratenos hugften...", murmelte Corcoran.
Cromers Gesichtsausdruck wurde starr.
"Wollen Sie meinen Ausweis wirklich noch sehen?" fragte Corcoran.
Cromer schüttelte den Kopf, presste dabei die Lippen aufeinander.
"Nein, nicht nötig"
"Um so besser."
"Ich vertraue Ihnen."
"Gut."
"Ich weiß gar nicht, wie ich darauf gekommen bin, Sie nach dem Ausweis zu..."
"Schon gut."
Corcoran hob die Hand.
Das ist der Nachteil bei der Anwendung dieser Art von Magie. Manche Leute fangen unter ihrem Einfluß völlig ungehemmt an zu reden...
"Okay", sagte Cromer mit einem Unterton, der eine gehörige Portion Ehrfurcht verriet.
Corcoran und Mara wurden durch schmucklose, kahle Korridore geführt.
"Warum interessieren Sie sich für den Fall?" fragte Cromer. "Ich meine, was immer es auch an Merkwürdigkeiten in der Sache gibt - an Bradens Schuld gibt es nicht den Hauch eines Zweifels. Auch wenn man ihm jetzt wohl kaum noch den Prozeß machen wird..."
"Dr. Cromer, wir sind hier, um Antworten zu bekommen", sagte Mara sanft.
"Verstehe schon", meinte Cromer. "Sie sind darüber informiert, was dieser Braden getan hat?"
"Er hat eine Reihe von Menschen umgebracht und war dabei offenbar nicht sehr wählerisch. Jedenfalls scheint es unter den Opfern keinen gemeinsamen Nenner zu geben", sagte Corcoran.
Cromer nickte. "Ja, und seine Spezialität war, den Opfern das Gehirn durch die Nase herauszuziehen. So wie es die alten Ägypter bei ihren Mumien gemacht haben. Einer der Polizisten, die ihn festzunehmen versuchten, will gesehen haben, wie Braden sich über die Nase seines Opfers beugte und..."
Cromer stockte. Aber nicht, weil ihn das, was er erzählte, besonders bewegt hätte. Dazu war er durch seinen Beruf zu abgebrüht. Schließlich gehörte es zu seinem Job, Leichen aufzuschneiden und irgendwo in ihren toten Leibern nach der Ursache ihres Hinscheidens zu suchen. An Unappetitliches war er also gewöhnt. Nein, Cromer suchte nach dem richtigen Wort...
"Der Mann meinte, Braden hätte gesaugt", erklärte der Gerichtsmediziner schließlich.
"Wäre das physiologisch überhaupt möglich?" hakte Corcoran nach.
"Nein. Dazu wäre eine Saugkraft nötig, die... naja, jedenfalls das übersteigt, was ein normaler Mensch mit seinem Mund zu Wege bringen könnte. Ich nehme an, daß Braden die Gehirne seiner Opfer einfach ganz konventionell durch die Nase herausgezogen hat."
"Wie die alten Ägypter."
"Ja. Nur war Braden wohl nicht ganz so geschickt. Manche der Opfer haben ziemlich ramponierte Gesichter."
Er hat 'ein normaler Mensch' gesagt! echote es in Corcoran Conroys Gedanken nach. Die Betonung hatte auf 'normal' gelegen.
"Haben die alten Ägypter dazu nicht spezielle Instrumente gebraucht?"
Cromer zuckte die Achseln. "Ich nehme an ja, aber ich bin kein Ägyptologe."
"Aber Sie kennen sich mit der Physiologie des Menschen aus. Hat man am Tatort irgendwelche Instrumente oder Gegenstände, die sich als solche benutzen lassen, gefunden?"
"Mr. Conroy, da fragen Sie besser Captain Delrios von der Mordkommission."
"Wäre es denn möglich, so etwas mit bloßen Händen hinzubekommen?"
"Was weiß ich! Tatsache ist jedenfalls, daß bei all seinen Opfern die Gehirne fehlten. Und zwar vollständig. Und Tatsache sind die charakteristischen Verletzungen im Nasenbereich."
Corcoran nickte leicht. Er läßt sich auf keine Mutmaßungen ein. Das ist ihm in seiner Zeit als Gerichtsmediziner wohl gründlich eingeimpft worden.
Corcoran fragte: "Aber es gibt Indizien, die nahe legen, daß Cal Braden die Gehirne seiner Opfer gegessen hat?"
Cromer sah Corcoran etwas verwundert an.
"Sie..."
"Ich habe Zeitung gelesen, Doktor."
"Bei dem Berg an Arbeit, den ich zu erledigen habe, komme ich kaum noch dazu, mir solchen Luxus zu erlauben."
Aber Corcoran hatte seine Informationen durchaus nicht nur aus der Zeitung. Nachdem er das Material auf der CD-Rom von Großmeister Delacroix durchgearbeitet hatte, hatte er sich in die EDV des gerichtsmedizinischen Instituts hineingehackt. Es wurden immer dieselben Fehler gemacht, und das machte es leicht. Zum Beispiel bei der Auswahl der Passwörter, die eigentlich verhindern sollten, daß Unbefugte an bestimmte Daten herankamen. Es wurden Zeichenkombinationen genommen, die man sich gut merken konnte. Das Geburtsdatum, der Hochzeitstag, der Mädchenname der Ehefrau und so weiter. Und so war es sogar Hackern aus dem fernen Hamburg schon gelungen, in die Computer des Pentagon einzudringen.
Es ist immer gut, etwas mehr zu wissen! dachte Corcoran, denn er spürte, daß bei seinem Gegenüber noch eine gewisse Reserve vorhanden war.
"Bitte beantworten Sie meine Frage, Doktor."
"Braden hatte noch Reste von Gehirnmasse in seinem Mund, als er hier eingeliefert wurde. Welchen Schluß würden Sie daraus ziehen?"
"Und Ihre ganz private Einschätzung?"
Cromers Augen wurden zu schmalen Schlitzen. In seinen Augen flackerte es. Dann sagte er: "Wer sagt Ihnen, daß ich mir so etwas leiste?"
Sie kamen jetzt in einen gekachelten Raum von bemerkenswert kühler Atmosphäre. Hier lagen die Leichen in stählernen Schubfächern aufgebahrt, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Karteischränken hatten, wie Ärzte sie gerne für ihre Krankenunterlagen benutzten. Nur, daß diese Fächer viel größer waren.
"Braden scheint ziemlich wiederstandsfähig gewesen zu sein", hörte Corcoran sich selbst sagen. "Fünf Schüsse waren nötig, um ihn zu stoppen."
"Ja, und einen Sturz aus dem dritten Stock hat er auch unbeschadet überstanden."
"Was sagen Sie dazu - als Arzt und Leichenbeschauer?"
Cromer zuckte die Achseln. "Erstaunlich", meinte er. "Vor allem das mit dem Sturz. Das jemand sechs Kugeln überlebt, kommt schon mal vor."
"Welche Organe wurden von den Kugeln denn getroffen?" hakte Corcoran nach. "Aus den Daten Ihres Institutes geht das nicht hervor... Da sind nur die Einschußstellen vermerkt."
Cromer schien irritiert. "Man hat Ihnen Zugang zu den Datenbanken gegeben?"
Corcoran kommentierte das nicht.
Jetzt wird er unsere Autorität noch um einiges höher einschätzen, als sie wirklich ist! dachte er. Und vielleicht wird er seine Vorbehalte aufgeben, wenn er erkennt, daß er doch nichts vor uns verbergen kann...
Cromer atmete tief durch. "Sie sind nicht die ersten, die sich für Cromer interessieren. Das FBI war schon hier und noch einige andere Leute, die zwar ganz offizielle Ausweise hatten, aber vermutlich jemand anderes waren, als sie vorgaben. Aber keiner hatte unsere Daten..."
"Bitte antworten Sie auf meine Frage", beharrte Corcoran. "Wo steckten die Geschosse?" Schließlich machte es einen Unterschied, ob die Kugeln lebenswichtige Organe beschädigt hatten, oder an Stellen steckten, die nicht lebensgefährlich waren.
Cromer wandte sich den Stahlschubladen zu.
"Wir konnten das nicht mehr untersuchen."
"Weshalb nicht?"
"Deswegen!"
Cromer zog eine der Schubladen auf. Es war eine schwungvolle, kraftvolle Bewegung und Mara wandte den Kopf ein Stück zur Seite, weil sie wohl erwartete, einen zerschossenen und zerschnittenen Leichnam zu sehen.
Doch nichts dergleichen.
"Was ist das denn?" fragte Corcoran und vergaß dabei, seinen Mund wieder zu schließen.
Dort lag keine Leiche. Es war überhaupt kein menschlicher Körper, sondern ein amorpher, undefinierbarer Klumpen Materie, der Ähnlichkeit mit einem erstarrten Lavabrocken besaß. Cromer tickte mit dem Finger darauf und es gab einen merkwürdigen, dumpfen Klang. "Es ist fest. Sie können es anfassen", meinte Cromer. "So erstaunlich es Ihnen erscheinen mag, aber dies ist Cal Braden..."
"In Ihren Berichten, die ich gelesen habe, schrieben Sie etwas von merkwürdigen Veränderungen der Zellstruktur bei der Leiche...", murmelte Corcoran und tastete jetzt ebenfalls mit der Hand über die Oberfläche des Klumpens.
"Ja, das ist richtig. Sie scheinen sehr genau gelesen zu haben..."
"Und dies ist..."
"Das Endstadium!" vollendete Cromer. "Ich habe eine Probe genommen. Dieser Klumpen enthält unzweifelhaft menschliche Erbsubstanz. Außerdem entspricht das Gewicht exakt dem von Bradens Leiche."
"Haben Sie eine Erklärung dafür?" fragte Mara. Cromer sah sie an. Das Lächeln um seinen schmallippigen Mund herum war breit und drückte ein wenig seine Verzweiflung aus.
"Wenn ich eine hätte, stünde sie in den Akten - und dann hätte Ihr Kollege sie bereits zur Kenntnis genommen, Miss Pearson", versetzte er dann. "Und noch etwas: Braden war hirntot, als er hier eingeliefert wurde, daran besteht kein Zweifel. Eigentlich hätten seine Körperzellen nach und nach absterben müssen. Aber dieser Klumpen hier besteht zweifellos aus lebendem Gewebe, auch wenn es sich gewissermaßen in einem deaktivierten Zustand befindet. Aber es lebt."
Mara Pearson hatte genau in diesem Augenblick den Eindruck, daß sich etwas veränderte. Etwas. Sie konnte nicht sagen, was genau es war. Sie wußte nur, daß es von nun in ihrem Leben ein DAVOR und ein DANACH geben würde.
Braden.
Cal Braden.
Hirntot.
Ein Klumpen von... Ja, was denn eigentlich?
Gedankenfetzen schossen ihr durch den Kopf.
Sie trat aus der Situation heraus, fühlte sich wie eine Beobachterin ihrer selbst. Sie sah Corcoran, den dicken rotbärtigen Ordensbruder vom Weißen Licht. Und Cromer, diesen kleinkarierten Gerichtsmediziner, bei dem nicht ganz klar war, ob er sich besser in den Gedärmen seiner bereits toten Patienten oder in den entsprechenden Bestimmungen und Verordnungen auskannte.
Ihre Hand bewegte sich.
Wie automatisch.
Sie konnte nichts dagegen tun.
ETWAS berührte sie.
Ihr Inneres.
Ganz tief.
Sie erschauderte bis ins Mark. Eine Kälte erfaßte sie, die sie nie zuvor gekannt hatte.
Ihre Hand legte sich auf den eigenartigen Klumpen, von dem Cromer gesagt hatte, daß es sich um die Überreste von Cal Braden handelte. Ein Kribbeln durchlief ihren Arm. Dann ein Kälteschauer.
Mein Gott, was geschieht mit mir? ging es ihr durch den Kopf. Ein Strudel aus Gedanken, Bildern, Farben, Eindrücken wirbelte in ihrem Bewußtsein durcheinander. Schwindel erfaßte sie. Mara spürte die Anwesenheit fremder Gedanke in ihrem Bewußtsein.
"Mara, was tust du da?"
Corcorans Stimme drang wie aus weiter Ferne an ihre Ohren. Aber immerhin war sie jetzt wieder im Hier und Jetzt. Die Reise in die Abgründe ihres eigenen Bewußtseins war zu Ende. Wie lange hat sie gedauert? Verdammt, ich weiß es nicht. Ich habe jegliches Gefühl für Zeit verloren. Mara Pearson mußte unwillkürlich schlucken, zuckte mit ihrer Hand zurück. Was tust du da? Mein Gott, was TUST DU DA?
Der Puls schlug ihr bis zum Hals.
Hier geht etwas vor sich, daß sich deiner Kontrolle vollkommen entzieht, Mara. Etwas, wovon du noch nicht einmal ahnst, was es sein könnte.
Etwas Böses.
Ja, das spürte sie ganz deutlich.
Aber es störte sie nicht. Eine eigenartige Faszination ging von dem Fremden ETWAS aus, das sich jetzt in ihr befand. In ihrem Bewußtsein. In ihren Gedanken. In ihrem Körper. Sie spürte das ganz genau.
"Warum hast du das getan?" fragte Corcoran.
"Was?"
"Diesen Klumpen angefaßt."
"Keine Ahnung. Ich wollte..."
"Was wolltest du?"
Sie öffnete halb den Mund, wollte etwas sagen. Aber kein einziges Wort kam über ihre Lippen. "Ich weiß es nicht", erklärte sie und schüttelte dann ziemlich energisch den Kopf. "Corcoran, ich weiß es wirklich nicht."
Corcoran nahm ihre Hand. Er drehte sie herum, blickte in die Handinnenfläche, so als würde er dort etwas suchen.
Mara Pearson setzte ein verlegenes Lächeln auf. Eine Maske, mehr nicht. Und das mußte eigentlich auch Corcoran denken. Zumindest nahm Mara das an. Es konnte gar nicht anders sein.
*
Sie saßen in einer Snack Bar. Corcoran hatte einen Hamburger verdrückt und dabei gekleckert. Mara saß ihm gegenüber. Außer einem Glas Cola hatte sie nichts herunterbekommen können.
Die Gedanken an das, was in der Leichenhalle geschehen war, beherrschten sie.
Verdammt, was war das nur?
Etwas hat sich verändert. Du spürst es. Jeder Faser deines Körpers und deiner Seele spürt es. Beide kannst du nicht betrügen. Niemals. Nicht wirklich jedenfalls. Aber du tust so, als ginge das. Du ignorierst einfach, was geschehen ist...
Warum?
Du öffnest den Mund, möchtest etwas sagen...
Und was kommt dabei heraus?
Ein stummer Schrei.
Nichts.
Sie schluckte.
"Ich glaube, ich weiß, was mit diesem Mann passiert ist", hörte sie Corcoran sagen.
Sie blickte auf.
"Häh?"
"Cal Braden."
"Ja."
Corcoran kniff die Augen zusammen seine Hände waren voller Ketchup. Für diese eine Sekunde konnte Mara Corcorans Gedanken lesen: Scheiße!
Zurück ins Hier und jetzt, Mara!
Das ist deine einzige Rettung!
Es ist 15.43, du sitzt in einer Snack Bar am Times Square.
Oh Mann, ob wohl je wieder eine Zeit kommt, in der die Realität etwas ganz normales für dich ist? Etwas, dessen man sich sicher sein kann und über das man nicht nachzugrübeln braucht? Eine Zeit, in der es nicht diesen eigenartigen Druck auf deiner Seele gibt. Wie kann man das nennen? Eine mentale Umklammerung?
Du willst darüber reden.
Vor dir sitzt ein Mann, mit dem du darüber reden könnest. David Corcoran. Ein Bruder im Orden vom Weißen Licht und Experte für das Übernatürliche.
An ihn könntest du dich wenden.
An ihn MÜSSTEST du dich wenden.
Und du tust es nicht. Du kannst es nicht. Du weißt ganz genau, was passiert, wenn du versuchen würdest, darüber zu sprechen...
Kein Laut käme aus deinem Mund.
Nicht ein Hauch...
Sie atmete tief durch. Sie spürte, wie ihr der Herzschlag bis zum Hals ging und wie wild hämmerte. Sie hatte alle äußeren Symptome von Angst. Und das, obwohl es keinerlei rational nachvollziehbaren Grund dafür gab. Nicht den geringsten. Sie verstand nicht, was mit ihr vor sich ging. Sie spürte nur, daß da ETWAS war, ETWAS, dem es gelungen war in das einzudringen, was man in Ermangelung besserer Begriffe vielleicht SEELE nennen konnte. Ihre mentale Substanz.
Zurück ins Hier und jetzt, Mara!
Das ist deine einzige Rettung!
Es ist 15.43, nein 15.44! Du sitzt in einer Snack Bar am Times Square.
Schweißperlen standen ihr auf der Stirn.
"Ist dir zu warm, Mara?"
"Das New Yorker Wetter ist wirklich so scheußlich, wie man immer sagt!"
"Naja..."
"Du sagtest, daß du wüßtest, was mit diesem Braden passiert ist..."
"Ja."
"Was?"
"Es existiert ein Wesen, daß als der VERNICHTER bekannt wurde. Hermann von Schlichten erwähnt es in seinen ABSONDERLICHEN KULTEN ebenso wie Simon de Cartagena. Nicht zu vergessen das Buch Exodus der Bibel."
"Die Bibel?"
"Der VERNICHTER oder auch TODESENGEL tötete die Erstgeborenen Ägypter..."
"...und danach ließ der Pharao das Volk Israel ziehen!"
"Ja."
Eine Weile schwiegen sie. Corcoran registrierte, daß mit seiner Gefährtin irgendetwas nicht stimmte. Er musterte sie.
"Was ist los?" fragte er.
"Ich weiß, daß diese Braden-Sache dringend erforscht werden muß..."
"Oh, ja!" unterbrach er sie. "Braden mag tot sein. Dieser Klumpen von Materie, der von ihm geblieben ist... Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es gibt die Theorie, daß dieser VERNICHTER verschiedene Gestalten anzunehmen vermag und die Seele eines Menschen beherrschen kann. Er nistet sich ein, wie ein Parasit. Manchmal fällt das auf, etwa wenn der Betreffende unnatürlich lange zu leben scheint. Ich sage bewußt ZU LEBEN SCHEINT, denn in Wahrheit ist der Betroffene zumeist tot, sobald der VERNICHER Besitz von ihm ergriffen hat."
Dann bin ich tot! dachte Mara.
Corcoran sah sie an, runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zu einer Art Schlangenlinie zusammen. Dabei wischte er sich mit einer Serviette die mit Ketchup beschmierten Hände ab.
"Ich hatte dich unterbrochen."
"Ja?"
"Du wolltest irgendetwas sagen!"
Sag es! Verdammt, sag es, du Närrin!
"Ich muß für eine Weile weg, Corcoran."
"Was?"
Es war ein sehr langgezogenes "Was?", das wie "Waaaaas?" klang.
"Ich weiß, daß das jetzt schlecht paßt und du meine Hilfe brauchst."
"Genau so ist es."
"Tut mir leid. Ich kann es dir nicht erklären. Aber ich muß dringend zurück..."
"Zurück?"
"Zurück zu meiner Familie..." Mara sprach wie in Trance. Ihr Blick wirkte abwesend. Sie schien jetzt durch Corcoran hindurchzusehen. "...nach Bangor, Maine...zurück...zurück..."
"Wieso das denn?"
"Ich habe eine E-Mail von meinem Vater bekommen."
Sie besaß als Schwester vom Orden des Weißen Lichts keine feste Adresse. Nicht einmal einen Computer. Aber E-Mails ließen sich auch mit einem Handy abholen. Ein Minimum an Verbindung zu ihrer alten Welt mußte einfach sein. Es war wie ein seidener Faden, von dem es ihr lange Zeit egal gewesen war, ob er abriß oder nicht.
Aber jetzt hatte sich das geändert.
Mit einem Mal.
Vielleicht war es diese absolute Kälte, die du in dem Augenblick gespürt hast, als du den angeblich so toten Materieklumpen berührtest, der einmal ein Mensch namens Cal Braden gewesen war. Oder noch etwas anderes. Etwas Mächtiges. Böses...
Verdammt, denk an etwas anderes!
Corcoran sagte: "Ich dachte, ihr habt euch endgültig verkracht."
"Weil er nicht akzeptiert, daß ich ein ganz anderes Leben führe, als er es sich für mich gewünscht hat, ja. Aber jetzt will er sich mit mir aussöhnen."
"Mara..."
Er berührte ihre Hand.
Sie zog sie zurück.
"Ich kann einfach nicht anders."
"Ich verstehe es nicht... Mara!"
Sie stand auf.
Corcoran wollte ebenfalls aufstehen, aber Mara drückte ihn auf seinem Platz nieder. Sanft aber bestimmt. "Nein, es hat keinen Sinn, mich umstimmen zu wollen. Leb wohl, Corcoran..."
Dieser Drang!, dachte sie. Er ist stärker alles andere. Du willst nach Hause zurückkehren. Das ist das einzige, was zählt. Was ist dort, was dich so anzieht?
Unbehagen erfüllte Mara.
Ihr Magen krampfte sich zusammen.
Sie schluckte, ging zur Tür.
Drehte sich noch einmal kurz um.
Augenblicke später hatte die junge Frau die Snack Bar verlassen. Corcoran blickte ihr verwirrt nach. So eine Scheiße, was ist das denn gewesen? ging es ihm durch den Kopf.
*
Bangor, Maine...
Einige Wochen später...
"Es ist kalt geworden... Ja, es wird Herbst!"
Der Wind fuhr pfeifend durch die uralten, knorrigen Bäume, die den Friedhof umgaben.
Die ersten braunen Blätter wurden von den zuweilen ziemlich heftigen Windstößen von den Ästen gewirbelt. Nicht mehr allzu lange und sie würden völlig kahl sein.
Der ältere Herr, der sich an diesem stürmischen Tag hier her bemüht hatte, stand gedankenverloren da und starrte auf das Grab zu seinen Füßen.
John Pearson - so stand es dort in den grauen Marmor eingraviert.
"John...", so flüsterte der Mann leise vor sich hin. Der Wind trug die Worte davon und verschluckte sie. John Pearson, das war sein Sohn gewesen. Jetzt lag er hier zu seinen Füßen unter der Erde. Der ältere Herr wischte sich kurz über das Gesicht. Seine Augen hatten sich gerötet. Vielleicht lag das an dem scharfen Wind, vielleicht waren es auch ein paar verstohlene Tränen der Trauer und des Zorns. Dann schlug er sich mit einer schnellen Bewegung den Kragen seines Mantels hoch, um sich besser gegen den eisigen Wind zu schützen, der über die Gräber fegte.
"Möge deine Seele in Frieden ruhen", murmelte er vor sich hin und atmete tief durch.
Unweigerlich mußte er an den Fluch denken, von dem man behauptete, daß er seit Jahrhunderten auf den männlichen Nachfahren der Pearsons lastete...
Alles nur Gerede! hatte er sich immer einzureden versucht.
Eine Legende, die sich im Laufe der Zeit gebildet hatte und an der wahrscheinlich nicht eine Spur von Wahrheit dran war! so hatte er immer gesagt.
Aber in Augenblicken wie diesen fiel ihm die Geschichte in steter Regelmäßigkeit wieder ein.
Der Fluch...
Im Jahre 1697 war eine junge Frau als Hexe verbrannt worden. Es war in einer kleinen Stadt an der Küste Neuenglands gewesen, in der die Pearsons zu jener Zeit gelebt hatten. Und einer von ihnen - Malcolm H. Pearson - war damals als Zeuge der Anklage aufgetreten und hatte ausgesagt, er hätte die junge Frau bei der Ausübung schwarzer Magie beobachtet. Bevor die junge Frau schließlich auf dem Scheiterhaufen ein schreckliches Ende nahm, so hieß es, hatte sie dann ihren fürchterlichen Fluch ausgestoßen. Er sollte nicht nur Malcolm H. Pearson selbst, sondern all seine Nachfahren treffen, die allesamt vor ihrer Zeit eines unnatürlichen Todes sterben würden. Doch damit nicht genug! Die Seelen der Pearsons fänden nach dem Tod keine Ruhe und würden in finsteren Nächten die Lebenden heimsuchen und quälen... Ja, dachte Jeffrey J. Pearson, der ältere Herr, der noch immer vor dem Grab seines Sohnes stand, allen Flüchen zum Trotz hast du deine Ruhe gefunden, mein Sohn!
*
Mara Pearson spürte einen Kloß in ihrem Hals.
Wie lange hatte sie das Haus ihrer Eltern nicht betreten?
Sie wußte nicht, was sie plötzlich hier her gezogen hatte. Beim besten Willen hätte sie es nicht sagen können.
Zwei Jahre ist es her, dachte sie.
Sie hatte sich dem Orden vom Weißen Licht angeschlossen, war in Kalifornien mit einem eigenartigen rothaarigen Mann namens Corcoran zusammengetroffen, der sich mit Okkultismus und Dämonen beschäftigte. Jemand, der die Mächte bekämpfte, denen sich Mara Pearson seit ihrer frühesten Jugend schutzlos ausgeliefert fühlte. Den Mächten des Bösen...
Der Fluch, der auf unserer Familie lastet...
Du hast gedacht ihm entkommen zu können.
Ihn besiegen zu können, indem du dich dem Orden vom Weißen Licht anschließt, um gegen die Mächte der Finsternis anzutreten. Aber das war ein Irrtum...
Ja, sie erinnerte sich noch sehr genau an ihren letzten Tag im Haus ihres Vaters. Was war es, das dich vertrieben hat, Mara? Die dämonischen Mächte der Finsternis, die auf der Pearson-Familie seit langer Zeit lasten? War das wirklich der einzige Faktor dabei?
Und was würdest du sagen, wenn ein unabhängiger Beobachter dir eines Tages sagt: Es lag schlicht und ergreifend an der ausgesprochenen Kaltherzigkeit deines Vaters?
Erinnere dich an jenen Tag...
Deinen letzten im Pearson-Haus.
Es war auf der Beerdingung ihres älteren Bruders John gewesen, der bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
Sie dachte an jenen kalten, unfreundlichen Tag und an die einschläfernden Worte des frierenden Geistlichen, auf dem Friedhof von Bangor, Maine.
"Gott ist der Herr, er richtet die Lebenden und die Toten..."
Aber sie dachte in diesem Moment auch an das versteinerte Gesicht ihres Vaters. Ein Gesicht wie eine Maske. Kalt und abweisend. Wie in Marmor gehauen.
Sie hatten an jenem Tag nicht miteinander gesprochen.
Habt ihr das vorher je? Ach komm schon, sei ehrlich!
Nicht ein Wort, obwohl sie beide in jener Stunde vielleicht ein paar Trostworte des anderen hätten gebrauchen können.
Aber sie hatten beide geschwiegen.
Vielleicht ist das falsch gewesen! dachte Mara jetzt.
Die Email, die sich Corcoran gegenüber erwähnt hatte, war nicht die erste ihrer Art gewesen. Ihr Vater schien es wirklich ernst zu meinen.
Erst hatte sie es nicht glauben wollen, alles nur für schöne Worte gehalten. Nichts, so hatte sie gedacht, kann mich je wieder ins unfreundliche Maine zurückbringen. Nichts.
Aber jetzt war sie hier.
Er wollte sich mit ihr aussöhnen und hätte auch akzeptiert, daß sie ihren eigenen Weg ging, der so ganz anders war, als das, was ihr Dad sich für sie vorgestellt hatte.
Seltsam! dachte sie. Das klang alles so gar nicht nach ihrem Dad...
Aber vielleicht hatte er sich ja geändert und tatsächlich eingesehen, daß es nicht nur seine Sichtweise der Welt gab...
Ihr Vater hingegen hatte immer gehofft, daß sie eines Tages ihren Platz in seinem Unternehmen finden würde - so wie John, der Dads Nachfolger hatte werden sollen.
Aber damit war es nun vorbei.
John war tot und für Dad bedeutete das, daß all das, wofür er sein Leben lang gearbeitet hatte, keine Zukunft hatte. Keine Zukunft über den Tag hinaus, an dem er die Augen schließen würde. Ich habe ihn sehr enttäuscht, dachte Mara Pearson, als sie den schweren Koffer nahm und die Bahnhofshalle von Bangor verließ. Ja, ich habe ihn enttäuscht und dennoch kamen diese E-mails und dieses Angebot zur Versöhnung, nachdem wir jahrelang nicht miteinander gesprochen haben! ging es ihr noch einmal durch den Kopf. Vielleicht war er krank und wollte deshalb eine schnelle Versöhnung...
"Mara?"
Es war eine dunkle Männerstimme, die da ihren Namen aussprach. Mara Pearson drehte sich herum und blickte in ein hartgeschnittenes Gesicht, in dessen Mitte zwei kalte graue Augen zu finden waren. Im ersten Moment erschrak sie etwas, aber dann entspannten sich Maras Gesichtszüge wieder.
"Du wirst doch nicht etwa behaupten wollen, daß du mich nicht mehr kennst!" meinte der Mann und Mara versuchte ein Lächeln, das ihr allerdings nicht so recht gelingen wollte.
"Es war nur im ersten Moment...", begann sie und brach dann ab. Natürlich kannte sie diesen Mann! Es war Mr. Cedric Randolph, der Neffe ihres Vaters und seit vielen Jahren auch sein persönlicher Sekretär. Mara hatte Cedric nie gemocht.
Sie wußte nicht recht, weshalb eigentlich.
Vielleicht lag es an der düsteren Ausstrahlung, die er hatte oder dem kalten Blick seiner grauen Augen, die alles zu durchdringen schienen... Es war einfach ein Gefühl, das sie nicht näher erklären konnte.
"Ich bin mit dem Wagen hier", erklärte Cedric mit bemühter Freundlichkeit und nahm ihr den Koffer ab.
"Wie geht es Dad?"
Cedric zuckte mit den Schultern. Dann runzelte er die Stirn.
"Was meinst du damit, Mara? Eine Frohnatur ist er doch schon seit langem nicht mehr... Seit deine Mutter starb! Das hat ihn wohl so bitter und hart gemacht. Und dann die Sache mit John vor zwei Jahren..." Cedric schien die Veränderung jetzt zu bemerken, die in Maras Gesicht vor sich gegangen war und meinte dann: "Verzeihung, ich hätte..."
"Nein, schon gut!"
"Ich wollte sagen: Ich hätte das nicht erwähnen sollen. Das war taktlos von mir. Entschuldige bitte!"
Mara schluckte.
Ja, dachte sie, das war taktlos.
Aber es waren Tatsachen. Tatsachen, die sich nicht verleugnen ließen. Maras Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Hat damit alles angefangen? Das ganze Übel? Vielleicht. Von Geburt an verderbt und Böse... Deine Zeit beim Orden vom Weißen Licht kann das nicht aufwiegen. Sie hatte sie nie kennen gelernt. Möglicherweise hatte Maras Vater sie unbewußt immer für den Tod seiner Frau verantwortlich gemacht oder sie zumindest damit in Verbindung gebracht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb es nie zwischen Dad und mir gestimmt hat! dachte Mara plötzlich, während sie den Wagen erreichten. Es war ein flotter Sportwagen. Cedric hatte eine Vorliebe für so etwas. Der Kofferraum war zu klein für Maras Gepäck, deshalb packte er es auf den schmalen Rücksitz. Dann machte er eine Geste, die einladend und galant wirken sollte, in Wahrheit aber nur steif war.
"Bitte, steig ein, Mara!"
"Danke."
*
Cedric hatte einen rasanten Fahrstil, mit dem er Mara vielleicht imponieren wollte. Aber das konnte kaum irgendwelchen Eindruck auf sie machen, jedenfalls keinen positiven. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich angstvoll am Sitz festklammerte, obgleich sie angeschnallt war.
"Könntest du nicht etwas langsamer fahren, Cedric?"
"Wenn du willst..."
"Ich will!"
"Einen starken Willen hattest du ja immer schon."
"Was meinst du damit?"
"Es ist einfach eine Feststellung, Mara."
Ein ziemlich dünnes Lächeln machte sich um seine Lippen breit.
Mara blieb fest. "Ich will es. Sonst hätte ich auch mit einem Taxi fahren können, die rasen auch immer wie die Verrückten... Aber für die ist Zeit ja auch Geld."
"Für mich ebenfalls!"
Er verzog das Gesicht zu einer Maske.
Nein, entschied Mara. Es hatte sich nichts zwischen ihnen beiden geändert. Sie mochte Cedric O'Connor noch immer nicht... Er war ihr zu glatt, zu kalt und zu undurchsichtig, um ihn sympathisch finden zu können! In schneller Fahrt verließen sie die Stadt, gelangten von großen, auf kleine Straßen und hatten schließlich das Haus von Jeffrey J. Pearson erreicht, jenes Haus, in dem Mara großgeworden war. Eine hohe Mauer umgab das Anwesen wie ein Schutzwall, dahinter waren weiträumige Parkanlagen und dann schließlich das Haus selbst, sowie einige Gebäude, in denen Bedienstete einquartiert waren. Cedric O'Connor stoppte den Wagen vor dem herrschaftlichen Portal und Mara ging bei dem Anblick des riesigen, aus grauem, kaltem Stein erbauten Haus ein Schauer über den Rücken. Alles hier schien düster, kalt und feucht zu sein: Die Luft, das Wetter, der bewölkte Himmel, das Haus... Mara hatte schon gute Gründe gehabt, um diesen trüben Ort gegen das sonnige Kalifornien einzutauschen! Aber nun war sie wieder hier her zurückgekehrt und jetzt gab es wohl auch erst einmal kein Zurück mehr...
"Ich bringe den Wagen weg", meinte Cedric. "Wenn du willst, kannst du schon einmal ins Haus gehen..."
"Mein Koffer..."
"Darum kann ich mich kümmern!"
Er sagte das sehr bestimmt, so als wollte er unbedingt, daß sie jetzt den Wagen verließ, die Stufen des Portals hinaufging und im Haus verschwand...
Und dort würde sie unweigerlich auf Dad treffen! Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann mußte sie zugeben, daß sie vor diesem Moment eine Heidenangst hatte. Sie versuchte sich selbst ein wenig zu beruhigen, indem sie sich sagte, daß ihr Dad sie schließlich nicht ohne Grund zu sich gerufen haben würde. Ganz gleich, wie das Zusammentreffen auch immer verlaufen mochte - schlechter konnte es zwischen ihnen beiden ohnehin kaum noch werden. Sie zuckte also mit den Schultern.
"Gut", meinte sie.
"Wir sehen uns dann sicher nachher noch, Mara..."
"Ja, sicher."
Sie sagte das wie in Trance. Mit den Gedanken war sie bereits ganz woanders. Corcoran, was machst du eigentlich im Moment? Immer noch in irgendwelchen Leichenhäusern Nachforschungen anstellen?
*
"Wen darf ich bitte melden?" fragte ein schon etwas älterer und sehr steifer Majordomus, den Mara nicht kannte. Er war noch nicht im Haus beschäftigt gewesen, als sie das letzte Mal hier war. Seine sehr abweisende Art gefiel Mara nicht.
"Ich bin Mara, die Tochter von Mr. Pearson. Mein Vater erwartet mich..."
Mara erntete dafür ein Stirnrunzeln. Aber dann wurde sie angehalten, dem Majordomus zu folgen. Sie kamen in ein Wohnzimmer mit hohen Fenstern. An einem der Fenster stand Dad. Mara sah den Rücken seiner stattlichen Erscheinung und dachte: Was soll ich jetzt gleich sagen? Alles drehte sich in ihrem Kopf. Kein klarer Gedanke wollte sich bilden, so sehr sie sich auch zusammenzureißen suchte.
"Mr. Pearson... Ihre Tochter!"
Mr. Pearson drehte sich herum und musterte Mara mit einem verwunderten, halb nachdenklichen Blick. Seine Stirn lag in Falten und um seine Mundwinkel war ein harter, bitterer Zug. So kannte sie ihren Dad, genau so und nicht anders... Und doch liebte sie ihn von ganzem Herzen und das war es, was alles so kompliziert machte!
"Dad..."
"Mara!" Er sagte das, als würde er erst jetzt wirklich begreifen, daß seine Tochter vor ihm stand.
"Ich bin so froh..."
Wenn sie ehrlich war, dann mußte sie sich eingestehen, daß sie nicht wußte, wie sie anfangen sollte. Zu lange hatte gegenseitiges Schweigen geherrscht und das rächte sich nun.
Und doch hatte Mara ein Gefühl von Zuversicht. Wenn sie beide es wirklich wollten, dann würden sie auch wieder zueinander finden können...
Warum ist das alles nur so kompliziert? ging es ihr durch den Kopf.
Jeffrey J. Pearsons Stirn legte sich in Falten. Er unterzog seine Tochter einer kritischen Musterung.
Schließlich sagte er mit ruhiger Stimme: "Es überrascht mich, dich zu sehen, Mara!"
"Es überrascht dich, Dad?"
Und was bitteschön hatten dann diese E-mails zu bedeuten? Ich wurde wohl noch nie richtig schlau aus dir, Dad!
Mara schluckte unwillkürlich.
Jeffrey J. Pearson sagte gedehnt und mit einem eigenartigen Unterton, der Mara keineswegs gefiel: "Als wir uns das letzte Mal sahen, war das nicht gerade ein freundlicher Familienplausch..."
Mara machte eine hilflose Geste. Was hatte das zu bedeuten? Hatte Dad sie etwa doch nicht erwartet? Es konnte ihn doch unmöglich überraschen, daß sie hier jetzt vor ihm stand... Schließlich hatte er sie doch in seinem Brief darum gebeten zu ihm zu kommen!
"Nein, eine nette Unterhaltung war es nicht gerade, Dad. Das stimmt. Aber ich habe gedacht..."
Er blickte sie durchdringend an.
"Was hast du gedacht, Mara?"
Sie schluckte und dann hörte sie die Stimme des Majordomus.
"Kann ich noch etwas für Sie tun, Mr. Pearson?"
"Nein danke, Jenkins. Gehen Sie bitte."
"Jawohl, Sir!"
"Und lassen Sie uns bitte allein!"
"Ist gut, Sir!"
Und dann war Jenkins auch schon verschwunden. Mr. Pearson sandte ihm einen nachdenklichen Blick nach und wartete, bis er gegangen war. Mara studierte genau sein Gesicht. Sie sah in müde, traurige Augen, die von dicken Tränensäcken noch unterstrichen wurden.
"Was soll dieser plötzliche Besuch, Mara? Hast du deine Meinung etwa doch geändert? Wenn das so ist, dann würde mich das freuen. Wirklich! Aber..."
"Ich habe meine Entscheidung nie bereut, Dad!
"Du weißt, was ich für eine Meinung über diesen eigenartigen Orden habe, dem du beigetreten bist. Für mich ist das eine Sekte."
"Ich mußte einfach meinen eigenen Weg gehen. Aber ich habe immer gehofft, daß du das eines Tages verstehen würdest..."
Mr. Pearson schluckte. Als er dann antwortete, legte er die ganze Enttäuschung in seinen Tonfall, die er empfand. "Unter diesen Umständen weiß ich nicht, was wir uns zu sagen hätten!" preßte er heraus. "Warum bist du gekommen, Mara?"
Mara traf es wie ein Schlag vor den Kopf und es dauerte eine volle Sekunde, bis sie nach Luft geschnappt und sich wieder gefaßt hatte.
"Dad, du hast mich doch hier her gerufen!"
Mr. Pearsons Stirn legte sich in tiefe Furchen.
Er hob beide Augenbrauen und blickte seine Tochter ziemlich ungläubig an. "Was?" brachte er dann heraus.
Mara rang nach Atem.
"Ja! Du hast mir geschrieben! Per E-Mail!"
"Ich weiß nicht, was du meinst, Mara. Aber du bist meine Tochter und da du nun einmal hier bist - aus welchen Gründen auch immer - habe ich nichts dagegen, wenn du eine Weile hier bleibst. Dein altes Zimmer ist noch frei..."
"Es sind viele Zimmer hier frei, nicht wahr, Dad?"
Er nickte.
"Ja. Das Haus ist im Grunde viel zu groß für mich..." Dann blickte er auf und kam ein paar Schritte auf Mara zu.
"Warum muß es zwischen uns immer Krach geben, Kind?"
Mara seufzte.
"Ich weiß es auch nicht!"
"Ich wünschte, es wäre anders! Ich wünschte..." Und dann fielen sie sich in die Arme.
"Oh, Dad..."
"Vielleicht habe ich einiges falsch gemacht, Mara. Aber das ist jetzt wohl nicht wieder gutzumachen..."
"Es war nie meine Absicht, dich zu enttäuschen, Dad!"
"Ich weiß." Sie standen dann einige Augenblicke lang so zusammen da und schwiegen.
Ein seltsamer Tag, dachte Mara. Ein wirklich seltsamer Tag. Aber wenn er eine Klärung und Versöhnung zwischen ihr und ihrem Dad bringen konnte, dann sollte es ihr recht sein. Dann löste sich Mr. Pearson von Mara und meinte: "Ich habe noch ein paar Dinge vor dem Abendessen zu erledigen."
Sie nickte.
"Das verstehe ich, Dad."
"Wie gesagt, dein altes Zimmer ist frei. Aber du kannst auch eines der andere Gästezimmer haben, wenn dir das lieber ist..."
"Nein, ist schon in Ordnung."
Mr. Pearsons Züge waren deutlich entspannter geworden.
"Gut, wir sehen uns dann zum Essen. Du bist ja keine Fremde, du weißt ja im Haus bescheid, nicht wahr? In einer halben Stunde wird im Eßzimmer aufgetragen..."
"Ich werde mich dann in der Zwischenzeit etwas frisch machen..."
"Tu das, Mara. Wir werden uns sicher noch viel zu erzählen haben."
"Das glaube ich auch."
Und dann wandte Mara sich zur Tür. Doch bevor sie hindurchgegangen war, hörte sie Mr. Pearson noch einmal ihren Namen rufen.
"Mara - "
Sie blieb stehen, drehte sich noch einmal halb herum. Dann hob sie den Kopf und blickte geradewegs in die grauen Augen ihres Vaters, die auf einmal viel von ihrer vorherigen Kälte verloren zu haben schienen.
"Ja?"
"Es ist nicht leicht, den ersten Schritt zu tun, nicht wahr?"
"Nein, das ist nie leicht."
"Ich bin froh, daß du ihn getan hast, Mara. Ich glaube nicht, daß ich das geschafft hätte..."
Mara schüttelte verwirrt den Kopf.
"Aber Dad, ich..."
Sie hatte sagen wollen, daß es doch seine - Dads - E-Mail war, der den ersten Schritt bedeutet hatte, und nicht ihr Erscheinen hier. Er war es gewesen, der über seinen Schatten gesprungen war, nicht sie! Es wollte aus ihr heraussprudeln, doch da hatte er sie längst unterbrochen.
"Es ist mir oft durch den Kopf gegangen, daß man so nicht auseinandergehen sollte, Mara, so wie wir damals auseinandergegangen sind! Aber nun wird es ja vielleicht besser mit uns!"
"Bestimmt!"
"So, jetzt muß ich mich aber beeilen! Ein paar wichtige Telefonate warten noch auf mich!"
Mara sah ihren Vater am Schreibtisch stehen und den Hörer abnehmen und bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick. Dann ging sie endlich und schloß die Tür hinter sich. Ihr Inneres war aufgewühlt, so aufgewühlt wie schon seit langem nicht mehr.
*
"Mara!"
Sie erschrak und stand wie angewurzelt in dem halbdunklen Flur. Dann entspannten sich ihre Muskeln und Sehnen wieder etwas und sie atmete auf.
"Du hast mich aber erschreckt, Cedric!"
Cedric O'Connor trat aus dem Schatten heraus und lächelte dünn.
"Ich habe dir deine Sachen in dein altes Zimmer gebracht!" meinte er. "Ich denke doch, daß du dort wohnen wirst..."
Sie nickte.
"Ja, ich danke dir."
Sie drückte sich an ihm vorbei und wollte die Treppe hinaufgehen.
Da vernahm sie erneut seine Stimme, die in ihren Ohren irgendwie einen unangenehmen Unterton hatte.
"Sag mal, Mara..."
Sie hob die Augenbrauen.
"Ja?"
"Ich meine, du mußt das nicht falsch verstehen... Es ist vielleicht eine etwas indiskrete Frage, aber..."
"Was ist es?" forderte Mara, fast etwas schroffer, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.
Cedric drückte sich noch zwei Sekunden herum, dann brachte er es endlich heraus.
"Als ich deine Sachen vorhin hier vorbeigebracht habe, da..."
Mara runzelte die Stirn.
"Was war da?"
"Ich wollte nicht lauschen, Mara, wirklich nicht. Aber es war recht laut da drinnen, nicht wahr?"
"Zu Anfang, ja. Dann nicht mehr. Wir haben uns gut verstanden, Cedric!"
"Naja, da gab es ja immer gewisse Meinungsverschiedenheiten zwischen dir und Onkel Jeffrey, deinem Dad - nicht wahr? Da verwundert es auch nicht, daß..."
"Was soll das, Cedric?"
Mara bemerkte ihren eigenen gereizten Tonfall. Sie spürte Ungeduld in sich aufsteigen, gemischt mit einer Spur Ärger.
Worauf wollte Cedric eigentlich hinaus? Um welches Fettnäpfchen drückte er sich schon die ganze Zeit herum?
"Ich will dir meine Hilfe anbieten, Mara."
Mara mußte unwillkürlich schlucken.
Ihre Erwiderung war dann sehr bestimmt und eindeutig.
"Ich brauche im Moment keine Hilfe. Wirklich nicht."
"Auch nicht, was deinen Dad anbetrifft? Ich meine, ich konnte nicht genau verstehen, was da drinnen gesprochen wurde, aber soviel ist für mich klar: Es war kein freundlicher Plausch."
"Es war eine ernsthafte Unterhaltung."
"Eher ein ernsthafter Streit..."
"Dad und ich haben ein paar Dinge zwischen uns geklärt. Wir verstehen uns besser als je zuvor..."
Cedric zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht habe ich mich ja auch nur verhört! Aber wenn ich dir irgendwie helfen kann... Ich habe einen - wie soll ich sagen? - einen gewissen Einfluß auf Mr. Pearson!"
"Danke, Cedric! Ich komme gut allein zurecht!"
"Wie du meinst! Aber vielleicht änderst du ja deine Meinung noch. Es sollte nur ein Angebot sein, mehr nicht."
Mara nickte. Und dann fragte sie sich, was Cedric eigentlich eingefallen sein mochte, sich in ihre Meinungsverschiedenheiten mit Dad einzumischen. Ganz gleich, was zwischen ihr und ihrem Vater auch immer nicht stimmen mochte - Cedric Randolph ging das nichts an! Aber Mara hatte im Moment keinerlei Neigung dazu, darüber zu diskutieren.
"Okay, Cedric. Jetzt entschuldige mich bitte."
Er machte eine unbestimmte Geste, während sie bereits an ihm vorbeigegangen war.
"Natürlich, Mara. Bis nachher!"
*
Mara kam gerade noch rechtzeitig ins Eßzimmer, bevor Bradley, der Butler die Suppe brachte.
Mr. Pearson machte ein erfreutes Gesicht, als Mara den Raum betrat.
"Hier, setz' dich mir gegenüber, Mara!" meinte er. Dann wandte er sich an die anderen Anwesenden. "Ich darf euch Mara vorstellen - meine Tochter! Einige kennen sie ja noch nicht. Mara, die Dame dort zur Rechten ist Mrs. Mildred O'Connor - Cedrics Frau."
"Oh, du hast geheiratet, Cedric?" wunderte sich Mara.
Ein süffisantes Lächeln erschien auf Cedrics Gesicht.
"Ja."
"Und dies hier ist Mr. George Portillo, ein Anwalt, der für unser Haus tätig ist", fuhr Mr. Pearson unterdessen fort.
Mara reichte zunächst Mildred die Hand. Sie schien ihr gut zu Cedric zu passen, zumindest machte sie einen ebenso knochentrockenen Eindruck. Mildreds Wangenknochen waren hochstehend. Sie war sehr schlank, fast schon dürr. Aber das bemerkenswerteste an ihr waren die funkelnden Augen in ihrer Gesichtsmitte, in denen es böse blitzte. Das breite Lächeln paßte nicht zu dem, was ihre Augen über sie verrieten. Eine falsche Schlange! ging es Mara durch den Kopf. So ist das eben. Manchmal weiß man innerhalb eines Sekundenbruchteils, ob man jemanden mag oder nicht.
Mara sagte ziemlich verkrampft: "Es freut mich, Sie kennen zu lernen..."
"Nenn mich Mildred! Wir sind ja nun gewissermaßen verwandt."
"Ja, gewissermaßen..."
"Cedric hat mir schon viel von dir erzählt, Mara..."
"Ach? Hat er das?"
Aber dann schüttelte sie bereits die Hand von George Portillo, einem scheu wirkenden Mann mit schütterem Haar und bleicher Haut. Er sah genau so aus, wie man sich einen Anwalt vorstellt. Und dann brachte Bradley endlich die Suppe. "Wie ist um diese Jahreszeit in Kalifornien?" fragte Mildred mit verkniffenem Gesicht. Die wollte etwas Konversation machen.
Gut, dachte Mara. Meinetwegen.
"Es ist auf jeden Fall wärmer als hier im Norden!"
