Roman von Alfred Bekker
1
Nebel lag wie grauer Spinnweben über London. In dicken
Schwaden war er gegen Abend vom Themseufer heraufgezogen und hatte
sich über die ganze Stadt ausgebreitet.
Der Nebel kroch durch die Straßen und erreichte schließlich
auch die kleinste Gasse und den letzten Winkel dieser riesigen
Stadt.
Es war schon nach Mitternacht, als der Bus an der einsamen
Haltestelle Pelton Street hielt. Wie ein großer dunkler Schatten
wirkte der Doppeldecker. Mit einem Zischen der Bremsen hielt er
an.
Ein einzelner Fahrgast stieg aus.
James McGordon war Mitte dreißig, trug eine sportliche
Lederjacke in Kombination mit Jeans. In der Hand hielt er eine
Reisetasche. Glück gehabt, dachte er. Gerade noch den letzten Bus
gekriegt...
Er hatte einen zweiwöchigen Urlaub in der Karibik hinter sich.
Als er aus dem Flugzeug getreten war, war das berühmt berüchtigte
englische Wetter für ihn der erwartete Schock gewesen. Inzwischen
war er ziemlich durchgefroren. Die feuchte Kühle, die unter dem
Nebel herrschte, ging einem durch Mark und Bein.
Wieder daheim, dachte er sarkastisch. Aber sein Urlaub war
nunmal zu Ende, obwohl er gut und gerne noch weitere zwei Wochen
unter Sonne und Palmen hätte vertragen können.
Der Bus setzte sich ächzend wie ein riesiges Tier in Bewegung
und bog dann um die nächste Ecke.
McGordon atmete tief durch. Er hängte sich die Reisetasche
über die Schulter und rieb sich die Hände. Seine
Dachgeschosswohnung lag etwa fünf Minuten entfernt.
Er ging mit schnellen Schritten die Straße entlang.
Das diffuse Licht der Straßenlaternen wurde durch den dichten
Nebel eigenartig gestreut, was der gesamten Szenerie eine
gespenstische Atmosphäre gab. Spinnweben zitterten an einer dieser
Lampen und irgendwo im Verborgenen saß eine achtbeinige Jägerin,
die geduldig auf Beute wartete.
Die Häuser zu beiden Seiten der Straße ragten als
schattenhafte Umrisse empor. Und irgendwo zwischen den eng am
Straßenrand geparkten Fahrzeugen huschte eine schwarze Katze
blitzartig daher...
Für einen Sekundenbruchteil sah McGordon das Leuchten ihrer
gelblichen Augen, dann war sie verschwunden. Ein flüchtiger
Schatten in der Nacht...
McGordon schlug sich den Kragen seiner Jacke hoch. Auf dem
Pflaster des Bürgersteigs bemerkte er einige ungewöhnlich große
Spinnen, die mit schnellen, hektischen Bewegungen seinen
Turnschuhen auswichen.
Verfluchte Biester! Der Gedanke kam wie automatisch. Er
wusste, dass sie harmlos waren, aber dennoch ging es ihm wie den
meisten Menschen. Er ekelte sich unwillkürlich vor ihnen.
Und dann stutzte er.
Er sah eine Gestalt im Nebel.
Nachdem er noch ein paar Schritte hinter sich gebracht hatte,
konnte er sie sehen. Eine Frau mit dunklen Haaren und einem sehr
altmodisch wirkenden Kleid stand da. Ihr Blick schien ins Nichts zu
gehen. Sie wirkte wie in Trance.
McGordon kniff die Augen zusammen und warf ihr einen forschen
Blick zu.
Sie drehte den Kopf. Der Blick ihrer dunklen Augen begegnete
ihm. Sie lächelte auf eine Art und Weise, die McGordon nicht
gefiel.
Irgend etwas stimmt nicht mit ihr, ging es McGordon durch den
Kopf.
Dann fühlte er etwas Kleines, Krabbelndes in seinem Nacken und
schlug sofort zu.
Er blickte auf und sah, wie sich gerade eine Spinne an ihrem
Faden von einer Straßenlaterne herabließ. McGordon ging hastig
einen Schritt zur Seite. Dann glaubte er, seinen Augen nicht zu
trauen. Ein wahres Heer dieser kleinen krabbelnden Ungeheuer kamen
jetzt von allen Seiten auf ihn zu.
Wie aus dem Nichts waren sie plötzlich erschienen. Ihre Körper
bedeckten dicht den Boden. Mit einer schnellen Bewegung streifte er
sie von seinen Jeans ab.
„Nein“, flüsterte.
Das durfte nicht wahr sein. Sie waren überall. An seiner
Tasche, unter seinem Hemdkragen, inzwischen auch in den Haaren. Und
wie aus dem Nichts schienen ständig weitere der Achtbeiner
heranzuströmen.
Wie von Sinnen schlug McGorden inzwischen um sich. Aus den
Augenwinkeln heraus sah er die geheimnisvolle Frau, die einfach nur
dastand und zusah.
Und sah ihr Lächeln...
Das hungrige Blitzen ihrer dunklen Augen...
McGordon erschauerte.
Er fühlte etwas Klebriges an der Hand und einen Augenblick
später auch am Hals...
Spinnweben!
Er versuchte das klebrige Zeug abzustreifen, doch die
Tausenden von Spinnen, die mittlerweile seinen gesamten Körper
bedeckten, sponnen es schneller nach, als McGordon sich dagegen
wehren konnte.
Verzweifelt ruderte er mit den Armen, versuchte, sie
abzustreifen, doch ihre Zahl war einfach zu groß.
Er wollte einen Schritt zur Seite machen und stolperte zu
Boden. Erst jetzt begriff er, was geschehen war. Seine Beine waren
bis zur Höhe der Knie von ungewöhnlich starken Spinnweben
umwickelt...
Das letzte, was James McGordon sah, war das Lächeln jener
geheimnisvollen Frau aus dem Nebel...
2
„Hallo Linda! Du brauchst dich gar nicht erst auf deinen
Drehstuhl zu setzen!“
Der junge Mann, der mich früh am Morgen auf diese Weise
begrüßte, hieß Jimmy Broderick und war wie ich beim DAILY REPORT,
einer großen englischen Boulevardzeitung, angestellt. Er als
Fotograf, ich als Reporterin. Wir bildeten des Öfteren ein
Team.
Jimmy war blond, trug eine verwaschene Jeans und ein Jackett,
dessen Revers durch die Kameras, die er um den Hals zu tragen
pflegte, ziemlich verknittert und vermutlich nie wieder in seine
ursprüngliche Form zu bringen war. Mit einer lässigen Geste strich
er sich das etwas zu lange blonde Haar zurück und grinste mich
an.
„Wir sollen zum Chef kommen“, meinte er. „Muss wohl was
ziemlich Wichtiges sein...“
Ich atmete tief durch und nahm meine Handtasche wieder vom
Schreibtisch. Dann folgte ich Jimmy quer durch das Großraumbüro, in
dem die Redaktion des DAILY REPORT untergebracht war, bis wir vor
jener Tür standen, an der ein kleines Schild mit der Aufschrift
MARCUS T. SAMUEL - CHEFREDAKTEUR stand.
Jimmy klopfte vorsichtshalber.
„Herein“, knurrte es von der anderen Seite.
Wir betraten das Büro, in dem unser mitunter etwas cholerisch
veranlagter Chefredakteur unruhig auf und ab ging.
In der Hand hielt er ein Diktiergerät.
Samuel war breitschultrig und hatte die Ärmel hochgekrempelt.
Die Krawatte saß locker wie ein Strick. Er machte stets einen
überarbeiteten Eindruck. Seine Leidenschaft war der DAILY REPORT.
Dieses Blatt wollte er genau dort halten, wo seiner Ansicht nach
der Platz dieser Zeitung war: Ganz oben. Dafür setzte er alles ein.
So etwas wie ein Privatleben schien er kaum zu kennen.
Immerhin hatte ich ihn inzwischen davon überzeugen können,
eine Journalistin zu sein, die selbst wenn man Samuels strenge
Maßstäbe anlegte, gute Arbeit leistete.
Samuel wirbelte herum.
„Da sind Sie beide ja“, murmelte er. Er nahm sich nicht die
Zeit, uns zu begrüßen. „Kennen Sie die Pelton Street, Linda?“
„Nein“, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
„Dann suchen Sie sie auf dem Stadtplan und fahren Sie so
schnell wie möglich hin!“
„Worum geht es?“
Samuel machte ein paar Schritte auf mich zu. Dann hob er die
Augenbrauen und sah mich an.
„Es scheint, als würde es einen weiteren dieser rätselhaften
Todesfälle geben...“ Seine Stimme hatte einen gedämpften Tonfall
bekommen. Samuel mochte abgebrüht sein und einer, der sich über so
viele Jahre in der Nachrichtenbranche behauptet hatte, musste das
wohl sein. Aber das bedeutete nicht, dass Samuel kein Herz hatte.
Unter seiner rauen Schale befand sich ein weicher, empfindsamer
Kern, auch wenn er den zumeist sehr gut zu verbergen wusste.
Ich erwiderte seinen Blick.
„Sie meinen...“
Er nickte. „Ja, Linda. Es geht um diese seltsam mumifizierten
Toten, die in einen Kokon aus Spinnweben eingewoben waren...
Beeilen Sie sich! Im Moment ist in der Pelton Street riesig was
los! Die Polizei sucht überall nach Spuren...“
Ich nickte und wandte mich dann an Jimmy.
„Komm“, sagte ich.
Wir hatten schon fast die Tür erreicht, da ließ uns Samuels
durchdringende Stimme noch einmal herumfahren.
„Noch etwas!“, rief er.
„Ja?“, fragte ich.
„Die Untersuchung dieser Mordserie wird laut einer
Pressemitteilung von Scotland Yard neuerdings von Inspektor Barnes
geleitet“, erklärte Samuel.
„Oh.“
„Ich wusste, dass Ihnen das nicht gefällt. Ich wollte Sie
vorwarnen.“
„Danke.“
„Was hat Barnes eigentlich gegen Sie, Linda?“
Ich zuckte die Achseln. „Eigentlich wüsste ich das auch
gerne.“
Samuel zwinkerte mir zu. „Wahrscheinlich kann er nur nicht
vertragen, wenn jemand besser ist als er.“
Ich lächelte matt. „Das wird es sein!“
3
Kalt und diesig war es an diesem Tag.
Jimmy und ich stiegen in den roten Mercedes 190 - ein Geschenk
meiner Großtante Eleanor Troddwood, bei der ich seit dem frühen Tod
meiner Eltern aufgewachsen war. Ich liebe diesen Oldtimer - denn
das war er inzwischen schon beinahe und hätte ihn für kein neues
Modell derselben Klasse eingetauscht. Geschwindigkeitsrekorde oder
waghalsige Lenkmanöver verboten sich im dichten Londoner
Stadtverkehr ohnehin.
Es dauerte eine Weile, bis wir die Pelton Street erreichten.
Jimmy lotste mich mit dem Stadtplan auf den Knien dorthin.
Die Gegend war weiträumig für den Verkehr abgesperrt und so
mussten wir das letzte Stück des Weges zu Fuß gehen.
Die Pelton Street lag in einem der Außenbereiche.
Wohnblocks und Reihenhäuser mischten sich hier mit einer Reihe
altehrwürdiger Villen im viktorianischen Stil.
Wir bogen um eine Ecke und dann sah ich in einiger Entfernung
auch schon die massige, hoch aufragende und irgendwie ziemlich
einschüchternd wirkende Gestalt von Scotland Yard-Inspektor Gregory
Barnes. Sein kurzgeschorenes Haar hatte Ähnlichkeit mit den
Stacheln eines Igels.
Er notierte etwas auf einen Block, während überall Kollegen
von ihm suchend umherstreiften. Manche waren in zivil, andere
uniformiert. Ich sah den Wagen des Gerichtsmediziners.
Der Arzt - ein Mann mit hoher Stirn und spärlichem Haarwuchs -
ging auf Barnes zu, wechselte ein paar Worte mit ihm und ging dann
in Richtung seines Wagens davon.
Der Tote ruhte in einem Metallsarg, der bereits geschlossen
war.
Vielleicht war das auch gut so.
Barnes blickte auf.
„Ah, Miss McCabe! Mr. Broderick! Meine Güte, mir bleibt heute
auch nichts erspart!“ Er verzog das Gesicht. „War ein Scherz, Miss
McCabe...“
„Wir scheinen ein unterschiedliches Verständnis von Humor zu
haben, Inspektor.“
Er zuckte die Achseln.
„Gut möglich.“ Er sah mich an. In seinen Augen blitzte es
angriffslustig. „Sie können sich hier gerne herumtreiben, aber es
wäre nett, wenn Sie die ernsthafte Ermittlungsarbeit, die hier
stattfindet, nicht behindern...“
„Natürlich. Wer ist der Tote?“
Er seufzte.
„Wir haben eine Tasche gefunden, in der Papiere waren, die ihn
als James McGordon ausweisen. McGordon wohnt hier in der Nähe und
kam wohl gerade von einer Reise zurück... Er müsste 34 Jahre alt
sein, aber... Die Leiche, die wir gefunden haben ist uralt!“
Barnes war ein harter Brocken, aber in diesem Moment war es
ihm deutlich anzumerken, wie mitgenommen er war.
Ich deutete auf den Metallsarg.
„War er - wie die anderen Opfer - in einen Kokon
eingesponnen?“
Barnes nickte. „Ja. Fast so, als hätten Hunderttausende von
Spinnen sich auf ihn gestürzt und mit ihren Fäden eingewickelt...
Aber das ist natürlich völlig absurd.“
„Wirklich?“
„Ich weiß, dass Sie nach dem Außergewöhnlichen suchen, Miss
McCabe. Aber ich richte mich nur nach den Fakten.“
„Und?“, fragte ich. „Haben Sie schon eine Theorie?“
Er schüttelte den Kopf. „Im Grunde wissen wir noch nicht
einmal, ob es sich um Mord handelt. Auch der Todeszeitpunkt liegt
im Dunkeln. Vermutlich irgendwann während der Nacht. Der Kokon lag
hier in den Büschen und es hat wohl eine ganze Weile gedauert, bis
jemand richtig nachgesehen hat... So ohne weiteres war ja auch
nicht zu erkennen, dass es sich um einen Toten handelte...“
„Die bisherigen Todesfälle geschahen alle in diesem Teil
Londons, nicht wahr?“
„Ja“, nickte er. „In einem Umkreis von zwei, drei
Kilometern...“
„Darf ich einen Blick in den Sarg werfen?“, fragte ich.
„Nur, wenn Ihr Kollege kein Foto davon macht!“
„Selbstverständlich.“
„Und dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie so schnell wie
möglich wieder verschwinden würden. Und lassen Sie es sich ja nicht
einfallen, etwa hier die Nachbarschaft auf eigene Faust zu
befragen, bevor wir das nicht getan haben!“
„Ich wüsste nicht, dass es ein Gesetz dagegen gibt!“
Er zuckte die breiten Schultern.
„Man sollte es einführen!“
Ich hob die Augenbrauen. „Die Presse - der natürliche Feind
von Inspektor Barnes?“
„Der Unterschied zwischen uns ist doch wohl klar“, erwiderte
er. „Ihnen geht es um die Sensation - mir um die Wahrheit!“
Nein, dachte ich. Die Sache lag im Grunde etwas anders. Uns
beiden ging es um die Wahrheit, aber Barnes hatte einen anderen
Begriff davon. Für ihn existierte all das nicht, was sich nicht auf
Anhieb in sein Weltbild einordnen ließ, während ich fand, dass man
diese Dinge nicht einfach ignorieren konnte, nur weil sie dem
gegenwärtigen Stand der Wissenschaft widersprachen.
Aber im Moment hatte ich keinerlei Lust, mich mit ihm darüber
weiter auseinanderzusetzen.
„Ach übrigens!“ meinte Barnes dann noch, als er bereits an mir
vorbeigegangen war. Wir drehten uns zu ihm herum, und als wollte er
meine Meinung über ihn widerlegen fuhr er dann fort: „Ich habe mich
mit einem Spinnenkundler unterhalten...“
„Ach, ja?“
„Er ist der Auffassung, dass es keine Spinnenart auf der Welt
gibt, die so etwas“ - dabei deutete er in Richtung des Metallsargs
- „vollbringen könnte. Auch keine exotischen Arten, die vielleicht
hier eingeschleppt wurden. Es widerspricht allem, was man über das
Verhalten dieser Tiere weiß...“
Ich sah ihn an.
„Und was folgern Sie daraus?“
Er zuckte die Achseln. „Noch gar nichts“, meinte er. „Nur
soviel: „Es gibt Spinnen mit acht Beinen und welche, die nur auf
Zweien zu gehen pflegen...“ Und dabei grinste er schief.
„Sie sprechen von einem Psychopathen, der...“
„...der Menschen, die bereits tot waren so behandelt, dass sie
aussehen wie die Beute einer Spinne...“
4
„Mein Gott, wie kann so etwas geschehen?“, flüsterte Jimmy mir
zu, nachdem wir in den Sarg geblickt hatten. Er wirkte sichtlich
mitgenommen und mir ging es nicht anders.
„Ich habe keine Ahnung“, murmelte ich. Wir arbeiteten schon
eine ganze Weile an dieser Sache. Immer wieder gab es in dieser
Gegend Tote, die in Kokons eingesponnen waren. Die Leichen selber
waren auf geheimnisvolle Weise mumifiziert und wirkten stets uralt,
obwohl sie es ihren Papieren nach nicht sein konnten. Fast so, als
hätte sie innerhalb eines einzigen Augenblicks der Hauch der Zeit
erfasst und um hundert Jahre altern lassen.
Irgendwelche Verletzungen hatte keiner der Toten
aufgewiesen.
Der erste Fall hatte sich vor beinahe einem halben Jahr
abgespielt.
Nun hatte es drei Tote innerhalb einiger Wochen gegeben. Und
wenn man den Bulletins der Gerichtsmediziner glauben konnte, dann
waren die Betreffenden an Altersschwäche gestorben. Zumindest hatte
man nichts gefunden, was irgendwie auf Gewalt- oder Gifteinwirkung
hindeutete. Aber vielleicht hatte man auch nur nicht gewusst,
wonach man suchen sollte.
Ich ließ den Blick schweifen.
Der Nebel war nicht mehr so dicht, wie er noch am Morgen
gewesen war. Aber noch immer hing eine schwere Dunstglocke über
London. Der Himmel war grau.
„Was schlägst du vor, Linda?“, hörte ich Jimmy sagen.
„Wir werden genau das tun, was Barnes uns zu verbieten
versucht hatte: die Nachbarn befragen.“
„Aber dann warten wir besser, bis das Riesenaufgebot hier weg
ist, nicht wahr?“
„Ja.“
Ich sah, wie sich hinter den Fenstergardinen der umliegenden
Häuser etwas bewegte. Die Anwohner schienen dazusitzen und alles
haargenau zu verfolgen, was sich da buchstäblich vor ihrer Haustür
abspielte. In einiger Entfernung hatte sich ein Rentner mit
Tweedjackett und Schiebermütze postiert und registrierte mit
skeptischen Blick jeden Handgriff der Spurensicherer.
Mir ein fiel ein Mann auf, der unter einer Laterne
stand.
Der Tag war dermaßen grau und düster, dass die auf Helligkeit
reagierenden Sensoren der Laterne wohl noch immer „Dämmerung“
anzeigten. Jedenfalls war die Laterne an und verursachte ein
diffuses Zwielicht.
Der Mann unter der Laterne war außerordentlich gut gekleidet.
Er trug einen zweireihigen dunkelgrauen Mantel, hatte dunkles Haar
und einen Oberlippenbart.
Seine Züge waren feingeschnitten. Der Blick verfolgte
aufmerksam das Geschehen. Eine seltsame Unruhe schien in ihm zu
herrschen. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen.
Dann bemerkte er meinen Blick und sah mich an.
Ich hatte eine eigenartige Empfindung dabei. Die Ausstrahlung
dieses Mannes nahm mich gefangen. Eine Ausstrahlung, die eigentlich
eher zu einem älteren erfahreneren Mann gepasst hätte. Aber ich
schätzte ihn auf höchsten 35 Jahre.
Nur seine Augen, die schienen älter zu sein.
Er begegnete meinem Blick und wurde etwas ruhiger.
Dann wandte er sich herum und ging die Straße entlang.
Seine Schritte waren schnell und wirkten entschlossen. Er
drehte sich nicht noch einmal um.
Hinter der nächsten Ecke verschwand er.
„Was ist los, Linda?“, drang Jimmys Stimme in mein
Bewusstsein. „Wo starrst du hin?“
5
Am Abend kehrte ich spät nach Hause zurück. In der Redaktion
war viel zu tun gewesen. Ich hatte einen Artikel geschrieben, ohne
wirklich etwas über die Hintergründe dieser eigenartigen Serie von
Todesfällen zu wissen. Die Fakten waren dürftig. Kein Motiv, kein
Täter, vielleicht noch nicht einmal ein Mord.
Und wenn es wirklich ein besonders widerwärtiger Psychopath
war, wie Barnes vermutete? Mir erschien diese Theorie zumindest
nicht plausibel genug, um sie in meinen Artikel aufzunehmen.
Am Nachmittag hatte ich mit Jimmy einige der direkten Nachbarn
abgeklappert und interviewt. Das Ergebnis war gleich null. Niemand
hatte etwas gesehen oder gehört. Die meisten kannten noch nicht
einmal das Opfer. James McGordon, so hatte ich in Erfahrung bringen
können, arbeitete bei einem Computerunternehmen in der City. Seine
Wohnung diente eigentlich nur als Schlafstätte. Entweder er hatte
gearbeitet oder er war ausgegangen. Urlaub und freie Tage hatte er
auf Reisen verbracht. Kein Wunder, dass niemand wirklich etwas über
ihn wusste.
Ich war ziemlich resigniert, als ich zu Hause ankam und den
roten Mercedes in die Einfahrt stellte. Zu Hause - das war die
viktorianische Villa meiner Großtante Eleanor Troddwood, bei der
ich seit dem frühen Tod meiner Eltern lebte.
Eleanor - oder Tante Ely, so wie ich sie nannte - hatte mich
wie eine eigene Tochter aufgezogen. Inzwischen hatte sich unser
Verhältnis etwas dahingehend gewandelt, dass sie mehr zu einer Art
guten, erfahrenen Freundin geworden war, die mir mit Rat und Tat
zur Seite stand. Ein Mensch, auf den ich mich in jeder Lebenslage
absolut verlassen konnte.
Ich öffnete die Tür der altehrwürdigen Villa.
Tante Elys verschollener Mann Felix war ein berühmter
Archäologe gewesen, der von seinen zahlreichen Forschungsreisen
allerhand Fundstücke mit nach Hause gebracht hatte. Diese
Fundstücke standen überall in der Villa herum und bildeten zusammen
mit Tante Elys eigener Sammlung okkulter Schriften und Gegenstände
ein bizarres Sammelsurium.
Jeder Winkel von Tante Elys Räumen schien mit alten, staubigen
Folianten, Schriftrollen unklaren Ursprungs, Pendeln, afrikanischen
Voodoo-Fetischen, Geistermasken und dergleichen angefüllt zu
sein.
In langen Reihen standen die Bücher in den überquellenden
Regalen, hin und wieder unterbrochen von einem geheimnisvollen
Stein aus dem Grab eines Königs, von dem auch die
Altertumsgeschichte nicht einmal den Namen übermittelt hatte oder
einer Götzenstatuette, die mit grimmiger Fratze böse Geister
vertreiben sollte.
Lediglich meine eigenen Räume, die sich in der oberen Etage
der Villa befanden, waren eine 'okkultfreie Zone'. Dort waren
solche Dinge tabu.
Tante Ely interessierte sich für alle Bereiche des Okkultismus
und der übersinnlichen Wahrnehmung und sammelte auf diesem Gebiet
buchstäblich alles. Vom Zeitungsartikel, den sie sorgfältig
archivierte, bis hin zu seltenen Exemplaren irgendwelcher
Geheimschriften, die bei der Haushaltsauflösung eines Logenbruders
ebenso auftauchen konnten, wie auf Trödelmärkten oder
Antiquariaten. Sie besaß inzwischen eines der größten Privatarchive
Englands auf diesem Gebiet.
Dabei war ihre Einstellung durchaus kritisch.
Es war ihr bewusst, dass die meisten, die sich auf diesem
Gebiet tummeln, nichts als Scharlatane waren, die nichts weiter im
Sinn hatten, als sich bei Leichtgläubigen zu bereichern oder sich
wichtig zu machen.
Aber es blieb ein Rest.
Ein Rest von Phänomenen, die mit den Mitteln der heutigen
Wissenschaft noch nicht hinreichend zu erklären waren.
Es ging also darum, die Spreu vom Weizen zu trennen. Und
dieser Aufgabe hatte Tante Ely sich ganz verschrieben.
Ich ging durch den Flur, während mich eine der Geistermasken
höhnisch angrinste. Aber das konnte mich schon lange nicht mehr
erschrecken. Schließlich war ich hier zu Hause.
Ich hörte Stimmen aus der Bibliothek.
Tante Ely hatte offensichtlich Besuch.
Gerade wollte ich zur Treppe gehen, um in meinen Teil der
Villa zu gelangen, da ging die Tür auf.
Tante Ely trat in Begleitung eines Mannes aus der Tür, der...
Ich stockte unwillkürlich.
Das feingeschnittene Gesicht, der Oberlippenbart. die dunklen
Haare. Er wandte den Kopf in meine Richtung und ich sah sofort,
dass er mich ebenfalls wiedererkannte.
Seine grauen Augen musterten mich auf eine Weise, die ich
nicht zu deuten wusste.
„Guten Abend Linda“, sagte Tante Ely.
„Guten Abend“, sagte ich. Und Tante Ely stellte mich dem
Dunkelhaarigen vor.
„Das ist Linda McCabe, meine Großnichte. Sie ist Reporterin
beim DAILY REPORT... Linda, das ist Mr. Harold Benbow, ein
Privatgelehrter für alte Sprachen und Archäologie.“
Wie ein staubtrockener Gelehrter sah er nun gar nicht aus,
ging es mir durch den Kopf.
„Wir sind uns heute Morgen kurz begegnet, nicht wahr, Mr.
Benbow“, sagte ich, wobei ich ihn offen ansah. „Erinnern Sie
sich?“
Er lächelte.
„Wie könnte ich ein so liebenswürdiges Gesicht wie das Ihre
vergessen!“
„Es war kein sehr liebenswürdiger Ort, an dem wir uns gesehen
haben.“
„Nun...“
„Es war vielleicht der Tatort eines Mordes...“ Sein Gesicht
wurde ernst.
Der Blick seiner grauen Augen veränderte sich leicht.
„Ich nehme an, die Polizei wird herausfinden, was sich
wirklich abgespielt hat“, erklärte er.
„Abgespielt?“, mischte Tante Ely sich ein. „Wovon redet ihr
beide?“
„Es wurde heute Morgen wieder einer jener auf geheimnisvolle
Weise in einen Kokon aus Spinnweben eingewickelten Leichname
gefunden...“, berichtete ich.
Harold Benbow sah kurz auf die Uhr und meinte dann: „Ich muss
jetzt leider gehen.“ Er wandte sich an Tante Ely: „Ich danke Ihnen
sehr für Ihre Hilfe, Mrs. Troddwood. Sie wissen gar nicht, wie sehr
Sie mir damit weiterhelfen...“
„Wie gesagt“, erwiderte Tante Ely. „Ich möchte Ihnen Hermann
von Schlichtens Absonderliche Kulte nicht im Original überlassen,
aber bis morgen kann ich Ihnen eine Kopie herstellen...“ Auch wenn
es sich bei den Beständen von Tante Elys Archiv zum Großteil um
uralte Dinge ging - sie verfügte längst auch über eine moderne
Büroausstattung inklusive Kopierer. Schließlich waren gerade sehr
alte Exemplare seltener Schriften derart empfindlich, dass man sie
für wissenschaftliches Arbeiten nur in kopierter Form verwenden
konnte, wollte man sie nicht völlig zerstören.
Benbow sagte: „Selbstverständlich komme ich für die Unkosten
auf!“
„Ich bitte Sie!“, erwiderte Tante Ely.
„Nein, nein, dass ist selbstverständlich! Ich bin ja heil
froh, jemanden gefunden zu haben, der ein derart umfangreiches
Archiv sein Eigen nennt... Ich muss schon sagen, Mrs. Troddwood:
Ich bin beeindruckt!“
„Oh, danke.“
„Auf Wiedersehen!“
Harold Benbow verabschiedete sich auch von mir. Sein Handkuss
war formvollendet und so unerwartet, dass ich völlig perplex
war.
Unsere Blicke begegneten sich.
Er hat Charme, dachte ich. Und das eigenartig antiquierte
Flair, was er ausstrahlte machte ihn noch interessanter.
Er lächelte mich an und hob die Augenbrauen.
„Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Miss McCabe.“
„Ganz meinerseits“, murmelte ich wie automatisch.
Dann führte Tante Ely ihn zur Tür und ich sandte ihm einen
nachdenklichen Blick hinterher. Die Frage, ob es wirklich Zufall
war, dass ich ihn am Morgen in der Pelton Street gesehen hatte,
trat in den Hintergrund.
6
Überall in diesem halbdunklen Gewölbe befanden sich
Spinnweben. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war oder wie ich hierher
gelangt war und sah mich verwundert um. Es gab nur wenig Mobiliar
hier.
Neben einer kunstvoll verzierten, etwa hüfthohen Truhe stand
eine Frau von seltsam entrückter Schönheit.
Sie sah kurz auf, so dass unsere Blicke sich trafen.
Die Frau hatte dunkles, kinnlanges Haar und blaue Augen.
Ihr Blick schien seltsam abwesend ins Nichts gerichtet zu
sein. Sie trug ein rosafarbenes, langes Kleid und eine kostbare
Perlenkette um den Hals. Ihr volllippiger Mund gab ihrem hübschen
Gesicht einen traurigen Zug.
Melancholie stand ihr im Gesicht geschrieben.
Plötzlich begann ein Lächeln um ihre Lippen herum zu spielen.
Ein Lächeln, dass mir nicht gefiel und ihre makellos weißen Zähne
entblößte.
Der matte Glanz ihrer Augen verwandelte sich in ein
teuflisches Blitzen.
„Es wird schnell gehen, Linda“, sagte sie „Sehr
schnell...“
Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
„Wovon sprechen Sie?“
„Von Ihrem Tod, Linda!“
Und mit diesen Worten öffnete sie die Truhe. Das Innere befand
sich im Schatten. Nichts als Schwärze war dort zu sehen.
Und eine Bewegung.
Etwas Dunkles krabbelte über den Rand der Truhe.
Eine Spinne.
Sie war nicht einmal besonders groß und wenn diese Tiere es
sicher auch kaum verdient haben, so sind sie doch für die meisten
Menschen der Inbegriff des Ekelhaften. Ich machte da keine
Ausnahme.
Die Frau, die mir gegenüberstand, lachte leise, als sie das
Erstaunen in meinen Zügen sah.
Weitere Spinnen - große und kleinere - kamen jetzt aus der
Truhe herausgekrabbelt. Erst waren es nur ein Dutzend, dann kamen
sie plötzlich zu Hunderten aus der Truhe heraus. Ich wich noch
weiter zurück, während ein wahrer Teppich aus krabbelndem Getier
auf mich zukam.
Und noch immer kamen weitere aus der Truhe heraus.
Sie waren schnell.
Schon waren die ersten mir das Hosenbein hinaufgekrabbelt und
ich versuchte sie mit hektischen Handbewegungen abzustreifen.
Sie kamen jetzt von überall her.
Einige ließen sich an ihren klebrigen Fäden von der Decke
herab, andere schienen zu Tausenden an den Wände hinabzukommen und
sie alle hatten sich dieselbe Beute ausgesucht.
Mich.
Ich strampelte, schlug um mich, aber es waren zu viele, die
von allen Seiten auf mich zuströmten, an mir emporkletterten und
damit begannen, mich einzuspinnen.
Ich begriff es erst wirklich, als mein Handgelenk bereits von
einer dicken Schicht aus klebrigem Gespinst umwickelt war.
„Nein!“, keuchte ich.
Eisige Schauder überliefen mich.
Todesangst hatte mich gepackt.
Ich erinnerte mich an das, was ich in der Pelton Street
gesehen hatte und sah mich selbst bereits als mumifiziertes, in
einen Kokon eingesponnenes Etwas, das in einen Metallsarg gelegt
wurde...
Schon hatte ich Schwierigkeiten, meine Beine zu bewegen.
Etwas Elastisches schien um sie herumgewickelt worden zu sein.
Ich wollte es wegschlagen, aber auch meine Arme konnte ich nicht
mehr ganz frei bewegen.
„Es wird schnell gehen, Linda!“, echoten die Worte der
geheimnisvollen Frau in mir nach.
Ich spürte, dass ich mich nicht mehr lange würde wehren
können... Mein gesamter Körper war von den kleinen Plagegeistern
bedeckt, von denen jeder ein Stück des Kokons wob, der mein
Verderben sein sollte.
Tränen der Verzweiflung traten mir aus den Augen.
Ich schrie aus Leibeskräften.
7
Ich versuchte meine Arme zu bewegen und spürte irgendeinen
Widerstand. Ich schlug um mich.
„Nein!“
„Linda!“
Ich öffnete langsam die Augen. Es war dunkel, so furchtbar
dunkel...
Die ewige Dunkelheit des Todes...
Hände hielten mich an den Schultern und ich sah in ein ruhiges
Augenpaar. Ich atmete tief durch und nach einigen Sekunden hatte
ich mich ein wenig beruhigt.
„Linda, du hast geträumt. Es ist alles gut.“
„Tante Ely“, flüsterte ich.
Ich saß in meinem Bett. Kerzengerade und mit schweißnassem
Nachthemd. Tante Ely hatte sich auf die Bettkante gesetzt und hielt
mich noch immer bei den Schultern. Das Mondlicht fiel durch das
Fenster in ihr Gesicht und ließ ihre Züge weich erscheinen. Doch
selbst jetzt war die Besorgnis darin recht deutlich zu lesen.
Ich wischte mir mit der Hand über das Gesicht.
„Es war so furchtbar“, sagte ich. „So furchtbar...“ Noch in
der Erinnerung lief es mir kalt über den Rücken und jeder kleine
Schatten auf meiner Bettdecke ließ mich bis ins Mark
zusammenzucken.
Tante Ely nahm mich in den Arm.
„Mein Kind“ sagte sie und strich mir das Haar zurück. Sie
hielt mich einfach fest, so wie sie es früher getan hatte, als ich
noch klein gewesen war...
„Oh, Tante Ely....“
Und dann schwiegen wir einige Augenblicke lang. Ich war froh,
dass sie da war, froh, dass ich in diesem Moment nicht allein
war.
Ich presste die Lippen aufeinander und schloss die
Augen.
„Was hast du geträumt?“, fragte Tante Ely.
„Du meinst, dass es einer jener Träume ist, nicht wahr?“,
erwiderte ich.
Sie hob die Augenbrauen.
„Du etwa nicht?“
„Doch.“
Ich hatte von meiner verstorbenen Mutter eine leichte
übersinnliche Gabe geerbt, die sich in besonderen Träumen oder
tagtraumartigen Visionen zeigte. Manchmal waren es auch nur
unbestimmte Ahnungen. Ich konnte auf diese Weise kurze,
schlaglichtartige Blicke auf die Zukunft, die Vergangenheit oder
Geschehnisse an weit entfernten Orten erlangen. Als zwölfjährige
hatte ich den Tod meiner Eltern vorhergesehen.
Damals hatte ich natürlich noch nicht gewusst, was mit mir
geschah. Lange Zeit hatte ich mich dagegen gewehrt, zu akzeptieren,
dass ich diese „Gabe“ besaß, wie Tante Ely es nannte. Tante Ely
hatte mich immer wieder darauf hingewiesen, dass ich lernen müsse,
damit umzugehen, anstatt die Augen davor zu verschließen.
Kontrollieren konnte ich die Gabe nach wie vor nur
unzureichend und oft kam sie mir nicht zuletzt deswegen auch
manchmal eher wie ein Fluch vor.
Es war furchtbar ein Bild aus der Zukunft zu bekommen und
nicht zu wissen, wie man ein drohendes Verhängnis eventuell noch
abwenden konnte...
Ich erzählte Tante Ely in knappen Worten von meinem Traum. Sie
hörte mir geduldig zu und nickte. „Es war so realistisch, Tante
Ely! Ich hatte nicht das Gefühl zu träumen, sondern wirklich von
Spinnen in einen Kokon eingewoben zu werden...“
„So wie die Toten dieser seltsamen Serie von
Leichenfunden...“
„Ja, genau“, nickte ich.
Dann stand ich auf, raufte mir Haare nach hinten und machte
das Licht an. Tante Ely hatte sich ebenfalls erhoben und sah mich
mit einem besorgten Gesichtsausdruck an.
„Du solltest diesen Traum ernst nehmen, Linda!“ Ich zuckte die
Achseln und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Vielleicht bin ich einfach nur etwas überreizt“, meinte ich
dann. „Es war ein harter Tag heute und der Tote in der Pelton
Street...“ Ich schluckte, bevor sich weitersprach.
„Das hat mich schon ziemlich mitgenommen.“
Ich wusste, dass ich Unsinn redete.
Es war ein Traum, der mit meiner Gabe zu tun hatte. Tief in
meinem Inneren wusste ich das auch, aber irgendwie weigerte sich
ein Teil von mir, das zu akzeptieren. Ich sah Tante Ely etwas
verzweifelt an.
„Was soll ich tun?“, fragte ich.
Sie kam auf mich zu und berührte mich leicht an der
Schulter.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht wird deine Gabe dir noch mehr
Hinweise geben.“
„Die Vorstellung ist grauenhaft, von diesen kleinen
achtbeinigen Tieren...“ Ich sprach nicht weiter.
Schlaglichtartig erschienen wieder die Traumbilder vor meinem
geistigen Auge. Ich schüttelte mich kurz, in der Hoffnung, sie
loszuwerden.
„Gib auf dich acht, Linda!“
Ich atmete tief durch.
Und dann nickte ich leicht.
„Es ist nicht leicht“, murmelte ich dann.
„Ich weiß.“
„Man spürt ein kommendes Verhängnis und weiß, dass etwas
Schreckliches auf einen zukommt, aber man weiß nicht wann und
wo...“
„Linda...“
Ich sah sie an. „Ich denke oft, dass es besser ist, gar nichts
über die Zukunft zu wissen!“
8
Am nächsten Morgen fühlt ich mich ziemlich zerschlagen. Ich
hatte das Gefühl, so gut wie überhaupt nicht geschlafen zu haben.
Der starke schwarze Kaffee von Tante Ely sorgte dafür, dass ich
wenigstens einigermaßen die Augen offenhalten konnte.
Aber es war da noch etwas anderes.
Etwas, das mit einer Müdigkeit des Körpers nichts zu tun
hatte.
Es hing mit dem Traum zusammen. Ich fühlte mich gelähmt.
Immer wieder drohten die furchtbaren Szenen meines Traumes vor
meinem inneren Auge zu erscheinen.
Ich fühlte Tante Elys Hand auf der meinen und blickte
auf.
„Wenn man dich da so sitzen sieht, mein Kind...“
„Ich fühle mich nicht besonders gut...“
„Linda!“
„Ich frage mich, was diese mumifizierten Toten mit meinem
Schicksal zu tun haben?“
„Du wirst es sicher herausfinden.“
„Wenn es dann nicht zu spät ist.“
„Linda! Die Dinge, die du in deinen Träumen siehst müssen
nicht unbedingt genau so geschehen, wie sie dir im Traum vor Augen
standen... Es besteht nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür,
dass diese Ereignisse auch eintreten!“
Ich wusste, woher sie das hatte. Seit Tante Ely vermutete,
dass ich über eine seherische Gabe verfügte, hatte sie buchstäblich
jede Zeile an Fachliteratur verschlungen, die es zu diesem Thema
gab.
Allerdings war das zumeist alles weit weniger wissenschaftlich
abgesichert, als auf anderen Gebieten, was kein Wunder war.
Schließlich beschäftigten sich kaum Wissenschaftler damit - und
schon gar nicht diejenigen, die auf ihren guten Ruf bedacht
waren.
Ich trank meinen Kaffee leer.
„Du musst auch was essen, Linda!“
„Ich bringe keinen Bissen herunter!
„Linda! Dann iss um der Vernunft willen! Du kannst einen
stressigen Tag in der Redaktion nicht mit nüchternem Magen
überstehen!“
Da hatte sie natürlich recht.
Also drückte ich ein paar Bissen hinunter.
Etwas unvermittelt fragte ich sie dann: „Was weißt du über
diesen Harold Benbow?“
„Der Gentleman, der gestern hier war?“
„Ja.“
„Nicht viel. Ein Privatgelehrter - was immer das auch bedeuten
mag, der sich für von Schlichtens Absonderliche Kulte
interessierte, das Werk eines deutschen Okkultisten, der jedoch nur
in mittelalterlichem Latein zu schreiben pflegte, damit seine
Schriften nicht so leicht von Unbefugten gelesen werden. Er gehörte
nämlich einer Geheimloge an.“ Sie machte eine Pause und fuhr dann
fort: „Dieser Benbow ist ein sehr höflicher Mensch...“
„Ja, den Eindruck hatte ich auch.“
„Irgendwoher kommt mir der Name auch bekannt vor!“ Tante Ely
runzelte die Stirn und zuckte dann die Achseln. „Vermutlich irgend
eine zufällige Namensgleichheit. Schließlich dürfte es allein in
London einige Träger dieses Namens geben.“
„Vermutlich.“
„Wie kommst du jetzt auf ihn?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte ich. Mein Blick ging ins Leere.
„Es hängt mit dem Traum zusammen...“
„Aber, Mr. Benbow kam doch nicht darin vor?“
„Nein, das nicht, aber...“ Ich stockte und sprach nicht
weiter. Wieder sah ich ihn vor meinem inneren Auge. Sein Gesicht,
sein dunkles Haar, die feingeschnittenen Züge und den ruhigen Blick
seiner grauen Augen...
Er hatte mich fasziniert, das stand außer Frage.
Aber das lag nicht nur daran, dass er ein sehr attraktiver
Mann war, der darüber hinaus noch über gute Manieren zu verfügen
schien. Nein, da war auch noch etwas anderes.
Etwas, das ich noch nicht so recht einzuordnen wusste...
Etwas Beunruhigendes, Dunkles.
Ein Geheimnis.
„Mir geht nicht aus dem Kopf, wie er da in der Pelton Street
stand, während Scotland Yard alles absuchte...“ Ich strich mir das
Haar zurück und rieb mir die Augen. „Ja, ich weiß, es ist völlig
absurd. Wahrscheinlich war er einfach neugierig und
stehengeblieben, aber es erscheint mir doch als ein eigenartiger
Zufall. Und außerdem muss ich an diese Szene immer im Zusammenhang
mit meinem Traum denken...“
„Pelton Street?“, fragte Tante Ely zurück. „Es ist überhaupt
kein Wunder, dass du ihn dort getroffen hast.“
„Ach, nein?“
Sie stand auf, ging in die Bibliothek und kam einen Augenblick
später mit einer kleinen Visitenkarte zurück.
Harold Benbows Visitenkarte.
Ja, so etwas passt zu ihm, dachte ich.
Tante Ely legte sie so vor mir auf den Tisch, dass ich sie
lesen konnte.
„Mr. Benbow wohnt in der Carlton Street, das ist ganz in der
Nähe. Ich weiß das, weil ich dort früher Bekannte hatte. Es gibt
schöne Villen dort...“
„Ah, ich verstehe.“
„Solltest du vorhaben, ihm einen Besuch abzustatten, dann nimm
doch bitte die Kopie der Absonderlichen Kulte mit... Ich habe sie
gestern Abend noch fertiggemacht!“
9
„Ich möchte Fakten!“, schimpfte Marcus T. Samuel und fuhr sich
mit der flachen Hand über das Gesicht. „Menschen sind getötet und
auf seltsame Weise mumifiziert worden - und niemand weiß auch nur
im Ansatz, was sich abgespielt hat!“ Wir saßen im Büro unseres
Chefredakteurs - Jimmy und ich.
Nach einem kurzen Blick, den wir miteinander getauscht hatten,
stand unsere Strategie fest.
Schweigen.
Am besten man wartete einfach ab, bis Samuel irgendwann wieder
bessere Laune hatte und ihm sein eigenes Gepolter am Ende leid
tat.
Unsere Story war auf Seite eins der heutigen DAILY REPORT
Ausgabe gekommen. Aber sie war dünn, das wusste ich selbst am
besten.
„Sie sind doch gute Journalisten!“, sagte Samuel dann.
Schön, dass Sie das mal sagen, ging es mir dabei sarkastisch
durch den Kopf, doch hütete ich mich davor, dass auch über meine
Lippen gehen zu lassen.
Samuel ließ sich auf seinen Drehsessel fallen, dessen
Hydraulik daraufhin erheblich in die Knie ging. „Versuchen Sie,
etwas herausfinden. Diese Todesfälle müssen doch eine Ursache
haben! Und Sie sind doch Spezialistin für das
Ungewöhnliche...“
„Scotland Yard tappt auch noch völlig im Dunkeln“, erklärte
ich schließlich in eine unangenehme Pause hinein. „Inspektor Barnes
glaubt an einen Psychopathen, der seine Opfer entsprechend
präpariert...“
Samuel lachte kurz und heiser auf.
„Ja, das sieht diesem Barnes ähnlich!“ Er schüttelte den Kopf
und sah mich dann einen Moment lang nachdenklich an.
„Bleiben Sie an der Sache dran, Linda! Durchleuchten Sie das
Leben der Opfer! Fragen Sie in der Nachbarschaft der Tatorte, lesen
Sie Bücher über Spinnen!“ Dann stoppte er unwillkürlich im
Redefluss.
Er stand auf und ging zu der Kaffeemaschine, die er auf einem
stählernen Büroschrank voller Hängemappen stehen hatte. Daneben
befand sich eine Packung mit Pappbechern.
„Jimmy? Linda? Möchten Sie beide einen Kaffee?“
„Gerne“, sagte ich.
Ich wusste, dass das seine persönliche Art und Weise war,
einzugestehen, dass er zu schnell zu viel von uns erwartet hatte.
Eine Entschuldigung, wenn man so wollte.
10
„Was machen wir eigentlich hier?“, fragte Jimmy, als wir von
der Pelton Street in die Carlton Street einbogen, an der sich eine
schöne Villa an die nächste reihte.
„Wir recherchieren“, sagte ich. „Wir befragen Leute, ob sie
etwas gesehen haben oder etwas wissen...“
„Das haben wir doch gestern schon gemacht - und es hat zu
nichts geführt.“
„Ich weiß.“
Jimmy lachte heiser.
„Samuel hatte ja wirklich eine schlechte Laune heute!“
„Am besten man nimmt das hin wie den Londoner Regen“,
erwiderte ich.
Er nickte. „Da ist was dran.“
Ich parkte den Wagen am Straßenrand. Vom Rücksitz nahm ich den
Umschlag, in dem sich Tante Elys Kopie der Absonderlichen Kulte
befand - meine Eintrittsbillett in das Haus dieses Harold Benbow,
von dem ich das Gefühl hatte, dass er in irgend einem Zusammenhang
mit dem Traum stand, den ich gehabt hatte. Aber schließlich konnte
ich ja mein Auftauchen vor seiner Haustür nicht einfach mit einer
vagen Ahnung und meiner seherischen Gabe begründen.
„Warum ausgerechnet dieses Haus?“, fragte Jimmy, als wir vor
Benbows Villa standen.
Ich sah ihn an.
„Erstens wurde das erste Opfer dieser Todesserie hier in der
Carlton Street aufgefunden...“
„Und zweitens?“
„Kenne ich Mr. Benbow. Das wird ihn vielleicht etwas
auskunftsfreudiger machen.“
„Ich hoffe, du behältst recht.“
Als ich das niedrige Gartentor öffnen wollte, bemerkte ich
etwas an meiner Hand.
Ohne, dass es zu hören gewesen wäre, zerriss etwas und ich
zuckte unwillkürlich zurück.
„Was ist?“, hörte ich Jimmy fragen.
„Spinnweben“, flüsterte ich.
Er grinste.
„Die Sache scheint dich ziemlich mitzunehmen, was?“ Ich sah
ihn ärgerlich an, verkniff mir aber eine Bemerkung.
Vielleicht hatte er sogar recht und ich begann langsam
hysterisch zu werden.
Wir passierten das niedrige Gartentor und gingen zur
Haustür.
Der Garten schien sehr weitläufig zu sein, war allerdings
nicht besonders gepflegt. Das Gras stand höher, als das in England
üblich war.
Alte, verwachsene Bäume standen dort. Manche von ihnen waren
kaum mehr als morsche Stümpfe, in denen kein Leben mehr war.
Spinnweben zitterten zwischen den Ästen. Mitunter spannten sie sich
über mehrere Meter weit. Feine Fäden, die im Licht glitzerten und
dem Wind standhielten.
Auch an den Verzierungen der gusseisernen Laternen, die in
regelmäßigen Abständen den gepflasterten Weg vom Gartentor zur
Haustür säumten waren graue Gespinste.
Und hin und wieder konnte man eine der achtbeinigen Jägerinnen
dabei beobachten, wie sie geduldig wartete oder an ihrem
kunstvollen Spinnennetz wob.
„Scheint hier eine Spinnenplage zu geben!“ meinte Jimmy leicht
angewidert, als ihm eines der Tiere blitzschnell vor den Füßen über
das Pflaster huschte, um dann im hohen Rasen zu verschwinden.
Auch an den grauen Steinwänden der Villa rankten sich
Gespinste empor. Hin und wieder hingen kleine Kokons darin fest, in
dem sich eingesponnene Beute befand. Und immer wieder kletterten
einige dieser Achtbeiner die Wände empor, versteckten sich in den
Fugen oder ließen sich von der Dachrinne an ihren hauchdünnen Fäden
hinunter.
Es gab keine Klingel an der Tür.
Lediglich einen gusseisernen Ring, den ein grimmiger Löwe aus
demselben Material in seinem Maul hielt. Alter, kolonialer
Stil...
Ich zögerte, den Ring zu ergreifen, denn auch an ihm befanden
sich Spinnweben.
Jimmy bemerkte das und lächelte nachsichtig. Mit einer
schnellen Handbewegung hatte er das graue Gespinst entfernt und
klopfte dann mit dem Ring ziemlich heftig gegen die dunkle
Holztür.
Nachdem wir einige Augenblicke gewartet hatten und Jimmy ein
zweites Mal geklopft hatte, öffnete uns schließlich eine junge Frau
mit einer weißen Schürze und einem Putzlappen in der Hand.
„Guten Tag, Sie wünschen?“, fragte die junge Frau.
„Sind Sie Mrs. Benbow?“, fragte ich.
„Nein, ich bin nur das Hausmädchen.“
„Könnte ich Mr. Benbow sprechen?“
„Nun, er möchte nicht gestört werden und...“
„Sagen Sie ihm, Linda McCabe sei hier, um ihm eine Kopie der
Absonderlichen Kulte von Hermann von Schlichten
vorbeizubringen...“
Das Hausmädchen sah uns nacheinander prüfend an.
Dann sah sie die Spinnweben, die sich am Postkasten empor
rankten. Ihr Gesicht veränderte sich. In ihren Augen blitzte es
ärgerlich. Mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung ließ sie
den Putzlappen über den Postkasten fahren und entfernte das
Gespinst. Der Ausdruck des Ekels stand ihr im Gesicht
geschrieben.
„Sie haben hier viele Spinnen“, stellte ich fest.
„Ja, in diesem Jahr scheint es besonders schlimm zu sein! Eine
richtige Plage! Ich weiß auch nicht woran das liegt! Jedenfalls
nicht daran, dass ich zu nachlässig wäre! Was glauben Sie, wie oft
ich das wegmache!“ Dann atmete sie tief durch. Ihr Lächeln wirkte
ein wenig gezwungen. Mit einer nach hinten gerichteten Handbewegung
strich sie sich eine Strähne aus dem Haar, die sich aus ihrer
Frisur herausgestohlen hatte.
Dann sagte sie: „Warten Sie hier!“
Wir sahen ihr nach, als sie davonging und hinter einer Tür
verschwand.
„Man scheint hier nicht besonders begeistert von unserem
Besuch zu sein“, meinte Jimmy. „Und was ist das eigentlich für ein
Buch - Absonderliche Kulte. Mein Gott, das klingt ja
furchtbar...“
„Ich habe es nicht gelesen, weil ich kein mittelalterliches
Latein beherrsche!“
Jimmy lachte.
„Aber dieser Benbow - der beherrscht diese Sprache?“
„Ich nehme es an.“
„Alle Achtung.“ Und nach einer kurzen Pause raunte er mir dann
zu: „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht, wozu das Ganze führen
soll. Diese Leute werden uns genauso wenig weiterbringen, wie all
die anderen, die wir befragt haben. Niemand weiß etwas.“
Ich sah ihn an.
„Sollen wir etwa aufgeben? Irgend jemand - oder irgend etwas -
schleicht des Nachts durch diese Gegend und tötet...“
In diesem Moment kehrte das Hausmädchen zurück.
„Mr. Benbow ist bereit, Sie zu empfangen“, erklärte sie. „Wenn
Sie mir bitte folgen würden!“
11
Wir wurden in einen weitläufigen Salon geführt, dessen
Einrichtung aus kostbaren Antiquitäten im viktorianischen Stil
bestand.
Harold Benbow war wie schon bei unserem ersten
Zusammentreffen, sehr korrekt gekleidet. Alles saß wie angegossen.
Er trug einen dreiteiligen Anzug, allerdings auf eine Art und
Weise, die zeigte, dass er daran gewöhnt war.
Nicht wie eine Verkleidung zu besonderen Anlässen. Er kam auf
uns zu und begrüßte uns nacheinander.
Dann sagte er: „Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Miss
McCabe!“
„Ich habe Ihnen die Kopie der Absonderlichen Kulte
mitgebracht!“
Er nahm sie entgegen, lächelte und bedankte sich. Dann führte
er uns zu einem sehr zart und zerbrechlich aussehenden Tisch, der
reich verziert war.
„Bitte nehmen Sie Platz“, meinte er und deutete auf die um den
Tisch herumgruppierten Sessel. „Möchten Sie etwas trinken?“
„Nein, danke“, sagte ich.
Er zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen.“ Ich ließ den Blick
über die massiven Schränke schweifen.
Auch hier bemerkte ich hin und wieder Spinnweben...
„Mr. Benbow, ich bin nicht nur hier, um Ihnen die Kopie zu
bringen...“ begann ich, nachdem wir uns gesetzt hatten.
„Immer heraus damit! Worum geht es?“
„Sie werden sicher von dieser Serie eigenartiger Todesfälle
gehört haben, nicht wahr? Schließlich trafen wir uns zum ersten Mal
an jener Stelle, an der die Leiche eines James McGordon kurz zuvor
aufgefunden worden war...“ Benbows Gesicht veränderte sich.
Es verlor ein wenig die charmante Lockerheit, die es zuvor
ausgestrahlt hatte. Er wirkte jetzt etwas angespannt. Seine grauen
Augen musterten mich auf eine Weise, die mich verwirrte.
„Selbstverständlich habe ich davon gehört!“
„Wissen Sie irgend etwas darüber? Haben Sie eine
Vermutung?“
Er hob die Schultern. „Ich bedaure“, sagte er. „Ich weiß
vermutlich noch weniger als Sie, denn wie ich annehme, haben Sie
als gute Journalistin die offiziellen Informationsquellen wie
Polizei und dergleichen längst ausgeschöpft.“
„Ja.“
„Es tut mir sehr leid, Ihnen in dieser Sache gar nicht
weiterhelfen zu können, Miss McCabe.“
„Es muss Sie doch beunruhigen!“ meinte ich. „Schließlich sind
sämtliche Opfer hier in der Gegend gefunden worden - in einem
Umkreis, der sich zu Fuß ablaufen lässt!“
„Selbstverständlich beunruhigt uns das, aber...“
„Uns?“, echote ich.
Er blickte auf. In seinem Gesicht schien ein Muskel leicht zu
zucken. „Ja“, erklärte er dann. „Außer mir lebt noch meine
Schwester Morgaine in diesem Haus.“
„Ich verstehe.“
„Allerdings leben wir noch nicht sehr lange hier. Kaum ein
halbes Jahr. Und um ehrlich zu sein, wir haben kaum Kontakt zu den
Leuten der Umgebung. Vermutlich kann man Ihnen dort eher
helfen...“
„Sie sind nicht die ersten, mit denen wir sprechen“, erklärte
ich. „Aber niemand hat etwas bemerkt, was uns weiterhelfen
könnte.“
Benbow sah mich an. Sein Blick jagte mir einen Schauer über
den Rücken - einen angenehmen Schauer. Dieser Mann hatte
Ausstrahlung. Seine Augen wirkten ruhig und intelligent.
Und geheimnisvoll.
Ich registrierte beunruhigt, dass ich mich von ihm angezogen
fühlte.
„Sie scheinen sich diesen Fall sehr zu Herzen zu nehmen, Miss
McCabe“, sagte er dann mit einer samtweichen, tiefen Stimme, deren
Klang dafür sorgte, dass sich mir die kleinen Nackenhärchen
aufrichteten.
„Es ist mein Job“, erwiderte ich schwach.
Er lächelte .
„Ach wirklich? Nein, Sie tun mehr. Wenn Sie nur Ihren Job
machen würden, dann bräuchten Sie nur abzuwarten, bis die Polizei
etwas herausgefunden hat - vorausgesetzt sie haben einen
einigermaßen guten Draht zu Scotland Yard.“
„Ich fürchte, der Inspektor, der den Fall bearbeitet, mag mich
nicht besonders!“
„Ach! Unvorstellbar! Eine so reizende junge Frau wie
Sie...“
Ich schluckte und erwiderte dann: „Das sagen Sie nur, weil Sie
mich nicht richtig kennen, Mr. Benbow!“
„Nun - ließe sich das nicht ändern?“
„Wer weiß?“
Meine Stimme war nur ein Hauch.
Ich wollte ihn näher kennenlernen, das war die eine Seite der
Medaille. Die andere...
Ich konnte sie nicht erklären. Es schien auf geheimnisvolle
Weise mit diesem Haus zusammenzuhängen, mit der Aura, die es
umgab...
„Ihr Haus scheint auf Spinnen eine geradezu magische
Anziehungskraft auszuüben, Mr. Benbow!“ Das war Jimmy. Sein Blick
war auf eine Lampe an der Decke gerichtet, von der sich gerade
eines jener achtbeinigen Geschöpfe hinab in die Tiefe seilte.
„Es ist eine Plage in diesem Jahr!“, erklärte Benbow
kühl.
„Jedenfalls sagen das die Nachbarn. Wir können das nicht
beurteilen...“
Die Spinne kroch über den Fußboden und kletterte einen
Augenblick später an Jimmys Hosenbein empor. Als sie seinen
Oberschenkel erreicht hatte, bemerkte er sie und schlug mit der
Hand nach ihr.
„Hören Sie auf! Sofort!“
Es war eine etwas schrill klingende Frauenstimme, die uns alle
herumfahren ließ.
„Morgaine!“, entfuhr es Harold Benbow unwillkürlich. Er erhob
sich.
Ich sah eine junge Frau im Türrahmen stehen. Ihr Gesicht war
etwas blass und vom Ausdruck blanken Entsetzens gezeichnet. Das
Haar dunkel, die Augen blau. Ihr Kleid reichte bis zu den
Knöcheln.
Ich starrte diese junge Frau nur an und fühlte, wie meine
Unterarme von einer Gänsehaut überzogen wurden. Das Herz schlug mir
bis zum Hals und ein Gefühl von Enge und aufkeimender Verzweiflung
hatte mich erfasst.
Morgaine war niemand anderes, als jene junge Frau, die ich
Traum gesehen hatte!
12
Morgaine kam mit schnellen Schritten auf uns. Sie raffte dabei
ihr raschelndes Kleid etwas zusammen. Dann blieb sie stehen und
funkelte Jimmy mit ihren blauen Augen giftig an.
Die Spinne, die Jimmys Schlag entgangen war, krabbelte direkt
auf sie zu.
Morgaine bückte sich, ehe das Tier den Saum ihres Kleides
erreichte und ließ es auf ihre Hand krabbeln. Dann erhob sie sich
wieder.
Der Blick, den sie Jimmy zuwarf, war vernichtend.
„Wie konnten sie so etwas nur tun?“, fauchte sie.
Jimmy war ziemlich fassungslos.
Er hatte nicht im Traum mit einer derartigen Reaktion
gerechnet.
„Ich...“
„Sie Unmensch!“
Jetzt mischte Harold Benbow sich ein, dem die ganze Szene ganz
offensichtlich sehr unangenehm war. „Morgaine!“, rief er
beschwörend.
Aber seine Schwester ließ sich nicht besänftigen. Sie atmete
heftig und schien einem hysterischen Anfall ziemlich nahe zu
sein.
Sie wandte den Kopf in Richtung ihres Bruders.
„Harold, wie kannst du so eine grobe Person überhaupt in unser
Haus lassen und hier als unseren Gast weilen lassen!“
„Morgaine!“
Harold ging auf sie zu, wollte sie am Arm fassen, doch sie
entzog sich ihm mit einer ruckartigen Bewegung.
Morgaine trat auf Jimmy zu. Ihre Augen funkelten noch in einer
Weise, die einen erschauern lassen konnte. Wahnsinn leuchtete aus
ihnen, gepaart mit großer Traurigkeit und Melancholie.
Aber im Moment überwog das Wilde, Unwirsche in ihr. Sie
erinnerte mich in diesem Moment an eine Wildkatze, die man in die
Enge getrieben hatte. Eine Katze, die ihr Junges verteidigte. Mit
ihren Händen hatte sie eine Art Schale gebildet, in der die Spinne
jetzt kauerte.
Sie hielt sie Jimmy entgegen.
„Was sehen Sie?“, flüsterte sie. Ihre Stimme hatte einen
drohenden Unterton.
„Nun, ich... Entschuldigen Sie, wenn ich...“ Jimmy stotterte
irgend etwas herum.
Morgaine unterbrach ihn.
„Dies ist ein lebendes Wesen, Sir!“
„Ja, natürlich!“
„Ein Wesen, in dem ein göttlicher Funke wohnt! Und sie hätten
es um ein Haar getötet!“
Die beiden wechselten einen Blick miteinander. Jimmy hatte
sich wieder gefasst. Er hielt ihrem Blick stand und erwiderte dann
ruhig: „Glauben Sie, dieses Tier wäre mir gegenüber nachsichtiger
gewesen, wenn ich, sagen wir nur wenige Millimeter groß
wäre?“
Morgaine Benbows Gesicht verzog sich zu einer Grimasse des
Hasses.
„Gewiss nicht“, flüsterte sie zischend. Sie atmete tief durch
und fügte dann hinzu: „Seien Sie vorsichtig, wenn Sie das nächste
Mal einem dieser wunderbaren Geschöpfe begegnen... Seien Sie auf
der Hut...“
Jimmy schluckte.
Er wechselte einen etwas ratlosen Blick mit mir.
Harold hatte seine Schwester indessen bei den Schultern
gepackt. „Morgaine, es ist jetzt genug! Dies sind Gäste!“ Sie
drehte ruckartig den Kopf zu ihrem Bruder herum und sah ihn mit
einem Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte.
Die Melancholie schien jetzt Oberhand über ihre Wut zu
bekommen. Ihre Haltung erschlaffte. Ein Seufzen war zu hören.
„Oh, Harold“, flüsterte sie.
„Komm, Morgaine... Ich bringe dich in dein Zimmer.“
„Ja, Harold.“
„Soll das Hausmädchen dir etwas zu essen machen?“
„Nein.“
„Du hast heute noch nichts zu dir genommen.“
„Ich bin nicht hungrig, Harold.“
Er nahm sie in den Arm. Sie legte den Kopf an seine Schulter
und ihre Mundwinkel entspannten sich dabei. Für einen kurzen Moment
schien so etwas ähnliches wie der Ausdruck von Frieden in ihrem
Gesicht zu stehen.
Und dann führte Harold sie zur Tür. Er hatte dabei immer noch
einen Arm um sie gelegt. Sie schluchzte leise.
„Es wird alles gut, Morgaine“, sagte Harold. Seine tiefe
Stimme klang beruhigend.
„Wirklich?“
„Ja.“
„Harold, ich...“ Ihre Stimme war tränenerstickt. Sie schien
noch etwas sagen zu wollen, aber es kam nichts mehr über ihre
Lippen.
Dann gingen sie hinaus und Harold schloss die Tür hinter
sich.
„Eine eigenartige Dame“, meinte Jimmy. „Scheint leicht
hysterisch zu sein!“
„Zumindest hat sie ein besonderes Verhältnis zu Spinnen“,
stellte ich fest.
„Ich glaube eher, sie hat einfach nur eine Schraube locker!“
So war Jimmy nun mal. Direkt und unkompliziert. Er sagte
geradeheraus seine Meinung und wirkte dadurch oft etwas
unkonventionell. Aber das machte ihn sympathisch.
Jimmy erhob sich.
„Ich glaube, wir gehen jetzt“, meinte er.
Ich erhob mich ebenfalls und ging zu einem der hohen Fenster,
durch die man in den Garten blicken konnte. Auf dem Fensterbrett
sah ich zwei winzige Spinnen blitzschnell in ein paar Ritzen
verschwinden.
Morgaine, dachte ich. Sie war die Frau aus meinem Traum und
ich hatte das Gefühl, dass sie auch in irgend einem Zusammenhang
mit den eingesponnenen Toten stand. Es war eine vage Ahnung,
gegründet auf einen Alptraum. Nichts, womit ich Jimmy oder gar
Marcus T. Samuel überzeugen konnte. Nichts, was einen wirklichen
Verdacht begründete...
Im nächsten Moment ging die Tür auf.
Es war Harold Benbow.
Er wandte sich an mich.
„Es tut mir wirklich leid, aber ich muss mich im Moment etwas
um meine Schwester kümmern.“
„Natürlich“, nickte ich.
Harold zögerte etwas, bevor er weitersprach.
Dann fuhr er schließlich nach einer kurzen Pause fort: „Sie
werden bemerkt haben, dass Morgaine eine Frau ist, die sich -
gelinde gesagt - nicht im seelischen Gleichgewicht befindet.“
„Das kann man wohl sagen!“, meinte Jimmy.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung für diesen
Vorfall...“
„Schon vergessen“, erwiderte Jimmy.
Harold wandte sich an mich und nahm meine Hand. „Es wäre mir
ein Vergnügen, die Unterhaltung irgendwann fortsetzen zu
können.“
„Gerne“, sagte ich.
„Dann vielleicht unter günstigeren Umständen.“
„Bestimmt.“
„Grüßen Sie Mrs. Troddwood von mir und sagen Sie Ihr vielen
Dank für die Mühe, die sie mit den Kopien hatte.“
„Das werde ich!“, versprach ich,
13
Am Nachmittag statteten wir Inspektor Barnes in seinem Büro
bei Scotland Yard noch einen Besuch ab.
Er verdrehte die Augen, als er mich sah. Ohne darauf zu
warten, dass er uns einen Platz anbot, setzten wir uns.
„Nun, womit kann ich Ihnen helfen, Miss McCabe?“, fragte
Barnes, während er sich hinter dem Schreibtisch erhob. Er hatte
sein Jackett ausgezogen und die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt.
Seine Freundlichkeit war nur gespielt. Sein Lächeln hatte etwas
Raubtierhaftes.
Ich hob die Augenbrauen und sah ihn an.
„Nun, ich denke, es müsste inzwischen einen Bericht der
Gerichtsmedizin geben.“
„Richtig“, sagte er kühl.
Ich beugte mich etwas vor.
„Seien Sie nett und lassen Sie uns einen Blick
hineinwerfen!“
Er beugte sich ebenfalls vor. In seinen Augen blitzte es
angriffslustig.
„Wozu? Denken Sie sich Ihre Zeitungsgeschichten nicht sowieso
am liebsten selbst aus? Ich verstehe ohnehin nicht, weswegen Sie
sich noch die Mühe machen, mein Büro aufzusuchen. Sie schreiben ja
doch, was Ihnen passt!“
„Und bei allem was Ihnen nicht passt, tun Sie so, als würde es
nicht existieren!“
Er atmete tief durch.
„Sagen Sie bloß, Sie haben schon irgend etwas herausgefunden!
Ich meine, bei den Tönen, die Sie hier spucken, Miss McCabe!“
„Nein, leider nicht!“
„Ach!“
Ich blieb ruhig. Barnes' aggressive Art konnte mich im Moment
nicht wirklich innerlich erreichen, obwohl er mich ansonsten damit
auf die Palme bringen konnte. Vielleicht lag es einfach daran, dass
ich das Gefühl hatte, dass es im Moment einfach wichtigeres gab.
Ich dachte an meinen Traum.
Und an Morgaine Benbow...
Mir schauderte unwillkürlich dabei.
„Hören Sie, Inspektor Barnes, ich tappe genauso im Dunkeln wie
Sie. Es scheint für diese Todesfälle keinerlei plausible Erklärung
zu geben...“
„Dass ich es noch mal erleben darf, dass Sie zugeben, keine
Ahnung zu haben...“
„Inspektor!“
„...wo es Ihnen doch sonst immer so gefällt, die Neunmalkluge
zu spielen. Nein, Sie sind nicht nur Journalistin! Ich wette, Sie
haben noch ein kriminalistisches Studium hinter sich! Ich wäre
nicht einmal überrascht, wenn Sie mir gleich auch noch die
fachliche Kompetenz des Gerichtsmediziners anzweifeln.“
Ich atmete tief durch.
Und schwieg.
Barnes' Laune schien wirklich selbst für seine Verhältnisse
sehr schlecht zu sein und irgendwie konnte ich ihn sogar verstehen.
Vermutlich saß ihm sein Vorgesetzter im Nacken und verlangte
Erfolge. Und bei einem Fall wie diesem war das nicht so
einfach.
Vielleicht sogar unmöglich, wenn man ausschließlich auf
herkömmliche Methoden vertraute.
„Sind Sie jetzt fertig?“, fragte ich dann nach einer längeren
Pause.
Er warf mir eine Mappe hin. Ich nahm sie, blätterte darin
herum.
„Dass ist der gerichtsmedizinische Bericht“, erklärte Barnes,
stand dabei auf und ging zum Fenster. Er blickte hinaus und strich
sich das Haar nach hinten und gähnte.
„Es steht nichts darin, was uns irgendwie weiterbringen
könnte“, meinte er. „Die Todesursache ist nicht zu ermitteln.
Plötzlicher Stillstand sämtlicher lebenswichtiger Funktionen
oder so ähnlich könnte man das nennen. Keine Wunde, kein Gift,
jedenfalls keines, dass wir kennen würden. Es ist wie bei den
vorhergehenden Opfern auch: Die inneren Organe sind in einem
Zustand, wie bei einem erheblich älteren Menschen.“
„Als ob McGordon ungewöhnlich schnell gealtert wäre“, murmelte
ich.
Er nickte. „Ja.“
„Und der Kokon?“
„Zweifellos Spinnweben. Das steht fest.“
„Na, das ist doch wenigstens etwas.“
„Finden Sie?“ Sein Tonfall war ironisch.
Ich ging nicht darauf ein.
„Glauben Sie noch immer, dass es ein Psychopath war?“
„Ich glaube gar nichts, Miss McCabe. Ich weiß nur, dass das
der rätselhafteste Fall ist, mit dem wir es je zu tun
hatten.“
Ich nickte.
Dann sagte ich einen Augenblick später: „Ich freue mich.“ Er
runzelte die Stirn.
„Worüber?“
„Dass Sie zweimal 'wir' gesagt haben, Inspektor Barnes.
Vielleicht nähert sich die Eiszeit zwischen uns ja dem Ende.“ Er
sah mich an. Sein Blick wirkte nachdenklich. Einen Augenblick lang
glaubte ich in seinen grimmigen Zügen sogar so etwas wie die Ahnung
eines Lächelns zu entdecken.
Dann meinte er „Wer sagt Ihnen, dass ich mit 'wir' Sie und
mich meinte?“
„Ich vermute immer das Beste für Sie, Inspektor!“, erwiderte
ich.
Er wirkte etwas perplex und ich gab ihm den medizinischen
Bericht zurück.
„Wenn Sie etwas wissen, dann teilen Sie es mir doch bitte
mit“, meinte Barnes dann noch, bevor Jimmy und ich zur Tür
hinausgingen.
Ich nickte.
„Versprochen“, sagte ich.
Barnes musste sehr verzweifelt sein. Anders war diese Bitte
nicht zu werten.
14
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als ich die Redaktion
des DAILY REPORTS in der Lupus Street verließ. Ich hatte noch
einige Routine-Arbeiten hinter mich zu bringen und einen
Zweihundert-Zeilen-Artikel auf die Hälfte kürzen müssen, da in
letzter Sekunde noch eine Meldung über ein Erdbeben in Nordindien
mit ins Blatt musste. „Katastrophen passieren immer kurz vor
Redaktionsschluss!“, war Marcus T. Samuels Kommentar dazu.
Jedenfalls befanden sich nicht mehr viele Wagen auf dem
Parkplatz vor dem Verlagsgebäude.
Ich ging auf meinen roten 190er Mercedes zu und war etwas
überrascht, als mich plötzlich jemand ansprach.
„Guten Abend, Miss McCabe!“
Ich wirbelte herum und blickte in Harolds graue Augen.
Er war gerade aus seinem Wagen gestiegen, einem schlichten
Coupe.
„Mr. Benbow...“
„Sie sind überrascht?“ Er kam auf mich zu. Ein charmantes
Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Blick ruhte noch immer auf
mir.
„Ein wenig schon“, gab ich zu.
Er zuckte die Achseln. „Ich sagte doch, dass ich die
Unterhaltung mit Ihnen gerne fortsetzen würde.“
„Ja, schon, aber...“
„Wenn ich Ihnen zu aufdringlich bin, dann sagen Sie es mir und
ich belästige Sie nicht länger.“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, so war das auf keinen Fall
gemeint!“
„Das freut mich.“ Er atmete tief durch. „Die Wahrheit ist: Ich
habe schon seit langem niemanden mehr getroffen, der mich auf den
ersten Blick derart fasziniert hätte...“
„Übertreiben Sie nicht?“
„Kaum, Miss McCabe. Sie scheinen mir eine ungewöhnliche Frau
zu sein. Eine Frau, die ich gerne näher kennenlernen
würde...“
Bei aller Galanterie war er doch recht deutlich.
Ich sah ihm ins Gesicht. Seine grauen Augen waren die eines
Mannes, der genau wusste, was er tat.
„Wie stellen Sie sich das vor?“, fragte ich und damit tat ich
immerhin so, als würde ich noch darüber nachdenken, ob ich sein
Spiel mitspielen sollte oder nicht.
Er lächelte.
„Lassen Sie Ihren Wagen hier stehen! Ich entführe Sie in ein
exquisites Restaurant! Geben Sie's zu! Außer irgendwelchen
Sandwiches haben Sie heute noch nichts gegessen!“
„Mir scheint, Sie sind nicht nur Gentleman, sondern auch
Hellseher!“, lachte ich.
Er zwinkerte mir zu.
„Wer weiß?“
15
Ich stieg zu ihm in den Wagen. Das Restaurant, in das Harold
mich 'entführen' wollte, lag am anderen Ende der Stadt und so
brauchten wir eine ganze Weile, um uns durch den dichten
Abendverkehr zu quälen.
Ich nutzte die Zeit, um Tante Ely kurz per Handy anzurufen.
Ich wollte ihr mitteilen, dass es etwas später werden
könnte...
„Ein außergewöhnliche Frau, Ihre Großtante“, meinte Harold
Benbow, nachdem ich das Gespräch beendet hatte. „Sie dürfte eine
der ganz wenigen sein, die sich wirklich ernsthaft mit dem
Okkultismus beschäftigen.“
„Für Sie scheint das auch zu gelten, Mr. Benbow.“
„Nennen Sie mich Harold!“, meinte er. „So groß dürfte der
Altersunterschied ja wohl nicht sein...“ Ich lachte.
„Gut“, sagte ich. „Aber ich nennen Sie nur dann Harold, wenn
Sie mich Linda nennen!“
„Ein hübscher Name.“
„Sie sind Privatgelehrter...“
„Nun, man kann es so ausdrücken.“
„Ich frage mich, wie Sie sich dann eine Villa wie die, in der
Sie und Ihre Schwester leben, leisten können...“
„Glücklicherweise haben wir von unseren Eltern ein nicht
unbeträchtliches Vermögen geerbt, dass es uns ermöglicht, einen
gewissen Lebensstil aufrechtzuerhalten...“
„Beneidenswert!“
„...und außerdem halte ich recht gut bezahlte Vorträge und
Seminare, werde für Übersetzungen und dergleichen herangezogen...“
Er zuckte die Schultern. „Jedenfalls möchte ich mich nicht
beklagen.“
„Wozu brauchen Sie von Schlichtens Absonderlichen Kulte?“ Er
lachte kurz auf. „Nicht gerade eine Gute-Nacht-Lektüre, nicht
wahr?“
„Sie sagen es, Harold!“
Wir kamen an eine rote Ampel und so konnte er den Kopf zu mir
hinwenden. Er sah mich an. „Studien...“, meinte er dann
nichtssagend.
„Was für Studien?“
„Ist es nicht ein viel zu schöner Abend, um sich über solche
Dinge zu unterhalten, Linda?“
Ich lächelte. „Meine Fragerei geht Ihnen wohl auf die Nerven,
Harold?“
„Ach, wissen Sie...“
„Tut mir leid. Das ist eine Berufskrankheit, von der man wohl
nicht verschont bleibt, wenn man in meinem Job tätig ist. Ich
hoffe, Sie verzeihen mir!“
„Aber Linda! Was für eine Frage!“
„Es freut mich, dass Sie das so sehen“, erwiderte ich
lächelnd. „Sie werden nämlich wohl damit rechnen müssen, dass ich
rückfällig werde!“
16
Harold machte mir die Tür auf, nachdem er den Wagen in einer
Seitenstraße geparkt hatte. Dies war ein Teil von London, in dem
ich mich nicht besonders auskannte. Aber bei einer derart riesigen
Stadt war das eigentlich auch kein Wunder.
„Kommen Sie, Linda“, sagte er und bot mir seinen Arm. Ich
hakte mich bei ihm unter.
„Ist es weit?“
„Nur ein paar Schritte.“
„Das ist gut. Es ist nämlich ziemlich kalt geworden!“
„Wir sind gleich da!“
Wir bogen in eine belebtere Straße ein, in der grelle
Leuchtreklamen aufblinkten und für diese Zeit noch erstaunlich
viele Passanten unterwegs waren. Aus dem Lokal, in das er mich
ausführen wollte, klang dezente Jazzmusik heraus und schon nachdem
wir die ersten Schritte durch die Tür gemacht hatten, ahnte ich,
dass meine Garderobe nicht gerade dem entsprach, was hier üblich
war...
Ich trug Jeans und einen praktischen Sweater, während man hier
auch im Cocktailkleid nicht unbedingt zu fein gewesen wäre.
„Sie werden sich schrecklich mit mir blamieren, Harold“, sagte
ich, nachdem der Ober uns die Mäntel abgenommen hatte. „Wenn ich
eine Ahnung gehabt hätte, welchen Rahmen dieses Essen haben soll,
dann hätte ich mich vorher noch umgezogen...“
Er sah mich an.
Sein Lächeln war charmant und hatte etwas Herausforderndes,
das mir sehr gefiel.
„Machen Sie sich über Ihr Äußeres keine Gedanken, Linda! Sie
sehen einfach bezaubernd aus!“
„Aber...“
Er legte mir den Finger auf die Lippen.
„Über Komplimente diskutiert man nicht. Man nimmt sie einfach
an! Okay?“
„Für einen staubtrockenen Altsprachler und Archäologen können
Sie aber recht gut Süßholz raspeln!“
„Das mit dem 'staubtrocken' ist ja auch ein reines Vorurteil -
oder nicht?“
„Sie haben mich heute davon überzeugt, Harold.“ Ein dunkel
gekleideter Ober brachte uns zu unserem Tisch, den Harold
offensichtlich vorher bestellt hatte. Kerzen wurden
entzündet.
Der richtige Rahmen für ein romantisches Diner, ging es mir
durch den Kopf. Das musste man Harold wirklich lassen. Er hatte
Stil.
Wir setzten uns und er nahm vorsichtig meine Hand. Dabei sah
er mich fast beschwörend an. Den Zauber seines Blickes konnte ich
nicht widerstehen. Ich wollte es auch gar nicht.
„Erzählen Sie mir von sich“, forderte er. „Ich habe einige
Ihrer Artikel gelesen. Sie befassen sich oft mit dem
Übersinnlichen...“
„Das ist richtig.“
„Was fasziniert Sie so daran?“