Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Bathranor Books, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress
Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing
sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
Folge auf Facebook:
https://www.facebook.com/alfred.bekker.758/
Folge auf Twitter:
https://twitter.com/BekkerAlfred
Zum Blog des Verlags!
Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!
https://cassiopeia.press
Alles rund um Belletristik!
Der Dämon von Saint Morn: Gruselkrimi: Mystic High
School
von ALFRED BEKKER
Der Dämon von Saint Morn – Gruselkrimi: Mystic High
School
Willkommen an der Mystic High School – wo der Nebel dunkle
Geheimnisse birgt und die Glocke im Morgengrauen Unheil verkündet!
Als seltsame Zeichen am Strand auftauchen und ein Toter mit Salz im
Mund gefunden wird, geraten Brian und seine Freunde in einen
Strudel aus Visionen, okkulten Symbolen und geisterhaften
Erscheinungen. Ein uralter Dämon, der durch Spiegel und Bilder
Einfluss nimmt, bedroht die Schule – und nur Mut, Zusammenhalt und
die Kraft der eigenen Namen können ihn aufhalten.
Tauche ein in einen fesselnden Mystery-Thriller voller
Spannung, Magie und Gänsehaut. Perfekt für Fans von „Lockwood &
Co.“, „Stranger Things“ und düsteren Internatsgeschichten!
Jetzt bestellen und den Nebel von Saint Morn erleben – wenn du
dich traust!
Spoilerfreies Glossar
Personen
Brian Hunter Hauptfigur der Geschichte. Ein sensibler und
mutiger Schüler, der mit Visionen und übernatürlichen Phänomenen
konfrontiert wird.
Rick Sabano Brians bester Freund. Humorvoll, loyal und oft für
einen lockeren Spruch gut – auch in gefährlichen Situationen.
Rebecca McKee Intelligente und empathische Schülerin mit
heilenden Fähigkeiten. Sie kennt sich mit alten Symbolen und
Ritualen aus.
Nora Baily Nachdenkliche Schülerin mit besonderen mentalen
Talenten. Sie trägt das Druidenmal und kann Gedanken
wahrnehmen.
Alec Murphy Wissbegieriger Bücherwurm und Experte für okkulte
Zeichen und magische Literatur.
Mr. Galway Direktor der Mystic High School. Ein erfahrener und
ruhiger Mann, der mehr über die Geheimnisse der Schule weiß, als er
zunächst verrät.
Link Van Ray Lehrer für Bannzeichen und Schutzmagie. Seine
linke Hand birgt ein besonderes Geheimnis.
Sheriff Clancy Der örtliche Sheriff, der bei mysteriösen
Vorfällen rund um die Schule ermittelt und die Schüler
unterstützt.
Mrs. Monroe Lehrerin mit einer Verbindung zu den
übernatürlichen Ereignissen. Sie spielt eine wichtige Rolle bei der
Bewältigung der Bedrohung.
Smith Hausmeister der Schule, bodenständig und hilfsbereit,
mit einem Sinn für das Übernatürliche.
Oliver Grant Der Gründer der Mystic High School, der als Geist
in den Fluren des Hauses erscheint und den Schülern mit Rat zur
Seite steht.
Malik Idrissi Schüler der Unterstufe, der in die Ereignisse
hineingezogen wird.
Begriffe
Mystic High School Ein traditionsreiches Internat an der Küste
von Saint Morn, das von alten Geheimnissen und magischen Symbolen
durchdrungen ist.
Die Glocke im Nebel Ein mysteriöser Glockenton, der Unheil
ankündigt und mit übernatürlichen Ereignissen in Verbindung
steht.
Messingscheibe Ein okkultes Artefakt mit gravierten Ringen und
Kreisen, das eine zentrale Rolle im Kampf gegen das Böse
spielt.
Quadriga Speculorum Ein magisches Konzept: vier Spiegel, vier
Kreise, vier Stimmen – ein Schutzmechanismus gegen übernatürliche
Bedrohungen.
Spiegelsaal Ein verborgener Raum in der Schule, in dem
Spiegelphänomene und magische Prüfungen stattfinden.
Druidenmal Ein altes Zeichen, das besondere Kräfte verleiht
und Schutz bietet.
Trickster Die Bezeichnung für die dämonische Bedrohung, die
durch Spiegel, Bilder und Hände Einfluss nimmt.
Resonanzfalle Magische Technik, um gefährliche Klänge und
Einflüsse abzuwehren oder umzuleiten.
Spiegelkamm Ein seltenes magisches Artefakt, das mit
Spiegelbildern und Erinnerungen in Verbindung steht.
Bannzeichen Magische Symbole, die zum Schutz vor
übernatürlichen Kräften eingesetzt werden.
Stifterkinder Die Kinder auf den alten Porträts der Schule,
die mit der Geschichte und den Geheimnissen von Saint Morn
verbunden sind.
Kapitel 1: Die Glocke im Nebel
Die See lag schwarz und unbewegt unter einem Mond, der wie ein
blinder, erloschener Blick am Himmel hing. Kein Wind, nur die
trägen Atemzüge der Brandung, die den Schaum an die schartigen
Klippen der Saint-Morn-Küste sabberten. Und etwas anderes: ein Ton.
Tief, kehlig, von irgendwo draußen im Nebel. Eine Glocke, die kein
Leuchtturm besaß.
Dreimal schlug sie. Langsam. Und in den Pausen schien die
Nacht den Atem anzuhalten.
Auf dem nassen Sand am Fuße der Klippe zeichnete sich eine
Spur ab, die niemand gelegt haben konnte, weil niemand zu sehen
war. Salzwasser tropfte, wo nichts stand. Dann löste sich aus dem
Nebel ein Schatten. Ein Mann trat hervor, als würde die See ihn
ausspucken. Seine Kleidung klebte an ihm wie schimmlige Haut.
Muschelscherben steckten in seinem krustigen Kragen, und sein Blick
war so leer wie der Mond – leer und doch fragend, als suche er
etwas, das er verloren hatte. Er bewegte sich steif, aber
zielstrebig, und wenn seine Fersen den Sand verließen, blieb in der
Spur kein Abdruck von Zehen zurück. Nur stumpfe Kanten. Wie die
Enden abgebrochener Kerzen.
Er blieb stehen. Hob den Kopf. Lauschte. Die Glocke schlug
noch einmal, näher jetzt, obwohl das Meer unverändert lag. Der
Mann, der nicht atmete, öffnete den Mund. Etwas Schwarzes kroch
hervor. Tang, der sich wie Zungen über den nassen Strand
schob.
Dann drehte er sich und blickte hinauf, entlang der
zerrissenen Kante des Klippenweges, dorthin, wo hinter den
Windschutzhainen aus verwachsenen Kiefern die grauen Dächer der
Mystic High School von Saint Morn schliefen. Der Mann lächelte. Es
sah aus, als würden alte Nähte aufspringen. Er griff in die Tasche
seines durchnässten Mantels und holte etwas hervor: eine
Messingscheibe, verkrustet mit Salz, matt. Darauf eingraviert –
drei ineinander verschlungene Ringe und ein vierter, krumm
eingeritzter Kreis, als hätte man ihn hastig hinzugefügt. Seine
Finger, blau und aufgedunsen, strichen über das Zeichen.
„Übles dem Übel“, flüsterte er, aber kein Atem trug die
Worte.
Dann begann er, die Klippe hinaufzusteigen.
„Hörst du das?“
Brian Hunter fuhr hoch. Der Ton hing noch in seinen Ohren, so
real, dass er ihm geradezu in den Zähnen vibrierte. Eine Glocke,
die von Wasser her kam. Und dahinter – die Ahnung eines Namenlosen,
das aus einem Spiegel blickte.
„Brian?“
Rick Sabano steckte den Kopf durch die Tür des Zimmers im
Westflügel. „Wenn du jetzt schon im Sitzen schläfst, wird’s schwer
mit Fletcher erste Stunde. Oder bist du nur in Gedanken mal kurz
verreist?“
„Eine Glocke“, murmelte Brian. „Im Nebel.“
Rick verzog den Mund. „Klingt romantisch. Bis auf den Nebel.
Was ist los?“
Brian fuhr sich über das Gesicht, als könnte er die Bilder
abwischen, die noch auf der Innenseite seiner Augenlider klebten.
Ein Strand. Ein Mann. Salzwasser, das nach Eisen schmeckte. Und ein
Zeichen, das er viel zu gut kannte.
„Ich weiß nicht“, sagte er. „Vielleicht … vielleicht erst nach
dem Frühstück.“
„Galway hasst es, wenn man mit leerem Magen Visionen hat“,
meinte Rick und verschwand wieder. „Der sagt immer: ‚Erst Brot,
dann Bannspruch!‘ Beeil dich.“
Brian lächelte krumm. In Wahrheit wusste er nur eines: Die
Glocke hatte ihn nicht zufällig erreicht. Und der Schatten im Nebel
war genau auf jenen Ort zugestiegen, der in diesen seltsamen Tagen
sein Zuhause geworden war.
Der Speisesaal war voll von Stimmen, die wie Murmeln unter dem
Gewölbe zusammenflossen. Der Geruch nach Kaffee, Haferbrei und
Orangen marmelte sich mit dem eigenartigen, trockenen Duft alter
Bücher, die aus irgendeiner unbenannten Ecke des Hauses immer ihren
Weg in die Luft fanden. Rebecca McKee saß neben Nora Baily; beide
beugten sich über ein Tablet, auf dem ein Artikel über
„ungewöhnliche Gezeiten an der Massachusetts-Küste“ geöffnet
war.
„Seit drei Nächten“, sagte Rebecca, ohne aufzublicken, als
Brian sich setzte. „Fischer berichten von Schlägen im Nebel. Keine
Boje, kein Schiff. Kein Leuchtturm in Sicht.“
„Ich krieg auch drei Nächte lang Schläge, wenn ich Fletchers
Hausaufgabe vergesse“, entgegnete Rick und füllte seinen Teller,
als wäre der Krieg ausgebrochen.
Nora’s meergrüne Augen wanderten kurz, fast unauffällig, über
Brians Gesicht. Dann zog ein Schatten über ihre Stirn, und das
verschlungene Zeichen dort – das Druidenmal – trat einen Hauch
deutlicher hervor.
„Was?“, fragte Brian.
„Du riechst nach Salz“, sagte sie leise.
„Ich war nicht am Meer“, sagte Brian und hörte gleichzeitig,
wie absurd das klang, hier, fünf Gehminuten von der Promenade, die
morgens schon die ersten Touristen auszuspucken begann. Aber der
Geruch war nicht der ordentliche, blanke Salzton von sauberem Wind,
sondern dieses metallische Etwas, das in alten Hafenseilen
hängt.
Alec Murphy tauchte auf, pustend, mit zwei Büchern unterm Arm.
Eines davon trug brüchige, goldene Lettern: „Von Borsody: Zeichen
der geheimen Macht“. Das andere war ohne Titel, aber in das Leder
der Bindung war ein Kreis eingeritzt, in dem winzige, unleserliche
Zeichen wie Fische schwammen.
„Ihr habt es gelesen?“, fragte Alec, ohne Begrüßung. „Der
Hafen hat heute Nacht einen Mann gefunden. Sheriff Clancy war dort.
Der Körper war …“ Er senkte die Stimme. „… trocken.“
„Wie trocken?“, fragte Rick mit vollem Mund.
Alec setzte sich. „So, als wäre das Wasser aus ihm
herausgekocht. Kein Blut, nur Salzspuren an den Nägeln. Und – das
ist das Seltsame – Sand in den Schuhen, aber keine Spuren an den
Zehen. Er trug die Uniform des Hafenamtes. Und in seiner
Manteltasche …“
„… eine Messingscheibe“, sagte Brian. Es war draußen, bevor er
darüber nachdenken konnte. „Drei Ringe. Ein vierter
dazugekratzt.“
Vier Köpfe fuhren herum. Selbst Nora brauchte eine Sekunde, um
in seinen Gedanken hinterherzukommen, so schnell war das
gekommen.
„Woher weißt du das?“, fragte Rebecca.
„Er hat sie gehabt, als er die Klippen hochkam“, sagte Brian.
„Es war noch dunkel. Der Nebel …“ Er brach ab. „Vision.“
Rick legte die Gabel beiseite. „Ich kriege Pickel, wenn du
‚Vision‘ sagst. Meistens heißt es ‚Wir rennen gleich irgendwohin
und fast stirbt jemand‘.“
„Wenn dir das nicht passt, kannst du ja später im Bett
bleiben, wenn wir wieder fast sterben“, murmelte Nora und stieß
Rick leicht in die Seite.
„Clancy hat angerufen“, sagte in diesem Moment eine Stimme,
die bei den meisten Gesprächen in der Schule eine spezifische Art
Ruhe herstellte. Mr. Galway war an den Tisch getreten, in der Hand
eine Tasse, an deren Rand er nie trank. „Mister Hunter, Miss McKee,
Mister Sabano, Miss Baily, Mister Murphy – in mein Büro, wenn Sie
aufgegessen haben. Es gibt … Unstimmigkeiten.“
„Unstimmigkeiten?“, wiederholte Nora. „Das Wort nehmen Sie für
eine globale Apokalypse oder wenn jemand die Schülerküche in die
Luft jagt.“
„Ich habe heute Vormittag noch eine Konferenz“, sagte Galway
und sah sie über die Rand seiner Lesebrille an, als wären seine
Augen zwei sehr kleine, gerade entdeckte Planeten. „Verschwenden
wir keine Zeit.“
Galways Büro war so gedämpft wie immer; der Schaumstoff an der
Tür schluckte jeden Klang, und doch hatte Brian den Eindruck, dass
jedes Zucken seiner Lungen bis in die letzte Faser des Raumes
kroch. Der Direktor stand am Fenster, die Hände auf dem Rücken
verschränkt. Auf dem Tisch lag ein Beutel aus durchsichtigem
Plastik; darin glomm bräunlich-matt eine Messingscheibe.
„Sheriff Clancy ist so freundlich, uns Fundstücke zu
überlassen, wenn die gewöhnliche Forensik abwinkt“, sagte Galway.
„Wir sind nicht die Polizei. Aber wir haben Augen für Dinge, die
zwischen den Dingen liegen.“
Er hob die Scheibe aus dem Beutel, als würde er ein Insekt mit
zu vielen Beinen anheben, das aber nicht fliehen konnte.
„Sie kennen das Zeichen.“
„Die drei Ringe sind unseres“, sagte Rebecca, ehe Alec Luft
holen konnte. „Der vierte …“
„Ist der Fehler im Bild“, beendete Alec. „Oder eine
Behauptung. Jemand will die Ordnung der drei … aufbrechen.
Ergänzen. Überbieten. Die Vier ist unter Okkultisten …“ Er stockte,
denn man erklärte Galway ungern Grundsätzliches. „Die Vier ist
Stabilität. Oder Käfig. Oder die Erde. Der Kreis ist ein Spiegel.
Vier Spiegel ergeben einen Schacht. Wer in einen Schacht blickt,
sieht viele Gesichter, bis keins mehr seins ist.“
„Ein Spiegel“, wiederholte Brian leise. Wieder die Glocke im
Nebel. Und ein Gesicht, das ein Spiegel nur so tat, als wäre es er
selbst, aber wirklich war es … jemand anderes. Etwas anderes.
Galway legte die Scheibe ab. „Heute früh, halb fünf: ein
Hafenaufseher wurde am Strand gefunden. Trocken. In seinem Mund –
Tang, der nicht aus unserer Bucht stammt. Auf seinem Zungenrücken –
kleine Schnitte, wie von Glas. Und sein rechter Zeigefinger war,
hm, ausgehöhlt. Als hätte man etwas aus ihm herausgezogen, das er
an der Fingerkuppe trug.“
„Ein Ring?“, fragte Nora.
„Ein Schlüssel“, sagte Galway. „Zumindest hält Van Ray das für
möglich.“
Als der Name fiel, ging eine kaum merkliche Welle durch die
Anwesenden. Van Ray, mit seiner mumienhaften Gründlichkeit; Van
Ray, der mit Dämonen sprach und sie mit den Augen maß wie der
Schlachter den Rücken eines Kalbs.
„Mister Van Ray hat sich bereiterklärt, heute Abend eine
Schutzbegehung der Küstenlinie durchzuführen“, fuhr Galway fort.
„Bis dahin …“ Er atmete kurz ein, als hätte er auf dem Weg zum Wort
einen Schmerz gestreift. „Bis dahin möchte ich von euch hören, was
ihr hört.“
„Eine Glocke“, sagte Brian. „Dreimal.“
Galway sah ihn lange an. Die Ohrenstöpsel in seiner
Manteltasche zeichneten eine kleine Beule, aber er trug sie
nicht.
„Manchmal“, sagte er, „gibt es hier eine Anomalie. Eine Glocke
im Nebel, die eigentlich nicht geläutet werden kann, weil kein Turm
in Reichweite steht. Wenn sie ertönt, öffnen sich … Kabelstränge
zwischen Orten. Die Toten klettern an ihnen. Oder sie lassen etwas
herab.“
„Von Borsody schreibt über Nebelglocken“, mischte sich Alec
ein und schob das schwere Buch näher an den Tisch. „Eine Art
Signal, das nur in einer bestimmten Wasserluft-Mischung
funktioniert. Er behauptet, die Glocke sei gar kein Klang, sondern
eine Verdichtung von …“
„Später“, sagte Galway. „Jetzt: noch etwas. Der Tote trug in
seiner Brusttasche eine Karte. Und darauf …“
Er schob die Karte über den Tisch. Eine grobe Skizze der
Küstenlinie. Ein Kreuz markierte eine Stelle: Klippenschatten –
direkt unterhalb des Schulgeländes, da, wo die Felsen eine Art
natürliche Grotte bildeten, die bei normalem Wasserstand nicht zu
sehen war.
„Wer geht?“, fragte Galway ohne Umschweife.
Fünf Hände hoben sich. Rick tat so, als hätte seine sich von
allein bewegt. Nora lächelte.
„Gut“, sagte Galway. Er nahm die Messingscheibe wieder auf,
hielt sie zwischen zwei Fingern. „Übles dem Übel“, murmelte er.
„Aber verwechselt nicht Übel mit Nebel.“
„Wir melden uns, bevor es dunkel wird“, sagte Rebecca.
„Oder wenn die Glocke klingelt“, setzte Brian hinzu. Er
wünschte, er hätte es nicht gesagt, denn Galways Blick wurde für
einen Moment tiefer, als seine Augen eigentlich groß waren.
Kapitel 2
Smith, der Hausmeister, stand mit verschränkten Armen vor der
Hintertür des Ostflügels, als wären seine Ellbogen Scharniere und
die Arme zwei besonders kurze, besonders böse Türen. „Ich sag’s
ungern, Kinder“, brummte er, „aber wenn ihr da runtergeht: Seht
euch vor. Vor dreißig Jahren, als ich hier angefangen habe, da gab
es mal …“
„Eine Glocke?“, fragte Nora.
Smiths Gesicht bekam die Farbe von unpoliertem Zinn. „Also
gut. Ich wusste, dass ihr das sowieso wisst. Bringt mir bloß den
Dreck nicht wieder in den Heizungskeller, verstanden? Das letzte
Mal hat’s mir die Rohre versalzt, im wahrsten Sinne des
Wortes.“
„Wir passen auf“, sagte Brian.
Smith rieb sich die Stirn. „Wenn ihr auf halbem Weg merkt,
dass es euch zieht – zurück. Kein Heldentum. Keine beliebten
letzten Worte. Einverstanden?“
„Einverstanden“, sagte Rick. „Außer sie sind besonders
beliebt.“
„Verschwinde, Sabano“, knurrte Smith, und die Tür schwang
auf.
Das Licht an diesem Vormittag war der Art, dass die Welt
wirkte wie eine Bleistiftzeichnung, über die jemand feucht geatmet
hatte. Die Klippen waren dunkle Keile, die in die See stachen.
Möwen glitten, als wären sie ausgeschnitten und an die Luft
geheftet. Der Weg zum Klippenschatten war schmal; er führte an der
gewölbten Rücken der heidekrautfarbenen Felsen entlang, die in
Stufen hinab in das Gurgeln stürzten.
„Hier“, sagte Rebecca und deutete auf eine Stelle, wo das
Gestrüpp zerdrückt war. Fußspuren, die an den Kanten Glanz trugen,
als hätte jemand, der nass gewesen war, hier gestanden. Die Zehen –
wieder fehlten sie. Es war, als hätte man die vorderen Glieder
abgeschnitten und die Stümpfe geglättet.
„Komisch“, murmelte Rick. „Ich hätte schwören können, dass ich
mit zehn Zehen geboren wurde.“
„Bleib bei neun heute“, erwiderte Nora. Sie blinzelte, ein
winziges Spinnennetz aus feiner Feuchtigkeit auf den Wimpern. „Der
Nebel kommt.“
Und er kam. Nicht als weißes Tuch, sondern als feuchte,
langsame, wachsende Anwesenheit, die keine Eile hatte und doch in
Sekundenschnelle alles weltarm machte.
„Brian?“, sagte Rebecca leise. „Hörst du was?“
Er hörte es. Dreimal, schwer, vom Wasser her. Dann noch
einmal, sehr nah – in seinem Kopf. Er spürte, wie Licht an den
Rändern seiner Sicht gerann.
„Ich bin da“, sagte er gegen den Klang. „Ich bin da. Nicht
du.“ Es war ein Trick, den Mister Fletcher ihm gezeigt hatte. Den
eigenen Namen legen wie einen Stein auf die Zunge, wenn ein anderer
Namen in deinen Mund legen will. Nach dem dritten Mal wurde es
leichter. Er atmete. Hörte die wirkliche Glocke – weit draußen, ein
mechanischer, rissiger Ton, vielleicht doch von einem Boot –, die
falsche – in seiner Brust – hielt den Atem an.
„Da“, sagte Alec. „Die Grotte.“
Sie lag wie ein schwarzer Schlund unter der letzten Kante, die
der Pfad ihnen bot. Das Wasser glitt hinein und heraus, schmatzend,
unwillig, als würde es eigentlich lieber stillstehen. An den
Wänden, knapp über der feuchten Linie, die die Flut regelmäßig zog,
waren alte, eingekerbte Zeichen. Nicht alt wie die Flüche der
Fischer, sondern alt wie die Kinder der Puritaner, die Steine
liebten.
„Borsody“, flüsterte Alec, so andächtig, als wäre der Mann
sein Onkel. „Sieh, das hier – das Zeichen für Spiegelung. Und das –
das für Öffnung. Hier …“ Er legte die Hand auf eine Stelle, an der
vier Kreise ineinander geschoben waren. „… und das hier, das ist …
falsch. Ich meine: nicht von der Hand, die den Rest gemacht hat.
Neuer. Schlampiger. Das, was auf der Messingscheibe nachgeritzt
war. Jemand hat die Öffnung verbreitert.“
„Oder einen Ausgang hineingeritzt“, sagte Rebecca. Ihre Finger
fuhren über die Kerben, und Brian sah, wie sie blass wurden.
Heilende Hände, die die Kälte nicht mochten, die aus dem Stein
sickerte.
„Wir sind nicht die Einzigen, die hierher gezogen werden“,
sagte Nora und starrte in den Nebel. „Da kommt was.“
Sie kam – langsam, als hinge sie an unsichtbaren Haken. Eine
Gestalt im Mantel, nasser Saum, die Haare wie Algen. Aber sie
keuchte nicht. Erst als sie nahe genug waren, um die Augen zu
sehen, verrieten diese, dass da jemand lebte, der lebendig war. Die
Augen waren weit, erschrocken, und sie wechselten, rissen auf,
blieben stehen bei …
„Miss Monroe?“, sagte Alec ungläubig.
Mrs. Monroe, die Lehrerin mit dem mondrunden Gesicht und den
unergründlich dicken Brillengläsern, taumelte zwei Schritte und
blieb stehen, als hätten ihre Füße Gewichte. Ihre Brille war weg.
Ihr Haar klebte. Ihre Lippen waren blau. Und in ihrer Rechten hielt
sie – nein, klammerte sie – etwas, das schwer war und alt: eine
Glockenklappe aus Bronze, wie der innere, schwingende Teil einer
Glocke. Sie weinte nicht. Aber die Linien um ihren Mund sahen aus,
als wären sie vom Weinen gemacht.
„Ich habe ihn gehört“, sagte sie heiser. „Die Glocke. Und die
Kinder. Es waren Kinder in der Glocke.“
„Setzen Sie sich“, sagte Rebecca rasch und schob ihr die Jacke
um die Schultern. „Atmen Sie. Langsam.“
Monroe schüttelte den Kopf. „Ich konnte nicht schlafen. Ich
habe …“ Sie schluckte, und Brian spürte das Vibrieren ihrer Kehle,
als wäre es seine. „Ich habe im Spiegel gesehen, wie jemand hinter
mir stand. Ich drehte mich um. Niemand. Im Spiegel – da war er. Er
hielt die Glockenklappe. Ich hatte sie in der Hand, als ich
erwachte. Und dann … dann hörte ich es. Ich bin gegangen.“
„Wer war ‚er‘?“, fragte Brian.
„Ein Mann mit … mit einem stillen Gesicht“, sagte Mrs. Monroe.
„Kein Ausdruck. Und doch – ich wusste, dass er die Kinder ruft. In
den Spiegel.“
„Welche Kinder?“, fragte Nora.
„Die aus den Bildern“, flüsterte Mrs. Monroe. „Die im Gang vor
dem Musikraum. Die dagesehen sind, aber niemand fragt sie, weil sie
seit hundert Jahren dort hängen.“
„Die Stifterkinder“, sagte Alec. „Nachfahren von Oliver Grant.
Die, die damals—“
„Nicht jetzt“, fiel ihm Brian ins Wort. Etwas bewegte sich in
der Grotte. Kein Wasser. Kein Fisch. Ein Schatten von oben. Als
hätte jemand die Öffnung zwischen ihnen und dem Meer umgedreht und
würde jetzt nicht Wasser schicken, sondern … Spiegel.
Auf dem Wasser lag plötzlich eine plane, unbewegte Fläche, die
das Licht nicht spiegelte, sondern schluckte. Brian fühlte, wie
seine eigenen Konturen an den Rändern weich wurden, als wäre er
eine Zeichnung, die jemand mit feuchtem Finger verwischte.
„Anker“, sagte Alec und riss sein Buch auf. „Wir brauchen
Ankerpunkte.“
„Namen“, sagte Brian. „Sagt eure Namen. Laut. Fest.“
„Rebecca McKee“, sagte Rebecca und ihre Stimme zitterte
kaum.
„Rick Sabano, der mit den guten Witzen, die keiner
versteht.“
„Nora Baily. Und wenn mich jemand liest, dann hämmere ich ihm
die Gedanken wieder rein.“
„Alec Murphy“, sagte Alec. „Und ich … ich weiß es nicht. Ich
weiß nur das.“
„Brian Hunter“, sagte Brian, aber die Glocke drang durch
seinen Namen, wie Wasser durch Sand, und hinter seinem Namen hing
etwas, das ihn ziehen wollte. Drei Schläge. Dann ein vierter, der
keiner war, sondern eine andere Sache unter einem gleichen
Mantel.
„Zurück!“, schrie eine Stimme, und erst als Brian herumriss,
merkte er, dass sie ihm hatte gelten sollen. Sheriff Clancy stand
am oberen Ende des Pfades, atemlos, seine Mütze schief. Hinter ihm
– und das war das Unwahrscheinliche – Link Van Ray. Hager, finster,
in einem langen, pechschwarzen Mantel, den er sonst nie trug. In
seiner linken Hand glomm etwas wie blasses, kaltes Feuer.
„Zurück!“, wiederholte Van Ray. „Nicht in die Linie
treten!“
„Welche Linie?“, fauchte Rick, aber in dem Moment sahen sie
sie alle: auf dem Fels, drei fingerbreite, feuchte Streifen, die
aus der Grotte krochen. Sie lagen im Dreieck. Wer hineinträte,
stünde … in einem Schacht.
„Mister Van Ray—“, begann Alec, aber Van Ray sah ihn nur an,
als wäre er ein Junge, der in einem Laden begonnen hatte, die
Zuckerwaren abzulutschen.
„Später“, sagte er scharf. Er hob die linke Hand; das Licht
darin schmerzte die Luft. Mit der anderen skizzierte er eine
rasche, spitze Bewegung, die sich in den Fels zu graben schien,
ohne ihn zu berühren. Der Nebel zog an, wie eine Lunge, die hustet.
Die Wasserfläche in der Grotte runzelte sich, als wäre sie alt
geworden.
„Hört ihr?“, keuchte Mrs. Monroe. „Die Kinder. Sie … sie hören
auf.“
Die Glocke schlug ein letztes Mal. Nicht draußen, sondern in
jeder Rippe. Dann Stille. Aber es war keine freundliche Stille.
Eher die Art, die etwas verheißt.
Clancy stieg keuchend den Rest des Weges herunter, wobei er
aussah, als hätte er zehn Jahre zu wenig Sportschuhe getragen. „Zum
Teufel mit euren Schulspirenzchen“, murmelte er und nickte Mrs.
Monroe zu. „Alles in Ordnung, Ma’am? Ich hätte nicht gedacht, dass
ich mal einen Lehrer aus dem Meer fische.“
„Ich war nicht im Wasser“, sagte Mrs. Monroe. „Das Wasser war
… in mir.“
„Nicht hilfreich“, brummte Clancy. „Van Ray?“
Der schweigsame Lehrer ließ die Hand sinken. Das kalte Licht
erlosch, als hätte es nie gelebt. Seine Augen – graue, präzise
Schnitte – wanderten über die Zeichen an der Felswand. Kurze,
knappe, fast unmerkliche Nicke begleiteten sie.
„Jemand hat das Tor geöffnet“, sagte er. „Nicht das große.
Nicht das, das die Ritter des Heiligen Lichts vor Jahrhunderten
verschlossen haben. Ein Nebenpfad. Schlampig gemacht. Aber
wirkungsvoll genug, um etwas durchzulassen, das keine Körper
braucht.“
„Wie zum Beispiel Glockentöne“, sagte Rick.
„Wie zum Beispiel Spiegelungen“, korrigierte Van Ray. „Und die
Dinge, die sich darin sammeln, wenn man lange genug
hineinsieht.“
Er drehte den Kopf, als hätte er plötzlich sehr genaue
Messgeräte im Nacken. Sein Blick traf Brian. Nicht hart.
Prüfend.
„Sie haben es gehört“, sagte Van Ray. Es klang nicht wie eine
Frage.
„Ja“, sagte Brian. „Aber ich weiß meinen Namen.“
„Das ist ein Anfang“, nickte Van Ray. „Sie alle gehen jetzt
zurück. Mister Murphy – Sie holen mir aus dem geheimen Teil der
Bibliothek die ‚Ciropäische Klangtafel‘, Band II. Nicht Band I.
Band I ist unbrauchbar – Druckfehler im Abschnitt über
Resonanzfallen. Miss McKee – Sie bleiben bei Miss Monroe, bis die
Farbe in ihrem Gesicht zurück ist. Miss Baily – Sie lassen die
Gedanken der Anwesenden da, wo sie sind.“
„Ich nehme das als Kompliment“, sagte Nora.
„Sie nehmen es als Befehl“, entgegnete Van Ray ohne Wärme.
„Mister Sabano – Sie gehen mit Clancy in den Hafen und lassen sich
die Fundstücke zeigen. Keine Berührungen ohne meine Anweisung. Und
Mister Hunter …“ Er schwieg. Einen Augenblick lang nur. „Mister
Hunter, Sie bleiben auf meinem Radar.“
„Ist das eine Drohung?“, fragte Brian.
„Eine Vorsichtsmaßnahme“, sagte Van Ray. „Ich habe schon
einmal einem Jungen zugesehen, wie er sich in einer Glocke verlor.
Das war … unschön.“
Clancy räusperte sich. „Wenn wir schon dabei sind, uns
gegenseitig zu lieben: Ich habe noch etwas, das ich euch nicht
vorenthalten will.“ Er kramte in seiner Jacke, zog ein
durchsichtiges Tütchen heraus. Darin – ein Splitter. Dünn, gläsern,
milchig. An einer Kante klebte getrockneter Tang. „Das lag im Mund
des Toten. Ich dachte erst, Glas. Aber die Labormenschen sagen:
nicht Glas. Nicht Sand. Nicht Muschel. Nichts, was sie
kennen.“
Alec hielt die Luft an. „Ein Spiegelkamm“, sagte er tonlos.
„Davon habe ich gelesen. Damit kämmt man … Bilder.“
„Ihr Kinder lest zu viel“, brummte Clancy. „Und ich trinke zu
wenig Kaffee.“
„Dann los“, sagte Van Ray. „Wir treffen uns in einer Stunde in
meinem Unterrichtsraum. Bringt mit, was ihr sagen könnt. Und lassen
wir die Glocke heute schweigen.“
Er drehte sich um und ging den Pfad hinauf. Es war, als würde
der Nebel vor ihm zurückweichen.
„Ich mag ihn nicht“, sagte Rick, als sie später den Kiesweg
zum Hauptportal zurückgingen, wo über dem Ebenholz die drei
messingfarbenen Ringe lagen und darunter, ein wenig schief, das
Motto: Übles dem Übel.
„Das hat nichts mit Mögen zu tun“, sagte Rebecca. „Er weiß
Dinge. Und manchmal sind die Dinge, die er weiß, nicht nett.“
„Er wusste vorhin, dass ich fast …“, begann Brian, aber der
Satz zerriss, weil in seinem Kopf, plötzlich, nicht die Glocke
schlug, sondern etwas anderes: ein leiser, schriller, metallischer
Laut, so dünn, dass er mehr wehtat als krachend. Ein Lachen. Kein
menschliches. Nicht ganz.
„Was?“, fragte Nora sofort, scharf. Sie fasste Brians Hand,
und für einen Augenblick sah er in ihren Augen nicht das meergrüne
Schimmern, sondern etwas Dunkles, Tiefes, das nicht von hier war.
Dann blinzelte sie. Und es war fort.
„Nichts“, sagte Brian. „Nur … nichts.“ Er war kein guter
Lügner. Aber er konnte, wenn es sein musste, etwas
beiseiteschieben, bis er allein damit war. Später. Bald.
„Wir sehen uns in einer Stunde“, sagte Alec. Er hielt sein
Buch wie eine Waffe. „Und Brian – falls du bis dahin …“
„Ich kenn meinen Namen“, sagte Brian. Und er dachte ihn noch
einmal, lautlos, innen. Brian Hunter. Brian. Ich.
Der Wind kam vom Meer und roch nach Metall.
Oben in einem der Flure schwang kurz der Kronleuchter, ohne
dass ein Luftzug spürbar gewesen wäre. Ein Hauch von Sternenstaub
in der Luft, der keiner war. Eine Spur, die hineinführte,
geradewegs in das Herz des Hauses, zu Türen, die nie knarrten, weil
sie lieber flüsterten.
Die Glocke schwieg. Aber das war nur eine Art von Ruhe.
Kapitel 3
Im leeren Klassenzimmer, das Mr. Van Ray für seine
„Materialkunde der Bannzeichen“ benutzte, lag eine Karte auf dem
Pult. Groß, alt, Grautöne, Linien, die man eher ahnte, als dass man
sie sah. Jemand hatte mit feiner, pechschwarzer Tinte drei kleine
Kreuze gesetzt: Hafen. Klippenschatten. Und – Brian blinzelte – der
Spiegelsaal.
„Seit wann haben wir einen Spiegelsaal?“, fragte Rick.
„Seit 1690“, sagte Alec, der die Karte mit der fast zärtlichen
Ernsthaftigkeit eines Restaurators betrachtete. „Oliver Grant ließ
einen bauen. Nicht um sich selbst darin zu bewundern, sondern als …
Testkammer. Für Spiegelwesen. ‚Man erkenne den Feind in seinem
eigenen Auge‘, schrieb er. Er ist im Ostflügel. Lange zugesperrt.
Ich dachte immer, das sei nur eine Geschichte.“
„Es sind immer nur Geschichten“, sagte Nora. „Bis sie dich
anschauen.“
Brian ließ die Finger über den Rand der Karte gleiten. Sie
fühlte sich kühl an, ein wenig feucht. Als hätte sie atmen gelernt.
Er hob die Hand wieder. An seinen Fingerkuppen glitzerten winzige,
helle Körnchen.
„Salz“, sagte er.
„Die Glocke hat uns Markierungen dagelassen“, murmelte
Rebecca. „Oder ein anderes Nebelwesen.“
Die Tür ging auf. Mr. Van Ray trat ein. Hinter ihm – niemand.
Kein Geräusch. Nur der Geruch nach … Kreide? Altem Stein? Und
etwas, das, seltsamerweise, nach kaltem Tee roch.
„Beginnen wir“, sagte er. „Mit dem, was man nicht hört, wenn
die Glocke schlägt.“
Er hob die Kreide. Sie kratzte über die Tafel. Ein Kreis
wuchs. Ein Spiegel darin. Vier kleine, klumpige Punkte an seinen
Rändern. „Es gibt Dinge, die wollen nicht, dass man ihnen zuhört“,
sagte Van Ray. „Also sprechen sie, indem sie dich sprechen lassen.
Heute nicht.“
Er drehte sich um. Seine grauen Augen suchten Brian. Nicht
feindselig. Nicht freundlich. Wie die eines Chirurgen.
„Heute hören wir uns selbst.“
Die Glocke schwieg. Aber der Nebel am Rand der Welt bewegte
sich. Und am Hafen, wo Sheriff Clancy später die Schublade in
seinem kleinen, schlecht gesicherten Beweismittelraum öffnen würde,
würde er finden, dass die Messingscheibe verschwunden war. An ihrer
Stelle – ein Splitter. Dünn. Milchig. Ein Spiegelkammzahn.
Und irgendwo in Saint Morn hingen vier Kinderporträts schief.
So schief, als hätten ihre Gesichter die Richtung gewechselt.
Das Übel hatte den Weg gefunden. Das Übel würde empfangen. Und
antworten.
Brian schrieb innerlich seinen Namen noch einmal. Er würde ihn
brauchen. Bald. Sehr bald.
„Was hören wir von uns selbst?“, fragte Nora skeptisch. „Außer
das übliche Rauschen, wenn die Gedanken alle gleichzeitig
reden.“
„Genau das“, entgegnete Van Ray. „Ihr lernt, das Rauschen zu
differenzieren. Eigener Klang, fremder Klang, Spiegelklang. Mister
Murphy?“
Alec räusperte sich und blätterte seelenruhig in seinem Buch,
als wären draußen keine Häfen, keine Glocken und keine toten
Männer. „Franz von Borsody beschreibt drei Arten von
Resonanzfallen. Die erste arbeitet mit einfachen Gegensignaturen –
ein Ton, der den anderen auslöscht. Die zweite mit Umlenkung – man
schickt den Ton dahin zurück, wo er herkommt. Die dritte …“ Er
stockte, zögerte eine Sekunde, als habe er plötzlich begriffen,
dass Worte manchmal Türöffner sind. „… die dritte zieht die Stimme
in ein festgelegtes Bild. Ein Spiegelbild. Wer hineinruft, sieht
sich selbst – und verliert den Mund.“
„Ciropäische Klangtafel, Band II“, bestätigte Van Ray. „Der
Fehler vieler Anfänger besteht darin, dass sie glauben, sie könnten
Spiegelklänge mit Lärm übertönen. Das geht schief. Man gibt den
Spiegeln nur mehr Material. Wer hier sitzt, tobt nicht. Wer hier
sitzt, hört.“ Er ließ die Kreide sinken. „Schließt die Augen. Ihr
atmet. Wenn ihr euren Namen denkt, hört ihr den Klang dahinter. Der
ist eurer. Wenn ihr die Glocke denkt, ist es nicht eurer. Lasst ihn
laufen. Sagt nicht ja, sagt nicht nein. Lasst ihn laufen.“
Sie gehorchten, selbst Rick – der nach zehn Sekunden eines
jener Geräusche machte, die seine Mutter zuhause „Sitzhibbeln“
genannt hätte, und dann doch still wurde. Brian legte den Namen auf
die Zunge, weich. Brian. Er hörte das Wort, aber dahinter lag
etwas, tiefer: ein dunkler, angenehmer Ton, wie der, den eine große
Katze macht, wenn sie schläft – nicht Schnurren, eher ein
Ruhebrummen. Er legte das Ohr darauf. Es brannte nicht. Es war
seiner.
Dann ließ er die Glocke nahe kommen. Zuerst kam sie als Bild:
Nebel, die See. Dann als Ton: dreimal, schwer. Der vierte Schlag –
er riss, schnitt, hatte Zacken. Brian sah das Bild, in das er fiel,
wenn er sich hineinfallen ließ: nicht Wasser; nicht Glas; etwas,
das wie Wasser tat und wie Glas roch. Er ließ es laufen. Er sagte
weder ja noch nein. Es floss zurück.
„Genug“, sagte Van Ray nach ein paar Minuten. „Wir werden das
später brauchen.“
Die Tür ging auf, als hätten Scharniere Angst davor, zu
quietschen, wenn er im Raum war. Sheriff Clancy steckte den Kopf
herein. „Ich hab etwas für Sie, Van Ray. Und etwas, das Sie alle
wissen sollten.“ Er trat ein, machte die Tür hinter sich zu. „Die
Messingscheibe – weg. Aufgebrochen ist nichts. Ich war fünf Minuten
draußen, als ich mir neuen Kaffee holte. Als ich wiederkam, war die
Schublade zu. Und das Tütchen leer. Dafür lag das da drin.“
Er hielt ein kleines Metallstück in die Höhe, zwischen Daumen
und Zeigefinger. Es war ein Zahn – nicht vom Kamm, wie Brian im
ersten Moment dachte, sondern eine winzige, gezackte, unregelmäßige
Krempe, als wäre von einer größeren Scheibe der Rand
abgebrochen.
„Ein Spiegelrand“, sagte Alec leise.
„Oder jemand will, dass wir das glauben“, murmelte Nora.
Van Ray hob die Hand. „Danke, Clancy. Legen Sie es hierher.“
Er wies auf die Karte. „Und, wenn ich so frei sein darf: Trinken
Sie den Kaffee in meinem Büro. Mein Raum ist …“ Er suchte kurz, und
zum ersten Mal haftete an einem Wort von ihm ein Anflug von Humor.
„… weniger beliebt in der Geisterszene.“
Clancy schnaubte. „Wenn die Geister Geschmack haben,
meinetwegen. Ich geh in die Küche. Smith redet mit mir, wenn keiner
da ist. Das ist ein Erlebnis.“ Er nickte in die Runde. „Wenn ihr
noch mal rausgeht: Ruft mich. Ich will nicht noch ’nen
Toten.“
„Wir rufen“, sagte Rebecca ernst.
Clancy ging.
Van Ray betrachtete den Metallzahn, ohne ihn zu berühren. Dann
zog er ein kleines Tuch aus der Tasche, griff das Stück damit auf
und drehte es gegen das Licht. „Spiegelrand“, bestätigte er. „Alt.
Nicht hier gegossen. Und – hm. Salzausblühungen.“
„Spiegelsaal“, sagte Alec. „Wenn die Scheibe fehlt, ist das
ein Hinweis. Oder ein Zwang.“
„Wie auch immer“, sagte Van Ray und legte das Stück wieder ab.
„Wir gehen dort hin – nicht alle. Ich will keine Klasse verlieren,
weil die eine Hälfte in eine Wand gelaufen ist. Miss McKee, Mister
Hunter, Miss Baily – mit mir. Mister Murphy, Mister Sabano – Sie
gehen in die Bibliothek. Band II. Suchen Sie außerdem: ‚Katalog der
Bildfalle‘ von M. Losada, 1898.“
„Losada?“, wiederholte Alec interessiert. „Buenos
Aires?“
„Ja“, sagte Van Ray. „Die Werwolf-Plage. Und die Spiegel, die
damals …“ Er brach ab. „Später. Gehen wir.“
Der Gang zum Ostflügel schien an diesem Tag länger. Auf den
Wänden hingen die Porträts, die Mrs. Monroe „die Bilder der
Stifterkinder“ genannt hatte: ernste Gesichter in steifen Kleidern,
Jungs mit Bändchen an den Krägen, Mädchen, deren Hände zu groß für
ihre zarten Finger wirkten, weil der Maler die Finger einzeln
gezählt hatte. Brian hatte die Bilder nie beachtet. Heute blieb er
stehen.
„Sie hängen schief“, sagte er leise.
Sie hingen nicht nur schief. Sie hingen anders. Gesichtswinkel
hatten sich ein winziges, aber unheimliches Stück verändert. Ein
Mädchen, das Brian gestern noch direkt angesehen hatte, blickte nun
einen Punkt über seinem Ohr an. Ein Junge, der früher die Hände auf
dem Schoß gefaltet hatte, lag jetzt in seinem eigenen Schatten, als
läge dort etwas, das er versteckte.
„Sieh nicht zu lang hin“, warnte Nora. „Sie gucken
zurück.“
„Sie gucken immer zurück“, sagte eine Stimme hinter ihnen,
milde und doch wie Kreide auf Stein. Brian drehte sich um. Oliver
Grant stand in einer Türnische, als hätte er dort schon immer
gestanden: der hohe Hut, der schwarze Rock, der weiße Kragen, der
Stock mit dem silbernen Schädel. Er war – halb sichtbar. Man konnte
die Wand durch ihn sehen, aber sie blieb, wo sie war.
„Mister Grant“, sagte Rebecca erleichtert. „Gut, dass Sie da
sind.“
„Ich bin immer da“, sagte Grant. „Zumindest solange man mich
nicht ruft. Wenn man mich ruft, muss ich höflich sein und
erscheinen. Aber heute …“ Er hob die Hand, unentschlossen, als
schwanke er zwischen zwei Anstandsformen. „Heute bin ich da, weil
etwas hier ist, dass ich lange nicht mehr gefühlt habe. Ein
Spiegel, der keine Reflexion ist. Ihr habt ihn geöffnet.“
„Wir?“ Brian fühlte, wie das Wort einen kleinen Stich der
Ungerechtigkeit in ihm setzte. „Wir haben …“
„Nicht das Tor“, fiel ihm Van Ray knapp ins Wort. „Aber der
Nebel nutzt, was er findet. Oliver?“
Grant verneigte sich knapp. „Mister Van Ray – immer eine
Freude.“ Er sagte es so, dass unklar blieb, ob er es so meinte.
„Wenn ihr in den Spiegelsaal geht: achtet darauf, worauf ihr
tretet. Die Fliesen sind … nicht alle da. Und die, die da sind,
sind manchmal woanders.“
„Herrlich“, sagte Nora. „Ich liebe Häuser, die denken.“
„Dieses Haus denkt nicht“, sagte Grant. „Es erinnert sich. Das
ist schlimmer.“
Kapitel 4
Sie erreichten die Tür, an der in neuem, schnörkellosem
Messing „SPiegelsaal“ stand – das „P“ groß, als hätte jemand beim
Gravieren gezuckt. Van Ray legte die Hand auf das Holz. Er schloss
nicht die Augen. Er hörte mit der Haut.
„Nicht geschlossen“, sagte er. „Nicht ganz. Seht mich nicht
an, wenn ihr eintretet. Seht auf den Boden. Wenn ihr fallt, fallt
nach vorn, nicht zurück.“
„Als wäre das ein Theater“, murmelte Brian.
„Es ist eines“, entgegnete Van Ray. „Eines ohne Bühne.
Geht.“
Die Luft im Spiegelsaal war nicht kalt. Sie war – glatt. Wie
die Haut eines Tieres, das in einem anderen Klima lebt. Der Raum
war rund, fast. Nicht perfekt. Die Wände trugen früher Spiegel,
große Tafeln, in deren Rahmen geschnitzte Weinranken liefen. Jetzt
hingen viele der Rahmen leer. Manche trugen noch Splitter, die sich
bei der leisesten Bewegung in unzählige Bilder brachen. Der Boden
war in Figuren verlegt, die auf den ersten Blick ornamental
wirkten, auf den zweiten Blick aber – waren es Netze. Rauten,
Quadrate, Kreise. Und – Brian blinzelte – einzelne Fliesen, die
leicht heller waren als der Rest, als hätten sie sich erinnert, wo
Licht war.
„Nicht auf die Hellen“, flüsterte Grant. „Die gehen
zurück.“
„Zurück wohin?“, fragte Rebecca.
„In ihr Bild“, sagte Grant. „Und ihr könnt nicht atmen, wenn
ihr ein Bild seid.“
Ein leises, mechanisches Geräusch. Als würde jemand mit einer
unzuverlässigen Hand eine Feder aufziehen. Auf den Rahmen eines der
Spiegel setzten sich vier Kinder. Nicht wirklich. Sie waren dort,
wie Aquarellfarben auf altem Papier dort sind. Blass, mit Kanten,
die zu feucht geworden waren. Und sie lächelten. Nicht falsch.
Nicht böse. Eher … einladend. Ein Mädchen hob die Hand, als winke
sie. Ein Junge legte den Finger auf die Lippen. Dann begannen sie,
ihre Köpfe zu neigen, im Takt. Dreimal. Pause. Dreimal.
„Nicht nachmachen“, sagte Van Ray scharf.
„Ich wollte nur …“, begann Nora, und Brian hatte keine Zeit,
sie zu warnen: eine der hellen Fliesen unter ihrem rechten Fuß
bekam plötzlich Tiefe. Kein Loch. Tiefe. Als hätte man auf dem
Papier, das Boden war, noch ein Blatt gelegt – eins, das Licht
schluckte. Nora stolperte, taumelte. Brian sprang. Eine Hand um
ihren Arm. Ein Ruck an seiner Schulter. Er fühlte, wie etwas seine
Fersen anrührte, zäh und klar wie Gelatine, wie eine Zunge aus
kaltem Glas. Er zog, und sie fielen – vorwärts, wie Van Ray gesagt
hatte, hart auf die rauen, dunkleren Fliesen. Das Glas zog sich
zurück, unwillig.
„Danke“, keuchte Nora. „Ich hätte … da war …“
„Ein Bild von dir“, sagte Grant. „Es hätte dich gerne.“
„Ich hätte mich auch gern“, gab Nora zurück und versuchte zu
lachen. Es klang blechern. „Nur lieber draußen.“
„Seht“, sagte Rebecca. „Da.“
In einem der Spiegel – und er war nicht ganz klar, aber klar
genug – stand Mrs. Monroe. Nicht so, wie sie eben ausgesehen hatte,
nass und zitternd, sondern als jüngere Version ihrer selbst,
strenger, mit einem Buch in der Hand. Neben ihr – man konnte ihn
kaum sehen, aber er war da, als dunkler Umriss – ein Mann ohne
Gesicht. Nicht ohne Gesichtszüge – ohne Gesicht. Das, was seine
Vorderseite sein sollte, war ein glattes, mattes Oval.
„Der aus meinem Traum“, flüsterte Mrs. Monroe, die an der Tür
stehengeblieben war und jetzt nicht wusste, ob sie hinein oder
hinaus treten sollte. „Er hat mir die Glocke gegeben.“
„Die Glocke ist nicht seins“, sagte Van Ray. „Sie ist ein
Werkzeug. Wer sie gibt, will etwas. Oliver?“
„Die Rahmen“, sagte Grant. „Sie sind verbunden. Früher hat man
hier geübt, Spiegelwesen zu erkennen. Wir haben – ich habe …“ Er
schloss kurz die Augen. „Wir haben Kinder hierher gebracht, um zu
sehen, ob sie das Böse sehen konnten. Es war … falsch. Aber wir
wussten es nicht besser. Das Ding mit dem glatten Gesicht … es war
damals schon da. Es hat gelernt, geduldig zu sein.“
„Es will die Kinder“, sagte Rebecca, die plötzlich sehr blass
wurde. „Die von damals. Die von heute. Es ruft nicht nur. Es zeigt
ihnen, was sie gern sähen.“
„Gar nicht so schwer“, murmelte Rick. „Ein bisschen Liebe. Ein
bisschen Mutter. Ein bisschen Gewinnen …“
„Ruhig“, schnitt Van Ray ihn ab. Er hob die linke Hand. Keine
Flamme diesmal. Eine Bewegung, eine Figur, die er in die Luft
zeichnete. Ein flackerndes Muster, das für einen Augenblick auf dem
Spiegel wie Reif aufleuchtete. Das glatte Gesicht wandte sich, als
hätte es ein Geräusch gehört, das ihm nicht galt.
„Alec?“, fragte Brian in den leeren Raum. Als hätte er ihn
gerufen, erschien der schmächtige Junge in der Tür, das
Band-II-Buch an den Brustkorb gedrückt. Er war gerannt. Seine
Brille rutschte ihm fast von der Nase. „Gefunden!“, keuchte er.
„Und Losada. Die Bildfallen. Die dritte Resonanzfalle – man
zeichnet die Gegensignatur direkt auf den Rahmen. Aber man muss …
man muss …“ Er blätterte, und die Seiten raschelten, als wären sie
aus dünnem Holz. „Man muss eine Tonfolge dazu summen. Die falsche
Glocke … dreimal, Pause, dreimal … wir … wir drehen sie um. Dreimal
schnell. Zweimal lang. Es irritiert das Spiegelwesen. Und – wir
brauchen …“ Er hielt inne. „… die Klappe. Eine echte. Ein
Klangkörper.“
„Mrs. Monroe“, sagte Rebecca sanft und trat zu der Lehrerin.
„Die Glockenklappe. Dürfen wir?“
Mrs. Monroe zögerte keine Sekunde. Sie hob die schwere,
bronzegrüne Zunge, als würde sie ein Kind hochheben. „Sie hat mir
den Traum gegeben. Vielleicht nimmt sie ihn zurück.“
Alec zeichnete. Seine Kreide fuhr über Holz, alt, aber nicht
brüchig. Die Linien waren krumm; er war kein Meister – aber er
wusste die Figur. Van Ray stand daneben, und seine Augen, grau und
kalt, hielten die Linien zusammen, als wären sie Stricke. Rick
hielt die Taschenlampe so, dass das Licht nicht in die Spiegel
fiel. Nora, die noch zitterte, als hätte das Glas Finger in ihr
gelassen, summte die Tonfolge nach, die Alec vorgab: dreimal
schnell, zweimal lang. Brian nahm die Glockenklappe, atmete, und
schlug.
Es klang – falsch. Nicht misslungen. Falsch. Ein Ton, der
nicht in diesen Raum gehörte und gerade deswegen genau richtig war.
Er war hart und durstig. Er warf die Luft zurück auf sich
selbst.
Das glatte Gesicht im Spiegel wandte sich ruckartig. Es war,
als zuckte jemand die Tapete ab, hinter der nichts war. Die
Kinderporträts auf den Rahmen flackerten, als hätte jemand eine
Hand durch Wasser gezogen. Die helle Fliese, die Nora beinahe
gefressen hätte, wurde stumpf.
„Noch einmal!“, rief Alec.
Brian schlug. Nora summte. Alec zeichnete den letzten Strich.
Van Ray schnitt eine Bewegung in die Luft, die aussah, als würde er
etwas Zartes zwischen zwei Fingern zerbrechen.
Der Spiegel – der mit Mrs. Monroe – knackte. Nicht in tausend
Scherben. Er bekam einen Sprung, der aussah wie ein Riss in dünnem
Eis. Das glatte Gesicht fiel nicht auseinander. Es zog sich zurück.
Als wollte es das. Als hätte es sich überlegt. Dann war es
weg.
Die Kinderporträts blickten wieder dorthin, wo sie immer
geblickt hatten. Nicht ganz. Aber nah genug, dass man atmen
konnte.
Mrs. Monroe weinte. Nicht laut. Nicht wie eine, die allen
zeigen will, dass sie Schmerz hat. Eher wie eine, die endlich
ausatmen darf.
„Es ist nicht weg“, sagte Van Ray nüchtern. „Wir haben es
irritiert. Es kann nicht mehr hier arbeiten, wie es wollte. Aber es
ist nicht weg.“
„Wir haben ihm die Finger geklemmt“, murmelte Rick. „Ich
nehme, was ich kriegen kann.“
Grant hob den Stock. „Ihr habt heute etwas getan, was die
Meinen früher nur selten konnten: Ihr wart zusammen. Ihr habt nicht
geguckt, wer klüger ist. Ihr habt gehandelt. Das möge man euch
später einmal zugute halten.“
„Wenn es ein später gibt“, sagte Nora und wischte sich die
Stirn.
„Es gibt immer ein später“, sagte Grant. „Sonst wäre ich nicht
hier.“
„Die Messingscheibe“, sagte Alec, als sie den Saal verließen.
„Sie fehlt noch. Und ohne sie bleibt das Tor am Hafen … dünn.
Offen. Man kann hindurchhören. Und vielleicht auch …
hindurchgehen.“
„Wer hat sie?“, fragte Rebecca.
„Jemand mit Zugang zu Clancys Schublade“, sagte Nora. „Oder
jemand, der durch Schubladen geht, ohne sie zu öffnen.“
„Ein Spiegelwesen?“, dachte Brian laut, ehe er sich bremsen
konnte.
„Ein Spiegelwesen nimmt nicht mit“, entgegnete Van Ray. „Es
ersetzt.“
Sie waren an der Porträtgalerie vorbei, als Brian stehenblieb.
Eines der Kinder – ein Junge mit einer zu großen Schleife – hatte
auf seiner Brust ein kleines, mattes Metallplättchen. Es war
gestern nicht da gewesen. Es lag nicht auf der Farbe. Es lag im
Bild. Und es sah aus wie ein Stück von einem Messingrand.
„Das ist unmöglich“, flüsterte Alec. „Oder … sehr
möglich.“
„Man will, dass wir dort suchen, wo Bilder sind“, sagte Van
Ray. „Heute nicht.“
„Abends am Hafen“, sagte Brian, und es hörte sich an, als
wiederhole er jemanden, der in ihm sprach. „Wenn die Glocke
schlägt.“
„Sie wird schlagen“, sagte Van Ray. „Wir werden da sein. Und
wir werden nicht als Bilder gehen.“
Die Stunde bis zum Abend kroch, wie Stunden kriechen, die
wissen, dass sie etwas in sich tragen. Brian saß auf seinem Bett,
Rick gegenüber, der so tat, als spiele er ein Spiel auf dem Laptop,
in Wahrheit aber seit fünf Minuten auf demselben Bildschirm
festhing.
„Du hast’s noch?“, fragte Rick ohne aufzublicken.
„Was?“, fragte Brian, obwohl er genau wusste, was Rick
meinte.
„Dieses Lachen. Dieses metallische. Dieses … du weißt
schon.“
„Nein“, sagte Brian. „Ich höre mich. Nicht immer. Aber oft
genug. Und wenn nicht – dann denke ich meinen Namen.“
„Gut“, sagte Rick. „Ich will nicht, dass du in ein Bild
fällst. Ich hab’s nicht so mit Bilderrahmen.“
„Ich fall nicht“, sagte Brian.
Er lächelte. Es war kein Heldenlächeln. Es war eins, das man
macht, wenn man weiß, dass man gerade etwas behauptet, das man mit
der nächsten Stunde wird beweisen müssen.
Kapitel 5
Draußen rollte der Nebel vom Meer zurück, als hätte die See
sich auf den Bauch geworfen und ließe sich jetzt wieder aufziehen.
In der Küche schloss Smith eine Klappe, die nie richtig schloss,
und murmelte etwas, das wie ein Gebet klang. Im Büro hielt Mr.
Galway die Messerspitze seiner Aufmerksamkeit auf einer Stelle, an
der Luft, die die anderen nicht sahen. Und Link Van Ray stand am
Fenster des Ostflügels, sah in den Spiegelsaal, der jetzt leer war,
und seine linke Hand, in der manchmal kaltes Licht glomm, schloss
sich und öffnete sich, als prüfe er, ob er noch fühlen
konnte.
Sie trafen sich am oberen Ende des Klippenpfades. Clancy trug
seine Mütze diesmal gerade. Mrs. Monroe war nicht dabei. Dafür
stand Oliver Grant im Schatten eines Baumes, als sei dies sein
Platz seit langem.
„Dreimal“, sagte Brian, als die erste Glocke schlug. „Dann
…“
„Dann werden wir sehen, wer ruft“, sagte Van Ray.
Sie gingen hinunter in den Nebel.
Die Grotte wartete. Die See atmete. Der Spiegel auf dem Wasser
legte sich nicht. Die Glocke schlug zum zweiten Mal.
„Wenn er auftaucht“, sagte Alec, „dann haben wir zwei
Möglichkeiten: Wir werfen den Spiegelkammzahn zurück – oder wir
schlagen die falsche Glocke und drehen die Öffnung. Aber …“ Er
lächelte blass. „… die dritte Möglichkeit ist immer die: Wir denken
unsere Namen. Und wir lassen ihn laufen.“
„Und wenn er nicht läuft?“, fragte Nora knapp.
„Dann laufen wir“, sagte Rick. „Nach vorn. Nicht
zurück.“
Die Glocke schlug zum dritten Mal. In der Grotte hob sich
etwas wie eine Hand, aber als es aus dem Wasser kam, war es eine
Fläche. Sie war zu glatt, um Wasser zu sein, zu nass, um Glas zu
sein, und zu dunkel, um ein Spiegel zu sein. Und dahinter, tief, so
tief, dass man meinte, die Tiefe sei eine eigene Welt: ein Gesicht.
Nicht glatt. Nicht wie eben. Ein Gesicht, das in einem Spiegel
gefangen war und das nach vorn drängte. Es war – Brian brauchte
einen Atemzug – sein eigenes.
„Nicht hingucken!“, schrie Nora, aber es war zu spät. Der
Spiegel hatte gesehen, wen er holen wollte.
„Name!“, rief Van Ray, und seine Stimme war eine
Peitsche.
„Brian Hunter“, sagte Brian, laut. Er sagte es noch einmal.
„Brian. Ich.“
Das Gesicht im Spiegel lächelte. Nicht böse. Nicht falsch. Es
sah aus, als würde es sagen wollen: Komm doch. Hier ist es leicht.
Hier ist alles, was du hören willst. Brian spürte, wie seine Füße
nachgaben. Er wollte einen Schritt machen.
Eine Hand packte seinen Arm. Keine menschliche. Kalt. Nass.
Und doch: die Berührung war fest, alt und … gütig. „Nicht der erste
in meiner Familie“, sagte Oliver Grant leise, und es klang, als
spräche er durch sehr viel Zeit. „Nicht der zweite. Aber wenn ich’s
verhindern kann: nicht der nächste. Schlag.“
Alec hob die Glockenklappe. Nora summte, und ihre Stimme war
heute stärker als am Nachmittag. Rick – Rick warf den
Spiegelkammzahn. Nicht in die Fläche. Daneben. Es klang, als hätte
jemand einen dünnen Nervenstrang durchtrennt. Die Fläche zuckte.
Die See holte Luft.
Brian dachte seinen Namen. Er sagte ihn nicht. Er dachte ihn.
Mit der ganzen Kraft dessen, was er war, und mit dem Rest dessen,
was er einmal werden wollte. Er fühlte, wie sich sein Fuß wieder
auf Stein stellte. Kein Fallen. Kein Bild. Stein.
„Noch einmal!“, rief Van Ray, und Mrs. Monroes Glocke schlug
den vierten Schlag, der keiner war, und der Nebel … lachte. Nicht
metallisch. Nicht böse. Ein anderes Lachen. Als hätte man eine Tür
zugeschlagen und ein Kind darin kichern gehört.
Die Fläche sackte zusammen. Nicht weg. Nicht besiegt. Aber
zurück. Das Gesicht, das seines war, löste sich, als würde jemand
eine Zeichnung ausradieren; übrig blieb der Strich. Der war nicht
seiner. Der war der desjenigen, der zeichnete.
„Bis morgen“, sagte eine Stimme, die niemand dort hörte, wo
Stimmen sind. „Wir klingeln wieder.“
„Wir sind da“, sagte Brian, und Van Ray nickte, ohne sich
umzudrehen.
Später, im Dunkel des Schlafsaals, saßen Brian und Rick auf
ihren Betten und hörten der Schule zu. Sie knarrte nicht. Sie
summte. Ein sehr leises, sehr altes Summen.
„Denk deinen Namen“, murmelte Rick, halb im Schlaf. „Ich denk
meinen. Und wenn einer von uns anfängt, Bilder zu essen, tritt der
andere ihm in den Hintern.“
„Abgemacht“, sagte Brian. Er lächelte in die Dunkelheit, und
das Lächeln blieb. Nicht weil nichts geschehen war. Sondern weil
etwas geschehen war, was hielt.
Draußen bewegte sich die See. Der Nebel löste sich in
Strähnen. In einem der Gänge hing ein Kinderporträt wieder gerade.
Nicht alle. Aber eines. Und in Galways Büro lag auf dem Tisch,
neben der alten Karte, ein Messingsplitter, der nicht dorthin
gehörte, und auf seiner Kante saß ein Salzkorn, das aussah wie ein
winziges, in sich geschlossenes Auge.
Übles dem Übel, dachte Brian, und fragte sich, ob das Übel
heute wohl dasselbe war wie gestern. Er dachte seinen Namen. Und
schlief.
Die Glocke schwieg. Aber es war nur eine Art von Ruhe. Morgen
würde sie wieder sprechen. Und sie würden antworten. Zusammen. Wie
heute. Und vielleicht, nur vielleicht, würde das reichen. Für
dieses Mal. Für die nächste Nacht. Für den nächsten Schlag. Doch
der Nebel kannte Geduld. Und sie mussten lernen, sie auch zu
kennen.
Kapitel 6
Der Morgen roch nach nassem Stein und Kreide. Brian war früh
wach. In seinem Kopf lag die Glocke wie ein fernes Gewitter, das
nicht schlägt, aber dennoch verspricht. Er dachte seinen Namen, aus
Gewohnheit, und stand dann auf, ehe Rick sich im Schlaf an den Rand
gemurmelt hätte.
Im Speisesaal wirkten die Tische zu glatt. Mrs. Monroe saß am
Ende des Raums, die Hände um eine Tasse gelegt, obwohl der Tee
längst kalt war. Die Glockenklappe lehnte neben ihr, in ein
Küchentuch gewickelt, als wäre sie ein frisch gebackenes Brot, das
man nicht verbrennen dürfe. Sie nickte Brian zu; ihre Augen waren
wieder die von gestern, aber etwas darin war … vorsichtiger
geworden.
„Direktor“, sagte Smith, der am Kaffeeautomaten stand und dem
Getränk misstrauisch zusah, als könne es ihm in den Rachen
springen, „hat angeordnet, dass niemand allein zum Hafen
runtergeht. Nicht mal die Möwen.“
„Möwen sind nie allein“, murmelte Nora, die hinter Brian
auftauchte, als wäre sie dort geboren worden. „Sie sind immer zu
zweit, wenn man sie nicht sehen will.“
„Galways Konferenz?“, fragte Brian.
„Vorbei“, sagte Alec, der sein Tablett abstellte und dabei
aussah, als hätte er die Nacht in der Bibliothek schlafen wollen
und niemand hätte ihm den Stuhl gegönnt. „Er schickt uns geteilt.
Rick und ich – Bibliothek. Losada und ein Aufsatz von einer
gewissen Margery Tyne: ‚Quadriga Speculorum‘. Vier Spiegel. Vier
Kreise. Es könnte erklären, warum jemand an unsere drei Ringe einen
vierten gekritzelt hat.“
„Und wir?“, fragte Rebecca.
„Du, Brian, mit Clancy an den Hafen. Niedrigwasser ist in
einer Stunde. Galway meint, wir sollen uns die Grotte im Hellen
ansehen.“ Sie sah ihn fest an. „Und er hat gesagt, wenn die Glocke
schlägt, sollst du nicht heroisch sein, sondern hören.“
„Wir lieben unsere Helden feige“, sagte Rick trocken.
„Sicherer für alle.“
„Van Ray?“, fragte Nora und tat so beiläufig, dass es
auffiel.
„Er hat Unterricht. Mit den Kleinen. Schutzzeichen malen. Ich
habe ihn selten so … hm … korrekt gesehen.“ Alec schob die Brille
hoch. „Er hat Malik aus der Unterstufe auf die Finger geschlagen,
als der ein Linienkreuz falsch zog. Es war …“ Er zögerte. „… sehr
lehrbuchhaft.“
„Er verschwindet später“, sagte Nora. „Ich habe ihn denken
hören, dass er heute Mittag noch einmal in den Spiegelsaal geht.
Allein.“
„Dann ist er nicht dumm“, entgegnete Rebecca. „Aber wir auch
nicht. Wir gehen nicht allein.“
Clancy wartete am Tor, der Wagen lief. Der Sheriff sah aus,
als hätte er seit zwanzig Jahren Kaffee getrunken und wäre gestern
erst drauf gekommen, dass es nicht hilft. „Guten Morgen“, sagte er.
„Sag mir, du hast eine Idee, die nicht romantisch ist.“
„Ich habe eine Idee, die nass ist“, sagte Brian und stieg ein.
„Wir sehen uns an, was man bei Tageslicht sieht, wenn Nachtarbeiten
gewütet haben.“
„Klingt nach meinem gewöhnlichen Job“, brummte Clancy.
„Angurten.“
Der Himmel war so hell, wie er sein konnte, wenn Nebel
beschlossen hatte, heute höflich zu sein. Am Hafen wünschte ihnen
jemand „Guten Morgen“, der keine Augen hatte für das, was zählte;
ein Fischer, der Netze flickte und dabei pfiff, als wäre das Meer
eine alte Tante, die immer Kuchen backt. Clancy nickte. Er führte
Brian an der Promenade vorbei, wo die kleinen Läden noch
geschlossen waren, hinunter zur Steinrampe, die zum Strand
führte.
„Wir haben gestern Abend noch eine Wache hingestellt“, sagte
er. „Zwei Jungs. Sie haben geschworen, sie hätten nichts gesehen.
Ich glaube ihnen – außer sie haben in einen Spiegel gesehen. Dann
glaube ich ihnen gar nichts mehr.“
Die Grotte war mit der Eile der Ebbe zu sehen: dunkler
Schlund, der weniger verschluckte als verlangte. Die Zeichen an der
Wand waren dieselben. Und doch nicht. Jemand hatte um den
nachgeritzten vierten Kreis herum weitere Striche gemacht,
flüchtig, so als wären die Kreidefinger ungeduldig gewesen. Brian
ging nahe heran. Er roch Metall.
„Das hier ist neu“, sagte er. „Und das … das ist … falsch.
Nicht falsch, falsch, aber … absichtlich falsch. Eine Lüge, die
wahr aussehen will.“
„Wie Politik“, murmelte Clancy. „Kannst du was damit
anfangen?“
Brian legte die Hand nicht auf den Stein. Er hielt sie sehr
nah hin, spürte die Kälte, die nicht die Kälte des Schattens war.
Dann dachte er seinen Namen, und als der Nebel in ihm antworten
wollte, hob er die Hand wieder, als hätte der Stein geantwortet,
nicht er.
„Alec“, sagte er. „Er muss das sehen. Oder …“ Er stockte.
Etwas lag im Sand. Keine Muschel. Etwas rundes, flaches,
halbverscharrt. Er kniete nieder, blies den feuchten Sand zur
Seite, so vorsichtig, als befreie er ein Insekt unter Glas. Ein
Messingstück. Kein Ring. Ein Rest von einer größeren Scheibe. Eine
Gravur. Drei Ringe. Ein vierter, krumm. Aber der vierte … Brian
blinzelte. Es war, als hätte jemand versucht, den vierten Kreis zu
radieren, mit einem Messer. Er war nicht mehr ganz da. Nur ein
Schatten. Und an einer Kante klebte etwas Salz, das aussah wie eine
kleine, weiße Flamme.
„Das lag nicht hier“, sagte Clancy. „Gestern nicht.“
„Jemand hat es wiedergebracht“, sagte Brian. „Oder … er hat es
fallen lassen.“
„Wer ist ‚er‘?“, fragte Clancy.
Brian stand auf. „Das, was das glatte Gesicht hat, wenn es ein
Gesicht braucht. Oder der, der ihm die Tasche hält, wenn es eine
hat.“
Clancy steckte das Messingstück in ein Tütchen. „Ich stell mir
eine sehr böse Schublade vor“, murmelte er. „Komm. Bevor wir
anfangen, mit Dingen zu reden, die keine Antworten mögen.“
„Sie reden bereits“, sagte Brian. „Sie tun’s nur, wenn man
nicht hinhört.“
Die Bibliothek war eine andere Art Grotte. Trocken. Voll von
Dingen, die nach Schimmel rochen und trotzdem nicht verdarben. Alec
stand am Tisch, der in der Ecke stand, von der jeder wusste, dass
sie näher an dem geheimen Teil war als die übrigen, auch wenn keine
Tür dort zu sehen war. Vor ihm lagen zwei Bücher offen; eines trug
den Titel „Quadriga Speculorum – Vier Spiegel, Vier Wege, Ein
Käfig“. Das andere war Losadas „Bildfallen“.
„Es ist nicht nur Gefängnis“, sagte Alec, ohne aufzublicken,
als Brian und Rebecca eintraten. „Margery Tyne behauptet, dass der
vierte Kreis – wenn er richtig gesetzt wird – eine Umleitung baut.
Nicht einfach Wegsperren, sondern Umlenken.“
„Wohin?“, fragte Nora, die hinter ihnen hereinschlüpfte,
obwohl sie eigentlich beschäftigtes Atmen in einem anderen Flur
hatte.
„Auf sich selbst“, sagte Alec. „Eine Schleife. Der Spiegel
sieht den Spiegel. Er fällt hinein, immer weiter. Das kostet ihn
Energie. Er wird leiser.“
„Wie lange?“, fragte Brian.
„Solange du den Kreis mit Kraft fütterst“, sagte Alec. „Und
das tust du, indem du …“ Er schluckte. „… deinen Namen denkst.
Nicht alleine. Zu viert. Vier Kreise. Vier Namen. Vier Stimmen.
Quadriga.“
„Wir sind vier“, sagte Nora sofort. „Mit dir, Alec, mit Brian,
mit mir, mit Rebecca. Rick kann …“
„… fürs Timing sorgen“, mischte sich Rick ein, der mit zwei
Bechern Tee hereinkam, so als sei er der Bote eines sehr kleinen,
sehr freundlichen Königs. „Ich kann auch gut Witze erzählen, wenn
Spiegel zuhören.“
„Du hältst die Glockenklappe“, sagte Rebecca. „Wenn die
Schleife nicht reicht, schlagen wir die falsche Glocke. Und wenn
das nicht reicht …“
„… laufen wir“, sagte Brian. „Nach vorn, nicht zurück.“
„Und wo setzen wir den Kreis?“, fragte Nora. „Am Hafen? Im
Spiegelraum? Im Flur, wo die Kinder hängen?“
Alec tippte an den Rand der Karte, die Galway ihnen am Tag
zuvor gezeigt hatte. Drei Kreuze. Ein viertes – von jemandem in
feiner, pechschwarzer Tinte gesetzt – oberhalb des Glockenturms,
der seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt wurde, weil er angeblich
„statistisch nicht zuverlässig“ war.
„Der Glockenturm“, sagte Alec. „Margery Tyne schreibt: ‚Wo
eine Glocke schlägt, schlägt der Kreis.‘“
„Wir haben eine Glockenklappe“, flüsterte Rebecca.
„Und ein Messingsplitter“, sagte Brian. „Clancy hat …“ Er
stockte. Er hatte keine Zeit, die Sätze zu bauen. Etwas lief durch
den Raum. Nicht der Wind. Ein Blick. Wie das Umblättern einer
Seite, auf der man steht. Alle drehten sich gleichzeitig um.
Mr. Galway stand im Türrahmen. „Ich hoffe“, sagte er, „ihr
plant nichts, was ich nicht planen würde.“
Alec senkte sofort die Schultern. „Wir … wir haben gedacht,
wenn wir im Turm …“
„Ich habe euch den Turm eingetragen“, sagte Galway trocken.
„Es ist nicht meine Art, Kinder in dunkle Löcher zu schicken, ohne
ihnen eine Leiter zu zeichnen. Aber ihr geht nicht allein.“
„Sie kommen mit?“, fragte Nora, ehrlich überrascht.
„Ich höre ungern Glocken, die nicht schlagen“, sagte Galway
und strich mit dem Finger über eine Stelle der Karte, die keinem
Ort entsprach. „Und ich bin sehr schlecht darin, zu Hause zu
bleiben, wenn andere in meine Schule hineinschreiben.“
Kapitel 7
Der Glockenturm war nicht hoch. Er stand, an den Ostflügel
gelehnt, wie ein alter Mann an eine Mauer. Die Tür war
verschlossen. Nicht magisch. Nur mit einem Schloss, das Smith
ausgetauscht hatte, als eine Generation von Schülern die Treppen
zum Rauchen entdeckt hatte. Galway steckte einen Schlüssel ins
Schloss, der aussah, als sei er seit 300 Jahren in seiner
Tasche.