Sandra Düpree und der
Druidenzauber: Unheimlicher Roman
von Jonas Herlin
Ist die Druidin Marlitt eine Wunderheilerin? Oder steht sie
unter dem Einfluss des Ordens der Maske, der den Untergang der Welt
beschwören will? Die Hamburger Journalistin Sandra Düpree und Tom
Broland geraten in einen Strudel von Ereignissen, die tatsächlich
die Menschheit gefährden können.
Ihre Albträume sind eine Warnung. Die Realität ist der wahre
Schrecken.
Für die Hamburger Reporterin Sandra Düpree sind düstere
Visionen ein ständiger, unheimlicher Begleiter. Doch als die Bilder
immer klarer werden und sie das Gesicht einer geheimnisvollen
Druidin namens Marlitt und die Fratze einer bronzenen Maske zeigen,
wird aus vager Angst eine tödliche Vorahnung.
Ihre Recherche führt sie auf die Spur des rätselhaften „Ordens
der Maske“, einer Weltuntergangssekte, die einem gottgleichen Wesen
aus einer fremden Dimension dient. Als sie entdeckt, dass ein
angesehener Archäologe tief in die Machenschaften des Ordens
verstrickt zu sein scheint, gibt es kein Zurück mehr.
Gemeinsam mit ihrem Freund Tom Broland reist sie zu einem
abgelegenen Schloss in Mecklenburg-Vorpommern – dem Sitz der
Druidin und dem Zentrum der Verschwörung. Dort wird Sandra nicht
nur mit einem uralten Ritual konfrontiert, das die Welt zu
vernichten droht, sondern auch mit einer Gestalt aus ihrer
Vergangenheit, deren plötzliches Auftauchen alles infrage
stellt.
Gefangen in einem Labyrinth aus Täuschung, Magie und uraltem
Grauen, muss Sandra lernen, ihre Gabe zu kontrollieren. Denn sie
ist nicht nur das Ziel des Ordens – sie könnte auch die einzige
Waffe sein, die ihn aufhalten kann.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2025 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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Kapitel 0: Schatten auf der Alster
Der Traum kam wie immer in Fragmenten, scharfen, kalten
Splittern aus Glas, die sich in Sandra Düprees Schlaf bohrten. Es
war kein zusammenhängender Albtraum, der eine Geschichte erzählte,
sondern eher das Echo einer fernen, grausamen Melodie. Da war das
Gefühl von altem, feuchtem Stein, der Geruch von Moder und
ozonartiger Energie. Bilder flackerten auf, zu schnell, um sie
festzuhalten: ein Kreis aus bleichen, starrenden Schädeln, die von
einer riesigen Kuppel herabsahen; die erstickende Schwere von
Wasser, das von allen Seiten drückte; und immer wieder dieses
metallische Zischen, wie wenn glühendes Eisen auf nasse Haut
trifft.
Und dann war da das Gesicht. Es war nie dasselbe. Manchmal war
es das einer jungen Frau mit rotstichigem Haar und Augen, die in
einem unheimlichen, blauen Feuer brannten. Manchmal war es das
eines Mannes, dessen Züge sich wie Wachs verformten und zu einer
tierischen Fratze verzogen. Und manchmal war es nur eine Leere,
eine konturlose Maske aus polierter Bronze, in der sich ein
verzerrtes Spiegelbild ihrer eigenen Angst zeigte.
Der schlimmste Teil war nicht das Visuelle, sondern das
Gefühl, das damit einherging. Eine fremde, geistige Macht, die an
den Rändern ihres Bewusstseins zerrte, eine kalte, gebieterische
Präsenz, die flüsterte, ohne Worte zu benutzen. Sie versprach
Wissen, Macht und Rettung, aber der Preis war das eigene Selbst. Es
war das Gefühl, eine Marionette zu sein, deren Fäden von einer
unvorstellbar fernen und gleichgültigen Hand gehalten wurden.
„Nein“, murmelte Sandra im Schlaf, ihr Körper spannte sich
unter der Decke an. „Nicht schon wieder …“
Eine warme, feste Hand legte sich auf ihre Schulter, und eine
vertraute Stimme zog sie sanft aus dem eisigen Griff des Traums.
„Sandra? Hey, wach auf. Alles gut.“
Ihre Augenlider flatterten. Das erste, was sie sah, waren die
meergrünen Augen von Tom Broland, erfüllt von Sorge. Das fahle
Morgenlicht, das durch die Jalousien ihres Hamburger Apartments
fiel, zeichnete die Konturen seines Gesichts nach. Er war schon
wach, hatte sich auf den Ellbogen gestützt und sah auf sie
herab.
„Tom“, flüsterte sie, ihre Stimme rau. Sie setzte sich auf,
fuhr sich mit zitternden Händen durch das Haar und spürte den
kalten Schweiß auf ihrer Stirn. Die Bilder des Traums verblassten
bereits, aber das Gefühl der Beklemmung blieb wie ein schwerer
Mantel auf ihrer Seele liegen.
„Wieder einer von den Schlimmen?“, fragte er leise. Er musste
es nicht fragen. Er sah es in ihren Augen, in der blassen Farbe
ihrer Haut.
Sandra nickte nur, unfähig zu sprechen. Sie lehnte ihren Kopf
gegen seine Schulter, sog seinen vertrauten Geruch ein und lauschte
dem ruhigen, stetigen Rhythmus seines Herzens. Er war ihr Anker in
einer Welt, die für sie oft aus den Fugen zu geraten drohte.
„Derselbe Unsinn wie immer?“, fuhr er fort und strich ihr
beruhigend über den Rücken. „Schädel, Masken, das ganze
Gruselprogramm?“
„Es wird schlimmer, Tom“, sagte sie schließlich, ihre Stimme
kaum mehr als ein Hauch. „Es fühlt sich … näher an. Konkreter. Als
ob etwas aufwacht. Oder hierherkommt.“ Sie schauderte. „Und diese
Macht … sie ist so kalt. So hungrig.“
Tom seufzte. Er kannte diese Gespräche. Seit er mit Sandra
zusammen war, hatte er gelernt, in einer Welt zu leben, in der die
Grenzen zwischen Einbildung und einer schrecklichen, verborgenen
Realität fließend waren. Als er sie kennengelernt hatte, war sie
eine brillante, wenn auch etwas exzentrische Kollegin bei den
HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN gewesen, eine Reporterin mit einem
unheimlichen Gespür für die verborgenen Winkel menschlicher
Geschichten. Erst später hatte er verstanden, dass ihr „Gespür“
weit mehr war als nur journalistische Intuition. Es war eine Gabe,
wie ihre Großtante Elisabeth es nannte. Ein Fluch, wie Sandra es an
Tagen wie diesen empfand.
„Vielleicht ist es nur der Stress“, versuchte er es, obwohl er
wusste, dass es zwecklos war. „Schwanemeier macht uns allen die
Hölle heiß wegen der neuen Online-Strategie. Du hast kaum
geschlafen die letzte Woche.“
„Das ist es nicht, und das weißt du“, erwiderte sie und hob
den Kopf, um ihn anzusehen. „Ich kenne den Unterschied zwischen
einem normalen Albtraum und … dem hier. Das hier ist eine Warnung.
Ein Echo von etwas, das passiert oder passieren wird.“
Ihr Blick schweifte zum Fenster, hinaus auf die Dächer von
Eimsbüttel, wo der Himmel in den Farben von Stahl und Perlmutt auf
den Tag wartete. Hamburg erwachte, ein Moloch aus geschäftiger
Normalität, aus Hupen, fernen Schiffssirenen und dem Kreischen der
Möwen. Eine Welt, die keine Ahnung von den Schatten hatte, die
Sandra in ihren Träumen sah.
Es war das Schicksal ihrer Mutter gewesen, das ihr die größte
Angst machte. Auch sie war parapsychisch begabt gewesen, ihre
Fähigkeiten jedoch weitaus unkontrollierter. Die Visionen hatten
sie langsam zermürbt, sie von der Realität entfremdet, bis sie
schließlich in den Wahnsinn getrieben wurde und bei einem
tragischen Unfall ums Leben kam, als Sandra noch ein Kind war.
Seitdem hatte Sandra gelernt, ihre eigene Gabe zu verbergen, sie zu
unterdrücken und ein möglichst normales Leben zu führen. Nur Tom
und ihre Großtante Elisabeth wussten die ganze Wahrheit.
„Okay“, sagte Tom sanft und nahm ihr Gesicht in seine Hände.
„Okay, ich glaube dir. Was können wir tun?“
Sandra schüttelte den Kopf. Ein Gefühl der Hilflosigkeit
überkam sie. „Nichts. Abwarten. Das ist das Schlimmste. Es ist wie
das Warten auf ein Gewitter, wenn man den Donner schon in der Ferne
grollen hört, aber der Himmel noch blau ist.“ Sie schloss die
Augen. „Ich hasse es.“
„Dann lass uns wenigstens das tun, was wir kontrollieren
können“, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln. „Aufstehen, den
schlechtesten Kaffee der Stadt in der Redaktion trinken und so tun,
als wären wir normale Menschen mit normalen Problemen. Wie zum
Beispiel die Frage, wie wir Schwanemeier erklären, dass die Story
über den Korruptionsskandal im Bauamt eine Sackgasse ist.“
Sandra musste wider Willen lächeln. „Das klingt nach einem
schrecklichen Plan.“
„Ich weiß“, sagte er und küsste sie auf die Stirn. „Aber es
ist meiner. Und er beinhaltet Frühstück bei ‚Kleine Pause‘ auf dem
Weg. Das macht alles besser.“
Sie hielt ihn einen Moment länger fest. Seine Gegenwart war
das einzige, was die Kälte der Visionen vertreiben konnte. Er war
der Beweis, dass es eine greifbare, warme und liebevolle Realität
gab, für die es sich zu kämpfen lohnte. Aber tief in ihr nagte die
Angst, dass die Schatten, die sie riefen, eines Tages auch ihn
verschlingen könnten.
Das Redaktionsbüro der HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN war ein Ort
des organisierten Chaos. Der Geruch von altem Papier, frisch
gebrühtem, dünnem Kaffee und dem leisen Summen von Dutzenden von
Computern hing in der Luft. Telefone klingelten, Tastaturen
klapperten, und über allem schwebte die heisere Stimme von
Chefredakteur Michael T. Schwanemeier, der gerade einen jungen
Volontär für eine verpatzte Überschrift zusammenfaltete.
„Journalismus ist Handwerk, kein verdammtes Glücksspiel!“,
brüllte er durch den Großraum. „Wenn ich Poesie will, lese ich
Rilke! Ich will Fakten! Knackig, präzise und idiotensicher!“
Tom grinste Sandra zu, als sie sich an ihre Schreibtische
setzten, die einander gegenüberstanden. „Der Morgen beginnt wie
immer mit einer Dosis Schwanemeier-Motivation.“
„Wenigstens hat es nicht uns getroffen“, murmelte Sandra und
startete ihren Computer. Der Bildschirm flackerte zum Leben und
konfrontierte sie mit einer endlosen Liste von E-Mails, Terminen
und halbfertigen Artikeln. Für einen Moment fühlte sie sich in der
geschäftigen Normalität des Ortes sicher. Hier ging es um Politik,
lokale Ereignisse, Sport und Klatsch. Dinge, die man recherchieren,
überprüfen und in 80 Zeilen zusammenfassen konnte. Dinge, die keine
bronzefarbenen Masken oder flüsternde Wesen aus anderen Dimensionen
beinhalteten.
Sie versuchte, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, eine
Recherche über steigende Mieten in der HafenCity. Sie öffnete
Datenbanken, las Berichte, markierte Zitate. Aber ihre Gedanken
drifteten immer wieder ab. Das Gefühl der Vorahnung ließ sie nicht
los. Es war wie ein statisches Rauschen unter der Oberfläche all
ihrer Gedanken.
Sie minimierte die Mietpreis-Tabelle und öffnete aus einer
Laune heraus das digitale Archiv der Zeitung. Es war eine
Angewohnheit, die sie hatte, wenn sie unruhig war. Sie
durchforstete alte Artikel, suchte nach Mustern, nach seltsamen,
ungelösten Fällen, die aus dem Rahmen fielen. Sie gab vage
Suchbegriffe ein: „unerklärlich“, „Massenhysterie“, „Sekte“,
„Ritual“.
Die meisten Treffer waren banal. Sensationslüsterne Berichte
aus den 70ern, kurze Notizen über exzentrische Kulte, die schnell
wieder verschwanden. Doch dann stieß sie auf etwas. Einen winzigen,
vergilbten Artikel aus einer kurzlebigen Harburger Lokalausgabe von
vor über zwanzig Jahren. Die Überschrift lautete: „NAHT DAS ENDE
DER WELT? – KONGRESS DER PROPHETISCHEN GESELLSCHAFT TAGTE.“
Ihr Puls beschleunigte sich leicht. Der Artikel war kurz und
vage. Er berichtete von einer obskuren Gruppe, die sich in einem
gemieteten Saal getroffen hatte, um über „kosmische Zyklen und die
bevorstehende Transformation der Menschheit“ zu referieren. Es
wurde als Treffen harmloser Spinner abgetan. Aber es war das Foto,
das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Es zeigte zwei Männer im
Gespräch. Der eine war ein hagerer, aristokratisch wirkender Mann,
der im Artikel nicht namentlich erwähnt wurde. Der andere… der
andere kam ihr bekannt vor. Ein Name tauchte in der
Bildunterschrift auf: Dietrich von Schlichten.
Sandra runzelte die Stirn. Dietrich von Schlichten. Der
brillante, aber umstrittene Archäologe. Ein Experte für
präkolumbianische und andere verschollene Kulturen. Ihre Großtante
Elisabeth hatte mehrere seiner Bücher in ihrer Bibliothek. Er galt
als Genie, aber auch als jemand, der die Grenzen zwischen
Wissenschaft und Spekulation oft verwischte. Was hatte ein Mann
seines Kalibers bei einem Treffen von Weltuntergangs-Spinnern zu
suchen?
„Was hast du da?“, fragte Tom, der ihren konzentrierten Blick
bemerkt hatte.
„Nichts, wahrscheinlich“, sagte sie und schob den Gedanken
beiseite. „Nur ein alter Artikel. Ein Professor auf Abwegen.“ Sie
konnte ihm nicht sagen, warum dieser kleine Fund sie so
beunruhigte. Es war nur ein Gefühl, ein weiteres Puzzleteil, das
noch keinem Puzzle zugeordnet werden konnte. Aber es passte zu der
unheimlichen Melodie in ihrem Kopf.
Ihr Kollege Jim Rönckendorff, der Starfotograf der Redaktion,
schlenderte mit einer Kaffeetasse in der Hand an ihren
Schreibtisch. Sein langes, blondes Haar und seine abgewetzte
Jeansjacke ließen ihn wie ein Überbleibsel aus einer anderen Ära
wirken.
„Morgen, Sandra. Du siehst aus, als hättest du einen Geist
gesehen“, grinste er.
Mehrere, dachte sie. „Nur schlecht geschlafen“, sagte sie
stattdessen. „Was gibt’s Neues von der Fotofront?“
„Ach, Schwanemeier schickt mich nach Mecklenburg-Vorpommern.
Irgendeine rührselige Story über einen alten Schnulzensänger,
dessen Frau angeblich von einer Wunderheilerin, einer Art moderner
Druidin, von Leukämie geheilt wurde. Klingt nach totalem Humbug,
aber die Fotos von dem alten Schloss, in dem diese Druidin haust,
könnten ganz stimmungsvoll werden.“
Sandras Finger erstarrten über der Tastatur.
Mecklenburg-Vorpommern. Eine Druidin. Ein Schloss. Die Worte
schienen in ihrem Kopf zu widerhallen, sich mit den Fragmenten
ihrer Träume zu verbinden.
„Wie heißt diese Druidin?“, fragte sie, bemüht, ihre Stimme
beiläufig klingen zu lassen.
Jim zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Irgendein
seltsamer Künstlername. Marlitt, oder so ähnlich.“
Marlitt.
Der Name traf sie wie ein physischer Schlag. Es war das
Gesicht aus ihrem Traum. Die junge Frau mit den brennenden blauen
Augen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, so kalt, dass sie
unwillkürlich zusammenzuckte.
„Alles okay, Sandra?“, fragte Tom besorgt, als Jim
weitergeschlendert war. „Du bist kreidebleich.“
„Ja“, log sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Alles bestens.
Nur … Gänsehaut. Wahrscheinlich ein Luftzug.“
Aber es war kein Luftzug. Es war das Gefühl, dass das
Gewitter, auf das sie gewartet hatte, gerade seine erste,
bedrohliche Wolke über den Horizont geschoben hatte. Und sie stand
direkt in seinem Weg.
Am Nachmittag, unfähig, sich länger auf die Arbeit zu
konzentrieren, überredete Sandra Tom zu einem Spaziergang an der
Alster. Der Himmel war typisch hamburgisch grau, und ein feuchter
Wind trieb kleine Wellen vor sich her. Sie saßen auf einer Bank mit
Blick auf die Fontäne, jeder mit einem Becher heißen Kaffees in den
Händen.
„Du musst mit mir reden, Sandra“, sagte Tom nach einer Weile
des Schweigens. „Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt. Seit Jims
Bemerkung heute Morgen bist du wie versteinert.“
Sandra seufzte und beobachtete ein Segelboot, das gegen den
Wind ankämpfte. „Der Name, Tom. Marlitt. Das war sie. Die Frau aus
meinen Träumen.“
Tom stellte seinen Kaffeebecher neben sich auf die Bank. „Bist
du sicher? Es könnte Zufall sein.“
„Es gibt keine Zufälle, nicht bei diesen Dingen“, sagte sie
leise. „Es sind Muster. Echos. Tante Elisabeth sagt immer, das
Universum hat eine Art Gedächtnis. Und manchmal, wenn die Umstände
richtig sind, kann man Fragmente davon empfangen.“ Sie umklammerte
ihren Becher fester. „Und dieser Professor, von Schlichten, auf
diesem alten Foto einer Weltuntergangssekte … und jetzt diese
Druidin in einem Schloss … Es fühlt sich an, als würden sich Fäden
zusammenziehen.“
„Und was ist mit Frank Willard?“, fragte Tom vorsichtig.
Bei der Erwähnung des Namens zuckte Sandra zusammen. Frank
Willard. Der geheimnisvolle Privatdetektiv, der sein Leben dem
Kampf gegen kriminelle Sekten gewidmet hatte. Sie hatten sich vor
über einem Jahr in Yucatan getroffen, als sie beide den
Machenschaften einer anderen, ähnlich gefährlichen Gruppe auf der
Spur waren. Es hatte eine Verbindung zwischen ihnen gegeben, eine
intensive, flüchtige Anziehung, geboren aus der gemeinsamen Gefahr.
Aber Frank war ein Phantom, ein Mann ohne Vergangenheit, der für
eine feste Beziehung so ungeeignet war wie ein Wolf für ein Leben
im Käfig.
„Was soll mit ihm sein?“, fragte sie scharf.
„Du hast mir erzählt, dass er auch hinter dieser Gruppe her
war, dem … Orden der Maske.“ Tom benutzte den Namen, den sie ihm
einmal im Vertrauen genannt hatte.
„Ja“, gab sie zu. „Aber ich habe seitdem nichts mehr von ihm
gehört. Er ist verschwunden, wie er es immer tut.“ Sie schwieg
einen Moment. „Ich habe ihn geliebt, Tom. Das weißt du. Aber es war
eine andere Zeit. Bevor es uns gab.“
„Ich weiß, Sandra. Und ich bin nicht eifersüchtig“, sagte er
sanft und nahm ihre Hand. „Ich mache mir nur Sorgen. Du warst nach
dieser Yucatan-Sache völlig fertig. Diese Masken, dieses Wesen, von
dem du erzählt hast … Cayamu. Ich will nicht, dass du da wieder
hineingezogen wirst.“
„Vielleicht habe ich keine Wahl“, flüsterte sie. „Vielleicht
zieht es mich hinein, ob ich will oder nicht.“ Sie blickte ihn an,
ihre Augen voller Angst. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich
durch meine Gabe eine Art Leuchtfeuer für diese Dinge bin. Dass sie
mich spüren können.“
„Dann werde ich dafür sorgen, dass sie dich nicht kriegen“,
sagte er mit einer Entschlossenheit, die die ihre stärken sollte.
„Wir sind ein Team, hast du vergessen? Du die Spürnase mit den
unheimlichen Visionen, ich der gutaussehende, rationale Sidekick,
der die Rechnungen bezahlt und dafür sorgt, dass du nicht vergisst
zu essen.“
Sein Versuch, die Situation aufzulockern, brachte ihr ein
schwaches Lächeln ab. „Du bist mehr als das, Tom. Du bist der
Grund, warum ich nicht durchdrehe.“
„Gut. Dann lass uns das beibehalten.“ Er drückte ihre Hand.
„Was ist der nächste Schritt? Willst du mit deiner Tante
reden?“
Sandra nickte. „Ja. Ich muss. Sie ist die Einzige, die
vielleicht versteht, was diese Zeichen bedeuten könnten.“
Sie wusste, dass ein Besuch bei Tante Elisabeth sowohl
beruhigend als auch beunruhigend sein konnte. Beruhigend, weil die
alte Dame ihr immer das Gefühl gab, nicht allein oder verrückt zu
sein. Und beunruhigend, weil ihre Erklärungen die übernatürliche
Bedrohung oft nur noch realer und gewaltiger erscheinen
ließen.
Die viktorianische Villa von Elisabeth Düpree in Blankenese
war eine Welt für sich. Umgeben von einem verwilderten Garten, der
den neugierigen Blicken der Nachbarn trotzte, schien das Haus
selbst aus der Zeit gefallen zu sein. Im Inneren war es ein
Labyrinth aus vollgestopften Räumen, ein Museum für das Obskure und
Vergessene.
Der Mittelpunkt des Hauses, und das Herz von Tante Elisabeths
Welt, war die Bibliothek. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke
mit Regalen bedeckt, die unter der Last von Tausenden von Büchern
ächzten. Es waren keine gewöhnlichen Bücher. Hier standen Folianten
in mittelalterlichem Latein neben obskuren parapsychologischen
Studien, handgeschriebene Grimoires neben anthropologischen
Abhandlungen über vergessene Kulte. Dazwischen standen und lagen
afrikanische Geistermasken, sumerische Götterstatuetten, tibetische
Totenschädel und unzählige andere Artefakte, die ihr verschollener
Mann, der Archäologe Friedrich Düpree, von seinen Reisen
mitgebracht hatte.
Sandra fand ihre Großtante genau dort, sitzend in einem
abgewetzten Ledersessel, eine Lesebrille auf der Nasenspitze und
einen dicken, in Leder gebundenen Band auf dem Schoß. Elisabeth
Düpree mochte über siebzig sein, aber ihre Augen funkelten mit
einer wachen, unbändigen Energie, die die meisten Jüngeren in den
Schatten stellte.
„Sandra, mein Kind“, sagte sie und blickte auf, als Sandra
eintrat. „Ich habe dich gespürt. Die Luft um dich herum ist …
unruhig.“
Sandra setzte sich auf den Hocker gegenüber und atmete den
vertrauten Geruch von altem Papier, Bienenwachs und einem Hauch von
Lavendel ein. „Hallo, Tante Elisabeth. Ich fürchte, ich bin es
auch.“
Sie erzählte alles. Von den immer schlimmer werdenden Träumen,
dem Gefühl einer nahenden Bedrohung, dem Namen „Marlitt“, der sie
nicht mehr losließ, und dem alten Zeitungsartikel über Professor
von Schlichten und die „Prophetische Gesellschaft“.
Tante Elisabeth hörte aufmerksam zu, ihr Gesicht ernst und
konzentriert. Als Sandra geendet hatte, schloss die alte Dame für
einen Moment die Augen.
„Muster“, murmelte sie. „Alles dreht sich um Muster und
Zyklen. Was du spürst, ist eine Konvergenz. Alte Fäden werden
wieder aufgenommen.“ Sie öffnete die Augen. „Marlitt… der Name ist
mir ein Begriff. Eine Heilerin, eine sehr mächtige sogar. Aber
solche Macht zieht Aufmerksamkeit auf sich. Nicht nur von den
Kranken und Hoffnungsvollen, sondern auch von denen, die in den
Schatten lauern und solche Macht für ihre eigenen Zwecke nutzen
wollen.“
Sie stand auf und ging zu einem der Regale. Ihre Finger
glitten über die Buchrücken, bis sie bei einem besonders dicken,
schwarzen Buch innehielten. Sie zog es heraus. Der Titel in
Goldprägung war verblasst, aber noch lesbar: Absonderliche
Kulte.
„Du erinnerst dich an dieses Buch“, sagte sie. „Verfasst von
Hermann von Schlichten um die Jahrhundertwende.“
„Dem Urgroßvater von Professor Dietrich von Schlichten“,
ergänzte Sandra. Der Kreis schloss sich auf eine beunruhigende
Weise.
„Genau. Hermann von Schlichten war ein brillanter, aber
gefährlicher Mann. Er glaubte, dass unsere Welt nur eine von vielen
ist und dass es Wesenheiten gibt, die an den Toren zwischen den
Dimensionen kratzen und auf eine Gelegenheit warten,
hindurchzubrechen.“ Sie blätterte durch die Seiten, die mit
seltsamen Diagrammen und handschriftlichen Notizen gefüllt waren.
„Er beschreibt hier eine Organisation, einen Kult, der älter ist
als die meisten Religionen. Er nennt sie nicht beim Namen, nur ‚die
Diener der gesichtslosen Maske‘. Sie glauben an ein Wesen, das sie
den ‚Retter aus der Welt der Doppelsonne‘ nennen. Sie arbeiten
darauf hin, die Bedingungen für seine Ankunft zu schaffen – durch
Chaos, Zerstörung und die Errichtung von … Brücken.“
Sandras Kehle war wie zugeschnürt. Es war der Orden der Maske.
Es war Cayamu.
„Was du in deinen Träumen siehst, Sandra“, fuhr ihre Tante
fort und ihr Blick wurde eindringlich, „ist kein Zufall. Es ist ein
Ruf. Eine Einladung. Oder eine Warnung. Wenn der Orden der Maske
aktiv ist und eine mächtige Psionikerin wie diese Marlitt in seinem
Einflussbereich ist, dann bereiten sie etwas Großes vor. Deine Gabe
macht dich empfänglich für die Schwingungen, die sie
aussenden.“
„Was soll ich tun?“, flüsterte Sandra.
„Sei vorsichtig“, sagte Tante Elisabeth und legte ihre Hand
auf Sandras Wange. Ihre Haut war dünn wie Papier, aber ihre
Berührung war fest. „Du kannst davor nicht ewig weglaufen, mein
Kind. Das Schicksal hat dir diese Rolle zugedacht, genau wie es
deinem Großonkel Friedrich die seine zugedacht hat.“ Sie blickte
auf die unzähligen Artefakte in dem Raum. „Er hat diese Dinge auch
bekämpft. Und er hat einen hohen Preis dafür bezahlt.“
Sie gingen nicht weiter darauf ein. Sie mussten es nicht.
Friedrich Düpree war von seiner letzten Expedition nie
zurückgekehrt.
Als Sandra an diesem Abend wieder in ihrer Wohnung war, fühlte
sie sich nicht beruhigter, aber seltsam geklärt. Die vage Angst
hatte einen Namen und eine Form bekommen. Das Gewitter war nicht
mehr nur ein fernes Grollen; sie konnte jetzt seine dunklen,
bedrohlichen Umrisse sehen.
Tom hatte gekocht, etwas Einfaches, aber es war eine Geste,
die mehr sagte als alle Worte. Sie aßen schweigend, die
unausgesprochene Spannung hing zwischen ihnen in der Luft.
Später, als sie im Bett lagen und dem Regen lauschten, der
gegen die Fensterscheiben prasselte, drehte sich Sandra zu ihm
um.
„Ich habe Angst, Tom“, gestand sie leise in die
Dunkelheit.
„Ich weiß“, flüsterte er zurück und zog sie fest an sich.
„Aber du bist nicht allein. Was auch immer da draußen ist, wir
stellen uns dem gemeinsam.“
Sie schmiegte sich an ihn, schloss die Augen und versuchte, an
seine Worte zu glauben. Sie versuchte, die aufkommenden Bilder zu
verdrängen – die kalten Augen von Schlichtens, Marlitts blaues
Feuer, die leere, polierte Oberfläche einer bronzefarbenen
Maske.
Doch gerade als der Schlaf sie übermannen wollte, zuckte ein
letztes, klares Bild durch ihren Geist. Es war nicht verschwommen
oder fragmentiert wie die anderen. Es war ein Ort. Eine Höhle,
deren Wände von feuchtem Gestein glänzten. In der Mitte loderte ein
Feuer, umgrenzt von einem Kreis aus versteinerten Knochen. Und vor
diesem Feuer kniete eine Gestalt, eine junge Frau mit langem,
rotstichigem Haar, das ihr über die Schultern fiel. Sie schloss die
Augen, breitete die Arme aus und begann, kaum verständliche Worte
zu murmeln.
Marlitt.
Die Vision war so klar, so unmittelbar, als würde sie gerade
in diesem Moment geschehen. Und Sandra wusste mit einer
schrecklichen, eisigen Gewissheit, dass dies keine Erinnerung und
keine Warnung war.
Es war der Anfang.
1
Marlitt, die Druidin, starrte auf das lodernde Feuer, das von
halb versteinerten Knochen umgrenzt wurde.
Die Flammen tauchten das Gesicht der jungen Frau in ein
weiches Licht. Das lange, rotstichige Haar fiel ihr bis weit über
die Schultern.
Schatten tanzten an den feuchten Wänden des gewaltigen
Höhlengewölbes.
Es war keine gewöhnliche Höhle.
Hunderte von bleichen Totenschädeln waren an der
gewölbeartigen Kuppel befestigt, die die Höhlendecke bildete.
Seit Urzeiten hingen diese Schädel dort. Der Blick eines jeden
von ihnen war genau ausgerichtet. Sie sahen in die Mitte der
Höhle.
Dorthin, wo das Feuer brannte.
Die junge Frau schloss die Augen, breitete die Arme aus und
murmelte kaum verständliche Worte vor sich hin.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren.
Ihr Götter des Alten Volkes, gebt mir eure Kraft! Lasst sie
durch mich hindurchfließen und mich damit Gutes tun!
Ihr feingeschnittenes Gesicht verzog sich wie unter
Schmerzen.
Ihre Haut verlor die Farbe. Sie wurde totenbleich.
Irgend etwas ist dort!, wurde es ihr klar. Irgend etwas, das
nicht hierher gehört!
Sie griff sich an die Schläfen.
Dieser pochende Schmerz …
Ihre Augen öffneten sich. Pupillen und Iris waren nicht mehr
zu sehen. Das gesamte Auge war von einem hellen Blauton
erfüllt.
Ihr Alten Götter! Was ist das nur?
Sie griff vor sich, wo ein eigenartig geformter Totenschädel
auf dem Boden lag. Ein Schädel mit seltsamen Verwachsungen und
…
… zwei Gesichtern!
Ihre Hände hoben den zweigesichtigen Schädel langsam an und
zitterten dabei.
Eine fremde geistige Macht!, durchzuckte es sie. Das ist es,
was ich fühle. Nein, das ist nicht die Macht der Götter des Alten
Volkes … Die wäre mir vertraut!
Marlitt schauderte.
Sie hatte das Gefühl, als ob sich eine eisige Hand auf ihre
Schulter gelegt hätte.
Sie spürte instinktiv, dass hier etwas vor sich ging, das sie
nicht mehr kontrollierte. Etwas, dass mit ihrem Zauberritual kaum
etwas zu tun haben konnte.
Schritte waren jetzt zu hören. Sie hallten zwischen den
Höhlenwänden wider.
Die junge Frau erhob sich.
Ungläubig blickte sie sich um, während aus den verschiedenen
dunklen Höhlengängen, die von diesem hohen Schädelgewölbe
sternförmig ausgingen, jetzt mit langen, weißen Gewändern
bekleidete Gestalten traten. Sie trugen in der Rechten Fackeln,
deren Flammen hoch aufloderten.
Mit der Linken hielten sie eigenartige, bronzefarbene Masken,
die ausgesprochen konturlos wirkten. Lediglich die Augenlöcher
waren klar erkennbar, sonst waren sie so glatt, als handelte es
sich um Rohlinge, die ausgearbeitet werden mussten.
„Was tut ihr hier?“, rief Marlitt. „Und wer seid ihr?“
Die Weißgekleideten blieben stehen.
„Wir sind hier, weil wir Ihre Hilfe brauchen, Marlitt“, sagte
einer von ihnen.
Es handelte sich um einen hageren Mann in den Fünfzigern,
dessen Gesicht einen ausgesprochen aristokratischen Eindruck
machte.
Marlitt sah ihn fassungslos an.
„Sie, Professor von Schlichten?“
Der Angesprochene nickte.
„Sträuben Sie sich nicht, Marlitt. Sie sind eine Frau mit
einer überaus starken übersinnlichen Begabung. Aber die Macht, der
wir dienen, ist stärker. Ihr Widerstand würde nur Ihre Leiden
verlängern.“
„Gehen Sie! Sie entweihen diesen Ort!“, rief Marlitt. „Die
Götter des Alten Volkes werden so einen Frevel nicht ungesühnt
lassen!“
Von Schlichten lächelte matt.
„Die Macht, der wir dienen, ist auf jeden Fall stärker,
Marlitt! Du solltest dich fügen! Um deinetwillen!“
Wie auf ein geheimes Zeichen hin nahmen die Weißgekleideten
ihre bronzefarbenen Masken und hoben sie vor ihre Gesichter.
Mit einem Zischlaut verschmolzen die Masken auf gespenstische
Weise mit den Gesichtern ihrer Träger. Das eigenartige, goldfarbene
Metall, aus dem sie bestanden, veränderte seine Form. Die Masken
schmiegten sich an die Gesichter ihrer Träger an, bildeten deren
Züge nach.
Marlitt erstarrte.
Sie fühlte den furchtbaren Druck einer fremden geistigen Macht
hinter ihren Schläfen. Sie presste die Hände dagegen.
Tierische, knurrende Laute gingen indessen von den
Maskenträgern aus. Sie kamen näher, ihre Maskengesichter
veränderten sich aufs Neue.
Sie bildeten jetzt nicht mehr die menschlichen Züge ihrer
Träger ab, sondern verformten sich zu grotesken, tierartigen
Fratzen, die an die Geistergesichter erinnerten, wie man sie in den
Schnitzereien von Totempfählen finden konnte.
Die Weißgewandeten näherten sich von allen Seiten.
Ein Singsang erhob sich.
„Macanuet ketasarem Cayamu“, murmelten die Maskenträger,
während sie sich Marlitt weiter näherten.
Die Druidin schrie, presste die Hände gegen den Kopf und
taumelte zu Boden. Dicht neben dem Feuer kam sie zu Boden.
Der doppelgesichtige Schädel entfiel ihren zitternden Händen,
fiel direkt in die Flammen. Meterhoch, fast wie bei einer
Explosion, schossen sie empor und veränderten ihre Farbe. Die
Flammen wurden blau, wie Marlitts Augen. Fast bis zur Decke dieses
Höhlengewölbes züngelten sie empor, um im nächsten Moment völlig zu
verlöschen.
Marlitt lag reglos auf dem Boden, zusammengekrümmt wie ein
Fötus. Sie schien bewusstlos zu sein.
Einer der Maskenträger ging auf sie zu, während die anderen
eine Art Kreis bildeten.
Der Maskenträger kniete sich neben die am Boden liegende junge
Frau, fasste sie bei der Schulter und drehte sie herum.
Seine Maske verlor indessen die tierartigen Züge. Die großen
Reißzähne und das gewaltige Maul bildeten sich zurück. Von
Schlichtens menschliche Züge bildeten sich auf dem Metall
naturgetreu ab.
Von Schlichten ergriff mit beiden Händen die Ränder der Maske,
die sich daraufhin mit einem zischenden Geräusch löste. Die
untrennbar erscheinende Verbindung zwischen seinem Gesicht und dem
eigenartigen Metall, aus dem die Maske gefertigt war, existierte
nicht mehr. Die Maske verlor jegliche Kontur, war wieder glatt und
ähnelte nun dem schlichten Helmvisier eines Ritters.
Von Schlichten nahm die Maske ab.
Er lächelte kalt.
„Werde eine von uns, Marlitt!“, flüsterte er. „Werde eine
Dienerin von Cayamu!“
Der Chor der anderen Maskenträger antwortete ihm dumpf.
„Macanuet ketasarem Cayamu!“
Beinahe zärtlich legte von Schlichten der bewusstlosen Marlitt
die Maske an. Mit einem zischenden Geräusch verschmolz sie mit
ihrer Haut und bildete in atemberaubender Perfektion ihre
Gesichtszüge ab.
„Du wirst es nicht bereuen, Marlitt“, flüsterte von
Schlichten. „Das Ende der Welt steht vor der Tür, und die große
Katastrophe naht. Aber für dich wird es jetzt Rettung geben. Auf
Cayamus Welt, im Schein der Doppelsonne!“
2
Ich saß an einem gedeckten Tisch bei Antonio’s, einem der
zahlreichen italienischen Restaurants in Hamburg. Kerzen brannten
und tauchten das Gesicht meines Gegenübers in ein weiches Licht. Es
war Tom, der Mann, den ich liebte.
Tom Brolands meergrüne Augen musterten mich.
„Worüber denkst du nach, Sandra?“, fragte er.
Wir hatten beide einen ziemlich harten Tag im Dienst der
HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN hinter uns, bei dem wir beide als
Reporter angestellt waren. Allerdings hatten wir uns heute noch
nicht gesehen, denn als ich ins Redaktionsbüro gekommen war, war
Tom längst zu einem Interview unterwegs gewesen.
Zwischendurch hatten wir kurz per Handy miteinander gesprochen
und uns für den Abend hier verabredet.
Tom nahm meine Hand und hielt sie zärtlich.
„Irgend etwas ist los“, sagte er. „Ich kenne dich doch. Was
beschäftigt dich?“
„Weißt du, ich bin heute bei der Arbeit im Archiv auf ein sehr
merkwürdiges Foto gestoßen.“
„Deinem Gesicht nach zeigt es mich in flagranti mit der
Redaktionssekretärin.“
Ich hob die Augenbrauen und musste unwillkürlich
lächeln.
„Wäre es denn möglich, dass so ein Foto auftaucht?“, erwiderte
ich.
„Wenn ich jetzt Ja sage, haben wir garantiert keinen schönen
Abend mehr!“
„Da du nicht sofort Nein gesagt hast, haben wir den sowieso
nicht mehr!“
Wir lachten beide.
Dann atmete ich tief durch, unsere Blicke trafen sich und
verschmolzen miteinander. Ein heißer Schauer lief mir dabei den
Rücken hinunter. Ich liebe dich, Tom!, dachte ich.
„Nun sag schon“, meinte er. „Was verdirbt dir so die Laune?
Bevor das nicht raus ist, bist du mit deinen Gedanken doch nicht
bei Antonio’s Küche oder diesem vorzüglichen Lambrusco.“
„Du hast recht“, gab ich zu.
„Also?“
„Es geht um Dietrich von Schlichten.“
„Den Archäologie-Professor, mit dem wir in den Anden
waren?“
„Genau.“
Zusammen mit Dietrich von Schlichten und seinem Forscherteam
waren wir vor einigen Wochen in die Tiefen des fast 4000 Meter hoch
in den südamerikanischen Anden gelegenen Titicacasees hinabgetaucht
und auf eine rätselhafte, von grauenerregenden Krakenmonstern
bevölkerte Ruine einer Unterwasserstadt gestoßen, die nun nach
einem Unterwasserbeben im Seegrund begraben war. Die Freude
darüber, überhaupt an dieser Expedition teilnehmen zu können, hatte
mich zunächst übersehen lassen, dass von Schlichten mich aus einem
ganz bestimmten Grund mitgenommen hatte. Er hatte gewusst, dass ein
Kontakt zu den Maquatli genannten Krakenwesen vermutlich nur durch
ein übersinnlich begabtes Medium möglich war – so wie es auch die
einheimischen Indios seit Jahrhunderten praktizierten.
„Weißt du, Tom, ich bin seit unserer Rückkehr aus Südamerika
einfach nicht über die Tatsache hinweggekommen, dass Dietrich von
Schlichten von Anfang an über die Tatsache Bescheid wusste, dass
ich über eine leichte übersinnliche Begabung verfüge.“
Ich gab mir nämlich alle Mühe, dies so geheim wie irgend
möglich zu halten, denn allzu oft hatte ich gesehen, dass es für
den Betreffenden nur Unglück mit sich brachte, wenn seine
Fähigkeiten bekannt wurden. Das Schicksal meiner – ebenfalls
parapsychisch begabten – Mutter war mir dabei immer eine
Warnung.
Im Grunde genommen wussten nur sehr wenige Menschen über meine
Fähigkeit Bescheid, die sich vornehmlich in seherischen Träumen und
Visionen äußerte.
Einer dieser Menschen war meine Großtante Elisabeth Düpree –
für mich Tante Elisabeth – bei der ich nach dem frühen Tod meiner
Eltern aufgewachsen war. Sie hatte mich erst auf meine Gabe, wie
sie es immer genannt hatte, aufmerksam gemacht und mir dabei
geholfen, sie als Teil meiner selbst zu akzeptieren.
Und natürlich wusste auch Tom Broland Bescheid.
Der Mann, den ich liebte, und mit dem ich schon eine ganze
Reihe von Abenteuern bestanden hatte, in denen die Welt des
Übersinnlichen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatte.
Tom zuckte die Achseln.
„Worauf willst du hinaus?“, fragte er.
„Erinnerst du dich an die Erklärung, die mir von Schlichten in
Südamerika gab, als ich ihm auf den Kopf zusagte, dass er mich nur
meiner Begabung wegen mitgenommen hätte?“
„Er hat über dich recherchiert, Sandra. Klingt doch
plausibel.“
„Ich war immer sehr vorsichtig.“
„Sandra, du bist selbst Rechercheurin und weißt doch, was man
alles über einen Menschen herausfinden kann, selbst wenn man
lediglich öffentlich zugängliche Quellen benutzt! Es ist
erstaunlich! Internet, Archive, Bibliotheken … Die Informationen
liegen heutzutage auf der Straße! Man muss aus der Datenflut nur
das richtige herausfiltern und wissen, wo man ansetzen kann … Aber
was sag ich dir! Du bist doch selbst eine Meisterin darin!“
„Ja, ja.“
„Er hat deine Artikel analysiert und mit anderen Informationen
abgeglichen. Denk nur an das Archiv deiner Großtante, in dem sie
alle nur erdenklichen Informationen über außergewöhnliche
Ereignisse oder übersinnlich begabte Personen, Okkultismus und
verwandte Gebiete sammelt. Sie trägt ein Informationsschnipselchen
zum anderen, sammelt sie sorgfältig. So entsteht dann nach einiger
Zeit auch das Bild eines Menschen, über den man eigentlich gar
nichts wissen dürfte.“
„Tom, ich wollte das ja gerne glauben, und ich habe mir genau
diese Argumente auch immer wieder selbst vorgebetet … Bis ich auf
das Foto stieß.“
Ich griff zu meiner Handtasche und holte den vergilbten
Ausschnitt hervor.
Es stammte aus der Harburger Lokalausgabe der HAMBURG EXPRESS
NACHRICHTEN, die allerdings nach kurzer Zeit wieder eingestellt
worden war, weil sie sich wirtschaftlich einfach nicht getragen
hatte. Das Bild zeigte Dietrich von Schlichten im Gespräch mit
einem anderen Mann, der nicht namentlich erwähnt wurde. Der
dazugehörige Artikel trug den Titel: NAHT DAS ENDE DER WELT? –
KONGRESS DER PROPHETISCHEN GESELLSCHAFT TAGTE.
Tom sah sich das Bild und den Artikel eingehend an und zuckte
dann mit den Schultern.
„Ich muss gestehen, dass ich noch immer nicht so recht weiß,
worauf du nun eigentlich hinauswillst, Sandra!“
„Darauf, dass es viel mehr Sinn macht, anzunehmen, dass von
Schlichten vielleicht Teil einer sehr mächtigen Organisation ist.
Einer Organisation, die ganz andere Möglichkeiten der
Informationsbeschaffung hat und im Übrigen auch über mich sehr gut
Bescheid wissen dürfte.“
„Sprichst du von dieser PROPHETISCHEN GESELLSCHAFT, von der
hier die Rede ist?“
„Die PROPHETISCHE GESELLSCHAFT ist eine Tarnorganisation,
hinter der wahrscheinlich der ORDEN DER MASKE steckt.“
„Der Name kommt mir bekannt vor“, meinte er ernst.
Tom war bereits während seiner Zeit als Agentur-Korrespondent
in Asien auf die Machenschaften dieser Weltuntergangssekte
gestoßen. „Ich muss gestehen, dass ich allerdings nicht mehr über
diese Vereinigung weiß, als dass sie äußerst skrupellos ist und
auch vor Mord nicht zurückschreckt.“
Ich nickte. „Die Mitglieder des ORDENS DER MASKE glauben
daran, dass in Kürze das Weltenende kommt. Sie stehen über ihre
Masken in Verbindung mit Cayamu, einem mysteriösen Wesen, das auf
dem Planeten einer Doppelsonne lebt. Im Augenblick der großen
Katastrophe wird Cayamu seine Anhänger entmaterialisieren und in
seine Welt holen. Zuvor ist es die Aufgabe der Ordensmitglieder,
auf den Weltuntergang durch Terror und Sabotage hinzuarbeiten. Und
dadurch, dass sie Verbindungstore zwischen Cayamus Welt und der
Erde errichten.“
„Das Geschwätz von Verrückten!“, meinte Tom. „Ich erinnere
mich an deine Artikel darüber … Ich war erst kurze Zeit hier bei
den NACHRICHTEN!“
„Tom, ich war auf Cayamus Welt“, sagte ich. „Zu gerne würde
ich glauben, dass es sich nur um – wenn auch gefährliche –
Verrückte handelt. Aber Cayamu existiert wirklich!“
„Davon stand aber nichts in deinen Artikeln!“
„Glaubst du, Schwanemeier hätte es gedruckt?“
„Er hätte dich zum Arzt geschickt!“
„Genau.“
Tom legte den Artikel auf den Tisch. Ich deutete mit dem
Finger auf den Mann, der neben von Schlichten stand. „Das ist Graf
Karl von Greven, der in der Hierarchie des ORDENS eine wichtige
Rolle spielte.“
„Spielte?“, echote Tom.
„Er starb in den Wäldern Yukatans.“
„Du bist damals dorthin gereist, nicht wahr?“
„Ja, zusammen mit einem Privatdetektiv namens Frank Willard,
der sich dem Kampf gegen verbrecherische Sekten gewidmet hatte. Im
Regenwald Yukatans befand sich eine Ruine der sogenannten
Talketuan-Kultur, die lange vor den Mayas existierte und nach wie
vor wenig erforscht ist. Der ORDEN versuchte, dort ein
Verbindungstor zu Cayamus Welt zu errichten.“
„Du hast mir nie Näheres von dieser Reise erzählt.“
„Vielleicht wird es Zeit, das nachzuholen, Tom!“
3
Später gingen wir Arm in Arm durch die nebligen Straßen
Hamburgs. Ich erzählte Tom alles, was es über die Yukatan-Reise und
den ORDEN DER MASKE zu erzählen gab.
Angefangen bei der Tatsache, dass Graf Karl von Greven meinen
verschollenen Großonkel Friedrich Düpree einst auf einer
archäologischen Forschungsreise begleitete, die die Erforschung der
mittelamerikanischen Talketuan-Kultur zum Ziel gehabt hatte, über
die furchtbare Wirkung der geheimnisvollen Masken, mit deren Hilfe
sich die Talketuan-Priester in GEISTER DER SONNE verwandelt hatten,
bis hin zu der Tatsache, dass ich selbst mehrfach diese Masken
aufgesetzt hatte. Ich hatte die Welt Cayamus gesehen. Eine
seltsame, fremdartige Welt, die vom eigenartigen Zwielicht zweier
Sonnen beschienen wurde.
Und ich hatte Cayamus mentale Kraft gespürt. Um ein Haar wäre
ich eine willfährige Dienerin dieses unmenschlichen Wesens geworden
war, das die Erde in Besitz zu nehmen gedachte.
„Was willst du jetzt unternehmen, Sandra?“, fragte Tom
irgendwann. „Möglicherweise gehört Professor von Schlichten zum
ORDEN DER MASKE. Aber mehr als einige vage Indizien hast du dafür
nicht.“
Ich seufzte. „Ja, ich weiß.“
„Und vielleicht tust du dem Mann sogar Unrecht!“
„Gut möglich. Andererseits lässt mich der Gedanke daran nicht
los. Mir war immer schon klar, dass ich irgendwann wieder einmal
etwas von diesem ORDEN hören würde.“
„Gibt es denn noch irgendwo Tore zu Cayamus Welt?“, fragte
Tom.
„Ich weiß es nicht … Tom, dieser Orden verfügt über eine
Macht, die wir uns nicht im entferntesten vorstellen können!“
4
In dieser Nacht blieb ich bei Tom und fuhr nicht nach Hause zu
Tante Elisabeth, in deren Villa ich die obere Etage bewohnte.
Ich wollte einfach nicht allein sein.
In Toms Armen schlief ich ein.
Und doch fand ich keine wirkliche Ruhe.
Wirre Träume plagten mich. Ich befand mich in Tante Elisabeths
verwinkelter viktorianischer Villa, die – von meinen Räumen
abgesehen – mit ihrer okkulten Bibliothek sowie zahllosen
archäologischen Fundstücken vollgestopft war, die ihr verschollener
Mann Friedrich von seinen Forschungsreisen mitgebracht hatte.
So auch die bronzefarbene Maske, mit deren Hilfe sich die
Talketuan-Priester in Geister der Sonne verwandelt hatten.
Ich setzte die Maske auf.
Das Metall verschmolz mit einem Zischlaut mit meinem Gesicht.
Mein Puls raste und ein eisiger Schauer ging mir über den Rücken.
Gleichzeitig berührte eine geistige Kraft mein Inneres.
Mentale Energie!
Mich schauderte davor.
Nein!
Ich versuchte die Maske wieder vom Gesicht zu nehmen, aber das
war unmöglich. Sie war ein Teil von mir geworden, mit mir
verwachsen. Meine Hände fühlen über die kalte, metallene Oberfläche
… Sie hatte sich verändert. Ich erschrak. Die Form änderte sich,
während ich die Maske berührte. Ein großes, tierartiges Maul
bildete sich, Zähne traten hervor … Dicke Wülste wölbten sich über
den Augen.
Ich wollte schreien und hörte nur einen dumpfen tierischen
Laut! Ich bewegte mich wie eine Marionette, an unsichtbaren Fäden
von einer fremden Macht gezogen. Es gab nichts, was ich dagegen tun
konnte.
„Sandra!“, hörte ich eine Stimme wie aus weiter Ferne. Es war
Tante Elisabeths Stimme.
Ich ging auf sie zu, knurrte drohend, breitete die Arme aus,
während die alte Dame mit schreckgeweiteten Armen vor mir
zurückwich …
Ich schreckte hoch.
„Nein!“, schrie ich, und meine Hände strichen über mein
Gesicht, rieben daran, um die Maske herunterzureißen.
Schweißgebadet saß ich da, während Tom neben mir erwachte und
mich bei den Schultern fasste.
„Sandra!“
„Tante Elisabeth! Mein Gott! Ich wollte doch nicht … ich
…“
Ich stammelte wirres Zeug. Einige Augenblicke vergingen, ehe
ich wirklich begriff, dass ich mich in Toms Wohnung befand. Das,
was ich gesehen hatte, war nur ein Traum gewesen. Eine Erinnerung
an einen der schlimmsten Augenblicke meines Lebens.
In jenem Moment hatte nicht viel gefehlt, und ich hätte Tante
Elisabeth unter dem Einfluss Cayamus getötet.
„Oh, Tom!“, flüsterte ich. Ich schmiegte mich an ihn. Er hielt
mich fest, strich mir zärtlich über das Haar und den Rücken.
„Eine deiner Visionen?“, fragte Tom.
„Ich hatte diese Maske auf … Es war so furchtbar!“
„Das ist vorbei, Sandra. Du bist hier bei mir.“
„Ja, ich weiß.“
Langsam beruhigte ich mich. Und dann hatte ich plötzlich einen
Namen im Kopf. Er lag mir einfach auf der Zunge, und ich flüsterte
ihn vor mich hin.
„Marlitt.“
„Was sagst du?“, fragte Tom.
„Marlitt“, wiederholte ich, nicht minder verwirrt als
Tom.
„Was soll das sein?“
„Ich weiß es nicht.“
„Vielleicht ein Name?“
„Dieses Wort war plötzlich in meinem Kopf. Tut mir leid, aber
mehr kann ich dazu nicht sagen.“
5
Am nächsten Tag erwartete mich im Redaktionsbüro der HAMBURG
EXPRESS NACHRICHTEN ein Tag mit viel Routine. Irgendwann kam mein
Kollege Jim Rönckendorff an meinem Schreibtisch vorbei und knallte
mir einen Datenträger auf den Schreibtisch.
„Hallo, Sandra! Lange nicht gesehen“, meinte er und lächelte
verschmitzt. Mit einer lässigen Bewegung strich er sich das viel zu
lange blondgelockte Haar zurück. In seinem ausgebeulten Jackett und
den kaputten Jeans wirkte er wie ein übriggebliebenes Relikt aus
der Flowerpower-Zeit – obwohl er selbst damals wohl noch in den
Windeln gelegen hatte.
„Hallo, Jim“, sagte ich und lehnte mich in meinem Drehstuhl
etwa zurück. „Wo bist du die letzte Woche gewesen? Ich habe schon
befürchtet, du hättest deinen Abschied von den NACHRICHTEN
genommen, ohne mir was davon zu sagen!“
„So schlecht denkst du von mir, Sandra?“, lachte er. Jim war
der Starfotograf der NACHRICHTEN. Und seit einiger Zeit liebäugelte
er mit einem Wechsel zur Konkurrenz.
Früher hatten wir oft zusammengearbeitet und waren vielfach
ein Team gewesen. Ein sehr gutes Team sogar.
„Ich war in Mecklenburg-Vorpommern“, berichtete Jim. „So eine
rührselige Fotostory, du kennst das ja … Reinhardt Altmann – sagt
dir der Name etwas?“
„Ich weiß nicht!“
„Ein Uralt-Schnulzensänger. Mach mal den Plattenschrank deiner
Großtante auf, ich wette, da findest du was von ihm. Er hat seit
Jahren keine Platte mehr rausgebracht, und ich bezweifle, ob er
überhaupt noch in der Lage wäre, ein Konzert durchzustehen. Aber
das braucht er längst nicht mehr. Reinhardt hat sich beizeiten eine
goldene Nase verdient.“
„Klingt ja nach einer wahnsinnig interessanten Story“, meinte
ich ironisch.
„Du, das wird der Aufmacher morgen!“
„Ich fasse es nicht!“, meinte ich. Was war mit unserem
Chefredakteur Michael T. Schwanemeier los? Hatte ihn am Ende der
journalistische Instinkt verlassen? Wenn man mit so einer
Schlaftablette aufmachte, konnte man jedenfalls kaum erwarten,
damit die Auflage zu steigern.
Jim grinste mich an.
Und ich wusste sofort, dass er mir etwas verschwiegen
hatte.
Wahrscheinlich den interessantesten Teil der Geschichte.
„Reinhardt Altmann ist zum vierten Mal verheiratet. Seine Frau
ist dreißig Jahre jünger und litt unter Leukämie. Sie war von den
Ärzten schon aufgegeben worden, aber – o Wunder! – eine
selbsternannte Druidin, die in Mecklenburg-Vorpommern in einem
alten Schloss wohnt, hat Frau Altmann geheilt!“ Jims Gesicht wurde
etwas ernster, als er fortfuhr: „Du weißt, dass ich immer skeptisch
gegenüber allem eingestellt war, was mit übersinnlicher Begabung,
Okkultismus oder verwandten Gebieten zu tun hatte. Aber diese Sache
war schon beeindruckend. Frau Altmann ist von mehreren Ärzten
untersucht worden. Es wurden keine Symptome mehr festgestellt. Die
Erkrankung war nicht mehr nachweisbar.“ Er hatte plötzlich einen
etwas nach innen gekehrten Blick. „Diese Marlitt war schon eine
beeindruckende Persönlichkeit, das ich muss ich sagen.“
„Marlitt?“, echote ich.
Der Klang dieses Namens versetzte mir einen Stich.
Genau dieses Wort hatte mir in der Nacht auf der Zunge
gelegen.
„Ja“, sagte er. „So nannte sich die Druidin. Natürlich war das
nicht ihr bürgerlicher Name, sondern der, den ihr die Götter des
Alten Volkes gegeben hätten … Naja, Zirkuskünstler haben ja auch
falsche Namen.“
Ich war plötzlich mit den Gedanken ganz woanders.
Jims Geplauder hörte ich wie aus großer Ferne.
Stattdessen hallte immer wieder dieser Name in meinem Inneren
wider.
Marlitt!
Für Bruchteile von Sekunden sah ich das Gesicht einer jungen
Frau vor mir. Sie hatte ebenmäßige, hübsche Züge, ein glatte helle
Haut. Das Haar war blond mit einem deutlich Stich ins Rote.
Ihre Augen!
Sie waren vollkommen von einem leuchtenden Blau erfüllt.
Marlitt!
Das muss sie sein, durchschoss es mich. Die Druidin!
In ihren Händen hielt sie einen Totenschädel, auf dem dunkle
Schatten tanzten. Es war ein besonderer Totenschädel.
Er besaß zwei Gesichter. Innerhalb eines Augenaufschlags
verwandelte sich dieser Schädel. Er schimmerte bronzefarben,
verformte sich, und plötzlich hatte die junge Frau eine jener
Talketuan-Masken in den Händen, wie sie vom ORDEN DER MASKE benutzt
wurden.
Ein eisiger Schauer überkam mich.
Mein Puls begann zu rasen.
„He, Sandra, was ist los mit dir?“, hörte ich Jim. „Du siehst
bleich aus, soll ich dir ’nen Schluck Kaffee bringen?“
„Ja“, sagte ich wie automatisch.
Ich sah, wie die junge Frau die Maske vor ihr Gesicht nahm und
anlegte. Es zischte. Ihre Haut verband sich mit dem Metall, das
ihre Züge bis in das kleinste Detail nachmodellierte. So fein, wie
kein Bildhauer dieser Welt es vermocht hätte. Aber die Verwandlung
kam nicht zum Stillstand. Sie schritt weiter voran. Marlitts Züge
lösten sich wieder auf und machten etwas anderem Platz.
Ich erwartete eine tierartige Fratze zu sehen, das
gespenstische Zerrbild eines menschlichen Gesichtes …
Ich dachte, dass sie sich in eine Bestie, einen Geist der
Sonne verwandelte, so wie ich es nicht zum ersten Mal bei
Angehörigen des ORDENS DER MASKE gesehen hatte.
Aber das geschah keineswegs.
Stattdessen bildete sich auf der kalten Metalloberfläche der
Maske ein durch und durch menschliches Antlitz.
Das Gesicht eines Menschen, mit dem zusammen Tom Broland und
ich noch vor Kurzem an den Ufern des Titicacasees in den Anden
gewesen waren.
„Dietrich von Schlichten!“, stieß ich hervor.
6
„Wer bitte?“, fragte Jim und reichte mir dabei einen
Pappbecher mit Kaffee. „Hier, vielleicht bringt das deine
Lebensgeister zurück.“
Ich nahm den Kaffee, atmete tief durch und nippte dann an der
dünnen Brühe. Unser Verlag war bei seinen Mitarbeitern für seine
Sparsamkeit berüchtigt. Das schloss den Redaktionskaffee ein. Er
war entsetzlich dünn.
„Danke, Jim“, murmelte ich.
„Was war los?“
„Muss die Wetterumstellung sein. Mir war plötzlich nicht gut.“
Ich blickte auf den Datenträger, den er mir auf den Schreibtisch
gelegt hatte. „Was soll ich damit eigentlich?“
„Ach so, hätte ich fast vergessen … Das ist der Bericht einer
dänischen Zeitung, den wir übernommen haben. Sorensen hat ihn
übersetzt – aber du weißt ja: Er hat exzellente
Fremdsprachenkenntnisse, nur seine Muttersprache beherrscht er
nicht richtig. Er schreibt grauenhaft, aber Herr Schwanemeier
meinte, du kriegst es hin, aus Sorensens Übersetzung einen
richtigen Artikel zu machen.“
Ich verdrehte die Augen.
Schließlich wusste ich, wie Sorensens Übersetzungen aussahen
und wie viel Arbeit mir da noch bevorstand.
Jim grinste.
„Viel Spaß! Übrigens, der Artikel ist von einem gewissen Peer
Snaidar. Er hat dasselbe Spezialgebiet wie du: Übersinnliches und
Okkultismus!“
7
Die Mittagspause nutzte ich, um im Archiv zu
recherchieren.
Die Informationen, die über die Druidin Marlitt in den großen
stählernen Aktenschränken lagerten, waren mehr als spärlich. Ab und
zu hatte es mal eine Pressenotiz über sie gegeben. Immerhin bekam
ich heraus, dass ihr bürgerlicher Name Sophia Ålund war. Der letzte
aus dem Adelsgeschlecht der Neuendorff hatte ihr seinen
Familiensitz vermacht, aus Dankbarkeit dafür, dass Marlitt ihn in
seinen letzten Lebensjahren von unerträglichen Gelenkschmerzen
befreit hatte.
Vielleicht würden sich in Tante Elisabeths Archiv noch nähere
Informationen finden.
Ich hoffte es.
„Hallo, Sandra!“, ließ mich eine bekannte Stimme
aufhorchen.
Ich schreckte regelrecht ein bisschen zusammen.
„Oh, Tom, ich …“
„Es war nicht meine Absicht, dir einen Schrecken einzujagen“,
lächelte er. Der Blick seiner meergrünen Augen musterte mich einen
Augenblick lang. Ein Blick, der mir noch immer durch und durch
ging. Obwohl wir uns schon so vertraut waren, gab es doch immer
noch Geheimnisse aneinander zu entdecken.
„Ich dachte mir, dass du hier unten bist“, meinte er.
„Ach, ja?“
„Schließlich kenne ich dich gut genug, um zu wissen, dass dich
die Sache mit von Schlichten nicht loslässt.“
Ich zuckte die Achseln. „Da hast du allerdings recht.“
„Ich habe etwas meine Beziehungen spielen lassen, die ich aus
meiner Zeit als Agentur-Korrespondent noch besitze. Es gibt da
schon einige Dinge, die etwas merkwürdig an diesem Mann sind. Zum
Beispiel seine Einkünfte! Er unternimmt teure Expeditionen, die von
keiner Universität und keinem Forschungsinstitut unterstützt
werden. Außer gelegentlichen Vorträgen in aller Welt hat er auch
nirgendwo Lehrverpflichtungen. Und doch müssen da irgendwelche
Geldquellen sein.“
„Das passt ins Bild“, meinte ich.
„Übrigens scheint er auch keinerlei festen Wohnsitz zu
haben.“
„Ich weiß, wo er sich im Augenblick aufhält“, erklärte ich,
nicht ohne Triumph in der Stimme.
Tom hob die Augenbrauen. „Ach, ja?“
„In Mecklenburg-Vorpommern!“
Und dann erzählte ich ihm von meiner Vision. Selten war ich
mir über die Bedeutung einer solchen übersinnlichen Erscheinung
sicherer gewesen als in diesem Fall.
8
„Sie meinen also, auf neue Spuren des ORDENS DER MASKE
gestoßen zu sein“, meinte Michael T. Schwanemeier und atmete danach
tief durch.
Tom Broland und ich saßen in den schlichten, dunklen und
reichlich abgewetzten Ledersesseln, die unser Chefredakteur in
seinem Büro für Besucher vorgesehen hatte. Er fuhr sich mit einer
fast verzweifelten Geste durch das schütter gewordene Haar und
schüttelte dann den Kopf. „Und deswegen müssen Sie natürlich gleich
nach Mecklenburg-Vorpommern.“
„Sie erinnern sich doch noch an …“
„… an Ihre letzte Story über diesen ORDEN?“, unterbrach mich
Schwanemeier. „Wo Sie mit diesem dubiosen Privatdetektiv
zusammengearbeitet haben? Ich muss sagen, ich hatte Bauchschmerzen
dabei.“
„Es gibt Polizeiakten, die die Gefährlichkeit dieses ORDENS
eindrucksvoll bestätigen. Es ist nicht anzunehmen, dass die
Mitglieder dieser Vereinigung ruhig dasitzen und die Hände in den
Schoß legen. Sie warten auf den Tag der Katastrophe, an dem Cayamu
sie retten wird. Und sie sind verpflichtet, alles dafür zu tun,
dass der Weltuntergang sich beschleunigt.“
„Und wie kommen Sie darauf, dass der vor Kurzem noch so von
Ihnen verehrte und in den höchsten Tönen gelobte Professor Dietrich
von Schlichten ein Mitglied dieser Sekte sein soll? Und wieso
ausgerechnet Mecklenburg-Vorpommern und diese Druidin, über die Jim
gerade eine Reportage gemacht hat? Eine Frau, die bestenfalls eine
Quacksalberin ist – aber doch keine fanatische
Sektenanhängerin!“
Ich seufzte. Natürlich konnte ich Schwanemeier gegenüber nicht
damit kommen, dass ich Visionen gehabt hatte, die sich genau so
deuten ließen. In den letzten Jahren hatte ich mir bei Schwanemeier
mit meiner Arbeit einen gewissen Respekt erworben, aber der wäre
mit einem Schlag verloren gewesen, hätte ich ihm so etwas
aufgetischt.
Also sagte ich: „Ich habe einen sehr glaubwürdigen
Informanten, Herr Schwanemeier.“
Schwanemeier hob die Augenbrauen, kam hinter seinem völlig
überfüllten Schreibtisch hervor und krempelte sich die Ärmel
hoch.
„Wer ist das?“
„Ich habe ihm absolute Anonymität zugesichert. Sein Leben kann
davon abhängen. Sie wissen, dass der ORDEN DER MASKE auch in der
Vergangenheit in seinen Methoden bei der Beseitigung unliebsamer
Zeitgenossen nicht gerade zimperlich war.“
Schwanemeier atmete tief durch. Er kratzte sich am Hinterkopf
und überlegte.
„Sie sind beide keine Anfänger“, sagte Schwanemeier dann. „Und
in der Vergangenheit konnte ich mich auf Ihre Spürnase immer
verlassen.“
„Außerdem ist eine Reise nach Mecklenburg-Vorpommern doch nur
ein Katzensprung“, gab Tom zu bedenken. „Nicht zu vergleichen mit
einem Trip in die Anden! Auch von den Kosten her!“
„Sie haben mein Okay“, sagte Schwanemeier. „Sorgen Sie dafür,
dass Jim Rönckendorff den Kontakt zu dieser Marlitt herstellt.
Schließlich kennt sie ihn und vertraut ihm bis zu einem gewissen
Grad. Es wäre natürlich sinnvoll, wenn Herr Rönckendorff Sie
begleiten könnte, aber der ist ab übermorgen damit beschäftigt
Johnny Depp bei den Dreharbeiten zu seinem neuesten Streifen zu
begleiten.“
9
Ich kam an diesem Tag früh nach Hause. Tante Elisabeth war in
ihrer Bibliothek, deren Regale völlig überfüllt waren.
Überall reihten sich staubig gewordene dicke Folianten
aneinander. Okkulte Schriften, obskure Studien zur Parapsychologie,
magische Geheimschriften … Dazwischen immer wieder archäologische
Fundstücke, die ihr verschollener Mann von seinen Reisen
mitgebracht hatte, sowie verschiedene okkulte Gegenstände, die
Tante Elisabeth im Laufe der Zeit erworben hatte. Götterstatuen
längst untergegangener Kulturen waren ebenso dabei wie afrikanische
Geistermasken, Totems, Voodoo-Fetische oder Kristallkugeln.
Tante Elisabeth war jedoch nicht allein. Gemeinsam mit einem
älteren Herrn mit schlohweißem Haar und deutlichem Bauchansatz
kniete sie auf dem Fußboden, der über und über mit aufgeschlagenen
Büchern bedeckt war.
Die beiden blickten auf.
Der ältere Herr, der sich eigens ein Kissen unter die Knie
gelegt hatte, damit ihn der harte Parkettboden in Tante Elisabeths
Bibliothek nicht zu sehr schmerzte, erhob sich, und Tante Elisabeth
folgte seinem Beispiel. Dem sehr seriös wirkenden konservativ
gekleideten Mann war es offensichtlich sehr peinlich, in dieser
Lage beobachtet worden zu sein. Denn ansonsten wirkte er keineswegs
so, als pflegte er besonders legere Umgangsformen. Sein
dreiteiliger Anzug, aus dessen Weste die Kette einer Taschenuhr
heraushing, ließ ihn eher aristokratisch erscheinen.
„Hallo, Sandra!“, begrüßte mich Tante Elisabeth. „Dies ist
Professor Georg Kȃlman, ein ehemaliger Kollege von Friedrich.
Professor Kȃlman, meine Großnichte Sandra Düpree!“
Kȃlman reichte mir die Hand, machte einen Schritt nach vorn
und musste dabei darauf achtgeben, nicht auf ein wertvolles
Originalexemplar der ABSONDERLICHEN KULTE zu treten, jenem okkulten
Standardwerk, das ein deutscher Okkultist um die Jahrhundertwende
in mittelalterlichem Latein verfasste, um zu verhindern, dass die
darin enthaltenen Beschwörungsformeln allzu leicht in die Hände
Unbefugter gelangten.
Der Name dieses Okkultisten war Hermann von Schlichten – von
dessen Urenkel Dietrich ich jetzt annahm, dass der dem ORDEN DER
MASKE verfallen war.
„Frau Düpree hat mir einiges über Sie erzählt, Frau Düpree“,
erklärte Kȃlman. „Und zugegeben – auch ich lese ab und zu die
HAMBURG EXPRESS NACHRICHTEN, obwohl ich eigentlich etwas
anspruchsvollere Lektüre bevorzuge. Aber die Schrift ist so groß,
und das entlastet meine Augen ungemein.“
Bevor ich etwas sagen konnte, meinte Tante Elisabeth:
„Professor Kȃlman ist Sprachwissenschaftler. Genauer gesagt:
Spezialist für alte Sprachen und vergleichende Linguistik. Und ich
habe ihn zu Rate gezogen, weil ich da auf etwas gestoßen bin, was
mir einfach keine Ruhe gelassen hat, seit Tom und du von eurer
Reise in die Anden zurückgekehrt seid!“
Ich sah Tante Elisabeth überrascht an.
Bislang hatte sie mir nichts dergleichen gesagt. Zwar hatte
sie sich – wie üblich – die Nächte mit ihren Studien um die Ohren
geschlagen und in alten Folianten gelesen, aber das war bei ihr
nichts Ungewöhnliches.
„Worum geht es?“, fragte ich.
„Um eine Frage, die mir am ehesten ein Sprachwissenschaftler
beantworten kann, und daher habe ich Professor Kȃlman gebeten, mich
zu unterstützen.“
„Nun mach es nicht so spannend!“
Indessen blickte der Professor auf die Uhr, und sein Gesicht
veränderte sich. Er erschrak.
„Es tut mir leid, Frau Düpree. Die Zeit bei Ihnen ist im Flug
vergangen, und ich habe gar nicht bemerkt, wie die Stunden
dahingegangen sind. Leider habe ich jetzt noch einen Termin, den
ich unmöglich ausfallen lassen kann … Die Gesellschaft zur
Erforschung des Mittelhochdeutschen erwartet einen Vortrag von mir,
und ich werde mich schon sehr beeilen müssen, um nicht zu spät zu
kommen!“
„Oh“, sagte Tante Elisabeth, „das tut mir leid!“
„Wenn Sie nichts dagegen haben, setzen wir unsere Studien
morgen fort.“
„Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür, wenn Sie Ihre kostbare
Zeit …“
„Aber, Frau Düpree! Das ist keineswegs ein Opfer für mich!“,
lächelte er.
„Warten Sie, ich bringe Sie zur Tür!“, kündigte Tante
Elisabeth an, dann sah sie vor sich auf den Boden und trat im
Storchenschritt zwischen den aufgeschlagenen Folianten hindurch –
jeder von ihnen von unschätzbarem Wert und für jemanden, der an
okkulten Fragen interessiert war, geradezu unersetzlich.
10
Wenig später kehrte Tante Elisabeth zu mir in die Bibliothek
zurück. „Es geht um folgendes“, sagte sie ohne weitere Umschweife,
und in ihren Augen brannte das unbändige Feuer einer Forscherin,
deren Energie einfach nicht erlahmte, so sehr man auch glaubte,
dass sie sich längst hätte verausgaben müssen. „Diese
Beschwörungsformel, mit der die Indios am Titicacasee diese
Krakenwesen herbeiriefen.“
„MAQUATLI QUERESEN K’YARAM’NUR“, murmelte ich. Diese Worte
waren mir noch gut im Gedächtnis – Augenblicke des Grauens
verbanden sich für mich damit.
„Ja, genau“, nickte Tante Elisabeth. „Ich bin auf eine
eigenartige Veröffentlichung im Internet gestoßen. Der Verfasser
war anonym. Und die entsprechenden Seiten sind jetzt auch nicht
mehr aufzufinden. Zum Glück habe ich sie mir ausdrucken lassen. In
dieser Arbeit wurde die These aufgestellt, dass die
Beschwörungsformel der Indios am Titicacasee und jene Formel, mit
der die Mitglieder des ORDENS DER MASKE die mentale Verbindung zu
Cayamus Welt, einer bislang noch nicht entschlüsselten Sprache
entstammen könnten, die möglicherweise Jahrtausende vor der
Talketuan-Kultur in Yucatan und Süd-Mexiko gesprochen wurde.“
Ich musste mich setzen.
Was Tante Elisabeth sagte, machte Sinn.
Macanuet ketasarem Cayamu … Der Singsang der Maskenträger
hallte in meinem Inneren wider. „Wie kann man anhand so spärlicher
Stichproben, die nur aus wenigen Wörtern bestehen, eine
Sprachverwandtschaft behaupten?“, fragte ich.
„Der anonyme Verfasser des Artikels glaubt, die Silbenschrift
der eben erwähnten Vor-Talketuan-Kultur vollständig entschlüsselt
zu haben und daraus das gesamte Wortmaterial der beiden
Beschwörungen isolieren zu können. Professor Kȃlman hält es
durchaus für möglich, dass etwas an diesen Thesen dran ist.“
„Und es gibt wirklich keinen Hinweis auf den Verfasser?“
Tante Elisabeth zuckte die Achseln. „Er ist zweifellos mit
Hermann von Schlichtens ABSONDERLICHEN KULTEN und den Abhandlungen
Graf Karl von Grevens vertraut. Das grenzt den Kreis der in Frage
kommenden Personen natürlich ein.“
Bilder stiegen aus meiner Erinnerung empor. Es waren noch sehr
frische Bilder …
Während unserer Taucharbeiten im Titicacasee hatte mich eine
mysteriöse Kraft an einen Ort geholt, der in den Legenden der
Indios den Namen DAS REICH JENSEITS DER KÄLTE trug. Ein dunkler,
fast lichtloser Meeresgrund, bevölkert von grauenerregenden
krakenhaften Tentakelwesen in jeder nur vorstellbaren Größe. Ich
hätte nicht einmal sagen können, wie lange ich an jenem furchtbaren
Ort gewesen war, denn die Zeit war dort anders verlaufen. Ein
Umstand, dem ich vermutlich mein Leben verdankte, denn der Inhalt
meiner Sauerstoffflasche war bereits ziemlich zur Neige
gegangen.
Ein dunkler Höllenschlund, jenseits von Zeit und Raum!
„Könnte es nicht sein, dass sich das REICH JENSEITS DER KÄLTE,
in das die Krakenwesen verbannt worden waren, in Cayamus Welt
befand?“, fragte ich tonlos. Tante Elisabeth sah mich nachdenklich
an. Jede Einzelheit meiner Erlebnisse hatte ich ihr geschildert.
Sie nickte leicht.
„Daran hatte ich auch gedacht“, erklärte sie.
„Dann ergibt es auch einen Sinn, dass Dietrich von Schlichten
höchstwahrscheinlich ein Mitglied im ORDEN DER MASKE ist.“
„Was?“ Tante Elisabeth sah mich entsetzt an. „Das meinst du
nicht im Ernst!“
Ich berichtete Tante Elisabeth von meinem Verdacht und dem,
was ich bisher darüber herausgefunden hatte. Und ich erzählte von
der Druidin Marlitt und meiner Vision.
„Der ORDEN DER MASKE wollte mit meiner Hilfe dafür sorgen,
dass diese furchtbaren Krakenmonster das REICH JENSEITS DER KÄLTE
verlassen.“
11
Die halbe Nacht schlug ich mir mit Recherchen in Tante
Elisabeths Archiv um die Ohren, wobei sie mich natürlich tatkräftig
unterstützte. Mit ihrer unbändigen Energie stellte die alte Dame so
manche Jüngere mühelos in den Schatten.
Es fanden sich tatsächlich einige Artikel über Marlitt.
Demnach war sie bereits als Kind mit ihrer Begabung
aufgefallen. Weitere Hinweise auf Verbindungen zum ORDEN DER MASKE
gab es allerdings nicht.
„Die Ziele des Ordens widersprechen eigentlich auch dem, was
Marlitt immer wollte“, meinte Tante Elisabeth. „Wenn man nach
diesen Artikeln geht, dann war ihr die Heilung von Kranken immer
besonders wichtig. Dazu hat sie ihre – zweifellos vorhandenen –
mentalen Energien verwendet. Nicht zur Zerstörung.“
„Vielleicht waren ihre Kräfte nicht stark genug, um sich dem
Einfluss Cayamus zu entziehen“, murmelte ich. Ich selbst hatte
diesen Einfluss ja auch bereits zu spüren bekommen. Und ich wusste,
wie schwer es war, sich dagegen abzuschirmen.
Allein die Erinnerung an jene furchtbaren Augenblicke, in
denen ich die Maske getragen hatte, ließ mich schaudern.
Der Morgen graute schon, als wir bei einer Tasse Kaffee in der
Küche saßen.
„Ich hatte eigentlich einen sehr guten Eindruck von Professor
von Schlichten“, sagte Tante Elisabeth etwas traurig. „Ich hoffe,
dass sich seine Verbindung zum ORDEN DER MASKE als Irrtum
herausstellt.“
„Das hoffe ich mit dir“, sagte ich.
„Auf dem Empfang, den ich im Vorfeld eurer Anden-Expedition
für ihn gegeben habe, hatte ich den Eindruck, eine verwandte Seele
zu treffen. Jemanden, dem dieselben Dinge am Herzen liegen wie mir.
Ein Mann, der sein Leben der Erforschung des Ungewöhnlichen
gewidmet hat – ohne Rücksicht auf die Meinung seiner Zeitgenossen.“
Sie seufzte. Bewunderung schwang in ihrem Tonfall mit. „Aber er
wäre nicht der erste, der dem ORDEN DER MASKE nicht freiwillig
dient“, setzte sie dann noch hinzu. „Und vielleicht gibt es eine
Möglichkeit, von Schlichten aus dem Einfluss dieser Sekte zu
befreien.“
Ich erwiderte das matte Lächeln, das sich auf Tante Elisabeths
Gesicht zeigte.
Dass ihre Einschätzung reichlich optimistisch war, brauchte
ich nicht auszusprechen. Ich war überzeugt davon, dass sie es im
Innersten selbst wusste.
Ich nippte an meinem Kaffee, stützte den Kopf auf die linke
Hand und schloss für einige Augenblicke die Augen.
Ich war wirklich hundemüde und hatte nicht die geringste
Ahnung, wie ich den nächsten Tag im Redaktionsbüro der HAMBURG
EXPRESS NACHRICHTEN überstehen sollte.
Wahrscheinlich würden meine Artikel, die ich dann in die
Computertastatur hackte, sprachlich noch mangelhafter sein als die
Übersetzungen meines Kollegen Sorensen.
Ich stellte mir vor, wie Michael T. Schwanemeier in seiner
Verzweiflung meine Artikel Sorensen zur Überarbeitung gab und
schmunzelte unwillkürlich.
Doch dann machten diese inneren Bilder plötzlich anderen
Platz.
Ich sah einen Mann vor mir. Ein gehetzt wirkendes Gesicht mit
blassblauen Augen. Die Wangen von grauen Bartstoppeln
überwuchert.
Es war unübersehbar, dass dieser Mann Angst hatte.
Todesangst.
Er stieg aus seinem Wagen. Der Wind fuhr ihm durch das Haar.
Er schlug den Kragen seines dunkelgrauen Wollmantels hoch. Die
Finger zitterten, als er sich eine Zigarette anzündete …
Undeutlich nahm ich die Umgebung wahr, in der sich der Mann
befand.
Es war ein Schiff.
Genauer: Eine Autofähre. In großen Lettern war ihr Name zu
sehen: ARABESKE. Darunter etwas kleiner die Strecke, auf der dieses
Schiff eingesetzt wurde: ROSTOCK – LÜBECK.
„Sandra, was ist los?“, fragte Tante Elisabeth. „Du bist ja
ganz blass geworden!“