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Miguel de Torres: Das Kloster der toten Brüder Miguel de Torres: Das Dorf der verkauften Seelen Alfred Bekker/W.A.Hary: Zombies erwachen Alfred Bekker: Corcorans Vermächtnis: Gruselkrimi Der angehende Historiker Manuel, sein Jugendfreund und dessen Partnerin machen Campingurlaub. Als sie ein altes verfallenes Kloster entdecken, wollen sie es untersuchen. Aber nachdem sie die Eingangsbrücke überquert haben, gibt es kein Zurück mehr, und sie werden in grausige Ereignisse aus der Vergangenheit hineingezogen. Die Klosterpforte! Er beschleunigte seine Schritte. Das Tor war quer über den Weg gebaut und versperrte diesen somit. Jedenfalls sollte es dies normalerweise tun … Ulloa hielt überrascht inne. Das Tor stand weit offen! Was konnte das zu bedeuten haben? Der Kaufmann war weit herumgekommen und hatte auf seinen Wegen viele Klöster besucht, und eines hatte er dabei immer wieder feststellen können: Je einsamer ein Kloster lag, desto fester waren seine Pforten verschlossen. Die Zeiten waren unsicher, doch es waren nicht nur Menschen, die eine Bedrohung für die Mönche darstellten, sondern auch Tiere. Schließlich gab es Bären – und Wölfe … Ulloa setzte sich wieder in Bewegung. Plötzlich wieherte das Pferd und stieg hoch. Der Händler nahm es am Zügel und zwang es, weiterzugehen, doch nun sträubten sich auch die beiden Mulis. Hing es mit dem Gestank zusammen, fragte sich Ulloa, der hier, unmittelbar vor dem Kloster, stärker zu sein schien als jemals zuvor? Er packte die Zügel fester und ging weiter auf das offene Tor zu.
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Seitenzahl: 510
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Gruselkrimi Viererband 1007
Copyright
Das Kloster der toten Brüder
Das Dorf der verkauften Seelen
Zombies erwachen
Corcorans Vermächtnis: Gruselkrimi
Titelseite
Cover
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
Miguel de Torres: Das Kloster der toten Brüder
Miguel de Torres: Das Dorf der verkauften Seelen
Alfred Bekker/W.A.Hary: Zombies erwachen
Alfred Bekker: Corcorans Vermächtnis: Gruselkrimi
Der angehende Historiker Manuel, sein Jugendfreund und dessen Partnerin machen Campingurlaub. Als sie ein altes verfallenes Kloster entdecken, wollen sie es untersuchen. Aber nachdem sie die Eingangsbrücke überquert haben, gibt es kein Zurück mehr, und sie werden in grausige Ereignisse aus der Vergangenheit hineingezogen.
Die Klosterpforte!
Er beschleunigte seine Schritte. Das Tor war quer über den Weg gebaut und versperrte diesen somit.
Jedenfalls sollte es dies normalerweise tun …
Ulloa hielt überrascht inne.
Das Tor stand weit offen!
Was konnte das zu bedeuten haben? Der Kaufmann war weit herumgekommen und hatte auf seinen Wegen viele Klöster besucht, und eines hatte er dabei immer wieder feststellen können: Je einsamer ein Kloster lag, desto fester waren seine Pforten verschlossen. Die Zeiten waren unsicher, doch es waren nicht nur Menschen, die eine Bedrohung für die Mönche darstellten, sondern auch Tiere.
Schließlich gab es Bären – und Wölfe …
Ulloa setzte sich wieder in Bewegung. Plötzlich wieherte das Pferd und stieg hoch. Der Händler nahm es am Zügel und zwang es, weiterzugehen, doch nun sträubten sich auch die beiden Mulis. Hing es mit dem Gestank zusammen, fragte sich Ulloa, der hier, unmittelbar vor dem Kloster, stärker zu sein schien als jemals zuvor?
Er packte die Zügel fester und ging weiter auf das offene Tor zu.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Alles rund um Belletristik!
Baroja-Zyklus I
Horror-Roman von Miguel de Torres
nach einem Exposé von Miguel de Torres und Richard Barrique
Der angehende Historiker Manuel, sein Jugendfreund und dessen Partnerin machen Campingurlaub. Als sie ein altes verfallenes Kloster entdecken, wollen sie es untersuchen. Aber nachdem sie die Eingangsbrücke überquert haben, gibt es kein Zurück mehr, und sie werden in grausige Ereignisse aus der Vergangenheit hineingezogen.
Manuel war es, der das Kloster als Erster bemerkte.
„Halt an!“, sagte er zu Alberto. „Da ist etwas in den Felsen!“
Der Angesprochene sah gewohnheitsmäßig in den Rückspiegel, bevor er den Gang herausnahm und den silbernen Opel Corsa am Rand der Straße oder, genauer ausgedrückt, Piste zum Stehen brachte. Auf dem Rücksitz begann Andrea zu kichern; sie fand es irrsinnig komisch, dass sich jemand auf einer Strecke, auf der sie seit vielen Kilometern kein anderes Auto mehr gesichtet hatten, genauso benahm wie auf einer vielbefahrenen Autobahn. Durch den Rückspiegel warf Alberto seiner Freundin einen bösen Blick zu, den diese aber ignorierte.
„Jetzt ist es wieder verschwunden! Fahr ein paar Meter zurück!“
Alberto gehorchte, nicht ohne sich dabei umzudrehen und die aus festgestampfter Erde bestehende „Straße“ zu beobachten, was bei Andrea einen neuen Heiterkeitsanfall auslöste.
„Halt!“ Manuel, der seit dem letzten Wechsel auf dem Beifahrersitz saß, deutete nach rechts hinauf in die scheinbar senkrecht abfallende Felswand.
Während Alberto und Andrea ihre Köpfe reckten, stieg Manuel aus. Mit der rechten Hand deckte er die bereits sehr hoch stehende Sonne ab und sah nach oben. Ein Düsenflugzeug zog in zehn Kilometern Höhe lautlos in Richtung Frankreich und hinterließ dabei einen Kondensstreifen; zwei weitere, beinahe parallel verlaufende Streifen waren gerade dabei zu zerfallen. Bereits gestern hatten die drei Madrider Studenten bemerkt, dass sie sich offensichtlich direkt unter einer viel beflogenen Route für Verkehrsflugzeuge befanden. Auch wenn man eine der letzten westeuropäischen Wildnisse durchquerte – die Zivilisation konnte man im dritten Jahrtausend wohl nirgends mehr zur Gänze hinter sich lassen.
„Was ist das? Ein altes Haus?“ Auch Alberto war ausgestiegen und musterte die etwa fünfhundert Meter entfernte Steilwand, die das Tal nach Norden hin abschloss und von der Straße durch einen Bach und dahinterstehenden, dichten Eichenwald getrennt war.
Manuel schüttelte den Kopf. „Das scheint mir die Ruine eines alten Klosters zu sein. Es ist unter einen überhängenden Felsen direkt in die Wand hineingebaut, so dass es gut gegen Wind und Regen oder Schnee geschützt ist. Das findet man relativ häufig hier in den südlichen Ausläufern der Pyrenäen.“ Der Student der Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter öffnete den Kofferraum des Wagens und kehrte nach einigem Suchen mit einem Feldstecher zu seinem Freund zurück.
„Ganz eindeutig“, nickte er, nachdem er das Gebäude mit achtfacher Vergrößerung gemustert hatte. Er reichte das Fernglas an Alberto weiter. „Von hier aus ist nicht viel mehr als eine halb verfallene Seitenwand zu sehen. Rechts ragt etwas darüber hinaus, was die Oberkanten von Säulen sein könnten. Vielleicht ein Kreuzgang.“
„Ein Kreuzgang im Felsen?“ Mittlerweile war auch Andrea ausgestiegen und nahm ihrem Freund den Feldstecher ab.
„So etwas gibt es durchaus“, erläuterte Manuel. „Der überhängende Fels bildet ein natürliches Dach, so dass der Kreuzgang nach oben offen konstruiert werden konnte. Ich frage mich nur …“
„Was?“
„… wie man da hinauf kommt!“
Andrea stöhnte auf, und auch Alberto blickte nicht übermäßig glücklich drein. Aber Manuel war viel zu fasziniert von der Klosterruine, als dass er dies bemerkt hätte. „Seht ihr den dunklen Strich im Felsen, rechts vom Kloster? Ich bin sicher, dass das der Weg ist, der zu ihm führt! Er ist sogar bewachsen. Wahrscheinlich ein natürlicher Riss im Fels, der sich im Laufe der Zeit mit Erde gefüllt hat, so dass sich Sträucher und vielleicht sogar Bäume darauf ansiedeln konnten!“ Er setzte das Glas wieder ab. „Von hier aus kommen wir jedenfalls nicht hinauf. Wahrscheinlich müssen wir der Straße weiter folgen; irgendwann wird es dann schon eine Abzweigung geben – mindestens einen Pfad, der zu der Ruine führt. Irgendwie müssen die Mönche früher ja schließlich auch hinaufgekommen sein.“
„So ein Kloster müsste doch in der Karte eingetragen sein, oder nicht? In roter Schrift und mit einem Stern für Touristenattraktion!“
Andrea lachte. „Touristenattraktion? Hier?“ Sie sah sich demonstrativ um. „Siehst du, wie sie strömen, die Touristen? Wahrscheinlich ist hinter der nächsten Biegung dieser, äh, Straße ein riesengroßer Parkplatz, vollgestellt mit Bussen und Pommesbuden. Vielleicht gibt es ja auch ein Drive-in!“
Die beiden jungen Männer lachten. Manuel öffnete das Handschuhfach, nahm die Karte heraus, nach der sie sich in den letzten Tagen gerichtet hatten, und entfaltete sie auf dem Dach des Wagens. Alberto beugte sich ebenfalls über das Papier, und Andrea legte ihr Kinn auf seine Schulter, so dass ihr blondes, im Wind wehendes Haar die Ohren ihres Freundes kitzelte.
„Wo sind wir überhaupt?“, wollte sie wissen.
„Gute Frage …“
Die drei Freunde waren vor einer knappen Woche von Madrid in Richtung Pyrenäen aufgebrochen. Sie wollten die Herbstferien für eine zweiwöchige Autotour durch die Berge nutzen. Für Manuel und Alberto, die schon zusammen die Schule besucht hatten, war es bereits die fünfte gemeinsame Ferienreise – allerdings mit einem großen Unterschied zu allen vorangehenden, und dieser Unterschied hieß Andrea. Alberto hatte seine Kommilitonin und neue Freundin zu dem Unternehmen eingeladen, ohne Manuel darüber in Kenntnis zu setzen, und als dieser es dann erfuhr, konnte er sein Missfallen nicht ganz verhehlen – aber da war es bereits zu spät gewesen.
Also war man zu dritt aufgebrochen. Frühere Reisen von Manuel und Alberto waren nicht immer ganz ohne Spannungen geblieben – vor allem gegen Ende zu war es oft zu größeren Reibereien gekommen. Dennoch hatten sich der Lehramtsstudent Alberto und der angehende Historiker Manuel immer wieder zusammengerauft. Aber diesmal schien es bereits nach wenigen Tagen erheblich mehr zwischenmenschliche Probleme zu geben. Manuel, der der Initiator der Reise gewesen war, fühlte sich zunehmend als drittes Rad am Wagen. Eigentlich hatte er diese Exkursion neben der dringend nötigen Erholung vom Semesterstress vor allem zur Besichtigung von gotischen Kirchen und Klöstern nutzen wollen, etwas, das sich allmählich zu seinem Spezialgebiet entwickelte. Aber bereits in Segovia, am zweiten Tag der Reise, hatte Andrea angefangen, sich über dieses seltsame Steckenpferd zu mokieren und sich entnervt geweigert, eine einzige weitere Kirche zu betreten. Manuel hatte sich davon nicht abhalten lassen, aber Andreas Verhalten hatte schließlich doch dazu geführt, dass er sich bei jeder Kirche und jedem Kloster gut überlegte, ob es ihm einen weiteren Streit wert war.
Aber eines wusste er: Dieses Kloster würde sie ihm nicht vermiesen!
Auf der Suche nach ihrem aktuellen Standort folgte Manuel mit dem Finger auf der Karte im Maßstab 1 : 200 000 der Route, die sie seit ihrem gestrigen Aufbruch aus Pamplona zurückgelegt hatten. Sie waren zunächst der N 240 in Richtung Osten gefolgt, dem alten Camino de Santiago, dem in Santiago de Compostela endenden Jakobsweg, aber entgegen der Pilgerrichtung. Bei Sangüesa hatten sie die Nacht auf einem Campingplatz verbracht, der inmitten eines Pinienwäldchens lag und den sie, nach dem Ende der Touristensaison, beinahe ganz für sich allein gehabt hatten. Während Manuel die berühmte und nicht weit entfernt liegende Iglesia de Santa Maria besichtigte, bauten die beiden anderen die Zelte ab und verstauten sie im Auto. Gemeinsam folgten sie dann weiter der N 240, bogen jedoch bereits nach etwa 15 Kilometern nach Norden auf die C 137 ab. Nach wenigen Kilometern entdeckten sie eine ohne Wegweiser nach links abzweigende Straße, der sie kurzentschlossen und auch etwas abenteuerlustig folgten – schließlich hatten sie weder ein bestimmtes Ziel noch einen einzuhaltenden Termin. Die Straße führte an einem kleinen, entgegen ihrer Fahrtrichtung fließenden Bach entlang, der zu Zeiten der Schneeschmelze bestimmt ein reißendes Flüsschen bildete. Es musste dieser Bach gewesen sein, der vor undenklicher Zeiten das Tal, in dem sie sich befanden, eingekerbt hatte.
Sie hatten erst einige wenige Kilometer zurückgelegt, als die geteerte Strecke nach Norden abbog und dabei den Bach überquerte. Eine pistenähnliche, ungeteerte Straße, die etwa anderthalb mal so breit war wie ein PKW, folgte jedoch weiter dem Verlauf des Baches. Nach kurzer Beratung entschlossen sie sich, der offensichtlich romantischeren Strecke wenigstens einige Kilometer weit zu folgen – und da standen sie nun, inmitten des Nirgendwo, und studierten die Karte.
Manuel blickte nochmals zu der Klosterruine hinauf. Nicht weit seitlich über ihr, kaum mehr als hundert Höhenmeter entfernt, erhob sich der felsige und zerklüftete Gipfel eines kleineren Berges.
„Das muss dieser Berg hier sein“, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger auf die Karte. „Monte Salvaje.“
„Da ist aber weit und breit nichts zu sehen von einem Kloster“, bemerkte Alberto.
Manuel nickte langsam. „Ja, seltsam. Aber vielleicht ist die Karte einfach zu ungenau. Wenn man alle Klöster einzeichnen wollte, hätte man vielleicht keinen Platz mehr für die Straßen und Ortschaften …“
„Vielleicht ist es auch gar kein Kloster, sondern nur eine Eremitage oder so etwas?“, warf Andrea ein.
Manuel warf abermals einen Blick zu der Ruine, die hoch oben im Felsen thronte. Dann schüttelte er den Kopf. „Das ist zu groß für eine Eremitage – viel zu groß!“ Er faltete die Karte wieder zusammen. „Wir fahren weiter!“, sagte er in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, und setzte sich in den Wagen. Andrea nahm wieder auf dem Rücksitz Platz und Alberto hinter dem Steuer.
„Wie weit?“, wollte er wissen.
Manuel zuckte mit den Schultern. „So weit, bis wir eine Abzweigung finden, die in Richtung des Klosters führt.“
Alberto betätigte den Anlasser und fuhr los. Die Straße folgte dem Verlauf des Baches in leichten Windungen, und abhängig davon, wie nahe sie dem beinahe unmittelbar hinter dem Bach beginnenden Eichenwald kam, war das Felsenkloster manchmal von Bäumen verdeckt und manchmal sichtbar.
Nach einigen hundert Metern machte die Straße eine Kurve nach rechts, und gleich darauf nahm Alberto den Fuß vom Gas und hielt an.
„Oh, oh!“, sagte er nur.
Manuel, der viel zu sehr mit der Klosterruine beschäftigt gewesen war, als dass er auf den Weg geachtet hätte, blickte nach vorne. In etwa zwanzig Metern Entfernung führte die Straße über eine Brücke – aber was für eine Brücke! In einem einzigen, etwa doppelt mannshohen Bogen überspannte sie das Bachbett. Sie war aus gehauenen Steinen errichtet, von denen allerdings viele herausgebrochen waren; vor allem das Geländer war in üblem Zustand.
Die drei stiegen aus und näherten sich dem Bauwerk. Manuel, ganz in seinem Element als angehender Historiker, führte sie an.
„Eine römische Brücke“, konstatierte er, als er sich ihr bis auf wenige Meter genähert hatte. „Kein Zweifel.“
„Ich dachte mir schon, dass sie nicht mehr ganz neu ist“, seufzte Andrea.
Und Alberto fügte nüchtern hinzu: „Na ja, wenigstens scheint der Bogen noch intakt zu sein. Aber die Fahrbahn …“
Der über die Brücke verlaufende Weg, der glücklicherweise breit genug war für einen Kleinwagen, war mit nicht mehr ganz original römischen Bruchsteinen gepflastert. Allerdings hatte diese Pflasterung im Laufe der Jahre oder gar Jahrhunderte deutlich gelitten; es gab Stellen, an denen einzelne Steine fehlten, und andere, an denen mehrere fehlende Pflastersteine üble Schlaglöcher bildeten. Die meisten der aus dem Weg herausgebrochenen Steine lagen noch auf der Fahrbahn.
„Meine Güte!“, staunte Andrea. „Diese Brücke muss ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden sein!“
„Zumindest nicht mehr repariert!“, schränkte Alberto ein.
Manuel war den anderen einige Schritte vorausgeeilt und stand nun genau an der Stelle, wo die Straße in das Brückenpflaster überging. „Kein Problem!“, konstatierte er, zu Alberto gewandt. „Wenn ich die im Weg liegenden Steine entferne, kannst du langsam hinüberfahren. Du musst nur ein bisschen auf die Schlaglöcher aufpassen.“
„Du … du willst doch nicht wirklich über diese antike Brücke fahren?“, fragte Alberto ungläubig.
Manuel schüttelte grinsend den Kopf. „Kein Gedanke! Du fährst ja! Ich spiele nur den Lotsen. Also, an die Arbeit!“
Alberto seufzte. „Es ist ja auch nicht dein Auto!“ Er blickte in den blauen Himmel, wo soeben zwei Düsenflugzeuge sich kreuzende Kondensstreifen erzeugten. „Die machen sich’s leicht!“
„Die wissen überhaupt nicht, was ihnen entgeht! Das absolute Abenteuer!“, versetzte Manuel. Er nahm den ersten der etwa zwei Dutzend auf der Brücke liegenden Steine in die Hand und schleuderte ihn in das Bachbett, wo er trotz des niedrigen Wasserstandes ein lautes Platschen erzeugte.
Alberto wandte sich zu seinem Wagen um und kickte mit dem Fuß einen faustgroßen Stein aus dem Weg. Zu Andrea gewandt sagte er: „Es ist wohl am besten, wenn du zu Fuß über die Brücke gehst. Es reicht, wenn einer in dem Auto sitzt.“
„Worauf du dich verlassen kannst!“ Leise, damit Manuel sie nicht verstehen konnte, fügte sie hinzu: „Glaubst du, er will tatsächlich da hinauf, zu der Klosterruine?“
„Worauf du dich verlassen kannst!“ Alberto grinste. „Das ist doch mal eine Abwechslung von deinen ungeliebten Kirchenbesichtigungen! Sportliche Betätigung an der frischen Luft! Mit anschließendem Kulturschock!“
Manuel hatte bei seinen Räumungsarbeiten inzwischen die Mitte und damit die höchste Stelle der Brücke erreicht. Er wollte gerade den nächsten Stein aufnehmen, als er stutzte. Er richtete sich auf und sah sich um.
Irgendetwas hatte sich verändert.
Er blickte zurück, wo Andrea neben dem Wagen stand und Alberto wieder auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, bereit, die Brücke zu überqueren, sobald Manuel seine Arbeit beendet hatte.
Nein, er musste sich getäuscht haben. Alles war noch genauso wie vorher, alles sah noch genauso aus: die staubige Straße, der Eichenwald, die Felswand mit dem Kloster, der Bach … Höchstens das Plätschern des Wassers klang etwas anders als vorher, aber das konnte eine Täuschung sein. Oder es hing mit der Brechung des Schalls an dem Brückenbogen zusammen.
Er bückte sich wieder und warf den nächsten Stein ins Wasser.
Wenige Minuten später betrat er auf der anderen Seite der alten Brücke die Straße und winkte Alberto im Wagen zu. „Los!“, rief er. „Aber langsam!“
Dieses Rates hätte es gewiss nicht bedurft. Alberto fuhr im Schritttempo bis zur Brücke und dann extrem langsam, beinahe Zentimeter für Zentimeter, auf das Pflaster hinauf. Wegen der Schlaglöcher konnte er nicht einfach geradeaus darüber hinweg fahren, sondern musste, so gut dies unter den beengten Verhältnissen der schmalen Brücke möglich war, eine Art Schlangenlinienkurs steuern. Einmal sackte der Opel Corsa mit dem rechten Vorderrad ein Stück ab und es gab einen Schlag, aber dann fasste er wieder Halt, und kurz darauf hatte er den sicheren Boden der Straße unter den Füßen.
Während Andrea die Brücke zu Fuß überquerte, sah Manuel in den strahlend blauen Himmel, wo die Sonne mittlerweile ihren höchsten Stand erreicht hatte. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, was nicht stimmte.
Die Kondensstreifen waren verschwunden.
„Die Kondensstreifen sind verschwunden“, sagte er zu Alberto, als dieser aus dem Wagen stieg und sich den Schweiß von der Stirn wischte.
„Ja, so geht das eben“, antwortete der Lehramtsstudent müde und in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass Historiker sich seiner Ansicht nach nicht mit Naturgesetzen und ihren Auswirkungen befassen sollten. „Ist ja nur Wasserdampf!“ Er drückte seinem Freund den Zeigefinger in den Bauch. „ Du darfst von hier ab fahren! Mir reicht es für heute!“
Während sie weiterfuhren, stellte Manuel, nun hinter dem Steuer, erfreut fest, dass die Straße nach der Überquerung des Baches beinahe genau in Richtung der Ruine führte. Er war überzeugt, dass sie einen Weg finden würden, auf dem sie hinaufgelangen konnten.
Der dichte Eichenwald engte nun beiderseits der Straße die Sicht stark ein. Überhaupt war der Zustand des Weges hinter der Brücke schlagartig deutlich schlechter geworden, so dass man wirklich nur noch von einer Piste sprechen konnte. An manchen Stellen war sie völlig überwachsen, an anderen wiederum hingen die Äste so tief herab, dass Alberto um das Dach seines Autos zu fürchten begann. Streckenweise durchfuhren sie einen regelrechten Tunnel, dessen Wände und Decke von Ästen und Stämmen gebildet wurden. Dabei wurde es so dunkel, dass Manuel die Scheinwerfer einschaltete.
„Wie lange wollt ihr so weiterfahren?“, beschwerte sich Andrea vom Rücksitz her.
„Höchstens noch ein paar Kilometer“, beschwichtigte Alberto sie. „Wenn wir dann keinen Weg zur Ruine gefunden haben, kehren wir um. – Oder?“, fügte er mit einem Seitenblick auf Manuel hinzu.
Manuel antwortete nicht.
Plötzlich machte die Straße eine Biegung nach links, und zu beiden Seiten trat der Wald zurück. Manuel trat unwillkürlich auf die Bremse und hielt an, denn der Anblick, der sich den drei Studenten nun bot, war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend.
Vor ihnen schmiegte sich ein Dorf an die Felswand, so eng, als fürchte es sich vor etwas. Es war kein großes Dorf; es bestand aus kaum mehr als einem Dutzend aus grauem Stein erbauten Häusern, die sich so eng zusammendrängten, dass sich ihre mit Steinplatten gedeckten schrägen Dächer teilweise berührten und an einzelnen Stellen sogar ineinander übergingen. Auch eine Kirche besaß dieses Dorf; ihr quadratischer, hoher Turm ragte im Hintergrund auf, nur wenige Meter vom Fels entfernt. Auch dieser Kirchturm hatte früher wohl ein Dach aus grauen Platten besessen, aber inzwischen schien es dem stetig nagenden Zahn der Zeit zum Opfer gefallen zu sein – wie überhaupt das ganze Dorf den drei Besuchern den Eindruck des Verfalls vermittelte.
Die vorderste Reihe der Häuser – vier waren es – gruppierte sich in einem groben Halbkreis um eine Plaza, deren Mitte von einem steinernen Brunnen gebildet wurde. Das andere, südliche Ende des großen Platzes wurde von dem dichten Eichenwald gebildet.
Den drei Freunden bot sich ein Bild, wie es malerischer nicht hätte auf dem Titelblatt eines Touristenprospektes prangen können.
Aber es gab hier keine Touristen.
Es gab nicht einmal Menschen.
Auch keine Tiere.
Alberto war es, dem diese Tatsache als erstem auffiel. „Keine Hunde“, sagte er.
Manuel nickte. In jedem spanischen Dorf gab es eine Unzahl halb verwilderter und ausgezehrter Hunde, die ihr armseliges Leben von Abfällen fristeten, und für die sich niemand zuständig fühlte. Und so, wie die Plaza der Treffpunkt für die menschlichen Bewohner war, war sie es auch für die tierischen. Hunde und Katzen pflegten dort, in sicherem Abstand von den Menschen, deren Füße sie zu fürchten gelernt hatten, Siesta zu halten, scheinbar tief schlafend, aber immer bereit, sich auf eine Futterquelle zu stürzen – oder nötigenfalls zu flüchten.
„Keine Satelliten-Antennen“, sagte Andrea.
Alberto lachte, aber er wusste natürlich, dass seine Freundin Recht hatte. Abgelegene Dörfer mochten auch heutzutage noch ohne fließendes Wasser auskommen, aber ebenso, wie sie mindestens einen Stromgenerator besaßen, verfügten sie auch über eine stattliche Anzahl von Satelliten- oder zumindest terrestrischen Antennen.
Alberto gab wieder Gas und fuhr den Wagen auf den freien Platz, wo er ihn unweit des Brunnens parkte und den Motor abstellte. Die drei stiegen aus.
Manuel warf einen langen Blick auf die Front der Häuser und dann in den staubtrockenen Brunnen, dessen steinerne Umfassung an mehreren Stellen geborsten war. „Hier lebt niemand mehr – schon lange“, konstatierte er dann.
Alberto und Andrea nickten. In Spanien gab es Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von verlassenen Dörfern, und alle drei Studenten hatten schon mehrere besucht. Aber dieses Dorf war anders – dieses Dorf war nicht erst in den letzten Jahrzehnten verlassen worden, weil die jungen Leute nach Barcelona oder San Sebastián oder gar bis nach Deutschland gehen mussten, um Arbeit zu finden, während die Alten langsam, aber unerbittlich ausstarben. Dieses Dorf musste bereits vor Jahrhunderten verlassen worden sein. Anstelle von Fenstern blickten nur dunkle, leere Löcher die Besucher an; die hölzernen Türen hingen zwar noch in ihren Angeln, aber sie verwehrten niemandem mehr den Eintritt in die Behausung. Und auch die Dächer aus Steinplatten, die aus einiger Entfernung homogen und intakt ausgesehen hatten, entpuppten sich aus der Nähe als schadhaft und mit teils großen Löchern versehen.
„Und nun?“, fragte Alberto.
„Mein Magen sagt, dass es Zeit ist zum Mittagessen“, erklärte Andrea. „Das ist wenigstens ein romantischer Platz für ein Picknick – erheblich romantischer jedenfalls als der Parkplatz neben der Bundesstraße, auf dem wir gestern zu Mittag gegessen haben!“
„Ich habe keinen Hunger“, meinte Manuel. „Während ihr euch den Wanst vollschlagt, werde ich mich ein wenig umsehen. Vielleicht finde ich ja den Weg zum Kloster.“
Er wandte sich der engen Gasse zu, die sich in der Mitte zwischen den Häusern öffnete, und bereits wenige Augenblicke später war er in ihrem Schatten verschwunden, als habe ihn ein gefräßiges Raubtier verschluckt. Andrea öffnete den Kofferraum und holte die große Kühltasche heraus.
„Na, dann wollen wir mal …“
*
In dem kleinen Dorf, das wahrlich ein Ort der kurzen Wege war, hatte Manuel bereits nach drei Minuten die kleine, romanische Kirche entdeckt. Verblüfft blieb er vor dem Portal stehen, dessen Bogen mit Figuren in drei Reihen reich verziert war. Bildhauerarbeit in diesem Umfang und vor allem in dieser Qualität war in einem so kleinen und verstecktem Dorf nicht zu erwarten gewesen – dieses Tympanon allein hätte nach Ansicht des Studenten ausgereicht, damit der Ort in jedem besseren Reiseführer erwähnt werden müsste. Aber das Verblüffendste an dem Fries war weder die Quantität noch die Qualität der Darstellungen, sondern das, was der oder die Künstler abgebildet hatten: Ausgehend von einer Gestalt mit der Beschriftung „IUDAS MERCATOR“, die um den Hals den Strick trug, mit dem sich der Verräter Jesu erhängt hatte, wurden auf den Bögen bildlich alle erdenklichen Qualen der Hölle geschildert, bis der Fries endlich auf der rechten Seite in die Gestalt des Richters des Jüngsten Gerichts mündete, die von zwei Posaunen blasenden Engeln der Apokalypse umrahmt wurde.
Als Manuel näher trat und den Fries genauer musterte, stellte sein mittlerweile für solche Dinge geschultes Auge anhand gewisser Spuren, die der Steinmetz hinterlassen hatte, fest, dass das Tympanon nachträglich umgearbeitet worden war. Wann war das geschehen? In wessen Auftrag? Warum? Und vor allem: Wie hatte der Fries vorher ausgesehen? Fragen, auf die Manuel jetzt gewiss keine Antwort finden würde, aber er nahm sich fest vor, an dieses Portal zu denken, wenn er eines Tages auf der Suche nach einem Thema für seine Doktorarbeit war.
Einer der beiden dicken, hölzernen Torflügel stand einen Spalt offen. Manuel versuchte, ihn weiter zu öffnen, scheiterte jedoch. Die schwere Tür war aus der oberen Angel gebrochen und stand nun schräg, so dass es größerer Kraft bedurft hätte, sie zu bewegen, als ein einzelner Mensch aufzubringen vermochte. Doch der Student schaffte es schließlich, sich hindurchzuzwängen.
Es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Augen an die ihn umschlingende Dunkelheit gewöhnt hatten. Das durch die wenigen und schmalen, von Bögen bekränzten Fenster hereinfallende Licht konnte den Innenraum der Kirche nur mangelhaft erhellen. Staub und in der Nähe des Portals auch Dreck und Erde bedeckten den Boden in einer mehrere Finger dicken Schicht. Uralte Bänke aus schwarzem Holz lagen kreuz und quer herum, als hätte sie ein Erdbeben oder ein Sturm, der innerhalb des Kirchenschiffes getobt hatte, herumgewirbelt.
Langsam und vorsichtig durchquerte Manuel das Schiff. Auch auf dem Altar lag der Staub fingerdick, und dahinter … Manuel stutzte. Was war das? Er ging in die Hocke und hob ein fingernagelgroßes Stück Holz auf – eines von Hunderten oder gar Tausenden Bruchstücken, die hier auf dem Boden lagen. Im dämmrigen Zwielicht musterte er den Fund. Das Holz war schwarz, wahrscheinlich ebenso wie das der Bänke altersgeschwärzt. Er hob weitere Stücke auf, das größte unter ihnen nur so lang wie sein kleiner Finger. Einige wiesen Spuren von Schnitzereien auf.
Plötzlich erkannte Manuel, womit er es hier zu tun hatte: Die unzähligen kleinen Holzstückchen mussten früher einmal ein großes Kreuz gebildet haben, das hinter dem Altar aufgehängt gewesen war! Aber wie war das möglich? Holz, zumal altes Holz, konnte zwar splittern, aber nicht in Tausende von kleinen Einzelteilen! Jedenfalls nicht unter gewöhnlichen Bedingungen. Manuel entsann sich des beliebten Experiments, bei dem eine Rose in einen Behälter mit flüssigem Stickstoff getaucht wurde, der eine Temperatur aufwies, die annähernd zweihundert Grad unter Null betrug. Wenn man die Rose anschließend zu Boden warf, zersplitterte sie ebenso in unzählige kleine Teile, wie es hier mit dem Holzkreuz geschehen sein musste. Aber so etwas war völlig unvorstellbar!
Manuel stand wieder auf und ging weiter, auf eine Öffnung in der Mauer zu, die zum Turm führen musste. Früher war diese Öffnung wohl durch eine Tür verschlossen gewesen, aber von dieser fehlte mittlerweile jede Spur – lediglich die beiden in den Türstock eingelassenen Angeln, wo sie einst befestigt gewesen sein musste, waren noch vorhanden. Aber in welchem Zustand! Die dicken Eisenstifte waren verdreht, und die Steine, in denen sie befestigt waren, teilweise herausgebrochen. Es sah so aus, als wäre die Tür durch eine gewaltige Kraft aus ihren Angeln gerissen worden, und allem Anschein nach war diese Kraft aus dem Turm gekommen, so dass die Tür in die Kirche hinein geschleudert worden war.
Vorsichtig betrat der Student den etwa drei Meter im Geviert messenden Turm. Eine Treppe führte hinauf, aber von einer Art, wie sie Manuel noch niemals in solch einer Kirche begegnet war: Sie bestand aus in die Außenmauer des Turmes eingelassenen Steinplatten, die sich ohne Geländer an der Wand entlangschlängelten, so dass sie trotz des quadratischen Grundrisses eine Wendeltreppe bildeten. Manuel erinnerte sich, solch eine Treppe erst ein einziges Mal gesehen zu haben, und zwar in einer alten Burgruine im Süden Frankreichs – dort war der Turm jedoch rund gewesen.
Als der Student seinen Blick nach oben richtete, stellte er fest, dass die Treppe stark beschädigt war, und zwar um so mehr, je näher sie der Spitze des mehr als zehn Meter hohen Turmes kam. Meist waren die ins Leere ragenden Steinplatten kurz hinter der Wand abgebrochen, einige fehlten ganz. Am Boden des Turms lagen nur wenige Bruchstücke herum, die sich wohl in den letzten Jahrzehnten gelöst hatten. Das bedeutete, folgerte Manuel, dass irgendjemand nach dem Zusammenbruch der Treppe hier aufgeräumt haben musste. Wann das gewesen war, war ohne eingehende wissenschaftliche Untersuchung nicht zu klären.
Der Turm war nach oben offen; das einst vorhandene Dach fehlte völlig. Jeweils zwei hohe und schmale Fensteröffnungen befanden sich auf drei Seiten kurz unter der Turmspitze; lediglich die dem Fels zugewandte Nordseite war fensterlos. Unterhalb der Fenster bildeten aus der Wand ragende Steinplatten eine Art an der Außenwand entlang führende Galerie, die ebenfalls arg in Mitleidenschaft gezogen war. Von einem Glockenstuhl jedoch oder gar der Glocke selbst fehlte jede Spur.
Probehalber setzte Manuel einen Fuß auf die erste Stufe, trat dann aber gleich wieder zurück. Es hatte keinen Sinn. Ohne Bergsteigerausrüstung und entsprechende Erfahrung – was er beides nicht besaß – war ein Aufstieg zur Spitze des Turmes unmöglich. Schade, denn von da oben aus musste man einen phantastischen Blick über das Tal haben, durch das sie gekommen waren. Aber er sagte sich, dass der Blick von der Klosterruine aus noch viel phantastischer sein musste. Da die Berge, die das Tal nach Süden hin begrenzten, nicht annähernd so hoch waren wie die Felswand im Norden, konnte man vom Kloster aus wahrscheinlich weit nach Süden blicken – vielleicht sah man von dort aus sogar die Ortschaft Sangüesa.
Er verließ die Kirche wieder, nicht ohne sich fest vorzunehmen, nach der Rückkehr von der Klosterruine einige Zeichnungen anzufertigen, vor allem von dem Bogenfries. Gute und maßstabsgetreue Zeichnungen waren für einen Historiker besser als Fotografien, da man auf dem Papier wichtige Details, die bei einer Fotografie vielleicht dem Spiel von Licht und Schatten zum Opfer fielen, besser hervorheben konnte.
Er umrundete die Kirche einmal und stieß dabei auf einen halb überwachsenen Pfad, der hinter dem Bauwerk an der Felswand entlang in Richtung Westen führte. Die Klosterruine lag zwar etwas östlich vom Dorf – ohne Berücksichtigung des Höhenunterschieds waren es wohl nur wenige hundert Meter –, aber dennoch schien es Manuel durchaus möglich zu sein, dass dieser Weg zum Kloster führte. Aufgrund der großen Höhe, in der sich die Ruine befand, konnte es überhaupt keinen direkten Weg geben; ein zu ihr führender Pfad musste sich wohl oder übel mit mehreren Kehren am Felsen entlang nach oben winden.
Überhaupt stellte sich die Felswand nun, da der Student direkt vor ihr stand, keineswegs so glatt und senkrecht dar, wie es aus größerer Entfernung ausgesehen hatte. Er schätzte den Winkel, den sie mit dem Tal bildete, auf 75 bis 80 Grad, und sie war durchzogen von kleineren und größeren Rissen, so dass ein am Fels entlang führender Weg durchaus im Bereich des Vorstellbaren lag.
Er erforschte noch oberflächlich den Rest des kleinen Dorfes, wozu zehn Minuten mehr als ausreichend waren, konnte aber keinen weiteren Pfad mehr entdecken. Er war daher sicher, den Weg zur Klosterruine gefunden zu haben.
Als er zum Auto zurückkehrte, war Andrea gerade dabei, die Kühltasche wieder im Kofferraum zu verstauen. „Willst du etwas essen?“, fragte sie.
Manuel schüttelte den Kopf. „Kein Hunger. Ich habe den Weg gefunden! Wir können sofort aufbrechen!“
Andrea sah von einem zum anderen. „Was kann ich tun, um euch von dieser Idee abzubringen?“, fragte sie mit einer Spur von Verzweiflung in der Stimme.
„Nichts!“, antworteten Alberto und Manuel gleichzeitig, blickten sich an und lachten. Sie hatten sich schon in der Schule so gut verstanden, dass sie oftmals im gleichen Moment die gleichen Gedanken hatten.
„Wie lange wird der Aufstieg wohl dauern?“, überlegte Alberto, wobei er die Felswand musterte.
„Der Weg führt von hier aus zunächst nach Westen, während die Ruine ein Stück östlich des Dorfes liegt“, antwortete Manuel. „Ich nehme an, er macht ein paar 180-Grad-Kehren. Außerdem ist er teilweise stark zugewachsen. Schlimmstenfalls könnte es wohl zwei, vielleicht auch drei Stunden dauern.“
„Dann wird es bei der Rückkehr aber knapp werden mit dem Tageslicht.“
Manuel nickte betrübt; es würde ihnen wohl nicht viel Zeit zur Besichtigung der Ruine bleiben. Dann weiteten sich seine Augen. „Ich habe eine Idee!“, verkündete er aufgeregt. „Wir werden dort oben campieren!“
„Bist du irre?“, fragte Andrea aufgebracht. „Glaubst du, ich schleppe ein Zelt stundenlang durch die Gegend?“
„Das erledigen wir schon, keine Sorge“, beruhigte sie Manuel. Er warf einen fragenden Blick auf Alberto. „Nun?“
Der Angesprochene nickte langsam. „Wäre schon toll …“ Er ergriff Andreas Hand. „Könnte dir das nicht gefallen? Du bist doch sonst so eine große Freundin romantischer Plätze!“
„Nicht, wenn ich dafür kilometerweit latschen muss“, murrte sie. Aber Alberto kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie sich geschlagen gab.
Also begann man, die nötigste Campingausrüstung zusammenzupacken und auf drei Rucksäcke zu verteilen. Der größte und schwerste Posten waren die beiden Zelte mit Zubehör und Schlafsäcken – ein kleines Ein-Mann-Zelt für Manuel und ein wesentlich geräumigeres Zwei-Mann-Zelt für Alberto und Andrea. Manuel zögerte einen Moment, als er sein Zelt oben auf den Rucksack schnallte; streng logisch gedacht war es unsinnig, das kleine Zelt mitzuschleppen, da das von Alberto Platz genug für drei Personen bot. Aber frisch Verliebten konnte man seiner Erfahrung nach nicht mit Logik kommen, und die beiden hatten ihre traute Zweisamkeit in den letzten Nächten so weidlich ausgenutzt, dass der Geschichtsstudent es schließlich vorgezogen hatte, seine eigene kleine Behausung unter Wahrung eines ausreichenden Sicherheits- und Geräuschabstandes von den beiden aufzubauen.
Schließlich war alles bereit zum Aufbruch, als Andrea ihr Handy hervorzog. „Ich muss nur noch meinen Eltern Bescheid sagen.“
Manuel warf einen missbilligenden Blick auf das Telefon. Er hasste diese Dinger und war vor allem der Ansicht, dass sie nicht zu einem Urlaub passten. Aber Andrea hatte ein unstillbares Mitteilungsbedürfnis und außerdem übermäßig besorgte Eltern, denen sie eine tägliche „Positionsmeldung“ durchgeben musste.
Aber diesmal klappte es nicht.
„Kein Netz“, sagte das Mädchen verblüfft. „Heute Morgen hat es aber noch funktioniert!“
„Das sind die Berge“, konstatierte Alberto. „Warte ab, bis wir weiter oben sind, wahrscheinlich geht es dann ohne Probleme.“
Manuel setzte seinen Rucksack, den er bereits geschultert hatte, wieder ab und ging zum Auto, das sein Freund eben zusperren wollte. Er nahm auf dem Beifahrersitz Platz und schaltete das Radio ein, das sie am Vormittag noch mit verlogenen Volksliedern genervt hatte.
Außer statischem Rauschen war nichts zu hören.
Mit einem Knopfdruck startete er den Sendersuchlauf und sah zu, wie die Frequenzzahlen über das Display huschten. Als sie das Ende erreicht hatten, begannen sie wieder von vorne.
Ohne Ergebnis.
„Sag’ ich doch“, meinte Alberto achselzuckend. „Wir sind hier in einem Funkloch.“
„Das ist aber das tiefste Funkloch, dem ich je begegnet bin!“, versetzte Manuel. Er stieg wieder aus und blickte in den azurblauen Himmel, wo sich die Sonne bereits merklich auf dem Abstieg befand.
Keine Flugzeuge.
Und keine Kondensstreifen.
„Ich denke“, sagte er dann langsam, „wir sind hier weiter von jeder Zivilisation entfernt, als ihr euch vorstellen könnt!“
Der Aufstieg ging langsamer voran, als selbst Manuel befürchtet hatte.
Zum einen war der Weg bereits kurz hinter dem Dorf so stark überwachsen, dass die drei bei jedem Schritt Acht geben mussten nicht auszugleiten oder an einer Wurzel hängen zu bleiben. Und zum anderen führte der Pfad kilometerweit am Fels entlang in Richtung Westen und damit von der Ruine weg und nicht auf diese zu.
Sie waren kurz davor, umzukehren und nach einem anderen Zugang zur Ruine zu suchen, als der Weg plötzlich eine Kehre machte und von nun an nach Osten lief. Da er dabei wie bisher leicht aufwärts führte, waren nun auch Alberto und Andrea überzeugt, dass er sie letztlich zum Felsenkloster bringen würde.
In dem Maße, wie der Pfad an Höhe gewann, schien er an Breite zu verlieren. War er anfangs noch gute anderthalb Meter breit gewesen, so war es hinter der Kehre maximal ein Meter, stellenweise sogar deutlich weniger. In Verbindung mit dem Zustand des Weges und dem Abgrund, der sich mittlerweile an die fünfzig Meter tief zu ihrer Rechten auftat, trug diese Tatsache dazu bei, ihr Marschtempo noch weiter zu verlangsamen. Bei der ersten Rast, zwei Stunden nach ihrem Aufbruch aus dem Dorf, schätzte Manuel, dass sie in der letzten Stunde nicht mehr als zwei Kilometer geschafft hatten. Er hütete sich aber, diese Schätzung weiterzugeben. Zum Glück hatten alle drei Erfahrung im Bergwandern und verfügten über entsprechend festes und trittsicheres Schuhwerk.
Als sie die nächste Kehre erreichten, hatte die Sonne bereits deutlich mehr als die halbe Strecke zwischen ihrem Höchststand und dem Horizont zurückgelegt. Welchen Bruchteil der Strecke zwischen dem Dorf und der Klosterruine die drei bepackten Wanderer zurückgelegt hatten, war sehr schwer festzustellen. Laut Manuels Höhenmesser befanden sie sich nun gute hundert Meter über dem Niveau des Dorfes. Die Höhe der Ruine war vom Tal aus schwer zu schätzen gewesen, aber der Geschichtsstudent nahm an, dass sie mindestens dreihundert Meter betrug, gemessen von dem verlassenen Dorf aus. Das bedeutete, dass sie erst etwa ein Drittel des Weges zurückgelegt hatten, falls der Weg nicht bald deutlich steiler wurde.
Erneut musterte Manuel den Sonnenstand. Er begann, sich Sorgen zu machen.
Aber er schwieg gegenüber seinen Kameraden.
Irgendwo zwischen den beiden Kehren mussten sie das Dorf passiert haben, aber wegen der zwar geringen, jedoch spürbaren Neigung der Felswand gegen die Vertikale hatten sie es nicht sehen können – und keiner von ihnen hatte Lust, sich weit genug über den Rand des Weges hinauszulehnen, nur um das Dorf von oben betrachten zu können.
An der nächsten Kehre, die wiederum kilometerweit von der vorherigen entfernt war, streifte Andrea ihren Rucksack ab, ließ ihn zu Boden fallen – und sich selbst daneben. „Mir reicht’s!“, sagte sie. „Ihr könnt von mir aus ewig so weiter marschieren, aber ohne mich!“
Alberto setzte sich neben sie und sagte einige Minuten lang gar nichts. Auch er hatte sich den Aufstieg leichter und vor allem kürzer vorgestellt.
Manuel warf verstohlen einen Blick auf den Höhenmesser. Einhundertachtzig Meter Niveauunterschied zeigte dieser an, womit sie etwa sechzig Prozent der geschätzten Höhe der Ruine erreicht hatten. Wieder sah er zur Sonne, die noch etwa drei Handbreit hoch über dem Horizont stand.
Es würde sehr knapp werden.
Er setzte sich neben die beiden und sagte: „Wir können jetzt nicht mehr umkehren, weil wir sonst riskieren, in die Dunkelheit hineinzukommen. Auf diesem Weg ist das auch mit den Lampen viel zu gefährlich!“
Alberto nickte zögernd, aber Andrea sah ihn ungläubig an. „Das ist nicht dein Ernst!“
Manuel wies wortlos zur Sonne, und das Mädchen schluckte.
„Ich kann aber nicht mehr weiter! Wirklich!“, sagte sie verzweifelt.
„Wir machen eine Viertelstunde Pause“, beschloss Manuel, „danach geht es wieder. Den weitaus größten Teil der Strecke haben wir hinter uns.“
„Das will ich hoffen“, mischte sich nun zum ersten Mal Alberto ein und warf seinem Freund dabei einen warnenden Blick zu. „Denn sonst kommen wir so oder so in die Dunkelheit – egal, ob wir vorwärts gehen oder zurück!“
Manuel gab den beiden und nicht zuletzt sich selbst zwanzig Minuten zur Erholung, dann drängte er zum Aufbruch. Doch bereits nach wenigen hundert Metern Marsch wurde ihm klar, dass sie die Ruine nicht mehr bei Tageslicht erreichen konnten.
Bei der nächsten Kehre hielten sie wieder an und sahen still zu, wie die Sonne hinter dem westlichen Rand des Tales versank. Der Höhenmesser gab an, dass sie sich nun etwa zweihundertsechzig Meter über der Sohle befanden. Sie waren immer noch nicht hoch genug, um über den das Tal nach Süden begrenzenden Bergrücken sehen zu können.
„Und nun?“ Andrea sah erst Manuel, dann Alberto herausfordernd an. „Bald wird es stockfinster sein, und wir sind immer noch hier in der Wand!“ Die letzten Worte schrie sie beinahe.
„Wir müssen einen Lagerplatz suchen“, sagte Manuel zögernd.
Alberto nickte. „Vielleicht am besten gleich hier?“ Er wies auf den Boden. Dank der Kehre gab es an dieser Stelle einen größeren, einigermaßen ebenen Platz, etwa zehn Meter in der Länge und sechs oder sieben in der Breite messend. Bedeckt war der Boden mit Gras und niederen Sträuchern; erst weiter hinten, am spitzen Ende der Kehre, wuchsen hohe Büsche, die den Blick auf den dahinterliegenden Fels verwehrten.
Andrea ließ sich mitsamt ihrem Rucksack ins Gras fallen. „Mir ist alles recht. Hauptsache, ich muss heute nicht mehr laufen!“, meinte sie erschöpft. „Mit euch beiden unternehme ich bestimmt niemals mehr eine Wanderung, darauf könnt ihr Gift nehmen!“
Alberto und Manuel rissen einige der Sträucher aus, um Platz für die Zelte zu schaffen, und begannen dann mit deren Aufbau. Das Mädchen sah ihnen stumm zu. Als die beiden Zelte standen, legte Alberto einige der zundertrockenen Sträucher auf einen Haufen.
„Immerhin haben wir ein Lagerfeuer“, freute er sich.
Eine halbe Stunde später schwammen fünf Paar Würstchen in einem Topf, der auf dem mitgebrachten kleinen Gaskocher platziert worden war. Als sie mit dem Essen fertig waren, hatte die Dunkelheit bereits eingesetzt, und Manuel entzündete das Lagerfeuer. Es dauerte nicht lange, und die Flammen loderten hell auf. Da die Sträucher jedoch rasch verbrannten, mussten sie häufig nachlegen, wollten sie das Feuer nicht frühzeitig wieder ausgehen lassen.
„Noch ein San Miguel?“, fragte Alberto, und als Manuel nickte, warf er ihm die Bierdose zu.
Nachdem der Geschichtsstudent die Dose geöffnet und den ersten Schluck getrunken hatte, sagte er: „Ist das hier nicht besser als jeder Campingplatz?“
Alberto nickte, und nach einigem Zögern schloss sich auch Andrea an.
„Früher haben wir uns die Zeit vertrieben, indem wir uns gegenseitig Gruselgeschichten erzählten!“, erinnerte sich Manuel. Einen warnenden Blick Albertos konnte er wegen des flackernden Lichts nicht wahrnehmen – oder er beschloss einfach, ihn zu ignorieren.
„Weißt du noch, wie wir letztes Jahr in einem Programmkino in Madrid die Horror-Matinee besucht haben?“, fuhr der Geschichtsstudent fort. „Sie brachten La noche del terror ciego[1]. Wenn man so etwas im Fernsehen sieht, ist es einfach nur dämlich, aber im Dunkeln, auf der großen Leinwand …“
„… und ungekürzt …“, fiel Alberto mit zum Himmel gewandten Augen ein.
„… war es beinahe richtig gruselig! Weißt du noch, wie die Leichen der Tempelritter, die schon nicht mehr in bestem Zustand waren, aus ihren Gräbern gestiegen sind?“
„Wie die wohl die schweren Steinplatten zur Seite schieben konnten?“
„Und wie wir gelacht haben, als sie dann plötzlich auf Pferdeleichen durch die Nacht ritten! Du hast mich gefragt, wo die so schnell die Pferde herbekommen hatten …“
„… und du hast geantwortet: Muss wohl ein Pferdefriedhof in der Nähe sein!“, ergänzte Alberto lachend.
„Und wie dann …“
Andrea schrie so laut auf, dass Manuel erschrocken herumfuhr, die Bierdose in der Rechten zur Abwehr gegen etwaige sich nähernde reitende Leichen ausgestreckt. Aber da war nichts. Nicht einmal Hufgetrappel.
„Bist du jetzt zufrieden?“, schrie Andrea Alberto an, während sie erbost aufsprang. „Es hat ja unbedingt sein müssen!“ Dann verschwand sie fluchtartig im gemeinsamen Zelt.
Am Lagerfeuer herrschte einige Sekunden lang betretene Stille, dann fragte Manuel verdutzt: „Was … was war denn das?“ Er sah demonstrativ an sich herunter. „Hab’ ich plötzlich Aussatz bekommen? Oder die Pest?“
Alberto schüttelte traurig den Kopf. „Das hätte ich dir wahrscheinlich vorher erklären müssen, aber ich habe es einfach vergessen: Sie verträgt keine Gruselgeschichten!“
„Was?“ Manuel lachte ungläubig. „So etwas gibt es? Heutzutage?“
Alberto seufzte. „Das ist nicht lustig, wirklich! Ich konnte es zunächst genauso wenig glauben wie du, bis sie mir dann die Geschichte mit ihrem Bruder erzählt hat.“
„Was war mit dem?“
Alberto senkte die Stimme, um zu vermeiden, dass seine Freundin seine Worte hören konnte. „Nun, sie hat – oder besser gesagt: hatte – einen Bruder, der drei oder vier Jahre älter war als sie. Als sie noch klein war, hat er sich immer einen Spaß daraus gemacht, ihr abends im Bett Gruselgeschichten zu erzählen, und zwar so lange, bis sie sich vor Angst nass gemacht hat. Das fand er irrsinnig komisch! Schließlich ging es sogar so weit, dass ihre Eltern ihr nachts Windeln verpasst haben.“
„Ach so … Und was ist aus diesem netten Bruderherz geworden? Wenn ich dich recht verstehe, ist er tot?“
Alberto nickte. „Er ist tot, aber Näheres weiß ich auch nicht. Hat sie mir nie erzählt.“ Er seufzte. „Jedenfalls weißt du nun, warum sie keine Horrorstorys verträgt, und ich bitte dich, das zu respektieren – auch wenn es schwer fällt.“ Er grinste. „Mir fällt es ja selbst manchmal schwer! Und warum ihre Eltern so besorgt um sie sind und sie täglich mindestens einmal zu Hause anrufen muss, ist dir jetzt wohl auch klar.“
„Ist schon okay – ich werde aufpassen!“, versprach Manuel. „Ist wohl am besten, wenn wir die Tafel jetzt aufheben.“
Als Alberto zustimmend nickte, stand Manuel auf und trat die Reste des Feuers aus. Finsternis umgab sie plötzlich. Der abnehmende Mond würde erst nach Mitternacht aufgehen, aber die Sterne …
„Mein Gott! Sieh dir die Sterne an!“
Manuel war bis auf einen Meter an den Abgrund herangetreten und winkte Alberto zu sich. Dunkelheit hatte nur unmittelbar nach dem Löschen des Feuers geherrscht, so lange, wie die Pupillen der beiden Studenten benötigten, sich zu weiten. Doch dann …
Dann lag der hellste und klarste Sternenhimmel vor und über ihnen, den sie jemals erblickt hatten.
„Die Milchstraße! Ich kann die Milchstraße sehen!“ Alberto deutete auf das schimmernde Band.
Manuel nickte stumm, dann senkte er seinen Blick auf die umgebende Landschaft, die durch die Sterne geisterhaft beleuchtet wurde.
„Keine Lichter“, sagte er leise.
Mit offenem Mund musterte Alberto erst das Tal, durch das sie gekommen waren, dann den Horizont. „Das ist unmöglich! Völlig unmöglich!“ Er deutete nach Südwesten. „Mindestens den Lichtschein von Sangüesa müsste man sehen können, oder? Irgendein Licht! Mein Gott, was geht hier vor?“
„Morgen“, antwortete Manuel. „Morgen werden wir es erfahren – wenn wir das Kloster erreicht haben!“ Dann wandte er sich abrupt seinem kleinen Zelt zu und hinterließ einen reichlich verdutzten Alberto.
Bevor Manuel den Reißverschluss seines Zeltes schloss, streckte er noch einmal den Kopf hinaus und deutete auf den Abgrund. „Wenn heute Nacht jemand mal raus muss, sollte er – oder sie! – dabei besser nicht allzu weit vom Zelt weggehen!“
*
Manuel erwachte mitten in der Nacht von Geräuschen, die aus dem anderen Zelt drangen. Er schaltete die Taschenlampe ein und sah auf seine Armbanduhr. Halb eins! Er war ja mittlerweile einiges gewohnt in Bezug auf nächtliche Ruhestörung durch die beiden im Nachbarzelt, aber so spät war es noch nie geworden!
Langsam schälte er sich aus dem Schlafsack und verließ dann das Zelt. Klare Nachtluft umfing ihn, von einer Kälte, wie er sie aus Madrid um diese Jahreszeit nicht gewohnt war. Vorsichtig näherte er sich dem Abgrund und genoss das Panorama. Im Osten, genau im Taleinschnitt, ging soeben der Halbmond auf – ein riesengroßer und rötlich gefärbter Halbmond. Wie ein Vorbote des Unheils, dachte Manuel und schauderte. Aber jetzt sind wir soweit gekommen – wir können nicht mehr zurück!
Doch er wusste, dass das nicht stimmte.
Der Punkt war: Er wollte nicht mehr zurück!
Nicht jetzt jedenfalls – nicht, bevor er die Ruine betreten hatte.
Etwas raschelte im Gebüsch. Manuel drehte sich um, konnte aber nichts erkennen. Er schaltete die Taschenlampe ein, die er aus dem Zelt mitgebracht hatte, und leuchtete die Sträucher ab. Nichts zu sehen … doch, halt, dort hinten bewegte sich ein Zweig!
Manuel trat näher an den Busch heran und bewegte dabei die Taschenlampe, so dass ihr Lichtkegel das Gestrüpp aus verschiedenen Winkeln beleuchtete.
Plötzlich ertönte ein tiefes und durchdringendes Knurren.
Der Student erschrak so sehr, dass ihm die Taschenlampe aus der Hand fiel und erlosch, als sie den Boden berührte.
Ein heller Fleck schob sich aus dem Strauch, in dessen Mitte zwei glühende Punkte leuchteten.
Augen.
Gelbe Raubtieraugen!
Ein Luchs?, fragte sich Manuel.
Wieder raschelte der Strauch, und der helle Fleck wurde langsam größer – das Tier kam näher!
Ein Wolf! Nichts anderes konnte es sein! Ein großer, weißer Wolf!
Manuel hielt den Atem an und stand wie zu einer Statue erstarrt. Der Statue eines Menschen, der vom Blitz getroffen worden war – oder der im nächsten Moment von einem Raubtier zerrissen wurde …
Der Student hätte später nicht zu sagen gewusst, wie lange sie sich dort gegenüberstanden. Es schien endlos zu dauern, aber möglicherweise waren es auch nur wenige Sekunden.
Dann war der Wolf plötzlich verschwunden.
Er zog sich nicht etwa ins Gebüsch zurück oder lief auf den Pfad, sondern er verschwand.
Eine Weile stand Manuel noch wie erstarrt. Dann stieß er einen erstickten Laut aus, wandte sich um und lief zu seinem Zelt.
Flüchtete zu seinem Zelt.
Beim ersten Morgengrauen stand Manuel auf. Seit seinem mitternächtlichen Erlebnis hatte er kein Auge zugetan, und obwohl es von Stunde zu Stunde in seinem Geist verblasst war, zweifelte er dennoch keinen Moment daran, dass es tatsächlich stattgefunden hatte.
Alberto und Andrea schliefen noch. Kein Wunder!, dachte Manuel, schließlich waren die beiden nicht nur von dem gestrigen langen Marsch erschöpft.
Nachdem er sich angezogen hatte, beschloss er, dem Pfad einige hundert Meter weiter nach oben zu folgen und dabei vielleicht festzustellen, wie weit es noch bis zur Ruine war. Denn daran, dass dieser Pfad tatsächlich zu dem alten Felsenkloster führte, hatte er nie ernsthaft gezweifelt.
Er stellte fest, dass der Pfad von ihrem Lagerplatz an steiler und noch enger als bisher wurde – aber er war keinesfalls unpassierbar, und das war das Wichtigste. Außerdem bedeutete ein steilerer Weg, dass die zurückzulegende Strecke bis zum Kloster kürzer wurde; Manuel schätzte sie auf allerhöchstens noch zwei bis drei Kilometer. Da der Lagerplatz laut Höhenmesser 260 Meter über der Talsohle lag, stand es für den Studenten fest, dass diese Kehre gleichzeitig die letzte war. Schließlich hatten sie, als sie die Ruine gestern zum ersten Mal entdeckt hatten, festgestellt, dass ein dunkler Strich, den sie als Weg gedeutet hatten, von rechts her auf sie zu führte – und der Weg, auf dem er sich befand, führte seit der Kehre nach Westen.
Als er zum Lager zurückkehrte, waren die anderen beiden bereits angezogen und dabei, das Frühstück herzurichten. Manuel setzte sich zu ihnen und erläuterte seine Vermutung, dass die Strecke, die sie noch von der Klosterruine trennte, nicht allzu lang sein könne, was beide mit Erleichterung aufnahmen.
Von seinem nächtlichen Erlebnis erzählte er nichts.
Schließlich bauten sie die Zelte ab und verstauten alles in und auf den Rucksäcken. Manuel überprüfte sicherheitshalber noch einmal, dass das Feuer wirklich vollständig gelöscht war und auch kein Zivilisationsmüll zurückblieb. Er hatte kein Verständnis für sogenannte Naturfreunde, die mit Zigarettenschachteln und Bier- und Coladosen die Landschaft verschandelten. Aber in dieser Hinsicht gab es weder mit Alberto noch mit Andrea Probleme.
Wie Manuel bereits erkundet hatte, gestaltete sich der Marsch noch schwieriger als gestern. Als sie nach über einer Stunde die Ruine immer noch nicht erreicht hatten, blieb Andrea stehen.
„Wo ist nun das verdammte Ding, he? Wann kommen wir endlich an? Oder besser: Kommen wir überhaupt irgendwann mal an? Du superschlauer Historiker hast ja nicht einmal einen Beweis dafür, dass dieser Weg tatsächlich zum Kloster führt!“
„Besser ein Historiker als ein Hysteriker!“, erwiderte Manuel genervt. „Wohin soll der Weg denn sonst führen? Aber wenn du umkehren willst, bitte, tu dir keinen Zwang an! Ich jedenfalls gehe weiter!“ Sprach’s und ließ der Ankündigung die Tat folgen. Er brauchte nicht zurückzusehen, um zu wissen, dass die beiden ihn bald wieder einholen würden.
Eine knappe halbe Stunde später verbreiterte sich der Pfad plötzlich, und dann sahen die drei Studenten in etwa fünfzig Meter Entfernung zum ersten Mal seit dem Verlassen des Dorfes etwas, das eindeutig von Menschenhand erbaut worden war.
Ein Tor.
Ein Tor, das gemeinsam mit einigen wenigen Metern Mauer den Weg versperrte.
Manuel wartete, bis Alberto und Andrea, die etwas zurückgefallen waren, wieder zu ihm aufschlossen, dann deutete er nach vorne. „Nun?“
„Na endlich!“, seufzte Alberto, und Andrea fügte hinzu: „Gott sei Dank!“
Langsam legten sie die restliche Strecke bis zur Klosterpforte zurück. Davor, zu ihrer Rechten, befand sich ein regelrechtes Wäldchen, das unter dem überhängenden Fels wuchs und wucherte. Wie weit es in den Fels hineinreichte – wie groß also die Höhlung war, die sich hier gebildet hatte, konnten die drei nicht ermessen, und zumindest im Augenblick war es ihnen auch egal.
Das Tor war gut anderthalb Meter breit, mehr als zwei Meter hoch und wurde durch einen halbkreisförmigen Bogen abgeschlossen, in den eine lateinische Inschrift eingemeißelt war. „ Dieses Tor wird für den hindurchtretenden Gläubigen zu dem des Himmels, wenn er sich bemüht, dem Glauben die Befolgung von Gottes Geboten zuzugesellen“, übersetzte Manuel. Natürlich hätten weder Alberto noch Andrea dieser Übersetzung bedurft, da jeder einigermaßen gebildete Spanier so viel Latein verstand, dass er zumindest einfache Texte fließend lesen konnte. Schließlich hatte sich die kastilische Sprache – ebenso wie die italienische – aus dem Vulgärlatein entwickelt.
Die Tür selbst bestand aus mit Metall beschlagenem Holz. Manuel konnte dies feststellen, weil sie offen stand – zwar nur einen Spalt, aber weit genug, um für keinen der drei Besucher, die allesamt nicht zu Fettleibigkeit neigten, ein Problem darzustellen.
Vorsichtig traten sie in das Kloster, Manuel voraus, gefolgt von Alberto und Andrea.
Rechter Hand befand sich ein kleiner, quadratischer Bau: die Klosterpforte. Dahinter wich der Fels weit zurück, so dass er eine gewaltige, halbkugelförmige Höhlenwand bildete, die sich schützend über den Vorsprung wölbte, auf dem das Kloster erbaut worden war.
Langsam gingen sie weiter und passierten dabei eine kleine Kapelle, die, wie Manuel rasch feststellte, aus dem 15. Jahrhundert stammen musste. Dann führte sie der Weg durch ein hohes Säulenpaar, und erst, als sie es passiert hatten, erkannten sie, dass sie sich nun innerhalb eines Kreuzgangs befanden. Aber in was für einem! Er mochte etwa zwanzig Meter im Geviert messen und wurde nach innen hin durch eine Reihe von steinernen Säulen abgeschlossen, die voneinander einen Abstand von etwa zweieinhalb Metern hielten und eine Bogenreihe trugen. Manuel, der wie die anderen überwältigt stehen geblieben war, trat unwillkürlich einen Schritt näher heran und hob seinen Blick. Die Bogenreihe trug hier nicht wie in den anderen Kreuzgängen, die er kannte, das Dach eines Klostergebäudes, sondern war in einer Höhe von gut vier Metern wie mit dem Messer abgeschnitten – der Kreuzgang war somit nach oben hin offen; als Dach diente der überhängende Fels, der auf der Nordseite beinahe die Bögen berührte und den von der Säulenreihe eingeschlossenen Platz weitgehend vor den Unbilden des Wetters schützte.
Alberto war zwischen den Bögen auf den mit Gras und Gestrüpp bestandenen Platz innerhalb des Gevierts hinausgetreten und drehte sich nun langsam um sich selbst, den Kreuzgang und den ihn nach oben begrenzenden Fels musternd. „Junge, Junge!“, sagte er dann und winkte seiner Freundin, sich zu ihm zu gesellen. „Kannst du dir einen romantischeren Ort für ein Camping vorstellen als hier, auf diesem Platz?“ Er musterte den Boden. „Wir müssen natürlich das Gestrüpp ein bisschen roden …“
Manuel achtete nicht auf die beiden. Er war an eine der Säulen herangetreten und musterte deren Kapitell. Wie er anhand von untrüglichen Anzeichen schloss, stammte der Kreuzgang aus dem 12. Jahrhundert, aber bei den Kapitellen war er nicht ganz sicher. Langsam schritt er von einer Säule zur anderen. Manche Kapitelle waren mit Tieren und Pflanzen geschmückt, darunter auch Fabeltiere – eines schien einen Pegasus darzustellen. Diese Kapitelle waren eindeutig älter als der Kreuzgang; man hatte sie hier wohl aus einem älteren Kloster wiederverwendet. Andere Kapitelle zeigten Szenen aus der Schöpfungsgeschichte, und wieder andere bildeten verschiedene Stationen im Leben Jesu ab. Manuel konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass einige der Kapitelle jünger waren als der Kreuzgang; vielleicht hatten sie als Ersatz für beschädigte Artgenossen gedient, oder sie waren nachträglich, aus welchen Gründen auch immer, umgearbeitet worden.
Mittlerweile war Alberto an den südlichen Rand des Kreuzgangs herangetreten, der von einer halb verfallenen Mauer gebildet wurde. Diese Mauer mochte einst erheblich höher gewesen sein, so dass sie einen Innenhof abschloss, in dem sich der Kreuzgang befand. Heute jedoch war sie von dicken Rissen durchzogen und nirgends mehr als brusthoch. An einigen Stellen reichte sie nur bis in Kniehöhe. Als Andrea zu Alberto hintrat, stieß sie einen Schreckensschrei aus und wich zurück – die beiden befanden sich unmittelbar vor einem mehrere hundert Meter tiefen Abgrund.
„Komm zurück!“, forderte sie ihren Freund mit zitternder Stimme auf. „Wenn du das Gleichgewicht verlierst …“
„Ich kann die Spitze des Kirchturms sehen“, sagte dieser, ohne auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen.
„Des Kirchturms?“
„Von der Kirche aus dem Dorf.“ Er beugte sich langsam weiter vor. „Vielleicht entdecke ich ja auch noch mein Auto …“
„Bist du verrückt?“ Andrea packte seine Hand und riss ihn daran vom Abgrund zurück. „Wenn ein plötzlicher Windstoß kommt, bist du weg!“
Zögernd ließ sich Alberto von ihr zurück in den Kreuzgang führen, nicht ohne noch einmal einen langen Blick in den Abgrund zu werfen.
Manuel, der inzwischen seinen Rundgang beendet hatte, trat auf die beiden zu. „Wir sollten uns mal die Kirche ansehen“, meinte er und deutete dabei auf das bis zur Felsendecke aufragende Gebäude, das den Kreuzgang auf seiner kompletten Westseite begrenzte.
Diesmal hatte Andrea nichts gegen eine Kirchenbesichtigung einzuwenden. Gemeinsam verließen sie den Kreuzgang an seiner südwestlichen Ecke und traten auf einen nur wenige Meter breiten, gepflasterten Weg, der an der verfallenden Mauer entlangführte. Bereits nach einigen Schritten standen die drei vor dem breiten Kirchenportal, welches wie das der Kirche im Dorf von einem Bogenfries gekrönt wurde. Dieser Fries enthielt jedoch nur eine einzige Bildreihe, die zudem in der bildhauerischen Qualität der Darstellungen nicht mit derjenigen der Dorfkirche mithalten konnte.
Das Portal war geschlossen. Manuel drückte die schwere, eiserne Klinke nieder, doch die Tür bewegte sich nicht. Alberto trat hinzu und half, doch erst als sich auch noch Andrea mit aller Kraft gegen die Tür stemmte, begann diese, sich langsam und geräuschvoll nach innen zu bewegen. Dennoch kostete es die drei Studenten mehrere schweißtreibende Minuten, bis sie endlich einen Spalt geschaffen hatten, der groß genug war, dass sich ein Mensch hindurchzwängen konnte.
Das hohe, mehr als zwanzig Meter lange und zehn Meter breite Kirchenschiff wurde durch drei versetzt angeordnete Fenster, die sich über dem Eingangsportal befanden, ausreichend erhellt. Das Schiff war leer bis auf den Altar sowie hölzerne Chorgestühle, die sich links und rechts an den Wänden hinzogen und deren Holz vor Alter schwarz geworden war. Doch als sie ihre Blicke nach oben wandten, stockte den Besuchern der Atem: Dort, wo normalerweise ein Gewölbe das Kirchenschiff abschloss, befand sich in dieser Kirche eine Felsendecke.
Alberto pfiff durch die Zähne. „Sie haben sie einfach in den Felsen hineingebaut!“ Ohne sich dessen bewusst zu werden, hatte er sehr leise gesprochen, beinahe geflüstert. „Genau wie den Kreuzgang!“
Manuel nickte und deutete nach oben. „Nicht nur das! Der Fels war auch bemalt, seht ihr?“ In der Tat wies das natürliche Gewölbe Spuren von einstmals bunter Bemalung auf, allerdings zu wenig und zu stark verblasst, um die Darstellungen ohne ausführliche Untersuchungen klassifizieren zu können.
„Und dort!“ Alberto wies nach vorne, wo hoch über dem Altar drei halbkreisförmige Chorhäupter das Kirchenschiff krönten, die aus dem nackten Felsen herausgehauen worden waren.
„Wahrscheinlich mussten die Erbauer gar nicht viel nachhelfen“, überlegte Manuel, wobei er sich ebenso wie Alberto eines Flüstertons bediente. „Sie haben die Kirche einfach an die von der Felsbeschaffenheit her günstigste Stelle gesetzt und dann die Wände hochgezogen.“
„Klar!“, ergänzte Alberto sarkastisch. „Alles ganz einfach!“
„Und was ist das?“
Andrea war einige Schritte vorgetreten und stand nun beinahe im Zentrum der Kirche. Sie deutete auf eine Stelle am Boden, die sich etwas links von der Mitte zwischen ihr und dem Altar befand. Einige der schweren, quadratmetergroßen Steinplatten, die den Fußboden bildeten, waren eingebrochen, so dass an dieser Stelle ein etwa zwei Meter durchmessendes, gezacktes Loch gähnte.
„Die Krypta!“, rief Manuel aus. Vorsichtig trat er an den schwarzen Abgrund heran. „Ich brauche eine Taschenlampe!“
Bereitwillig eilte Alberto aus der Kirche und zum Kreuzgang, wo sie ihre Rucksäcke abgesetzt hatten. Zwei Minuten später war er wieder zurück und reichte seinem Freund die größere der beiden Taschenlampen, die sie mit sich führten.
Ungeduldig nahm Manuel sie ihm aus der Hand und schaltete sie ein. Gespannt folgten die Blicke der beiden dem grellen Lichtkegel, während Andrea nach wie vor in der Mitte der Kirche stand und sich nicht vom Fleck rührte. Sie schien nicht erpicht auf weitere Entdeckungen zu sein.
„Särge!“, stieß Alberto hervor, nachdem er einen ersten Blick in die Tiefe geworfen hatte.
Manuel nickte. „Die Grablege der Mönche, die einst hier gelebt haben. Aber fällt dir etwas auf?“
Alberto starrte angestrengt in das Loch und runzelte dann die Stirn. „Die Unordnung! Die Särge sind nicht ordentlich an der Wand entlang aufgestellt, sondern liegen kreuz und quer durcheinander! Ob vielleicht ein Erdbeben …“
„Hier?“ Manuel verzog das Gesicht. „Und die Kirche blieb dabei unbeschädigt? Das glaubst du doch wohl selbst nicht!“ Er umrundete langsam das Loch, wobei er den Lichtkegel der Taschenlampe aus verschiedenen Richtungen in die Krypta fallen ließ.
„Da!“, stieß er plötzlich hervor. „Einer der Sargdeckel ist offen!“
„Nicht nur einer!“ Alberto deutete nach unten, während sein Freund den Lichtkegel langsam schwenkte. „Drei, vier … Mein Gott, was ist da passiert?“
„Ich weiß es nicht, aber ich habe die Absicht, es herauszufinden!“, sagte Manuel entschlossen. Dann schaltete er die Taschenlampe aus und trat einen Schritt zurück. „Später. Jetzt sollten wir uns erst einmal den Rest des Klosters ansehen.“
Als sie sich umwandten, um in Richtung des Ausgangs zu gehen, stellten sie fest, dass Andrea verschwunden war. Nur mit Mühe unterdrückte Manuel einen geharnischten Fluch, der an diesem geweihten Ort äußerst unpassend gewesen wäre.
„Diese Entdeckung war bestimmt zu viel für sie“, meinte Alberto besorgt. „Na ja, wenigstens hat sie nicht in die Gruft hinuntergesehen!“
Seine Freundin stand draußen vor dem Portal. Manuel machte sich bereits auf einen Ausbruch à la „Ich habe genug!“ oder „Ich will sofort hier weg!“ gefasst, aber sie sagte kein Wort, und auch die beiden Männer schwiegen.
Auf der vom Kreuzgang abgewandten Seite schloss sich ein klobiges Gebäude an die Kirche an, das beinahe so hoch war wie diese. Davor stand eine gewaltige und sicher mehrere Jahrhunderte alte Buche.
„Das muss das Dormitorium der Mönche sein“, mutmaßte Manuel. Er musterte das Gebäude, dessen ihnen zugewandte Front drei hohe und schmale Fenster aufwies. Einen Eingang fanden sie auf der von der Kirche abgewandten Seite, und eine flüchtige Untersuchung des leeren Gebäudes bestätigte die Mutmaßung des Geschichtsstudenten. Das Dormitorium, das ein Tonnengewölbe besaß, wurde durch Rundbögen in drei gleich große Abschnitte geteilt, von denen nach Ansicht von Manuel wohl lediglich zwei den eigentlichen Schlafsaal gebildet hatten, während der dritte als Speisesaal gedient haben mochte.
Unmittelbar dem Dormitorium angeschlossen war ein kleines Gebäude, das aufgrund des darin befindlichen Ofens leicht als die Bäckerei des Klosters bestimmt werden konnte. Links von der Bäckerei, am Fuße der Felswand, die an dieser Stelle das Gelände des Klosters nach Westen hin abschloss, entdeckten sie eine Quellfassung. Das mehr als zwei Quadratmeter große, steinerne Becken enthielt sogar Wasser; allerdings stand es nur wenige Zentimeter hoch. Etwa zweimal in der Minute löste sich ein Tropfen aus einem steinernen Rohr und fiel mit einem leisen „Plopp!“ ins Becken.
„Früher muss es hier aber mehr Wasser gegeben haben“, meinte Andrea. Zum ersten Mal, seit sie die Kirche verlassen hatten, nahm sie wieder an der Unterhaltung teil.
Damit war die erste, flüchtige Erforschung des Klosters – eines Benediktinerklosters, wie Manuel mittlerweile festgestellt hatte – schon beinahe beendet. Wenige Meter von der Quelle entfernt begannen wieder die Reste der Mauer, die die Anlage gegen den Abgrund sicherte. An diese Mauer angebaut war ein niedriges und langgestrecktes Gebäude, das nur zwei kleine Fenster aufwies und einst Bewirtschaftungszwecken gedient haben mochte; wahrscheinlich hatte es die Klosterwerkstatt enthalten, mutmaßte Manuel. Er nahm sich vor, es ebenfalls im Laufe des heutigen oder morgigen Tages zu erforschen. Im Großen und Ganzen war das Kloster sehr gut erhalten, machte aber den Eindruck, als habe seit langer, langer Zeit kein Mensch mehr seinen Fuß mehr hineingesetzt. Manuel zerbrach sich den Kopf darüber, wie das möglich war. In der heutigen Zeit der Denkmalhysterie, in der sich die Behörden damit überschlugen, alle möglichen Gebäude, die ein einigermaßen hohes Alter aufwiesen, unter Denkmalschutz zu stellen und deren schutzlose Besitzer damit praktisch zu enteignen, hätte sich wenigstens irgendwo eine Gedenktafel oder etwas Ähnliches finden müssen – irgendetwas, das darauf hinwies, dass der alles umschlingende Krake Staat seine Tentakel auch bis hierhin ausdehnte.
Aber sie hatten nichts gefunden, das jünger als vielleicht vierhundert Jahre war.
Nicht einmal eine Coladose.
Als sie in den Kreuzgang zurückkehrten, hatte die Sonne bereits ihren höchsten Stand überschritten. Sie aßen einige der mitgebrachten kalten Vorräte und schlugen dann die beiden Zelte auf, nachdem sie einen Teil des Geländes mit Hilfe eines Klappspatens vom Gestrüpp befreit hatten. Als sie damit fertig waren, erinnerte sich Andrea ihrer töchterlichen Verpflichtungen, holte ihr Handy aus dem Rucksack und schaltete es ein.
„Das gibt’s doch nicht!“, murmelte sie enttäuscht.
„Wieder kein Netz?“, fragte Alberto ungläubig. „Hier oben?“ Er sah Manuel an. „Was sagt man dazu!“
Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. „Wundert mich nicht.“ Er wies auf den Himmel. „Habt ihr heute schon irgendwelche Flugzeuge oder ihre Hinterlassenschaften gesehen?“
„Was hat das damit zu tun?“, fragte Andrea aggressiv, aber Manuel zuckte nur erneut mit den Schultern und wandte sich ab.
„Ich werde mal in Ruhe die Krypta untersuchen. Kommst du mit, Alberto?“
„Später.“
Während der Geschichtsstudent in Richtung der romanischen Klosterkirche verschwand, steckte Andrea ihr Mobiltelefon zurück in den Rucksack. Als sie sich wieder zu ihrem Freund umwandte, war dieser verschwunden.
„Alberto? Wo … Alberto, geh da weg!“
Fassungslos beobachtete sie ihren Freund, der direkt am Abgrund stand, an jener Stelle, an der die sichernde Mauer nur noch kniehoch war. Schließlich löste sie sich aus ihrer Starre und eilte auf ihn zu, wagte jedoch nicht, sich dem gähnenden Schlund weiter als einen Meter zu nähern.
„Alberto! Verdammt, was soll denn das? Hast du mir nicht mal erzählt, du hättest Höhenangst?“
„Ich dachte nur …“, begann ihr Freund, dann verstummte er wieder. Sein Blick folgte einem kleinen Schwarm von Felsenschwalben, die, von dem ungewohnten menschlichen Besuch aufgeschreckt, wenige Meter von der Mauer entfernt über dem Abgrund ihre Kreise zogen.
„ Alberto!“
Jetzt endlich löste er sich aus seiner Starre, wandte sich um und sah sie verwirrt an. „Ich dachte gerade … Muss es nicht wunderschön sein, wie ein Vogel fliegen zu können? Die Felsen hinunter, wieder hinauf, wieder hinunter … hinunter …“
Manuel kauerte am Boden der Kirche und musterte die darunter liegende Krypta im Licht der Taschenlampe. Er schätzte, dass der Höhenunterschied knapp drei Meter betrug – zu viel für einen gewagten Sprung. Nicht auszudenken, wenn er sich hier ein Bein brach oder auch nur einen Knöchel verstauchte … Aber auf der anderen Seite des Lochs standen zwei Särge übereinander, so dass sich die Höhe auf zwei Meter reduzierte; außerdem schien an jener Stelle die Steinplatte sicherer im Kirchenboden verankert. Er glaubte, es wagen zu können, sich daran festzuhalten und dann langsam hinunterzulassen. Aber zumindest für den Rückweg würde er Hilfe brauchen.
