Gruselkrimi Viererband 1009 - Alfred Bekker - E-Book

Gruselkrimi Viererband 1009 E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Romane: Sandra Düpree und der Druidenzauber (Jonas Herlin) Moronthor und der verratene Traum (Lloyd Cooper) Der Todesengel (Alfred Bekker) Bastion des Satans (Jo Zybell) Die Fackel brannte ruhig. Ihr Lichtschein strich über feuchte von Balken durchzogene Felswände. Der Geruch nasser Erde und verrotteten Holzes hing in der Luft. Keiner von beiden sprach ein Wort. Ihre Schritte hallten von den Schachtwänden wider. Virginia raffte ihren Pelzmantel um ihren schlanken Körper zusammen und zog die Schultern hoch. Sie fröstelte. Aus der Lichtaura des Fackelscheins tauchte ein scharfkantiger Felsbug auf. Links und rechts davon bohrten sich die Schächte in die Finsternis hinab. Eine Weggabelung. Eine weitere nach unzähligen, die sie bereits hinter sich gelassen hatten. Virginia blieb stehen. "Welchen Schacht nun?" Sie blickte ihren Gefährten von der Seite an. Das lange knochige Gesicht des Mannes wirkte versteinert. Seine leicht hervortretenden großen Augen richteten sich starr auf den Felsbug. Die Kaumuskulatur unter seinen hochstehenden und ausgeprägten Wangenknochen pulsierten. Der Adamsapfel auf seinem langen, dünnen Hals tanzte auf und ab. "Welchen müssen wir nehmen?", drängte Virginia.

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Seitenzahl: 534

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Lloyd Cooper, Jo Zybell, Alfred , Jonas Herlin

Gruselkrimi Viererband 1009

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Inhaltsverzeichnis

Gruselkrimi Viererband 1009

Copyright

Sandra Düpree und der Druidenzauber: Unheimlicher Roman

Moronthor und ​der verratene Traum: Der Dämonenjäger von Aranaque 336

Der Todesengel

Bastion des Satans

Orientierungspunkte

Titelseite

Cover

Inhaltsverzeichnis

Buchanfang

Gruselkrimi Viererband 1009

Alfred Bekker, Jonas Herlin, Lloyd Cooper, Jo Zybell

Dieser Band enthält folgende Romane:

Sandra Düpree und der Druidenzauber (Jonas Herlin)

Moronthor und der verratene Traum (Lloyd Cooper)

Der Todesengel (Alfred Bekker)

Bastion des Satans (Jo Zybell)

Die Fackel brannte ruhig. Ihr Lichtschein strich über feuchte von Balken durchzogene Felswände. Der Geruch nasser Erde und verrotteten Holzes hing in der Luft.

Keiner von beiden sprach ein Wort. Ihre Schritte hallten von den Schachtwänden wider. Virginia raffte ihren Pelzmantel um ihren schlanken Körper zusammen und zog die Schultern hoch. Sie fröstelte.

Aus der Lichtaura des Fackelscheins tauchte ein scharfkantiger Felsbug auf. Links und rechts davon bohrten sich die Schächte in die Finsternis hinab. Eine Weggabelung. Eine weitere nach unzähligen, die sie bereits hinter sich gelassen hatten.

Virginia blieb stehen. "Welchen Schacht nun?" Sie blickte ihren Gefährten von der Seite an. Das lange knochige Gesicht des Mannes wirkte versteinert. Seine leicht hervortretenden großen Augen richteten sich starr auf den Felsbug. Die Kaumuskulatur unter seinen hochstehenden und ausgeprägten Wangenknochen pulsierten. Der Adamsapfel auf seinem langen, dünnen Hals tanzte auf und ab. "Welchen müssen wir nehmen?", drängte Virginia.

Paul winkte unwillig ab. Er schloss die Augen und lauschte. Sekunden verstrichen. "Spürst du ihre Nähe nicht?", flüsterte er endlich.

Jetzt schloss auch Virginia die Augen. Sie neigte den Kopf. Wieder verharrten sie schweigend. "Doch. Ich spüre sie..." Virginia deutete auf den linken der beiden Schächte. "Ich spüre ihre Nähe - da unten sind sie..."

Paul nickte. Entschlossen setzten sie ihren Weg fort und traten in den linken Schacht. Über etwa zweihundert Meter führte er mit nur leichtem Gefälle in die Erde hinein. Doch dann fiel er steil ab. Streckenweise so steil, dass Virginia sich an der kalten, feuchten Schachtwand festhalten musste, um nicht auf dem glitschigen Felsboden auszugleiten.

"Wie tief sind wir schon unter der Erde?", flüsterte sie.

"Zweihundert Meter?" Paul zuckte mit den Schultern. "Vierhundert Meter? Ich weiß es nicht genau." Wieder blieb er stehen. Scharf sog er die Luft durch seine große Hakennase ein. Seine Nasenflügel bebten. "Riechst du sie?", fragte er leise.

Auch Virginia schnüffelte prüfend. Ein leichter Schwefelgeruch hatte sich in die feuchte Luft gemischt. "Ja", seufzte sie. "O ja, Paul - ich rieche sie." Ihre Stimme vibrierte, ihr Augen weiteten sich.

Beide merkten kaum, wie ihre Schritte sich beschleunigten, als sie weitergingen. Nur beiläufig registrierte Virginia ihr aufgeregtes Herz. Wie ein junges Kalb vor der Fütterung tänzelte es ihr im Brustkorb herum. Fiebrige Erregung griff nach ihr.

Dass es ihrem Bruder genauso ging, hätte sie an seinen großen Augen und an seinem starr nach vorn gerichteten Blick ablesen können. Aber Virginia dachte nur noch an das, was irgendwo dort unten in der Finsternis auf sie wartete.

Monatelang hatten sich das Geschwisterpaar auf diese Stunde vorbereitet. Sie hatten gefastet, hatten öfter als sonst die blutigen Rituale zelebriert, sich tiefer als sonst in beschwörende Gebete versenkt. Und jetzt - ganz nah war das Ziel. Magisch zog es sie an.

Ein Scharren drang aus der Dunkelheit jenseits des Fackelscheins. Erschrocken klammerte Virginia sich im Wildleder von Pauls Mantelärmel fest. "Hörst du das?" Sie blieben stehen.

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Alfred Bekker

© Roman by Author

COVER A. PANADERO

© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Sandra Düpree und der Druidenzauber: Unheimlicher Roman

Jonas Herlin

Sandra Düpree und der Druidenzauber: Unheimlicher Roman

von Jonas Herlin
Ist die Druidin Marlitt eine Wunderheilerin? Oder steht sie unter dem Einfluss des Ordens der Maske, der den Untergang der Welt beschwören will? Die Hamburger Journalistin Sandra Düpree und Tom Broland geraten in einen Strudel von Ereignissen, die tatsächlich die Menschheit gefährden können.
Ihre Albträume sind eine Warnung. Die Realität ist der wahre Schrecken.
Für die Hamburger Reporterin Sandra Düpree sind düstere Visionen ein ständiger, unheimlicher Begleiter. Doch als die Bilder immer klarer werden und sie das Gesicht einer geheimnisvollen Druidin namens Marlitt und die Fratze einer bronzenen Maske zeigen, wird aus vager Angst eine tödliche Vorahnung.
Ihre Recherche führt sie auf die Spur des rätselhaften „Ordens der Maske“, einer Weltuntergangssekte, die einem gottgleichen Wesen aus einer fremden Dimension dient. Als sie entdeckt, dass ein angesehener Archäologe tief in die Machenschaften des Ordens verstrickt zu sein scheint, gibt es kein Zurück mehr.
Gemeinsam mit ihrem Freund Tom Broland reist sie zu einem abgelegenen Schloss in Mecklenburg-Vorpommern – dem Sitz der Druidin und dem Zentrum der Verschwörung. Dort wird Sandra nicht nur mit einem uralten Ritual konfrontiert, das die Welt zu vernichten droht, sondern auch mit einer Gestalt aus ihrer Vergangenheit, deren plötzliches Auftauchen alles infrage stellt.
Gefangen in einem Labyrinth aus Täuschung, Magie und uraltem Grauen, muss Sandra lernen, ihre Gabe zu kontrollieren. Denn sie ist nicht nur das Ziel des Ordens – sie könnte auch die einzige Waffe sein, die ihn aufhalten kann.
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Kapitel 0: Schatten auf der Alster
Der Traum kam wie immer in Fragmenten, scharfen, kalten Splittern aus Glas, die sich in Sandra Düprees Schlaf bohrten. Es war kein zusammenhängender Albtraum, der eine Geschichte erzählte, sondern eher das Echo einer fernen, grausamen Melodie. Da war das Gefühl von altem, feuchtem Stein, der Geruch von Moder und ozonartiger Energie. Bilder flackerten auf, zu schnell, um sie festzuhalten: ein Kreis aus bleichen, starrenden Schädeln, die von einer riesigen Kuppel herabsahen; die erstickende Schwere von Wasser, das von allen Seiten drückte; und immer wieder dieses metallische Zischen, wie wenn glühendes Eisen auf nasse Haut trifft.
Und dann war da das Gesicht. Es war nie dasselbe. Manchmal war es das einer jungen Frau mit rotstichigem Haar und Augen, die in einem unheimlichen, blauen Feuer brannten. Manchmal war es das eines Mannes, dessen Züge sich wie Wachs verformten und zu einer tierischen Fratze verzogen. Und manchmal war es nur eine Leere, eine konturlose Maske aus polierter Bronze, in der sich ein verzerrtes Spiegelbild ihrer eigenen Angst zeigte.
Der schlimmste Teil war nicht das Visuelle, sondern das Gefühl, das damit einherging. Eine fremde, geistige Macht, die an den Rändern ihres Bewusstseins zerrte, eine kalte, gebieterische Präsenz, die flüsterte, ohne Worte zu benutzen. Sie versprach Wissen, Macht und Rettung, aber der Preis war das eigene Selbst. Es war das Gefühl, eine Marionette zu sein, deren Fäden von einer unvorstellbar fernen und gleichgültigen Hand gehalten wurden.
„Nein“, murmelte Sandra im Schlaf, ihr Körper spannte sich unter der Decke an. „Nicht schon wieder …“
Eine warme, feste Hand legte sich auf ihre Schulter, und eine vertraute Stimme zog sie sanft aus dem eisigen Griff des Traums. „Sandra? Hey, wach auf. Alles gut.“
Ihre Augenlider flatterten. Das erste, was sie sah, waren die meergrünen Augen von Tom Broland, erfüllt von Sorge. Das fahle Morgenlicht, das durch die Jalousien ihres Hamburger Apartments fiel, zeichnete die Konturen seines Gesichts nach. Er war schon wach, hatte sich auf den Ellbogen gestützt und sah auf sie herab.
„Tom“, flüsterte sie, ihre Stimme rau. Sie setzte sich auf, fuhr sich mit zitternden Händen durch das Haar und spürte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn. Die Bilder des Traums verblassten bereits, aber das Gefühl der Beklemmung blieb wie ein schwerer Mantel auf ihrer Seele liegen.
„Wieder einer von den Schlimmen?“, fragte er leise. Er musste es nicht fragen. Er sah es in ihren Augen, in der blassen Farbe ihrer Haut.
Sandra nickte nur, unfähig zu sprechen. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter, sog seinen vertrauten Geruch ein und lauschte dem ruhigen, stetigen Rhythmus seines Herzens. Er war ihr Anker in einer Welt, die für sie oft aus den Fugen zu geraten drohte.
„Derselbe Unsinn wie immer?“, fuhr er fort und strich ihr beruhigend über den Rücken. „Schädel, Masken, das ganze Gruselprogramm?“
„Es wird schlimmer, Tom“, sagte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch. „Es fühlt sich … näher an. Konkreter. Als ob etwas aufwacht. Oder hierherkommt.“ Sie schauderte. „Und diese Macht … sie ist so kalt. So hungrig.“
Tom seufzte. Er kannte diese Gespräche. Seit er mit Sandra zusammen war, hatte er gelernt, in einer Welt zu leben, in der die Grenzen zwischen Einbildung und einer schrecklichen, verborgenen Realität fließend waren. Als er sie kennengelernt hatte, war sie eine brillante, wenn auch etwas exzentrische Kollegin bei den HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN gewesen, eine Reporterin mit einem unheimlichen Gespür für die verborgenen Winkel menschlicher Geschichten. Erst später hatte er verstanden, dass ihr „Gespür“ weit mehr war als nur journalistische Intuition. Es war eine Gabe, wie ihre Großtante Elisabeth es nannte. Ein Fluch, wie Sandra es an Tagen wie diesen empfand.
„Vielleicht ist es nur der Stress“, versuchte er es, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. „Schwanemeier macht uns allen die Hölle heiß wegen der neuen Online-Strategie. Du hast kaum geschlafen die letzte Woche.“
„Das ist es nicht, und das weißt du“, erwiderte sie und hob den Kopf, um ihn anzusehen. „Ich kenne den Unterschied zwischen einem normalen Albtraum und … dem hier. Das hier ist eine Warnung. Ein Echo von etwas, das passiert oder passieren wird.“
Ihr Blick schweifte zum Fenster, hinaus auf die Dächer von Eimsbüttel, wo der Himmel in den Farben von Stahl und Perlmutt auf den Tag wartete. Hamburg erwachte, ein Moloch aus geschäftiger Normalität, aus Hupen, fernen Schiffssirenen und dem Kreischen der Möwen. Eine Welt, die keine Ahnung von den Schatten hatte, die Sandra in ihren Träumen sah.
Es war das Schicksal ihrer Mutter gewesen, das ihr die größte Angst machte. Auch sie war parapsychisch begabt gewesen, ihre Fähigkeiten jedoch weitaus unkontrollierter. Die Visionen hatten sie langsam zermürbt, sie von der Realität entfremdet, bis sie schließlich in den Wahnsinn getrieben wurde und bei einem tragischen Unfall ums Leben kam, als Sandra noch ein Kind war. Seitdem hatte Sandra gelernt, ihre eigene Gabe zu verbergen, sie zu unterdrücken und ein möglichst normales Leben zu führen. Nur Tom und ihre Großtante Elisabeth wussten die ganze Wahrheit.
„Okay“, sagte Tom sanft und nahm ihr Gesicht in seine Hände. „Okay, ich glaube dir. Was können wir tun?“
Sandra schüttelte den Kopf. Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam sie. „Nichts. Abwarten. Das ist das Schlimmste. Es ist wie das Warten auf ein Gewitter, wenn man den Donner schon in der Ferne grollen hört, aber der Himmel noch blau ist.“ Sie schloss die Augen. „Ich hasse es.“
„Dann lass uns wenigstens das tun, was wir kontrollieren können“, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln. „Aufstehen, den schlechtesten Kaffee der Stadt in der Redaktion trinken und so tun, als wären wir normale Menschen mit normalen Problemen. Wie zum Beispiel die Frage, wie wir Schwanemeier erklären, dass die Story über den Korruptionsskandal im Bauamt eine Sackgasse ist.“
Sandra musste wider Willen lächeln. „Das klingt nach einem schrecklichen Plan.“
„Ich weiß“, sagte er und küsste sie auf die Stirn. „Aber es ist meiner. Und er beinhaltet Frühstück bei ‚Kleine Pause‘ auf dem Weg. Das macht alles besser.“
Sie hielt ihn einen Moment länger fest. Seine Gegenwart war das einzige, was die Kälte der Visionen vertreiben konnte. Er war der Beweis, dass es eine greifbare, warme und liebevolle Realität gab, für die es sich zu kämpfen lohnte. Aber tief in ihr nagte die Angst, dass die Schatten, die sie riefen, eines Tages auch ihn verschlingen könnten.
Das Redaktionsbüro der HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN war ein Ort des organisierten Chaos. Der Geruch von altem Papier, frisch gebrühtem, dünnem Kaffee und dem leisen Summen von Dutzenden von Computern hing in der Luft. Telefone klingelten, Tastaturen klapperten, und über allem schwebte die heisere Stimme von Chefredakteur Michael T. Schwanemeier, der gerade einen jungen Volontär für eine verpatzte Überschrift zusammenfaltete.
„Journalismus ist Handwerk, kein verdammtes Glücksspiel!“, brüllte er durch den Großraum. „Wenn ich Poesie will, lese ich Rilke! Ich will Fakten! Knackig, präzise und idiotensicher!“
Tom grinste Sandra zu, als sie sich an ihre Schreibtische setzten, die einander gegenüberstanden. „Der Morgen beginnt wie immer mit einer Dosis Schwanemeier-Motivation.“
„Wenigstens hat es nicht uns getroffen“, murmelte Sandra und startete ihren Computer. Der Bildschirm flackerte zum Leben und konfrontierte sie mit einer endlosen Liste von E-Mails, Terminen und halbfertigen Artikeln. Für einen Moment fühlte sie sich in der geschäftigen Normalität des Ortes sicher. Hier ging es um Politik, lokale Ereignisse, Sport und Klatsch. Dinge, die man recherchieren, überprüfen und in 80 Zeilen zusammenfassen konnte. Dinge, die keine bronzefarbenen Masken oder flüsternde Wesen aus anderen Dimensionen beinhalteten.
Sie versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, eine Recherche über steigende Mieten in der HafenCity. Sie öffnete Datenbanken, las Berichte, markierte Zitate. Aber ihre Gedanken drifteten immer wieder ab. Das Gefühl der Vorahnung ließ sie nicht los. Es war wie ein statisches Rauschen unter der Oberfläche all ihrer Gedanken.
Sie minimierte die Mietpreis-Tabelle und öffnete aus einer Laune heraus das digitale Archiv der Zeitung. Es war eine Angewohnheit, die sie hatte, wenn sie unruhig war. Sie durchforstete alte Artikel, suchte nach Mustern, nach seltsamen, ungelösten Fällen, die aus dem Rahmen fielen. Sie gab vage Suchbegriffe ein: „unerklärlich“, „Massenhysterie“, „Sekte“, „Ritual“.
Die meisten Treffer waren banal. Sensationslüsterne Berichte aus den 70ern, kurze Notizen über exzentrische Kulte, die schnell wieder verschwanden. Doch dann stieß sie auf etwas. Einen winzigen, vergilbten Artikel aus einer kurzlebigen Harburger Lokalausgabe von vor über zwanzig Jahren. Die Überschrift lautete: „NAHT DAS ENDE DER WELT? – KONGRESS DER PROPHETISCHEN GESELLSCHAFT TAGTE.“
Ihr Puls beschleunigte sich leicht. Der Artikel war kurz und vage. Er berichtete von einer obskuren Gruppe, die sich in einem gemieteten Saal getroffen hatte, um über „kosmische Zyklen und die bevorstehende Transformation der Menschheit“ zu referieren. Es wurde als Treffen harmloser Spinner abgetan. Aber es war das Foto, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Es zeigte zwei Männer im Gespräch. Der eine war ein hagerer, aristokratisch wirkender Mann, der im Artikel nicht namentlich erwähnt wurde. Der andere… der andere kam ihr bekannt vor. Ein Name tauchte in der Bildunterschrift auf: Dietrich von Schlichten.
Sandra runzelte die Stirn. Dietrich von Schlichten. Der brillante, aber umstrittene Archäologe. Ein Experte für präkolumbianische und andere verschollene Kulturen. Ihre Großtante Elisabeth hatte mehrere seiner Bücher in ihrer Bibliothek. Er galt als Genie, aber auch als jemand, der die Grenzen zwischen Wissenschaft und Spekulation oft verwischte. Was hatte ein Mann seines Kalibers bei einem Treffen von Weltuntergangs-Spinnern zu suchen?
„Was hast du da?“, fragte Tom, der ihren konzentrierten Blick bemerkt hatte.
„Nichts, wahrscheinlich“, sagte sie und schob den Gedanken beiseite. „Nur ein alter Artikel. Ein Professor auf Abwegen.“ Sie konnte ihm nicht sagen, warum dieser kleine Fund sie so beunruhigte. Es war nur ein Gefühl, ein weiteres Puzzleteil, das noch keinem Puzzle zugeordnet werden konnte. Aber es passte zu der unheimlichen Melodie in ihrem Kopf.
Ihr Kollege Jim Rönckendorff, der Starfotograf der Redaktion, schlenderte mit einer Kaffeetasse in der Hand an ihren Schreibtisch. Sein langes, blondes Haar und seine abgewetzte Jeansjacke ließen ihn wie ein Überbleibsel aus einer anderen Ära wirken.
„Morgen, Sandra. Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, grinste er.
Mehrere, dachte sie. „Nur schlecht geschlafen“, sagte sie stattdessen. „Was gibt’s Neues von der Fotofront?“
„Ach, Schwanemeier schickt mich nach Mecklenburg-Vorpommern. Irgendeine rührselige Story über einen alten Schnulzensänger, dessen Frau angeblich von einer Wunderheilerin, einer Art moderner Druidin, von Leukämie geheilt wurde. Klingt nach totalem Humbug, aber die Fotos von dem alten Schloss, in dem diese Druidin haust, könnten ganz stimmungsvoll werden.“
Sandras Finger erstarrten über der Tastatur. Mecklenburg-Vorpommern. Eine Druidin. Ein Schloss. Die Worte schienen in ihrem Kopf zu widerhallen, sich mit den Fragmenten ihrer Träume zu verbinden.
„Wie heißt diese Druidin?“, fragte sie, bemüht, ihre Stimme beiläufig klingen zu lassen.
Jim zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Irgendein seltsamer Künstlername. Marlitt, oder so ähnlich.“
Marlitt.
Der Name traf sie wie ein physischer Schlag. Es war das Gesicht aus ihrem Traum. Die junge Frau mit den brennenden blauen Augen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, so kalt, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte.
„Alles okay, Sandra?“, fragte Tom besorgt, als Jim weitergeschlendert war. „Du bist kreidebleich.“
„Ja“, log sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Alles bestens. Nur … Gänsehaut. Wahrscheinlich ein Luftzug.“
Aber es war kein Luftzug. Es war das Gefühl, dass das Gewitter, auf das sie gewartet hatte, gerade seine erste, bedrohliche Wolke über den Horizont geschoben hatte. Und sie stand direkt in seinem Weg.
Am Nachmittag, unfähig, sich länger auf die Arbeit zu konzentrieren, überredete Sandra Tom zu einem Spaziergang an der Alster. Der Himmel war typisch hamburgisch grau, und ein feuchter Wind trieb kleine Wellen vor sich her. Sie saßen auf einer Bank mit Blick auf die Fontäne, jeder mit einem Becher heißen Kaffees in den Händen.
„Du musst mit mir reden, Sandra“, sagte Tom nach einer Weile des Schweigens. „Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt. Seit Jims Bemerkung heute Morgen bist du wie versteinert.“
Sandra seufzte und beobachtete ein Segelboot, das gegen den Wind ankämpfte. „Der Name, Tom. Marlitt. Das war sie. Die Frau aus meinen Träumen.“
Tom stellte seinen Kaffeebecher neben sich auf die Bank. „Bist du sicher? Es könnte Zufall sein.“
„Es gibt keine Zufälle, nicht bei diesen Dingen“, sagte sie leise. „Es sind Muster. Echos. Tante Elisabeth sagt immer, das Universum hat eine Art Gedächtnis. Und manchmal, wenn die Umstände richtig sind, kann man Fragmente davon empfangen.“ Sie umklammerte ihren Becher fester. „Und dieser Professor, von Schlichten, auf diesem alten Foto einer Weltuntergangssekte … und jetzt diese Druidin in einem Schloss … Es fühlt sich an, als würden sich Fäden zusammenziehen.“
„Und was ist mit Frank Willard?“, fragte Tom vorsichtig.
Bei der Erwähnung des Namens zuckte Sandra zusammen. Frank Willard. Der geheimnisvolle Privatdetektiv, der sein Leben dem Kampf gegen kriminelle Sekten gewidmet hatte. Sie hatten sich vor über einem Jahr in Yucatan getroffen, als sie beide den Machenschaften einer anderen, ähnlich gefährlichen Gruppe auf der Spur waren. Es hatte eine Verbindung zwischen ihnen gegeben, eine intensive, flüchtige Anziehung, geboren aus der gemeinsamen Gefahr. Aber Frank war ein Phantom, ein Mann ohne Vergangenheit, der für eine feste Beziehung so ungeeignet war wie ein Wolf für ein Leben im Käfig.
„Was soll mit ihm sein?“, fragte sie scharf.
„Du hast mir erzählt, dass er auch hinter dieser Gruppe her war, dem … Orden der Maske.“ Tom benutzte den Namen, den sie ihm einmal im Vertrauen genannt hatte.
„Ja“, gab sie zu. „Aber ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört. Er ist verschwunden, wie er es immer tut.“ Sie schwieg einen Moment. „Ich habe ihn geliebt, Tom. Das weißt du. Aber es war eine andere Zeit. Bevor es uns gab.“
„Ich weiß, Sandra. Und ich bin nicht eifersüchtig“, sagte er sanft und nahm ihre Hand. „Ich mache mir nur Sorgen. Du warst nach dieser Yucatan-Sache völlig fertig. Diese Masken, dieses Wesen, von dem du erzählt hast … Cayamu. Ich will nicht, dass du da wieder hineingezogen wirst.“
„Vielleicht habe ich keine Wahl“, flüsterte sie. „Vielleicht zieht es mich hinein, ob ich will oder nicht.“ Sie blickte ihn an, ihre Augen voller Angst. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich durch meine Gabe eine Art Leuchtfeuer für diese Dinge bin. Dass sie mich spüren können.“
„Dann werde ich dafür sorgen, dass sie dich nicht kriegen“, sagte er mit einer Entschlossenheit, die die ihre stärken sollte. „Wir sind ein Team, hast du vergessen? Du die Spürnase mit den unheimlichen Visionen, ich der gutaussehende, rationale Sidekick, der die Rechnungen bezahlt und dafür sorgt, dass du nicht vergisst zu essen.“
Sein Versuch, die Situation aufzulockern, brachte ihr ein schwaches Lächeln ab. „Du bist mehr als das, Tom. Du bist der Grund, warum ich nicht durchdrehe.“
„Gut. Dann lass uns das beibehalten.“ Er drückte ihre Hand. „Was ist der nächste Schritt? Willst du mit deiner Tante reden?“
Sandra nickte. „Ja. Ich muss. Sie ist die Einzige, die vielleicht versteht, was diese Zeichen bedeuten könnten.“
Sie wusste, dass ein Besuch bei Tante Elisabeth sowohl beruhigend als auch beunruhigend sein konnte. Beruhigend, weil die alte Dame ihr immer das Gefühl gab, nicht allein oder verrückt zu sein. Und beunruhigend, weil ihre Erklärungen die übernatürliche Bedrohung oft nur noch realer und gewaltiger erscheinen ließen.
Die viktorianische Villa von Elisabeth Düpree in Blankenese war eine Welt für sich. Umgeben von einem verwilderten Garten, der den neugierigen Blicken der Nachbarn trotzte, schien das Haus selbst aus der Zeit gefallen zu sein. Im Inneren war es ein Labyrinth aus vollgestopften Räumen, ein Museum für das Obskure und Vergessene.
Der Mittelpunkt des Hauses, und das Herz von Tante Elisabeths Welt, war die Bibliothek. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Regalen bedeckt, die unter der Last von Tausenden von Büchern ächzten. Es waren keine gewöhnlichen Bücher. Hier standen Folianten in mittelalterlichem Latein neben obskuren parapsychologischen Studien, handgeschriebene Grimoires neben anthropologischen Abhandlungen über vergessene Kulte. Dazwischen standen und lagen afrikanische Geistermasken, sumerische Götterstatuetten, tibetische Totenschädel und unzählige andere Artefakte, die ihr verschollener Mann, der Archäologe Friedrich Düpree, von seinen Reisen mitgebracht hatte.
Sandra fand ihre Großtante genau dort, sitzend in einem abgewetzten Ledersessel, eine Lesebrille auf der Nasenspitze und einen dicken, in Leder gebundenen Band auf dem Schoß. Elisabeth Düpree mochte über siebzig sein, aber ihre Augen funkelten mit einer wachen, unbändigen Energie, die die meisten Jüngeren in den Schatten stellte.
„Sandra, mein Kind“, sagte sie und blickte auf, als Sandra eintrat. „Ich habe dich gespürt. Die Luft um dich herum ist … unruhig.“
Sandra setzte sich auf den Hocker gegenüber und atmete den vertrauten Geruch von altem Papier, Bienenwachs und einem Hauch von Lavendel ein. „Hallo, Tante Elisabeth. Ich fürchte, ich bin es auch.“
Sie erzählte alles. Von den immer schlimmer werdenden Träumen, dem Gefühl einer nahenden Bedrohung, dem Namen „Marlitt“, der sie nicht mehr losließ, und dem alten Zeitungsartikel über Professor von Schlichten und die „Prophetische Gesellschaft“.
Tante Elisabeth hörte aufmerksam zu, ihr Gesicht ernst und konzentriert. Als Sandra geendet hatte, schloss die alte Dame für einen Moment die Augen.
„Muster“, murmelte sie. „Alles dreht sich um Muster und Zyklen. Was du spürst, ist eine Konvergenz. Alte Fäden werden wieder aufgenommen.“ Sie öffnete die Augen. „Marlitt… der Name ist mir ein Begriff. Eine Heilerin, eine sehr mächtige sogar. Aber solche Macht zieht Aufmerksamkeit auf sich. Nicht nur von den Kranken und Hoffnungsvollen, sondern auch von denen, die in den Schatten lauern und solche Macht für ihre eigenen Zwecke nutzen wollen.“
Sie stand auf und ging zu einem der Regale. Ihre Finger glitten über die Buchrücken, bis sie bei einem besonders dicken, schwarzen Buch innehielten. Sie zog es heraus. Der Titel in Goldprägung war verblasst, aber noch lesbar: Absonderliche Kulte.
„Du erinnerst dich an dieses Buch“, sagte sie. „Verfasst von Hermann von Schlichten um die Jahrhundertwende.“
„Dem Urgroßvater von Professor Dietrich von Schlichten“, ergänzte Sandra. Der Kreis schloss sich auf eine beunruhigende Weise.
„Genau. Hermann von Schlichten war ein brillanter, aber gefährlicher Mann. Er glaubte, dass unsere Welt nur eine von vielen ist und dass es Wesenheiten gibt, die an den Toren zwischen den Dimensionen kratzen und auf eine Gelegenheit warten, hindurchzubrechen.“ Sie blätterte durch die Seiten, die mit seltsamen Diagrammen und handschriftlichen Notizen gefüllt waren. „Er beschreibt hier eine Organisation, einen Kult, der älter ist als die meisten Religionen. Er nennt sie nicht beim Namen, nur ‚die Diener der gesichtslosen Maske‘. Sie glauben an ein Wesen, das sie den ‚Retter aus der Welt der Doppelsonne‘ nennen. Sie arbeiten darauf hin, die Bedingungen für seine Ankunft zu schaffen – durch Chaos, Zerstörung und die Errichtung von … Brücken.“
Sandras Kehle war wie zugeschnürt. Es war der Orden der Maske. Es war Cayamu.
„Was du in deinen Träumen siehst, Sandra“, fuhr ihre Tante fort und ihr Blick wurde eindringlich, „ist kein Zufall. Es ist ein Ruf. Eine Einladung. Oder eine Warnung. Wenn der Orden der Maske aktiv ist und eine mächtige Psionikerin wie diese Marlitt in seinem Einflussbereich ist, dann bereiten sie etwas Großes vor. Deine Gabe macht dich empfänglich für die Schwingungen, die sie aussenden.“
„Was soll ich tun?“, flüsterte Sandra.
„Sei vorsichtig“, sagte Tante Elisabeth und legte ihre Hand auf Sandras Wange. Ihre Haut war dünn wie Papier, aber ihre Berührung war fest. „Du kannst davor nicht ewig weglaufen, mein Kind. Das Schicksal hat dir diese Rolle zugedacht, genau wie es deinem Großonkel Friedrich die seine zugedacht hat.“ Sie blickte auf die unzähligen Artefakte in dem Raum. „Er hat diese Dinge auch bekämpft. Und er hat einen hohen Preis dafür bezahlt.“
Sie gingen nicht weiter darauf ein. Sie mussten es nicht. Friedrich Düpree war von seiner letzten Expedition nie zurückgekehrt.
Als Sandra an diesem Abend wieder in ihrer Wohnung war, fühlte sie sich nicht beruhigter, aber seltsam geklärt. Die vage Angst hatte einen Namen und eine Form bekommen. Das Gewitter war nicht mehr nur ein fernes Grollen; sie konnte jetzt seine dunklen, bedrohlichen Umrisse sehen.
Tom hatte gekocht, etwas Einfaches, aber es war eine Geste, die mehr sagte als alle Worte. Sie aßen schweigend, die unausgesprochene Spannung hing zwischen ihnen in der Luft.
Später, als sie im Bett lagen und dem Regen lauschten, der gegen die Fensterscheiben prasselte, drehte sich Sandra zu ihm um.
„Ich habe Angst, Tom“, gestand sie leise in die Dunkelheit.
„Ich weiß“, flüsterte er zurück und zog sie fest an sich. „Aber du bist nicht allein. Was auch immer da draußen ist, wir stellen uns dem gemeinsam.“
Sie schmiegte sich an ihn, schloss die Augen und versuchte, an seine Worte zu glauben. Sie versuchte, die aufkommenden Bilder zu verdrängen – die kalten Augen von Schlichtens, Marlitts blaues Feuer, die leere, polierte Oberfläche einer bronzefarbenen Maske.
Doch gerade als der Schlaf sie übermannen wollte, zuckte ein letztes, klares Bild durch ihren Geist. Es war nicht verschwommen oder fragmentiert wie die anderen. Es war ein Ort. Eine Höhle, deren Wände von feuchtem Gestein glänzten. In der Mitte loderte ein Feuer, umgrenzt von einem Kreis aus versteinerten Knochen. Und vor diesem Feuer kniete eine Gestalt, eine junge Frau mit langem, rotstichigem Haar, das ihr über die Schultern fiel. Sie schloss die Augen, breitete die Arme aus und begann, kaum verständliche Worte zu murmeln.
Marlitt.
Die Vision war so klar, so unmittelbar, als würde sie gerade in diesem Moment geschehen. Und Sandra wusste mit einer schrecklichen, eisigen Gewissheit, dass dies keine Erinnerung und keine Warnung war.
Es war der Anfang.
1
Marlitt, die Druidin, starrte auf das lodernde Feuer, das von halb versteinerten Knochen umgrenzt wurde.
Die Flammen tauchten das Gesicht der jungen Frau in ein weiches Licht. Das lange, rotstichige Haar fiel ihr bis weit über die Schultern.
Schatten tanzten an den feuchten Wänden des gewaltigen Höhlengewölbes.
Es war keine gewöhnliche Höhle.
Hunderte von bleichen Totenschädeln waren an der gewölbeartigen Kuppel befestigt, die die Höhlendecke bildete.
Seit Urzeiten hingen diese Schädel dort. Der Blick eines jeden von ihnen war genau ausgerichtet. Sie sahen in die Mitte der Höhle.
Dorthin, wo das Feuer brannte.
Die junge Frau schloss die Augen, breitete die Arme aus und murmelte kaum verständliche Worte vor sich hin.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren.
Ihr Götter des Alten Volkes, gebt mir eure Kraft! Lasst sie durch mich hindurchfließen und mich damit Gutes tun!
Ihr feingeschnittenes Gesicht verzog sich wie unter Schmerzen.
Ihre Haut verlor die Farbe. Sie wurde totenbleich.
Irgend etwas ist dort!, wurde es ihr klar. Irgend etwas, das nicht hierher gehört!
Sie griff sich an die Schläfen.
Dieser pochende Schmerz …
Ihre Augen öffneten sich. Pupillen und Iris waren nicht mehr zu sehen. Das gesamte Auge war von einem hellen Blauton erfüllt.
Ihr Alten Götter! Was ist das nur?
Sie griff vor sich, wo ein eigenartig geformter Totenschädel auf dem Boden lag. Ein Schädel mit seltsamen Verwachsungen und …
… zwei Gesichtern!
Ihre Hände hoben den zweigesichtigen Schädel langsam an und zitterten dabei.
Eine fremde geistige Macht!, durchzuckte es sie. Das ist es, was ich fühle. Nein, das ist nicht die Macht der Götter des Alten Volkes … Die wäre mir vertraut!
Marlitt schauderte.
Sie hatte das Gefühl, als ob sich eine eisige Hand auf ihre Schulter gelegt hätte.
Sie spürte instinktiv, dass hier etwas vor sich ging, das sie nicht mehr kontrollierte. Etwas, dass mit ihrem Zauberritual kaum etwas zu tun haben konnte.
Schritte waren jetzt zu hören. Sie hallten zwischen den Höhlenwänden wider.
Die junge Frau erhob sich.
Ungläubig blickte sie sich um, während aus den verschiedenen dunklen Höhlengängen, die von diesem hohen Schädelgewölbe sternförmig ausgingen, jetzt mit langen, weißen Gewändern bekleidete Gestalten traten. Sie trugen in der Rechten Fackeln, deren Flammen hoch aufloderten.
Mit der Linken hielten sie eigenartige, bronzefarbene Masken, die ausgesprochen konturlos wirkten. Lediglich die Augenlöcher waren klar erkennbar, sonst waren sie so glatt, als handelte es sich um Rohlinge, die ausgearbeitet werden mussten.
„Was tut ihr hier?“, rief Marlitt. „Und wer seid ihr?“
Die Weißgekleideten blieben stehen.
„Wir sind hier, weil wir Ihre Hilfe brauchen, Marlitt“, sagte einer von ihnen.
Es handelte sich um einen hageren Mann in den Fünfzigern, dessen Gesicht einen ausgesprochen aristokratischen Eindruck machte.
Marlitt sah ihn fassungslos an.
„Sie, Professor von Schlichten?“
Der Angesprochene nickte.
„Sträuben Sie sich nicht, Marlitt. Sie sind eine Frau mit einer überaus starken übersinnlichen Begabung. Aber die Macht, der wir dienen, ist stärker. Ihr Widerstand würde nur Ihre Leiden verlängern.“
„Gehen Sie! Sie entweihen diesen Ort!“, rief Marlitt. „Die Götter des Alten Volkes werden so einen Frevel nicht ungesühnt lassen!“
Von Schlichten lächelte matt.
„Die Macht, der wir dienen, ist auf jeden Fall stärker, Marlitt! Du solltest dich fügen! Um deinetwillen!“
Wie auf ein geheimes Zeichen hin nahmen die Weißgekleideten ihre bronzefarbenen Masken und hoben sie vor ihre Gesichter.
Mit einem Zischlaut verschmolzen die Masken auf gespenstische Weise mit den Gesichtern ihrer Träger. Das eigenartige, goldfarbene Metall, aus dem sie bestanden, veränderte seine Form. Die Masken schmiegten sich an die Gesichter ihrer Träger an, bildeten deren Züge nach.
Marlitt erstarrte.
Sie fühlte den furchtbaren Druck einer fremden geistigen Macht hinter ihren Schläfen. Sie presste die Hände dagegen.
Tierische, knurrende Laute gingen indessen von den Maskenträgern aus. Sie kamen näher, ihre Maskengesichter veränderten sich aufs Neue.
Sie bildeten jetzt nicht mehr die menschlichen Züge ihrer Träger ab, sondern verformten sich zu grotesken, tierartigen Fratzen, die an die Geistergesichter erinnerten, wie man sie in den Schnitzereien von Totempfählen finden konnte.
Die Weißgewandeten näherten sich von allen Seiten.
Ein Singsang erhob sich.
„Macanuet ketasarem Cayamu“, murmelten die Maskenträger, während sie sich Marlitt weiter näherten.
Die Druidin schrie, presste die Hände gegen den Kopf und taumelte zu Boden. Dicht neben dem Feuer kam sie zu Boden.
Der doppelgesichtige Schädel entfiel ihren zitternden Händen, fiel direkt in die Flammen. Meterhoch, fast wie bei einer Explosion, schossen sie empor und veränderten ihre Farbe. Die Flammen wurden blau, wie Marlitts Augen. Fast bis zur Decke dieses Höhlengewölbes züngelten sie empor, um im nächsten Moment völlig zu verlöschen.
Marlitt lag reglos auf dem Boden, zusammengekrümmt wie ein Fötus. Sie schien bewusstlos zu sein.
Einer der Maskenträger ging auf sie zu, während die anderen eine Art Kreis bildeten.
Der Maskenträger kniete sich neben die am Boden liegende junge Frau, fasste sie bei der Schulter und drehte sie herum.
Seine Maske verlor indessen die tierartigen Züge. Die großen Reißzähne und das gewaltige Maul bildeten sich zurück. Von Schlichtens menschliche Züge bildeten sich auf dem Metall naturgetreu ab.
Von Schlichten ergriff mit beiden Händen die Ränder der Maske, die sich daraufhin mit einem zischenden Geräusch löste. Die untrennbar erscheinende Verbindung zwischen seinem Gesicht und dem eigenartigen Metall, aus dem die Maske gefertigt war, existierte nicht mehr. Die Maske verlor jegliche Kontur, war wieder glatt und ähnelte nun dem schlichten Helmvisier eines Ritters.
Von Schlichten nahm die Maske ab.
Er lächelte kalt.
„Werde eine von uns, Marlitt!“, flüsterte er. „Werde eine Dienerin von Cayamu!“
Der Chor der anderen Maskenträger antwortete ihm dumpf.
„Macanuet ketasarem Cayamu!“
Beinahe zärtlich legte von Schlichten der bewusstlosen Marlitt die Maske an. Mit einem zischenden Geräusch verschmolz sie mit ihrer Haut und bildete in atemberaubender Perfektion ihre Gesichtszüge ab.
„Du wirst es nicht bereuen, Marlitt“, flüsterte von Schlichten. „Das Ende der Welt steht vor der Tür, und die große Katastrophe naht. Aber für dich wird es jetzt Rettung geben. Auf Cayamus Welt, im Schein der Doppelsonne!“
2
Ich saß an einem gedeckten Tisch bei Antonio’s, einem der zahlreichen italienischen Restaurants in Hamburg. Kerzen brannten und tauchten das Gesicht meines Gegenübers in ein weiches Licht. Es war Tom, der Mann, den ich liebte.
Tom Brolands meergrüne Augen musterten mich.
„Worüber denkst du nach, Sandra?“, fragte er.
Wir hatten beide einen ziemlich harten Tag im Dienst der HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN hinter uns, bei dem wir beide als Reporter angestellt waren. Allerdings hatten wir uns heute noch nicht gesehen, denn als ich ins Redaktionsbüro gekommen war, war Tom längst zu einem Interview unterwegs gewesen.
Zwischendurch hatten wir kurz per Handy miteinander gesprochen und uns für den Abend hier verabredet.
Tom nahm meine Hand und hielt sie zärtlich.
„Irgend etwas ist los“, sagte er. „Ich kenne dich doch. Was beschäftigt dich?“
„Weißt du, ich bin heute bei der Arbeit im Archiv auf ein sehr merkwürdiges Foto gestoßen.“
„Deinem Gesicht nach zeigt es mich in flagranti mit der Redaktionssekretärin.“
Ich hob die Augenbrauen und musste unwillkürlich lächeln.
„Wäre es denn möglich, dass so ein Foto auftaucht?“, erwiderte ich.
„Wenn ich jetzt Ja sage, haben wir garantiert keinen schönen Abend mehr!“
„Da du nicht sofort Nein gesagt hast, haben wir den sowieso nicht mehr!“
Wir lachten beide.
Dann atmete ich tief durch, unsere Blicke trafen sich und verschmolzen miteinander. Ein heißer Schauer lief mir dabei den Rücken hinunter. Ich liebe dich, Tom!, dachte ich.
„Nun sag schon“, meinte er. „Was verdirbt dir so die Laune? Bevor das nicht raus ist, bist du mit deinen Gedanken doch nicht bei Antonio’s Küche oder diesem vorzüglichen Lambrusco.“
„Du hast recht“, gab ich zu.
„Also?“
„Es geht um Dietrich von Schlichten.“
„Den Archäologie-Professor, mit dem wir in den Anden waren?“
„Genau.“
Zusammen mit Dietrich von Schlichten und seinem Forscherteam waren wir vor einigen Wochen in die Tiefen des fast 4000 Meter hoch in den südamerikanischen Anden gelegenen Titicacasees hinabgetaucht und auf eine rätselhafte, von grauenerregenden Krakenmonstern bevölkerte Ruine einer Unterwasserstadt gestoßen, die nun nach einem Unterwasserbeben im Seegrund begraben war. Die Freude darüber, überhaupt an dieser Expedition teilnehmen zu können, hatte mich zunächst übersehen lassen, dass von Schlichten mich aus einem ganz bestimmten Grund mitgenommen hatte. Er hatte gewusst, dass ein Kontakt zu den Maquatli genannten Krakenwesen vermutlich nur durch ein übersinnlich begabtes Medium möglich war – so wie es auch die einheimischen Indios seit Jahrhunderten praktizierten.
„Weißt du, Tom, ich bin seit unserer Rückkehr aus Südamerika einfach nicht über die Tatsache hinweggekommen, dass Dietrich von Schlichten von Anfang an über die Tatsache Bescheid wusste, dass ich über eine leichte übersinnliche Begabung verfüge.“
Ich gab mir nämlich alle Mühe, dies so geheim wie irgend möglich zu halten, denn allzu oft hatte ich gesehen, dass es für den Betreffenden nur Unglück mit sich brachte, wenn seine Fähigkeiten bekannt wurden. Das Schicksal meiner – ebenfalls parapsychisch begabten – Mutter war mir dabei immer eine Warnung.
Im Grunde genommen wussten nur sehr wenige Menschen über meine Fähigkeit Bescheid, die sich vornehmlich in seherischen Träumen und Visionen äußerte.
Einer dieser Menschen war meine Großtante Elisabeth Düpree – für mich Tante Elisabeth – bei der ich nach dem frühen Tod meiner Eltern aufgewachsen war. Sie hatte mich erst auf meine Gabe, wie sie es immer genannt hatte, aufmerksam gemacht und mir dabei geholfen, sie als Teil meiner selbst zu akzeptieren.
Und natürlich wusste auch Tom Broland Bescheid.
Der Mann, den ich liebte, und mit dem ich schon eine ganze Reihe von Abenteuern bestanden hatte, in denen die Welt des Übersinnlichen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte.
Tom zuckte die Achseln.
„Worauf willst du hinaus?“, fragte er.
„Erinnerst du dich an die Erklärung, die mir von Schlichten in Südamerika gab, als ich ihm auf den Kopf zusagte, dass er mich nur meiner Begabung wegen mitgenommen hätte?“
„Er hat über dich recherchiert, Sandra. Klingt doch plausibel.“
„Ich war immer sehr vorsichtig.“
„Sandra, du bist selbst Rechercheurin und weißt doch, was man alles über einen Menschen herausfinden kann, selbst wenn man lediglich öffentlich zugängliche Quellen benutzt! Es ist erstaunlich! Internet, Archive, Bibliotheken … Die Informationen liegen heutzutage auf der Straße! Man muss aus der Datenflut nur das richtige herausfiltern und wissen, wo man ansetzen kann … Aber was sag ich dir! Du bist doch selbst eine Meisterin darin!“
„Ja, ja.“
„Er hat deine Artikel analysiert und mit anderen Informationen abgeglichen. Denk nur an das Archiv deiner Großtante, in dem sie alle nur erdenklichen Informationen über außergewöhnliche Ereignisse oder übersinnlich begabte Personen, Okkultismus und verwandte Gebiete sammelt. Sie trägt ein Informationsschnipselchen zum anderen, sammelt sie sorgfältig. So entsteht dann nach einiger Zeit auch das Bild eines Menschen, über den man eigentlich gar nichts wissen dürfte.“
„Tom, ich wollte das ja gerne glauben, und ich habe mir genau diese Argumente auch immer wieder selbst vorgebetet … Bis ich auf das Foto stieß.“
Ich griff zu meiner Handtasche und holte den vergilbten Ausschnitt hervor.
Es stammte aus der Harburger Lokalausgabe der HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN, die allerdings nach kurzer Zeit wieder eingestellt worden war, weil sie sich wirtschaftlich einfach nicht getragen hatte. Das Bild zeigte Dietrich von Schlichten im Gespräch mit einem anderen Mann, der nicht namentlich erwähnt wurde. Der dazugehörige Artikel trug den Titel: NAHT DAS ENDE DER WELT? – KONGRESS DER PROPHETISCHEN GESELLSCHAFT TAGTE.
Tom sah sich das Bild und den Artikel eingehend an und zuckte dann mit den Schultern.
„Ich muss gestehen, dass ich noch immer nicht so recht weiß, worauf du nun eigentlich hinauswillst, Sandra!“
„Darauf, dass es viel mehr Sinn macht, anzunehmen, dass von Schlichten vielleicht Teil einer sehr mächtigen Organisation ist. Einer Organisation, die ganz andere Möglichkeiten der Informationsbeschaffung hat und im Übrigen auch über mich sehr gut Bescheid wissen dürfte.“
„Sprichst du von dieser PROPHETISCHEN GESELLSCHAFT, von der hier die Rede ist?“
„Die PROPHETISCHE GESELLSCHAFT ist eine Tarnorganisation, hinter der wahrscheinlich der ORDEN DER MASKE steckt.“
„Der Name kommt mir bekannt vor“, meinte er ernst.
Tom war bereits während seiner Zeit als Agentur-Korrespondent in Asien auf die Machenschaften dieser Weltuntergangssekte gestoßen. „Ich muss gestehen, dass ich allerdings nicht mehr über diese Vereinigung weiß, als dass sie äußerst skrupellos ist und auch vor Mord nicht zurückschreckt.“
Ich nickte. „Die Mitglieder des ORDENS DER MASKE glauben daran, dass in Kürze das Weltenende kommt. Sie stehen über ihre Masken in Verbindung mit Cayamu, einem mysteriösen Wesen, das auf dem Planeten einer Doppelsonne lebt. Im Augenblick der großen Katastrophe wird Cayamu seine Anhänger entmaterialisieren und in seine Welt holen. Zuvor ist es die Aufgabe der Ordensmitglieder, auf den Weltuntergang durch Terror und Sabotage hinzuarbeiten. Und dadurch, dass sie Verbindungstore zwischen Cayamus Welt und der Erde errichten.“
„Das Geschwätz von Verrückten!“, meinte Tom. „Ich erinnere mich an deine Artikel darüber … Ich war erst kurze Zeit hier bei den NACHRICHTEN!“
„Tom, ich war auf Cayamus Welt“, sagte ich. „Zu gerne würde ich glauben, dass es sich nur um – wenn auch gefährliche – Verrückte handelt. Aber Cayamu existiert wirklich!“
„Davon stand aber nichts in deinen Artikeln!“
„Glaubst du, Schwanemeier hätte es gedruckt?“
„Er hätte dich zum Arzt geschickt!“
„Genau.“
Tom legte den Artikel auf den Tisch. Ich deutete mit dem Finger auf den Mann, der neben von Schlichten stand. „Das ist Graf Karl von Greven, der in der Hierarchie des ORDENS eine wichtige Rolle spielte.“
„Spielte?“, echote Tom.
„Er starb in den Wäldern Yukatans.“
„Du bist damals dorthin gereist, nicht wahr?“
„Ja, zusammen mit einem Privatdetektiv namens Frank Willard, der sich dem Kampf gegen verbrecherische Sekten gewidmet hatte. Im Regenwald Yukatans befand sich eine Ruine der sogenannten Talketuan-Kultur, die lange vor den Mayas existierte und nach wie vor wenig erforscht ist. Der ORDEN versuchte, dort ein Verbindungstor zu Cayamus Welt zu errichten.“
„Du hast mir nie Näheres von dieser Reise erzählt.“
„Vielleicht wird es Zeit, das nachzuholen, Tom!“
3
Später gingen wir Arm in Arm durch die nebligen Straßen Hamburgs. Ich erzählte Tom alles, was es über die Yukatan-Reise und den ORDEN DER MASKE zu erzählen gab.
Angefangen bei der Tatsache, dass Graf Karl von Greven meinen verschollenen Großonkel Friedrich Düpree einst auf einer archäologischen Forschungsreise begleitete, die die Erforschung der mittelamerikanischen Talketuan-Kultur zum Ziel gehabt hatte, über die furchtbare Wirkung der geheimnisvollen Masken, mit deren Hilfe sich die Talketuan-Priester in GEISTER DER SONNE verwandelt hatten, bis hin zu der Tatsache, dass ich selbst mehrfach diese Masken aufgesetzt hatte. Ich hatte die Welt Cayamus gesehen. Eine seltsame, fremdartige Welt, die vom eigenartigen Zwielicht zweier Sonnen beschienen wurde.
Und ich hatte Cayamus mentale Kraft gespürt. Um ein Haar wäre ich eine willfährige Dienerin dieses unmenschlichen Wesens geworden war, das die Erde in Besitz zu nehmen gedachte.
„Was willst du jetzt unternehmen, Sandra?“, fragte Tom irgendwann. „Möglicherweise gehört Professor von Schlichten zum ORDEN DER MASKE. Aber mehr als einige vage Indizien hast du dafür nicht.“
Ich seufzte. „Ja, ich weiß.“
„Und vielleicht tust du dem Mann sogar Unrecht!“
„Gut möglich. Andererseits lässt mich der Gedanke daran nicht los. Mir war immer schon klar, dass ich irgendwann wieder einmal etwas von diesem ORDEN hören würde.“
„Gibt es denn noch irgendwo Tore zu Cayamus Welt?“, fragte Tom.
„Ich weiß es nicht … Tom, dieser Orden verfügt über eine Macht, die wir uns nicht im entferntesten vorstellen können!“
4
In dieser Nacht blieb ich bei Tom und fuhr nicht nach Hause zu Tante Elisabeth, in deren Villa ich die obere Etage bewohnte.
Ich wollte einfach nicht allein sein.
In Toms Armen schlief ich ein.
Und doch fand ich keine wirkliche Ruhe.
Wirre Träume plagten mich. Ich befand mich in Tante Elisabeths verwinkelter viktorianischer Villa, die – von meinen Räumen abgesehen – mit ihrer okkulten Bibliothek sowie zahllosen archäologischen Fundstücken vollgestopft war, die ihr verschollener Mann Friedrich von seinen Forschungsreisen mitgebracht hatte.
So auch die bronzefarbene Maske, mit deren Hilfe sich die Talketuan-Priester in Geister der Sonne verwandelt hatten.
Ich setzte die Maske auf.
Das Metall verschmolz mit einem Zischlaut mit meinem Gesicht. Mein Puls raste und ein eisiger Schauer ging mir über den Rücken. Gleichzeitig berührte eine geistige Kraft mein Inneres.
Mentale Energie!
Mich schauderte davor.
Nein!
Ich versuchte die Maske wieder vom Gesicht zu nehmen, aber das war unmöglich. Sie war ein Teil von mir geworden, mit mir verwachsen. Meine Hände fühlen über die kalte, metallene Oberfläche … Sie hatte sich verändert. Ich erschrak. Die Form änderte sich, während ich die Maske berührte. Ein großes, tierartiges Maul bildete sich, Zähne traten hervor … Dicke Wülste wölbten sich über den Augen.
Ich wollte schreien und hörte nur einen dumpfen tierischen Laut! Ich bewegte mich wie eine Marionette, an unsichtbaren Fäden von einer fremden Macht gezogen. Es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.
„Sandra!“, hörte ich eine Stimme wie aus weiter Ferne. Es war Tante Elisabeths Stimme.
Ich ging auf sie zu, knurrte drohend, breitete die Arme aus, während die alte Dame mit schreckgeweiteten Armen vor mir zurückwich …
Ich schreckte hoch.
„Nein!“, schrie ich, und meine Hände strichen über mein Gesicht, rieben daran, um die Maske herunterzureißen.
Schweißgebadet saß ich da, während Tom neben mir erwachte und mich bei den Schultern fasste.
„Sandra!“
„Tante Elisabeth! Mein Gott! Ich wollte doch nicht … ich …“
Ich stammelte wirres Zeug. Einige Augenblicke vergingen, ehe ich wirklich begriff, dass ich mich in Toms Wohnung befand. Das, was ich gesehen hatte, war nur ein Traum gewesen. Eine Erinnerung an einen der schlimmsten Augenblicke meines Lebens.
In jenem Moment hatte nicht viel gefehlt, und ich hätte Tante Elisabeth unter dem Einfluss Cayamus getötet.
„Oh, Tom!“, flüsterte ich. Ich schmiegte mich an ihn. Er hielt mich fest, strich mir zärtlich über das Haar und den Rücken.
„Eine deiner Visionen?“, fragte Tom.
„Ich hatte diese Maske auf … Es war so furchtbar!“
„Das ist vorbei, Sandra. Du bist hier bei mir.“
„Ja, ich weiß.“
Langsam beruhigte ich mich. Und dann hatte ich plötzlich einen Namen im Kopf. Er lag mir einfach auf der Zunge, und ich flüsterte ihn vor mich hin.
„Marlitt.“
„Was sagst du?“, fragte Tom.
„Marlitt“, wiederholte ich, nicht minder verwirrt als Tom.
„Was soll das sein?“
„Ich weiß es nicht.“
„Vielleicht ein Name?“
„Dieses Wort war plötzlich in meinem Kopf. Tut mir leid, aber mehr kann ich dazu nicht sagen.“
5
Am nächsten Tag erwartete mich im Redaktionsbüro der HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN ein Tag mit viel Routine. Irgendwann kam mein Kollege Jim Rönckendorff an meinem Schreibtisch vorbei und knallte mir einen Datenträger auf den Schreibtisch.
„Hallo, Sandra! Lange nicht gesehen“, meinte er und lächelte verschmitzt. Mit einer lässigen Bewegung strich er sich das viel zu lange blondgelockte Haar zurück. In seinem ausgebeulten Jackett und den kaputten Jeans wirkte er wie ein übriggebliebenes Relikt aus der Flowerpower-Zeit – obwohl er selbst damals wohl noch in den Windeln gelegen hatte.
„Hallo, Jim“, sagte ich und lehnte mich in meinem Drehstuhl etwa zurück. „Wo bist du die letzte Woche gewesen? Ich habe schon befürchtet, du hättest deinen Abschied von den NACHRICHTEN genommen, ohne mir was davon zu sagen!“
„So schlecht denkst du von mir, Sandra?“, lachte er. Jim war der Starfotograf der NACHRICHTEN. Und seit einiger Zeit liebäugelte er mit einem Wechsel zur Konkurrenz.
Früher hatten wir oft zusammengearbeitet und waren vielfach ein Team gewesen. Ein sehr gutes Team sogar.
„Ich war in Mecklenburg-Vorpommern“, berichtete Jim. „So eine rührselige Fotostory, du kennst das ja … Reinhardt Altmann – sagt dir der Name etwas?“
„Ich weiß nicht!“
„Ein Uralt-Schnulzensänger. Mach mal den Plattenschrank deiner Großtante auf, ich wette, da findest du was von ihm. Er hat seit Jahren keine Platte mehr rausgebracht, und ich bezweifle, ob er überhaupt noch in der Lage wäre, ein Konzert durchzustehen. Aber das braucht er längst nicht mehr. Reinhardt hat sich beizeiten eine goldene Nase verdient.“
„Klingt ja nach einer wahnsinnig interessanten Story“, meinte ich ironisch.
„Du, das wird der Aufmacher morgen!“
„Ich fasse es nicht!“, meinte ich. Was war mit unserem Chefredakteur Michael T. Schwanemeier los? Hatte ihn am Ende der journalistische Instinkt verlassen? Wenn man mit so einer Schlaftablette aufmachte, konnte man jedenfalls kaum erwarten, damit die Auflage zu steigern.
Jim grinste mich an.
Und ich wusste sofort, dass er mir etwas verschwiegen hatte.
Wahrscheinlich den interessantesten Teil der Geschichte.
„Reinhardt Altmann ist zum vierten Mal verheiratet. Seine Frau ist dreißig Jahre jünger und litt unter Leukämie. Sie war von den Ärzten schon aufgegeben worden, aber – o Wunder! – eine selbsternannte Druidin, die in Mecklenburg-Vorpommern in einem alten Schloss wohnt, hat Frau Altmann geheilt!“ Jims Gesicht wurde etwas ernster, als er fortfuhr: „Du weißt, dass ich immer skeptisch gegenüber allem eingestellt war, was mit übersinnlicher Begabung, Okkultismus oder verwandten Gebieten zu tun hatte. Aber diese Sache war schon beeindruckend. Frau Altmann ist von mehreren Ärzten untersucht worden. Es wurden keine Symptome mehr festgestellt. Die Erkrankung war nicht mehr nachweisbar.“ Er hatte plötzlich einen etwas nach innen gekehrten Blick. „Diese Marlitt war schon eine beeindruckende Persönlichkeit, das ich muss ich sagen.“
„Marlitt?“, echote ich.
Der Klang dieses Namens versetzte mir einen Stich.
Genau dieses Wort hatte mir in der Nacht auf der Zunge gelegen.
„Ja“, sagte er. „So nannte sich die Druidin. Natürlich war das nicht ihr bürgerlicher Name, sondern der, den ihr die Götter des Alten Volkes gegeben hätten … Naja, Zirkuskünstler haben ja auch falsche Namen.“
Ich war plötzlich mit den Gedanken ganz woanders.
Jims Geplauder hörte ich wie aus großer Ferne.
Stattdessen hallte immer wieder dieser Name in meinem Inneren wider.
Marlitt!
Für Bruchteile von Sekunden sah ich das Gesicht einer jungen Frau vor mir. Sie hatte ebenmäßige, hübsche Züge, ein glatte helle Haut. Das Haar war blond mit einem deutlich Stich ins Rote.
Ihre Augen!
Sie waren vollkommen von einem leuchtenden Blau erfüllt.
Marlitt!
Das muss sie sein, durchschoss es mich. Die Druidin!
In ihren Händen hielt sie einen Totenschädel, auf dem dunkle Schatten tanzten. Es war ein besonderer Totenschädel.
Er besaß zwei Gesichter. Innerhalb eines Augenaufschlags verwandelte sich dieser Schädel. Er schimmerte bronzefarben, verformte sich, und plötzlich hatte die junge Frau eine jener Talketuan-Masken in den Händen, wie sie vom ORDEN DER MASKE benutzt wurden.
Ein eisiger Schauer überkam mich.
Mein Puls begann zu rasen.
„He, Sandra, was ist los mit dir?“, hörte ich Jim. „Du siehst bleich aus, soll ich dir ’nen Schluck Kaffee bringen?“
„Ja“, sagte ich wie automatisch.
Ich sah, wie die junge Frau die Maske vor ihr Gesicht nahm und anlegte. Es zischte. Ihre Haut verband sich mit dem Metall, das ihre Züge bis in das kleinste Detail nachmodellierte. So fein, wie kein Bildhauer dieser Welt es vermocht hätte. Aber die Verwandlung kam nicht zum Stillstand. Sie schritt weiter voran. Marlitts Züge lösten sich wieder auf und machten etwas anderem Platz.
Ich erwartete eine tierartige Fratze zu sehen, das gespenstische Zerrbild eines menschlichen Gesichtes …
Ich dachte, dass sie sich in eine Bestie, einen Geist der Sonne verwandelte, so wie ich es nicht zum ersten Mal bei Angehörigen des ORDENS DER MASKE gesehen hatte.
Aber das geschah keineswegs.
Stattdessen bildete sich auf der kalten Metalloberfläche der Maske ein durch und durch menschliches Antlitz.
Das Gesicht eines Menschen, mit dem zusammen Tom Broland und ich noch vor Kurzem an den Ufern des Titicacasees in den Anden gewesen waren.
„Dietrich von Schlichten!“, stieß ich hervor.
6
„Wer bitte?“, fragte Jim und reichte mir dabei einen Pappbecher mit Kaffee. „Hier, vielleicht bringt das deine Lebensgeister zurück.“
Ich nahm den Kaffee, atmete tief durch und nippte dann an der dünnen Brühe. Unser Verlag war bei seinen Mitarbeitern für seine Sparsamkeit berüchtigt. Das schloss den Redaktionskaffee ein. Er war entsetzlich dünn.
„Danke, Jim“, murmelte ich.
„Was war los?“
„Muss die Wetterumstellung sein. Mir war plötzlich nicht gut.“ Ich blickte auf den Datenträger, den er mir auf den Schreibtisch gelegt hatte. „Was soll ich damit eigentlich?“
„Ach so, hätte ich fast vergessen … Das ist der Bericht einer dänischen Zeitung, den wir übernommen haben. Sorensen hat ihn übersetzt – aber du weißt ja: Er hat exzellente Fremdsprachenkenntnisse, nur seine Muttersprache beherrscht er nicht richtig. Er schreibt grauenhaft, aber Herr Schwanemeier meinte, du kriegst es hin, aus Sorensens Übersetzung einen richtigen Artikel zu machen.“
Ich verdrehte die Augen.
Schließlich wusste ich, wie Sorensens Übersetzungen aussahen und wie viel Arbeit mir da noch bevorstand.
Jim grinste.
„Viel Spaß! Übrigens, der Artikel ist von einem gewissen Peer Snaidar. Er hat dasselbe Spezialgebiet wie du: Übersinnliches und Okkultismus!“
7
Die Mittagspause nutzte ich, um im Archiv zu recherchieren.
Die Informationen, die über die Druidin Marlitt in den großen stählernen Aktenschränken lagerten, waren mehr als spärlich. Ab und zu hatte es mal eine Pressenotiz über sie gegeben. Immerhin bekam ich heraus, dass ihr bürgerlicher Name Sophia Ålund war. Der letzte aus dem Adelsgeschlecht der Neuendorff hatte ihr seinen Familiensitz vermacht, aus Dankbarkeit dafür, dass Marlitt ihn in seinen letzten Lebensjahren von unerträglichen Gelenkschmerzen befreit hatte.
Vielleicht würden sich in Tante Elisabeths Archiv noch nähere Informationen finden.
Ich hoffte es.
„Hallo, Sandra!“, ließ mich eine bekannte Stimme aufhorchen.
Ich schreckte regelrecht ein bisschen zusammen.
„Oh, Tom, ich …“
„Es war nicht meine Absicht, dir einen Schrecken einzujagen“, lächelte er. Der Blick seiner meergrünen Augen musterte mich einen Augenblick lang. Ein Blick, der mir noch immer durch und durch ging. Obwohl wir uns schon so vertraut waren, gab es doch immer noch Geheimnisse aneinander zu entdecken.
„Ich dachte mir, dass du hier unten bist“, meinte er.
„Ach, ja?“
„Schließlich kenne ich dich gut genug, um zu wissen, dass dich die Sache mit von Schlichten nicht loslässt.“
Ich zuckte die Achseln. „Da hast du allerdings recht.“
„Ich habe etwas meine Beziehungen spielen lassen, die ich aus meiner Zeit als Agentur-Korrespondent noch besitze. Es gibt da schon einige Dinge, die etwas merkwürdig an diesem Mann sind. Zum Beispiel seine Einkünfte! Er unternimmt teure Expeditionen, die von keiner Universität und keinem Forschungsinstitut unterstützt werden. Außer gelegentlichen Vorträgen in aller Welt hat er auch nirgendwo Lehrverpflichtungen. Und doch müssen da irgendwelche Geldquellen sein.“
„Das passt ins Bild“, meinte ich.
„Übrigens scheint er auch keinerlei festen Wohnsitz zu haben.“
„Ich weiß, wo er sich im Augenblick aufhält“, erklärte ich, nicht ohne Triumph in der Stimme.
Tom hob die Augenbrauen. „Ach, ja?“
„In Mecklenburg-Vorpommern!“
Und dann erzählte ich ihm von meiner Vision. Selten war ich mir über die Bedeutung einer solchen übersinnlichen Erscheinung sicherer gewesen als in diesem Fall.
8
„Sie meinen also, auf neue Spuren des ORDENS DER MASKE gestoßen zu sein“, meinte Michael T. Schwanemeier und atmete danach tief durch.
Tom Broland und ich saßen in den schlichten, dunklen und reichlich abgewetzten Ledersesseln, die unser Chefredakteur in seinem Büro für Besucher vorgesehen hatte. Er fuhr sich mit einer fast verzweifelten Geste durch das schütter gewordene Haar und schüttelte dann den Kopf. „Und deswegen müssen Sie natürlich gleich nach Mecklenburg-Vorpommern.“
„Sie erinnern sich doch noch an …“
„… an Ihre letzte Story über diesen ORDEN?“, unterbrach mich Schwanemeier. „Wo Sie mit diesem dubiosen Privatdetektiv zusammengearbeitet haben? Ich muss sagen, ich hatte Bauchschmerzen dabei.“
„Es gibt Polizeiakten, die die Gefährlichkeit dieses ORDENS eindrucksvoll bestätigen. Es ist nicht anzunehmen, dass die Mitglieder dieser Vereinigung ruhig dasitzen und die Hände in den Schoß legen. Sie warten auf den Tag der Katastrophe, an dem Cayamu sie retten wird. Und sie sind verpflichtet, alles dafür zu tun, dass der Weltuntergang sich beschleunigt.“
„Und wie kommen Sie darauf, dass der vor Kurzem noch so von Ihnen verehrte und in den höchsten Tönen gelobte Professor Dietrich von Schlichten ein Mitglied dieser Sekte sein soll? Und wieso ausgerechnet Mecklenburg-Vorpommern und diese Druidin, über die Jim gerade eine Reportage gemacht hat? Eine Frau, die bestenfalls eine Quacksalberin ist – aber doch keine fanatische Sektenanhängerin!“
Ich seufzte. Natürlich konnte ich Schwanemeier gegenüber nicht damit kommen, dass ich Visionen gehabt hatte, die sich genau so deuten ließen. In den letzten Jahren hatte ich mir bei Schwanemeier mit meiner Arbeit einen gewissen Respekt erworben, aber der wäre mit einem Schlag verloren gewesen, hätte ich ihm so etwas aufgetischt.
Also sagte ich: „Ich habe einen sehr glaubwürdigen Informanten, Herr Schwanemeier.“
Schwanemeier hob die Augenbrauen, kam hinter seinem völlig überfüllten Schreibtisch hervor und krempelte sich die Ärmel hoch.
„Wer ist das?“
„Ich habe ihm absolute Anonymität zugesichert. Sein Leben kann davon abhängen. Sie wissen, dass der ORDEN DER MASKE auch in der Vergangenheit in seinen Methoden bei der Beseitigung unliebsamer Zeitgenossen nicht gerade zimperlich war.“
Schwanemeier atmete tief durch. Er kratzte sich am Hinterkopf und überlegte.
„Sie sind beide keine Anfänger“, sagte Schwanemeier dann. „Und in der Vergangenheit konnte ich mich auf Ihre Spürnase immer verlassen.“
„Außerdem ist eine Reise nach Mecklenburg-Vorpommern doch nur ein Katzensprung“, gab Tom zu bedenken. „Nicht zu vergleichen mit einem Trip in die Anden! Auch von den Kosten her!“
„Sie haben mein Okay“, sagte Schwanemeier. „Sorgen Sie dafür, dass Jim Rönckendorff den Kontakt zu dieser Marlitt herstellt. Schließlich kennt sie ihn und vertraut ihm bis zu einem gewissen Grad. Es wäre natürlich sinnvoll, wenn Herr Rönckendorff Sie begleiten könnte, aber der ist ab übermorgen damit beschäftigt Johnny Depp bei den Dreharbeiten zu seinem neuesten Streifen zu begleiten.“
9
Ich kam an diesem Tag früh nach Hause. Tante Elisabeth war in ihrer Bibliothek, deren Regale völlig überfüllt waren.
Überall reihten sich staubig gewordene dicke Folianten aneinander. Okkulte Schriften, obskure Studien zur Parapsychologie, magische Geheimschriften … Dazwischen immer wieder archäologische Fundstücke, die ihr verschollener Mann von seinen Reisen mitgebracht hatte, sowie verschiedene okkulte Gegenstände, die Tante Elisabeth im Laufe der Zeit erworben hatte. Götterstatuen längst untergegangener Kulturen waren ebenso dabei wie afrikanische Geistermasken, Totems, Voodoo-Fetische oder Kristallkugeln.
Tante Elisabeth war jedoch nicht allein. Gemeinsam mit einem älteren Herrn mit schlohweißem Haar und deutlichem Bauchansatz kniete sie auf dem Fußboden, der über und über mit aufgeschlagenen Büchern bedeckt war.
Die beiden blickten auf.
Der ältere Herr, der sich eigens ein Kissen unter die Knie gelegt hatte, damit ihn der harte Parkettboden in Tante Elisabeths Bibliothek nicht zu sehr schmerzte, erhob sich, und Tante Elisabeth folgte seinem Beispiel. Dem sehr seriös wirkenden konservativ gekleideten Mann war es offensichtlich sehr peinlich, in dieser Lage beobachtet worden zu sein. Denn ansonsten wirkte er keineswegs so, als pflegte er besonders legere Umgangsformen. Sein dreiteiliger Anzug, aus dessen Weste die Kette einer Taschenuhr heraushing, ließ ihn eher aristokratisch erscheinen.
„Hallo, Sandra!“, begrüßte mich Tante Elisabeth. „Dies ist Professor Georg Kȃlman, ein ehemaliger Kollege von Friedrich. Professor Kȃlman, meine Großnichte Sandra Düpree!“
Kȃlman reichte mir die Hand, machte einen Schritt nach vorn und musste dabei darauf achtgeben, nicht auf ein wertvolles Originalexemplar der ABSONDERLICHEN KULTE zu treten, jenem okkulten Standardwerk, das ein deutscher Okkultist um die Jahrhundertwende in mittelalterlichem Latein verfasste, um zu verhindern, dass die darin enthaltenen Beschwörungsformeln allzu leicht in die Hände Unbefugter gelangten.
Der Name dieses Okkultisten war Hermann von Schlichten – von dessen Urenkel Dietrich ich jetzt annahm, dass der dem ORDEN DER MASKE verfallen war.
„Frau Düpree hat mir einiges über Sie erzählt, Frau Düpree“, erklärte Kȃlman. „Und zugegeben – auch ich lese ab und zu die HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN, obwohl ich eigentlich etwas anspruchsvollere Lektüre bevorzuge. Aber die Schrift ist so groß, und das entlastet meine Augen ungemein.“
Bevor ich etwas sagen konnte, meinte Tante Elisabeth: „Professor Kȃlman ist Sprachwissenschaftler. Genauer gesagt: Spezialist für alte Sprachen und vergleichende Linguistik. Und ich habe ihn zu Rate gezogen, weil ich da auf etwas gestoßen bin, was mir einfach keine Ruhe gelassen hat, seit Tom und du von eurer Reise in die Anden zurückgekehrt seid!“
Ich sah Tante Elisabeth überrascht an.
Bislang hatte sie mir nichts dergleichen gesagt. Zwar hatte sie sich – wie üblich – die Nächte mit ihren Studien um die Ohren geschlagen und in alten Folianten gelesen, aber das war bei ihr nichts Ungewöhnliches.
„Worum geht es?“, fragte ich.
„Um eine Frage, die mir am ehesten ein Sprachwissenschaftler beantworten kann, und daher habe ich Professor Kȃlman gebeten, mich zu unterstützen.“
„Nun mach es nicht so spannend!“
Indessen blickte der Professor auf die Uhr, und sein Gesicht veränderte sich. Er erschrak.
„Es tut mir leid, Frau Düpree. Die Zeit bei Ihnen ist im Flug vergangen, und ich habe gar nicht bemerkt, wie die Stunden dahingegangen sind. Leider habe ich jetzt noch einen Termin, den ich unmöglich ausfallen lassen kann … Die Gesellschaft zur Erforschung des Mittelhochdeutschen erwartet einen Vortrag von mir, und ich werde mich schon sehr beeilen müssen, um nicht zu spät zu kommen!“
„Oh“, sagte Tante Elisabeth, „das tut mir leid!“
„Wenn Sie nichts dagegen haben, setzen wir unsere Studien morgen fort.“
„Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür, wenn Sie Ihre kostbare Zeit …“
„Aber, Frau Düpree! Das ist keineswegs ein Opfer für mich!“, lächelte er.
„Warten Sie, ich bringe Sie zur Tür!“, kündigte Tante Elisabeth an, dann sah sie vor sich auf den Boden und trat im Storchenschritt zwischen den aufgeschlagenen Folianten hindurch – jeder von ihnen von unschätzbarem Wert und für jemanden, der an okkulten Fragen interessiert war, geradezu unersetzlich.
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Wenig später kehrte Tante Elisabeth zu mir in die Bibliothek zurück. „Es geht um folgendes“, sagte sie ohne weitere Umschweife, und in ihren Augen brannte das unbändige Feuer einer Forscherin, deren Energie einfach nicht erlahmte, so sehr man auch glaubte, dass sie sich längst hätte verausgaben müssen. „Diese Beschwörungsformel, mit der die Indios am Titicacasee diese Krakenwesen herbeiriefen.“
„MAQUATLI QUERESEN K’YARAM’NUR“, murmelte ich. Diese Worte waren mir noch gut im Gedächtnis – Augenblicke des Grauens verbanden sich für mich damit.
„Ja, genau“, nickte Tante Elisabeth. „Ich bin auf eine eigenartige Veröffentlichung im Internet gestoßen. Der Verfasser war anonym. Und die entsprechenden Seiten sind jetzt auch nicht mehr aufzufinden. Zum Glück habe ich sie mir ausdrucken lassen. In dieser Arbeit wurde die These aufgestellt, dass die Beschwörungsformel der Indios am Titicacasee und jene Formel, mit der die Mitglieder des ORDENS DER MASKE die mentale Verbindung zu Cayamus Welt, einer bislang noch nicht entschlüsselten Sprache entstammen könnten, die möglicherweise Jahrtausende vor der Talketuan-Kultur in Yucatan und Süd-Mexiko gesprochen wurde.“
Ich musste mich setzen.
Was Tante Elisabeth sagte, machte Sinn.
Macanuet ketasarem Cayamu … Der Singsang der Maskenträger hallte in meinem Inneren wider. „Wie kann man anhand so spärlicher Stichproben, die nur aus wenigen Wörtern bestehen, eine Sprachverwandtschaft behaupten?“, fragte ich.
„Der anonyme Verfasser des Artikels glaubt, die Silbenschrift der eben erwähnten Vor-Talketuan-Kultur vollständig entschlüsselt zu haben und daraus das gesamte Wortmaterial der beiden Beschwörungen isolieren zu können. Professor Kȃlman hält es durchaus für möglich, dass etwas an diesen Thesen dran ist.“
„Und es gibt wirklich keinen Hinweis auf den Verfasser?“
Tante Elisabeth zuckte die Achseln. „Er ist zweifellos mit Hermann von Schlichtens ABSONDERLICHEN KULTEN und den Abhandlungen Graf Karl von Grevens vertraut. Das grenzt den Kreis der in Frage kommenden Personen natürlich ein.“
Bilder stiegen aus meiner Erinnerung empor. Es waren noch sehr frische Bilder …
Während unserer Taucharbeiten im Titicacasee hatte mich eine mysteriöse Kraft an einen Ort geholt, der in den Legenden der Indios den Namen DAS REICH JENSEITS DER KÄLTE trug. Ein dunkler, fast lichtloser Meeresgrund, bevölkert von grauenerregenden krakenhaften Tentakelwesen in jeder nur vorstellbaren Größe. Ich hätte nicht einmal sagen können, wie lange ich an jenem furchtbaren Ort gewesen war, denn die Zeit war dort anders verlaufen. Ein Umstand, dem ich vermutlich mein Leben verdankte, denn der Inhalt meiner Sauerstoffflasche war bereits ziemlich zur Neige gegangen.
Ein dunkler Höllenschlund, jenseits von Zeit und Raum!
„Könnte es nicht sein, dass sich das REICH JENSEITS DER KÄLTE, in das die Krakenwesen verbannt worden waren, in Cayamus Welt befand?“, fragte ich tonlos. Tante Elisabeth sah mich nachdenklich an. Jede Einzelheit meiner Erlebnisse hatte ich ihr geschildert. Sie nickte leicht.
„Daran hatte ich auch gedacht“, erklärte sie.
„Dann ergibt es auch einen Sinn, dass Dietrich von Schlichten höchstwahrscheinlich ein Mitglied im ORDEN DER MASKE ist.“
„Was?“ Tante Elisabeth sah mich entsetzt an. „Das meinst du nicht im Ernst!“
Ich berichtete Tante Elisabeth von meinem Verdacht und dem, was ich bisher darüber herausgefunden hatte. Und ich erzählte von der Druidin Marlitt und meiner Vision.
„Der ORDEN DER MASKE wollte mit meiner Hilfe dafür sorgen, dass diese furchtbaren Krakenmonster das REICH JENSEITS DER KÄLTE verlassen.“
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Die halbe Nacht schlug ich mir mit Recherchen in Tante Elisabeths Archiv um die Ohren, wobei sie mich natürlich tatkräftig unterstützte. Mit ihrer unbändigen Energie stellte die alte Dame so manche Jüngere mühelos in den Schatten.
Es fanden sich tatsächlich einige Artikel über Marlitt.
Demnach war sie bereits als Kind mit ihrer Begabung aufgefallen. Weitere Hinweise auf Verbindungen zum ORDEN DER MASKE gab es allerdings nicht.
„Die Ziele des Ordens widersprechen eigentlich auch dem, was Marlitt immer wollte“, meinte Tante Elisabeth. „Wenn man nach diesen Artikeln geht, dann war ihr die Heilung von Kranken immer besonders wichtig. Dazu hat sie ihre – zweifellos vorhandenen – mentalen Energien verwendet. Nicht zur Zerstörung.“
„Vielleicht waren ihre Kräfte nicht stark genug, um sich dem Einfluss Cayamus zu entziehen“, murmelte ich. Ich selbst hatte diesen Einfluss ja auch bereits zu spüren bekommen. Und ich wusste, wie schwer es war, sich dagegen abzuschirmen.
Allein die Erinnerung an jene furchtbaren Augenblicke, in denen ich die Maske getragen hatte, ließ mich schaudern.
Der Morgen graute schon, als wir bei einer Tasse Kaffee in der Küche saßen.
„Ich hatte eigentlich einen sehr guten Eindruck von Professor von Schlichten“, sagte Tante Elisabeth etwas traurig. „Ich hoffe, dass sich seine Verbindung zum ORDEN DER MASKE als Irrtum herausstellt.“
„Das hoffe ich mit dir“, sagte ich.
„Auf dem Empfang, den ich im Vorfeld eurer Anden-Expedition für ihn gegeben habe, hatte ich den Eindruck, eine verwandte Seele zu treffen. Jemanden, dem dieselben Dinge am Herzen liegen wie mir. Ein Mann, der sein Leben der Erforschung des Ungewöhnlichen gewidmet hat – ohne Rücksicht auf die Meinung seiner Zeitgenossen.“ Sie seufzte. Bewunderung schwang in ihrem Tonfall mit. „Aber er wäre nicht der erste, der dem ORDEN DER MASKE nicht freiwillig dient“, setzte sie dann noch hinzu. „Und vielleicht gibt es eine Möglichkeit, von Schlichten aus dem Einfluss dieser Sekte zu befreien.“
Ich erwiderte das matte Lächeln, das sich auf Tante Elisabeths Gesicht zeigte.
Dass ihre Einschätzung reichlich optimistisch war, brauchte ich nicht auszusprechen. Ich war überzeugt davon, dass sie es im Innersten selbst wusste.
Ich nippte an meinem Kaffee, stützte den Kopf auf die linke Hand und schloss für einige Augenblicke die Augen.
Ich war wirklich hundemüde und hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich den nächsten Tag im Redaktionsbüro der HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN überstehen sollte.
Wahrscheinlich würden meine Artikel, die ich dann in die Computertastatur hackte, sprachlich noch mangelhafter sein als die Übersetzungen meines Kollegen Sorensen.
Ich stellte mir vor, wie Michael T. Schwanemeier in seiner Verzweiflung meine Artikel Sorensen zur Überarbeitung gab und schmunzelte unwillkürlich.
Doch dann machten diese inneren Bilder plötzlich anderen Platz.
Ich sah einen Mann vor mir. Ein gehetzt wirkendes Gesicht mit blassblauen Augen. Die Wangen von grauen Bartstoppeln überwuchert.
Es war unübersehbar, dass dieser Mann Angst hatte.
Todesangst.
Er stieg aus seinem Wagen. Der Wind fuhr ihm durch das Haar. Er schlug den Kragen seines dunkelgrauen Wollmantels hoch. Die Finger zitterten, als er sich eine Zigarette anzündete …
Undeutlich nahm ich die Umgebung wahr, in der sich der Mann befand.
Es war ein Schiff.
Genauer: Eine Autofähre. In großen Lettern war ihr Name zu sehen: ARABESKE. Darunter etwas kleiner die Strecke, auf der dieses Schiff eingesetzt wurde: ROSTOCK – LÜBECK.
„Sandra, was ist los?“, fragte Tante Elisabeth. „Du bist ja ganz blass geworden!“