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Wenn Träume wahr werden... Seit meiner frühesten Kindheit war da diese unerklärliche Faszination, dieses unmittelbare Berührtsein von Dingen aus dem Reich der Mitte. Die geheimnisvollen Schriftzeichen und eleganten Bilder, die jahrtausendealte Hochkultur, exotische Märchen und Geschichten liessen meine Fantasie überborden.Doch nie war da Zeit oder Geld oder Gelegenheit, in diese fremde Welt einzutauchen. Plötzlich hat alles gestimmt und ich habe den Sprung gewagt. Dieses Buch erzählt in authentischen, subjektiven Berichten von meinen Entdeckungen, von bereichernden, oft überraschenden Erlebnissen, von Schwierigkeiten und Ärgernissen, von fantastischen Landschaften und unvergesslichen Begegnungen mit liebenswürdigen, warmherzigen Menschen. Es ist wunderbar, wenn Träume wahr werden! Winterthur, Oktober 2023 Anita Niederer
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Seitenzahl: 406
Veröffentlichungsjahr: 2023
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GRÜSSE AUS CHINA
Abschied und Aufbruch
Grüsse aus China 1
Grüsse aus China 2
Grüsse aus China 3
Grüsse aus China 4
Grüsse aus China 5
Grüsse aus China 6
Grüsse aus China 7
Grüsse aus China 8
Grüsse aus China 9
Grüsse aus China 10
Grüsse aus China 11
Grüsse aus der Schweiz
Grüsse aus China 12
Grüsse aus China 13
Grüsse aus China 14
Grüsse aus China 15
Grüsse aus China 16
Grüsse aus China 17
Grüsse aus China 18
Grüsse aus China 19
Grüsse aus China 20 / 1
Grüsse aus China 20 / 2
Grüsse aus China 21
Grüsse aus China 22
Grüsse aus China 23
Grüsse aus China 24
Grüsse aus China 25
Grüsse aus China 26
Grüsse aus China 27
Grüsse aus China 28
Grüsse aus China 29
Grüsse aus China 30
Grüsse aus China 31
Grüsse aus China 32
Grüsse aus China 33
Grüsse aus China THE END
GRÜSSE AUS NEPAL
Grüsse aus Nepal 1
Grüsse aus Nepal 2
Grüsse aus Nepal 3
Grüsse aus Nepal 4
Grüsse aus Nepal 5
Grüsse aus Nepal 6
29.12.2018
Meine Lieben Nun ist es also bald soweit: Mein grosser Sprung steht vor der Tür. Das Fest ist gefeiert, die Wohnung geräumt, wieder vermietet, alles eingelagert, die Steuern bezahlt, mich abgemeldet, die Papiere geholt, liebe Leute getroffen, Abschied genommen und Lieblingsplätze besucht. Der Flug ist gebucht, das Visum besorgt, die Koffer gepackt. Und kein einziges chinesisches Wort geübt! Miao, meine reizende Lehrerin, wird keine Freude an mir haben. Aber da sie mich kurzerhand als Mutter adoptiert hat, werde ich wohl glimpflich davonkommen... Es waren strenge Wochen mit langen To-do-Listen und der befreienden Erfahrung, alles Erledigte abhaken zu können. Obwohl ich alle meine gesammelten Dinge liebe, ist es auch wohltuend zu merken, wie wenig man wirklich braucht.
Mit zwei Koffern, einem Rucksack und meinem Laptop geht es auf die Reise, hier verabschiedet von einem kleinen Fanclub, dort begrüsst von einem Empfangskomitee. Diese moralische Unterstützung und Begleitung von euch haben mich durch den ganzen Prozess getragen. Es ist fantastisch, dass ich auf so treue und verlässliche Menschen in meinem Leben zählen kann. Danke dafür, danke für die Freundschaft und die ansteckende Begeisterung!
Es gibt jetzt einige Änderungen: Ab Ende Dezember verfüge ich nicht mehr über die Schweizer Telefonnummer. Die Mail-Adresse bleibt zwar aktiv, ich werde aber zu Beginn kein Wifi in China haben und deshalb eine Weile nicht erreichbar sein. In dringenden Fällen wären Kontakte über Andrea oder Sarah möglich. Auch wenn ich wohl eher auf Sparflamme in die alte Heimat schreibe, freue ich mich natürlich immer über eure Neuigkeiten!
Etwas aufgeregt, aber mit viel, viel Vorfreude verbringe ich die letzten Tage hier. Ich bin so gespannt darauf, was alles auf mich wartet, wie sich mein Leben in China entwickeln und verändern wird. Ist es nicht wunderbar, dass solche Pläne auch in meinem Alter noch umgesetzt werden können? Meine ganze kindliche Neugier ist wach und bereit für das Neue. Ich werde euch ab und zu wieder einen Gruss schicken und euch an meinen Abenteuern teilhaben lassen.
Seid herzlich gegrüsst und umarmt, eure Anita.
29.01.2019
Meine Lieben
Wie geht es euch allen? Seid ihr noch nicht ganz eingeschneit? Über die modernen Medien ist die Schweiz sozusagen vor meiner Haustüre und ich kann mitverfolgen, was alles läuft.
Nun bin ich schon bald einen Monat in Haikou und bereits gibt es so viel zu erzählen! Obwohl meine Schule erst Mitte Februar beginnt, sind meine Tage ausgefüllt. Seit meinem herzlichen Empfang durch meine amerikanischen Freunde und meine Adoptivtochter, lebe ich mich in meiner neuen Wohnung ein und staune, wie schnell ich mich wirklich zu Hause fühle, wie wenn ich schon lange, lange hier sein würde. Alles ist noch bestens in Ordnung vom Sommer her. Zum Glück konnte ich damals schon Besitz nehmen und vorbereiten für meinen langen Aufenthalt. Der nette Herr im oberen Stock, der mich damals in meiner Schlüsselgeschichte rettete, begrüsst mich freundlich und will mir auch weiterhin in allen erdenklichen Schwierigkeiten helfen. Das tue er gern, weil ich allein sei. (Sie wissen alles!) Frank ist ein sehr gebildeter und zuvorkommender alter Herr. Ob er wohl an der Universität lehrte? Jedenfalls darf ich auch mit meinen sprachlichen Problemen zu ihm gehen und mir helfen lassen, während seine Frau für uns Tee kocht. Im Haus nebenan gibt es eine junge Frau, die auch schon Kontakte geknüpft hat. Ich werde nicht lange ohne Freunde sein.
Überall im Haus sind jetzt, Mitte Januar, Leute aus Nordchina da für ihre Ferien. Ich habe mich viele Tage gewundert, was die denn alle in ihren Wohnungen hämmern, bis es mir dämmerte, dass sie kochen: Gemüse schneiden, Fleisch klopfen, alles mit viel Energie und Ausdauer. Draussen ist es trüb, da hilft gutes Essen. Das Wetter ist gewöhnungsbedürftig. Obwohl es meistens über 20° sind, friere ich dauernd. Ihr werdet staunen, das von mir zu hören, wo ich doch den halben Winter ohne Socken in der Schweiz herumlaufe... Schon seit einer Woche gibt es keinen Sonnenschein, die Luftfeuchtigkeit ist mit bis zu 98% unangenehm. Alles wird nass und riecht in der bisher unbelebten Wohnung modrig. Meine Nasenspitze ist eingefroren und ich vermisse meine Badewanne... Bereits am andern Ende der Insel sei das Wetter tropisch, so wie wir es eigentlich erwarten. Haikou liegt direkt an der Grenze zwischen kontinentalen Einflüssen und tropischem Klima. Ich nehme an, dass ich mich im Laufe der Zeit akklimatisieren werde und besser eingestellt bin auf die Bedingungen.
Sobald die Sonne da ist, immer häufiger, wird es frühsommerlich warm. Inzwischen habe ich frühlingshafte Temperaturen und ich beginne bereits zu schwitzen... Im Garten ist es wunderbar. Alles grünt und blüht üppig, herrliche Blütenbäume, orange, violett, rosa. Ich stehle mir immer mal wieder einen Zweig und habe auch schon zu malen begonnen, schon das dritte Bild. Das macht richtig Freude! Die Vögel singen, ganz anders als bei uns, sogar mitten in der Nacht. Und habe ich da tatsächlich einen Wiedehopf im Vorgarten? Er posiert geduldig und wartet, bis ich endlich meine Fotos gemacht habe. Wenn ich Wörtchen lernen will, gehe ich zum Goldfischteich und schlafe beinahe ein in dieser ruhigen, schönen Atmosphäre. Den winzigen Fliegen gefällt es dort auch, jetzt sogar noch besser, wo ich da bin als Leckerbissen. Taiji gibts noch keines für mich, mein Fuss schmerzt vom «Zügeln» und ich mag noch nicht so früh aus den Federn.
Fast jeden Tag muss ich etwas Amtliches erledigen, und alles dauert seine (lange) Zeit. Der Amtsschimmel lässt grüssen! Ich bin jetzt im Bewerbungsprozess für den Daueraufenthalt und muss dazu auch einen ausführlichen Gesundheitscheck über mich ergehen lassen. (Alles bestens!) Später kaufe ich eine chinesische Telefonnummer. Von den Betreibern erhalte ich seither dauernd äusserst mysteriöse SMS, die ich nicht entziffern kann. Nach einem Telefonat in die Schweiz ist dann auch plötzlich Funkstille. Im Geschäft sagen sie mir, ich hätte für sooo viel Geld telefoniert. Eine Rechnung von 15 Franken ist für sie unvorstellbar! Nach einer Depotzahlung funktioniert es wieder, aber ich werde sicherheitshalber wohl lieber über Skype Kontakt halten.
Damit ich ein Bankkonto eröffnen kann, muss ich vier Mal hin. Das erste Mal begleitet mich Miao, um die schlimmsten sprachlichen Klippen zu umschiffen, dann probiere ich es allein, und es klappt sogar! Dass ich dafür sieben Stunden brauche, ist irgendwie nebensächlich. Ich freue mich, dass es mir gelingt zu bekommen, was ich will. Jetzt gerade folgt die Fortsetzung: Andrea hat mir Geld überwiesen, damit ich vom Schweizer Postcheckkonto unabhängig bin. Das führt zu erneuten Gängen zur Bank. Sie wollen ganz genau wissen, wozu ich das Geld brauche und woher ich es habe. Doch es ist angekommen! Sehr beruhigend!
Bald wird hier das chinesische Neujahr gefeiert. Überall werden Wünsche auf rotes Papier geschrieben, die ganze Stadt ist mit roten Laternen geschmückt. Und auch das Feuerwerk wird bereits tüchtig geprobt. Dann knattern die «Frauenfürze» drauflos, dass es eine helle Freude ist. Ich habe von Miao eine Einladung bekommen, einige Tage bei ihr und ihren Eltern im Haus auf dem Land zu verbringen. Das ist für mich eine wunderbare Sache, dass ich mit ihnen eintauchen darf in dieses Fest. Ich kann es erleben wie eine Einheimische und ganz nah und direkt erfahren, was es für Chinesen bedeutet. Natürlich werde ich ein obligates rotes Couvert mitbringen mit einem kleinen Obolus drin, und ausserdem ein glückbringendes Mandarinenbäumchen.
Jeden Tag freue ich mich über das Neue vor meiner Tür und ich finde, es ist einfach genial, pensioniert zu sein und absolut nichts mehr zu müssen, nur noch zu dürfen. Ich geniesse es in vollen Zügen.
Dennoch denke ich an euch und schicke euch herzliche Grüsse und eine Umarmung. Bis bald wieder! Anita
23.02.2019
Meine Lieben
Bald zwei Monate in meiner neuen Heimat! Und es ist schön, dass ich immer wieder von euch höre und spüre, dass es euch gut geht und ihr so viel Anteil nehmt an meinen Erlebnissen. Mit Skype und Telefon sind wir schon toll vernetzt, und Entfernungen spielen gar nicht mehr so eine grosse Rolle. Die Zeit vergeht wie im Flug.
Inzwischen ist der Frühsommer eingekehrt mit 31° / 32°, gefühlten 35°... Mein Leben ist nach wie vor spannend und vielfältig.
Die Tage über das Frühlingsfest sind sehr interessant. Zuerst habe ich die Kracher wahrgenommen, die lustvoll zu jeder Tages- und Nachtzeit losgelassen werden, dann sind plötzlich die acht grossen dicken Goldfische aus dem Teich verschwunden und wohl in einen Kochtopf gesprungen. Dass etwas Besonderes bevorsteht, ist offensichtlich, denn die Wohngegend wimmelt plötzlich von unzähligen Besuchern mit grossen Paketen und Töpfen und Tellern unter Alufolie. Die beiden Tage von Sylvester / Neujahr bleibe ich allein zu Hause und fühle mich ein bisschen wie an Weihnachten ohne Familie. Aber die Atmosphäre in meiner Umgebung ist mit dem fröhlichen Kichern der Kinder und dem Lachen der Grossen so entspannt und zufrieden, dass es einfach wohltut. Um Mitternacht herum kracht und bollert es dann ununterbrochen. Ich renne schnell aus dem Haus, um auch etwas vom Spektakel zu sehen, doch ausser Geknatter und Wetterleuchten hinter den Bäumen ist da nichts. Dieses Jahr sei es sowieso verboten, Feuerwerkskörper abzubrennen. Das scheint hier niemanden zu interessieren. Der Spass daran ist einfach zu gross!
Etwas später gehe ich auf meine erste kleine Reise zum Haus von Miao’s Eltern. Sie wohnen in Wanning, einer «Kleinstadt» mit 55’000 Einwohnern. Um dorthin zu gelangen, muss ich mit dem Taxi zum Ostbahnhof in Haikou, 30 Minuten Fahrt für etwa 5 Franken. Die Fahrkarte wird schon vorher online bestellt. Man braucht dafür alle Angaben aus dem Pass. Auf dem Bahnhof gibt’s ein grosses Gedränge. Heerscharen müssen sich und ihr Gepäck durchsuchen lassen. Dann wird in der Halle gewartet, bis es Zeit ist zum Gleis zu gehen. Alles ist auf einer grossen Anzeigetafel publiziert und wird ausgerufen, so dass gar nichts falsch laufen kann. Danach gibt’s Passkontrolle und ein simples, aber effektives System für den Eintritt in den Zug: Mit dem Ticket wird nämlich jedermann ein Platz zugewiesen, samt Wagennummer. Auf dem Bahnsteig sind Pfeile aufgemalt, wo sich die Türe zum entsprechenden Wagen befinden wird. Zentimetergenau. Alle stehen schön brav in der Reihe, nur dass im letzten Augenblick die Invasion von der Seite beginnt und ein Riesengedränge vor der Türe entsteht, so dass sich alle Aussteigenden einen Weg bahnen müssen. Gefahren wird mit schweizerischer Pünktlichkeit!!! Wenn ich dann vor meinem Platz stehe, ist er garantiert schon besetzt, wird aber widerstandslos frei gemacht. Wir sitzen hier wie im Flugzeug, alle schauen in dieselbe Richtung. Es gibt viel Platz für die Beine, und überhaupt sind die Züge modernster Ausführung.
Mein Fensterplatz ermöglicht mir einen ersten Eindruck von der Insel: Reisfelder, Palmen, viele kleine Pünten, Schrebergärten mit üppig wachsendem Gemüse. Kleine Dörfer mit grauen Häusern wie in den alten Hutongvierteln in Peking. Flüsse, Teiche mit vielen, vielen Enten (Kochtopfnachschub ). Breite Autobahnen im Bau, die man beinahe wachsen sieht. Nach einer Stunde Fahrt und einem Schwebegefühl bei 250 km/h komme ich dann in Wanning an. Miao holte mich ab. Mit dem Bus geht’s quer durch die Stadt. Es ist kaum zu spüren, dass da so viele Menschen wohnen, denn es wirkt ländlich. Es ist heiss, heisser als in meinem Park in Haikou, wo der Wind vom Meer her für etwas Abkühlung sorgt. Und es hat Moskitos! Sie lieben mich einfach...
Miao’s Eltern wohnen in einem nigelnagelneuen Haus, sehr schön und liebevoll gepflegt. Obwohl sie arme Bauern sind, war ihnen dieser Aufschwung möglich und sie konnten sogar alle drei Kinder an die Universität schicken. Die Mutter steht morgens um vier auf, richtet das Frühstück für die Familie und fährt um halb sieben mit dem Elektroroller los zur Arbeit auf dem Feld. Dort schuftet sie den ganzen Tag in der prallen Sonne als Tagelöhnerin für ein bescheidenes Entgelt. Jeder Batzen wird fürs Haus auf die Seite gelegt. Abends um sechs kommt sie nach Hause und kocht dann auch noch das Essen auf dem Holzherd, wenn ihre Kinder nicht zu Hause sind und mithelfen. Sie putzt und wäscht und erledigt den ganzen Haushalt, bis sie wohl todmüde ins Bett fällt.
Der Ehemann beginnt seinen Tag geruhsamer, etwa um acht Uhr (auch gern unterbrochen von einer Siesta). Dann werden zuerst die Schweine geduscht und gefüttert, die Ställe gereinigt, die Hühner und Enten versorgt. Manchmal, bei Taifun-Wetter, sagt Miao, müssen die Schweine schwimmen in ihren Koben. Das sind winzig kleine Häuschen aus Stein mit richtigem Ziegeldach. Sie sehen aus wie Spielhäuschen für Kinder. Zwischen Tür und Angel isst der Vater einen warmen Maiskolben. Danach wandert er in die Pünt und erntet das Gemüse für den Tag, Auberginen, Zwiebeln, salatähnliches Grünzeug, Sellerie, Kefen, Bohnen, grüne Papaya, Süsskartoffeln. Ein ausgeklügeltes System von Kanälen sorgt für die nötige Bewässerung. Aber allein schon hierher zu spazieren ist eine Herausforderung in dieser Hitze, geschweige denn arbeiten... Später kümmert er sich ums tägliche Eiweiss, meist Hühner oder Enten, und je nach Jahreszeit, um die Früchte von hohen Palmen. Sie sehen beinahe aus wie Datteln, sind aber grösser und orange. Wir kennen sie als Betelnüsse. Miao’s Eltern bieten mir augenzwinkernd an, sie zu versuchen. Ich glaube man wird recht beschwipst davon. Vielleicht nächstes Mal!
Nach dem Mittagessen mit vielen verschiedenen Gemüsen, Hühnerfleisch, Fisch oder Schwein, mit Reis und interessanten Gerichten, wie geschnittene Ananas zusammen mit Gurken (eine Art Fruchtsalat, süss-bitter im Geschmack), sitzt der Vater fröhlich in der Stube und plaudert ohne Punkt und Komma. Er ist glücklich, dass ihm jemand zuhört, denn wenn seine Frau ausser Haus auf Arbeit ist und die drei Kinder in Haikou sind, fühlt er sich wohl manchmal sehr allein. Überhaupt ist es eindrücklich, was diese Familie an Kultur erschaffen hat. Kein Handy während des Essens, sondern miteinander reden, sich erzählen, Teil haben lassen am Alltag in einer warmen, freundschaftlichen Atmosphäre. Jeder ist willkommen, auch die vielen Verwandten. Allein der Vater hat vier Brüder, die nummeriert angesprochen werden (Wu Shushu, fünfter Onkel), dazu kommen die Ehefrauen und die vielen Cousins und Cousinen von Miao. Kaum jemand spricht mandarin, sondern meist nur die Sprache der Einheimischen, den Hainan Dialekt. Alle sind freundlich und interessiert, alle wollen mich kennenlernen, und kaum bin ich da, findet ein Strom von Besuchern seinen Weg zu uns ins Haus. Man sitzt ein bisschen, schaut ein bisschen aus den Augenwinkeln. Selbstverständlich wird auch alles geteilt: Wenn jemand Fische gefangen hat, landen zwei bei uns im Haus. Ein anderer taucht mit einer Flasche Wein auf, eine Frau schenkt mir einen Kuchen aus Reis und grünen Bohnen.
Am vierten Abend nach Neujahr kocht die Mutter «für den Buddha». Das ist der Küchengott, der einige Tage nach Neujahr wieder ins Haus einzieht und den man mit festlichem Essen willkommen heisst. Dazu richten sie einen schönen, schlichten Altar mit Kerzen und Blumen und Räucherstäbchen. Überall hängen herausfordernd farbige Abbilder, und um jede Türe rote Bänder mit Glückwünschen für das neue Jahr. Der Vater ist begabt und hat sie selber gemalt.
An diesem Abend verbrennt er in einer grossen Metallschale Falschgeld, damit das Echte nicht zu knapp wird, dann knattern auch vor unserem Haus drei Minuten lang die Chinaböller, damit die bösen Geister abgeschreckt und verbannt werden.
An einem Nachmittag wandern wir durchs Dorf und ich werde ausgiebig gemustert, bin für viele Menschen vielleicht die erste Weisse. Am andern Tag erzählt mir die Familie, was sie über mich gehört haben: Ich hätte eine wunderschöne Nase und eine wunderbar weisse Haut (die jetzt schon brauner ist als ihre eigene). Und ich sei wie eine von ihnen. Ob ich vielleicht Miao’s Schwiegermutter sei? Sie lacht und versichert mir, dass sie nicht heiraten will, aber mich nähme sie schon.
Am Ende meines Besuchs möchte mir der Vater unbedingt ein lebendes Huhn mitgeben. Mit Schrecken sehe ich mich im überfüllten Zug sitzen, ein gackerndes, flatterndes Huhn unter dem Arm, hihi. Mit aller Mühe kann ich ihn davon überzeugen, dass mein kleiner Balkon nicht die richtige Übergangslösung ist zwischen Bauernhof und Kochtopf. Ich versichere ihm, dass ich gern wieder komme und das Huhn dann mit ihnen esse. Das tröstet ihn.
Als ich nach Haikou zurückreise, kann ich mich nicht einmal verabschieden. Die Mama ist auf dem Feld, der Papa macht Siesta, der scheue, freundliche Bruder ist wohl bei Freunden und die kleine Schwester schläft. Aber alle wollen mich wieder sehen. So schön!
In Haikou ist alles, wie es war. Ich kaufe ein paar Mandarinen, so gross wie Kirschen und zuckersüss. Auf dem Heimweg entdecke ich ein neues Geschäft mit dem Namen «Ski now!» Voll mit Kindern. Bei 32°! Ich erinnere mich an einen Fernsehbeitrag zu diesem Thema: 2022 möchte China gern die Winterspiele ausrichten. Dafür motiviert und mobilisiert der Staatspräsident mindestens 300 Millionen Menschen, die bis dahin Skifahren lernen sollen, für teures Geld. Jede Tageskarte kostet umgerechnet 70 Franken und jede Fahrstunde ebenso. Sie verfügen bereits über 69 km Kunstschnee-Pisten in der Nähe von Peking, über 45 Lifte, über Hotels und Eigentumswohnungen, alles für eine gut betuchte Mittelschicht. Am Ende sollen es 800 Skigebiete sein. Ganze Dörfer werden umgesiedelt, es wird mit der grossen Kelle angerichtet für viele, viele Milliarden. Kinder, Eltern, Grossmütter flitzen über die Piste. Die Kleinen haben ungeniert ein rosarotes Schildkrötenkissen aufs Hinterteil gebunden, damit die unsanften Landungen freundlicher verlaufen. Diese Einstellung begegnet mir hier immer wieder: Nichts ist unmöglich, und mit Eifer und Ausdauer und Ehrgeiz wird daran gearbeitet.
Eigentlich habe ich gedacht, dass die Feiern nun vorbei sind, doch es gibt immer wieder besondere Tage, die ich zufällig miterlebe. Am 12. Tag des neuen Jahres bin ich in der Stadt unterwegs, als ich um die Mittagszeit laute archaische Musik von grossen Trommeln und Gongs höre. Vor den Geschäften wird musiziert was das Zeug hält. Männer tragen Sänften an langen Holzstangen vor die Hauseingänge, wo kleine Altäre aufgebaut sind, mit Räucherwerk und Kerzen, mit Getränkeschalen, Gemüsewurzeln (Rettich?) und Früchten. Auf der Sänfte thront eine kleine Buddhafigur auf einem bunt bestickten Kissen in einem Stuhl. Die Ladenbesitzer verneigen sich vor ihr und beten Hände ringend um Glück, Gesundheit, gute Geschäfte und ein gutes Leben. Zu ohrenbetäubender Musik wandern dann die Familienmitglieder unter der hochgestemmten Sänfte durch, damit das Glück auch auf sie abfärbt. Ich gehöre nun anscheinend auch dazu, weil sie mich alle mitziehen. So geht das durch die ganze Strasse.
Wenig später tauchen dann grosse farbenfrohe Ungetüme auf. Zwei junge Männer verleihen dem Drachen Leben. Einer trägt den Schwanz, der andere, schwitzend unter dem Drachenkopf, springt und tanzt und verneigt sich vor jedem Geschäft. Er sieht ziemlich erschöpft aus.
Einen weiteren Festhöhepunkt erfahre ich von meinen neuen Taiji Freunden. Ich habe jetzt nämlich eine kleine Gruppe gefunden, direkt hinter meinem Haus an einem Teich. Fast jeden Morgen gehe ich dort hin zum Üben. Sie reden gern und viel und ich verstehe nur die Hälfte. Jetzt sagen sie mir, dass während drei Abenden, vom 13. -15. Tag des Neujahrs, das Lichterfest sei im Park. Ich habe eine sehr romantische Vorstellung von 10’000 roten Laternen in den Bäumen und begegne stattdessen einer hell erleuchteten Chilbi. Märchengebilde sind da entstanden und ziehen tausende von Besuchern an. So ein Betrieb!
Mitten in diesen Festtagen fängt meine Schule an. Es ist Zeit! Lange genug «geflohnert»! Und es macht Spass! Miao ist einfach eine gute, gute Lehrerin. Wir lachen viel. Ich kann alles ansprechen, auch Verhaltensweisen, die ich (noch) nicht verstehe und ich merke, dass ich auch sprachlich Fortschritte mache. «Manman lai» oder auf Deutsch: «langsam aber sicher».
Der Amtsschimmel, von dem ich letztes Mal gesprochen habe, reitet auch in den Schweizer Stuben. Was für ein Aufwand, bis ich dann endlich alle Papiere beim Konsulat zur Einsicht abgeliefert habe, doppelt und dreifach und bis ins kleinste Detail, zwei Generationen zurück... Jetzt wird dann wohl das normale Leben beginnen, sobald alles seine Richtigkeit hat. Ich freue mich darauf und werde euch nächstes Mal von den geheimnisvollen Vorgängen rund um Wasser und Gas, Strom und Telefon berichten. Ich strample immer noch, um mich darin zurechtzufinden. Auch hier «manman lai!»
Herzliche Grüsse an euch alle und schön, dass ihr da seid in meinem Leben. Anita
22.03.2019
Meine Lieben
Wie die Zeit verfliegt! Und wie ich höre, zieht auch bei euch langsam der Frühling ein. Diese vier Jahreszeiten, die wir in der Schweiz kennen, sind schon besonders schön. Sie bringen so viel Abwechslung und Farbe in unser Leben, wir haben von allem ein bisschen. Hier ist es eher einseitig. Schon fast zu heiss für mich mit 33°, gefühlten 38°, wie mein Handy sagt... Ich hoffe, ich gewöhne mich daran!
Auch sonst gibt es viele Änderungen und Neuentdeckungen: andere Länder, andere «Gebrauchsanweisungen». Mein Trinkwasser ist für verweichlichte Westler und kommt deshalb aus der Flasche, riesige Galonen, die direkt ins Haus geliefert werden. (Heute bin ich besonders stolz, denn ich habe sie zum ersten Mal selber telefonisch bestellt. Und er hat mich sogar verstanden! Als ich eines Abends plötzlich im Dunkeln sass und mir dachte, dass wir einen Stromausfall hätten, wenn plötzlich kein Wasser mehr aus der Leitung fliesst oder der Gasherd mittendrin aufhört zu kochen, dann sind das keine Abstürze oder Mängel im System, dann habe ich einfach nicht gemerkt, dass ich eigentlich im Büro vorauszahlen sollte. Die Chinesen haben da eine total effiziente Lösung gefunden, damit sie zu ihren Geldern kommen und niemandem hinterherrennen müssen: Es wird einbezahlt, und wenn nichts mehr da ist, geht auch nichts mehr. Dasselbe beim Busfahren: Man steigt beim Fahrer ein und er sieht ganz genau hin, ob alle ihren Yuan brav in den Glaskasten werfen. Wenn nicht, gibt’s ein Donnerwetter. Ich lerne täglich neue Verhaltensabläufe dazu und merke, dass es ohne Hilfe von Einheimischen fast unmöglich ist.
Kürzlich kaufte ich mir einen Drucker, doch der will und will sich nicht mit meinem Computer verbinden. Ein junger Mann, den ich während des Frühlingsfests kennengelernt habe (er arbeitet beim Gericht), versucht stundenlang sein Bestes. Er begleitet mich dann auch noch ins Geschäft, wo wir nochmals miteinander üben, ohne Erfolg. Und will nichts dafür, nicht einmal einen Kaffee. Für solche Notfälle habe ich ein paar Tafeln Schokolade im Gepäck.
Auch Post bekommen ist eine echte Herausforderung. Das Päckchen von Sarah ist irgendwo verschollen, und als ich den Brief ans Konsulat versenden wollte, beförderten sie ihn erst, als die Adresse chinesisch geschrieben war. Sie können hier «auf dem Land» unsere Schrift nicht lesen. Wenn also jemand einen Päckliversuch im Sinn hat, müsst ihr mich nach der Adresse auf Deutsch und Chinesisch fragen.
Bei Zusendungen erhalte ich zuerst eine SMS, dann muss ich zu den Postfächern (bis ich die nur schon gefunden hatte!). Dort gilt es, den richtigen Automaten ausfindig zu machen und den Code von der SMS einzugeben. Doch wo, ist hier die Frage. Möglichkeiten hat es viele! Und hinter mir stehen sie Schlange! Wenn ich Pech habe, bin ich zu spät und muss Aufbewahrungsgebühren bezahlen, was nur übers Handy und eine spezielle App geht. Handys scheinen in China absolut lebensnotwendig, quasi vor den Kopf genagelt. Sie sind in jeder erdenklichen Lage in Gebrauch...
Ungeschriebene Gesetze gibt es auch in meinem Spital, wo ich öfter hingehe für die Akupunktur. Man steht Schlange und bezahlt eine Registrierung bei einem bestimmten Doktor, den man sich schon vorher passend ausgesucht hat. Man steht Schlange für die ÖFFENTLICHE Befundaufnahme. Jedermann hört AUFMERKSAMST zu! Dann legt man sich auf ein Bett, das man idealerweise bereits reserviert hat, denn kaum gehen die Türen auf, rennen alle los. Das mit dem Reservieren ist eine seltsame Sache. Manchmal liegen die Protokollbüchlein unter dem Kopfkissen, manchmal weiss der Nachbar, dass da jemand sei. Und weil ich ihren ausgeprägten Dialekt kaum verstehe, trete ich ab und zu ins Fettnäpfchen und liege, wo ich nicht sollte. Das gibt dann ein morgenfüllendes Drama wie in der Oper: laut, enthusiastisch und immer noch einmal von vorn. Wenn endlich der Doktor kommt, weiss er ebenfalls Bescheid und versucht die Wogen zu glätten. Ich sei schliesslich Ausländerin. Rund um mein Bett stehen jetzt scharenweise Männer (!) und Frauen und begutachten weniger die kunstvoll gesetzten Nadeln als meinen Bauch. SEHR gewöhnungsbedürftig!
Nach all dem Unbekannten geniesse ich dann immer wieder mein «Feriengefühl» hier. Ich kann sitzen und schauen, stundenlang. Auch die Chinesen scheinen ein Feriengefühl zu haben. Sie wandern schon morgens in der Frühe bunt bekleidet in den Park, wo mit Hingabe und Freude zu lauter Musik getanzt wird. Dass nebenan eine andere Gruppe genauso laut und enthusiastisch einen anderen Tanzstil zu ebenfalls anderer Musik probt, irritiert niemanden. Sie sind höchst konzentriert und hingebungsvoll bei der Sache. Die Kleider sind fantasievoll und manchmal etwas verblüffend und schräg. Hier stört sich aber niemand an Äusserlichkeiten, hier geht alles freudig miteinander kombiniert: geblümt, gestreift, gepunktet in allen Farben mit Rüschen, Schleiern, Glitzer und Pailletten, man trägt Ascot-Hut, «Stögelischue» und Stola. Alles nebeneinander, und alles ist gut. So darfst du auch mit Lockenwicklern aus dem Haus, im Bademantel und mit Frotteetuch um den Kopf ins Einkaufszentrum, im Pyjama und mit Pantoffeln durch die Strassen flanieren, sogar ins Restaurant. Ich überlege mir schon, so ein schönes Teil anzuschaffen. Es wäre mein erstes! Das macht Spass! Dunkelschwarz gefärbte Haare sind hoch im Kurs, auch wenn nur noch ein paar wenige da sind. Manche Männer kringeln den Pullover hoch bis unter die Achseln und präsentieren ihren Bauch. Immer wieder spazieren ältere Leute statt mit einem Handtäschchen mit dem Kofferradio an mir vorbei und spielen für alle rundherum ihre Lieblingsmusik, meist sehr chinesisch, sehr romantisch. Musik auch von den Autos und Töffli: Es wird leidenschaftlich gehupt. Wenn ich irgendwo sitze und staune, bleibe ich meist nicht lange allein. Bald sitzt jemand neben mir und plaudert drauflos, wie wenn wir uns schon lange kennen würden und wir beste Freunde wären. Die erste Frage: Wie alt bist du? Die zweite: Hast du schon gegessen? Wenn wir uns dann ein wenig ausgetauscht haben und ich kurz den Kopf drehe, sind meine neugierigen Besucher plötzlich verschwunden. Das mit dem Verschwinden ist so eine Sache. Wir können gemeinsam an einem Tisch sitzen und essen, und wie auf einen Schlag stehen alle auf und gehen. Ich habe das geheimnisvolle Signal immer noch nicht entdeckt und bin jedes Mal aufs Neue überrascht.
Die Bäume im Park blühen immer noch.
Natürlich muss ich auch ab und zu mal arbeiten! Jeden Nachmittag ist meine Stunde bei Miao, und obwohl ich das Gefühl habe, nicht vom Fleck zu kommen mit der Sprache, merke ich doch, dass ich vieles besser verstehe und vieles besser benennen kann. Vielleicht ist es ja nicht nur meine gute Intuition und mein eifriges Rätselraten. Ich plaudere ungeniert drauflos mit allen und jedem. Der Taxichauffeur muss dran glauben, die Verkäuferin, der Sitznachbar beim Bushäuschen, meine Taiji Kollegen, und natürlich Miao. In letzter Zeit lacht sie oft und rudert mit den Armen herum. Meine Wörtchen seien gut, aber ich hätte ein schreckliches Durcheinander bei den Sätzen. Alles holterdiepolter. Das erinnert mich so sehr an meine Kleinen: «Ich nid hani kei gmacht Striit». Ich bin also quasi wieder im Kindergarten gelandet! Humor hilft sehr!
Zwischendurch schwänze ich an einem Nachmittag die Schule, weil ich erfahre, dass in einem Restaurant für Einheimische ein Opernkonzert stattfindet. Da will ich hin. Und es ist faszinierend! (Erinnert mich an die aufgeregten Morgen im Spital!
Und noch einmal bin ich unterwegs: der chinesische Druckerversuch hat meinen Computer total desorientiert... Ich muss ihm wieder auf die Sprünge helfen, und da bleibt mir nur eine Städtereise übrig ins benachbarte Hongkong. Da gibt es keine Sprachbarrieren und auch keine Restriktionen, was bestimmte Installationen betrifft… Die Stadt ist unglaublich. Quirlig, laut, absurd reich neben bitter arm. Ich freue mich, wieder heimzukommen nach Haikou.
Heute gehe ich zum ersten Mal ins staatliche Waisenhaus. Ich habe beschlossen, dort freiwillig mitzuarbeiten, vorläufig einmal pro Woche, später vielleicht häufiger. Eine junge Chinesin begleitet mich. Ich erwarte eigentlich eine alte, vernachlässigte und desolate Institution, stattdessen finde ich einen hübschen Neubau mit kleinem Spielplatz vor, im Innern mit bunt bemalten Wänden. Die Kinder spielen bei schönem Wetter draussen auf den Schaukeln und alle, die ich zu dieser Tageszeit antreffe (manche «echten» Waisen sitzen jetzt in der Schule), sind behindert und von ihren Familien ausgesetzt worden. Autisten, Down Syndrom, Kinder mit seltsam verbogenen Gliedmassen, Wasserkopf und vieles mehr. Die sehr kranken Kinder kommen kaum aus dem Haus. Sie sitzen, liegen auf dem Boden oder in einem der etwa 18 Betten pro Raum. Manche sind angebunden mit Bändern. Alle sehen sie aber gesund und gepflegt aus. Eine grosse Schar von mütterlichen Frauen kümmert sich um sie. Es geht wie am Schnürchen. Füttern, wickeln, wenn Zeit bleibt, auch spielen. Und ich bin so sehr überrascht, wie sie auf mich reagieren. Ich habe schon öfter erlebt, dass fremde Kinder sich kaum fassen können wegen meiner weissen Haare. Manche haben zu Beginn sogar ein bisschen Angst. Doch nicht hier. Sie winken aus den Fenstern, lächeln mich an. Sie strahlen, wenn sie berührt und gestreichelt werden. Die Frauen arbeiten fast therapeutisch mit ihnen, stimulieren Finger und Hände, Füsse und Beine. Der Tag beginnt sehr früh für die Kinder, bereits etwa um sechs Uhr. Die Morgentoilette nimmt viel Zeit in Anspruch, dann gibt es Frühstück und für einige Kinder den Weg zur Schule. Auch das Mittagessen findet früh statt, bereits um halb elf, und um fünf Uhr abends gehen sie zu Bett. Der ganze Tagesablauf ist hier vorverschoben, durchstrukturiert und dennoch zugewendet. So viele fröhliche Kinder! Wir suchen nun nach einer Einsatzmöglichkeit für mich.
Ihr seht, es geht mir immer noch gut, nach bereits drei Monaten. Was für ein guter Entscheid, ein anderes Leben zu entdecken! Ich wünsche auch euch eine grosse Portion Neugier. Es muss ja nicht gerade China sein! Nachbars Garten reicht vielleicht auch schon!
Seid umarmt und herzlich gegrüsst bis zum nächsten Mal!
Anita
PS: Einige Mails haben die Adressaten nicht erreicht. Dies ist mein drittes aus Haikou. Falls in eurer Sammlung eines fehlt und ihr gern alle lesen möchtet, schreibt mir doch kurz, damit ich es nochmals sende.
27.04.2019
Mein Lieben
Ich brüte wieder einmal über einem Brief aus meiner Wahlheimat und kann euch beruhigen: Mit den langen Berichten bin ich nämlich eine lästige Aufgabe losgeworden: Ich muss kein Tagebuch führen! Quasi drei Fliegen mit einer Klatsche: Ihr erfahrt von meinen Abenteuern, ich erlebe sie innerlich nochmals und ich höre immer wieder von euch. Ideal, diese Lösung!
Der Sommer ist endgültig da, die letzten Tage mit einem Hitzeindex von 42°. Ich weiss gar nicht mehr, wohin mit mir. Sogar am Morgen, wenn wir uns fürs Taiji treffen, gerate ich schon ins Schwitzen. Jeden Tag nun diese Hitze, dazu die heftigen kurzen Regengüsse der sommerlichen Tropen. Das ist dann, wie wenn man unter einem Wasserfall stehen würde. Da hilft nur noch der Sprung unter ein Dach. Bäume sind zu gefährlich, denn oft brechen die Äste unter der Wasserwucht ab oder es hagelt Kokosnüsse... Ich bin nun jeden Tag im Schwimmbad und stundenlang im Wasser. Neben der angenehmen Erfrischung ist es auch eine Flucht, weil rund um meine Wohnung herum die Wohnungen der reichen Nordchinesen renoviert werden. Da fährt schweres Geschütz auf und der Presslufthammer dröhnt von morgens früh bis spätabends. Was es da wohl zu machen gibt? Mir scheint alles perfekt...
Auch sonst ist viel los in dieser quirligen Stadt. Der Verkehr ist atemberaubend und ich habe schnell gelernt, dass ich nicht einfach so vor mich hin schlingern kann, denn sie kommen von allen Seiten. Am besten geht man stur geradeaus. Nur nichts Unberechenbares anstellen! Neuerdings trage ich auch zum Strassenabenteuer bei: Ich habe mir einen Scooter gekauft. Knallhimbeerrosa. Nicht zu übersehen! Beim ersten Ausflug habe ich beinahe den Ladenbesitzer über den Haufen gefahren, denn die Maschine war auf «schnell» eingestellt. Inzwischen haben wir das brav geändert und nun kurve ich - meinem Alter entsprechend - auf leisen Sohlen mehr oder weniger gemächlich durch die Strassen. Ich bin der neue PINK PANTHER aus Haikou!!!
An einem meiner freien Morgen mache ich das, was ich schon lange wollte: Ich gehe in die Stadt zu meinem Lieblingsgeschäft, dem Buchladen mit Galerie. Erinnert ihr euch? Mit viel Gestotter, Händeringen und Augenrollen schaffe ich es, der Geschäftsführerin klar zu machen, dass ich gern meine Bilder ausstellen würde im zweiten Stock. Seit ich in Haikou bin, habe ich einen richtig schönen kreativen Schub, das Papier geht schon langsam aus. Kein Wunder bei dieser Umgebung! Am selben Nachmittag besucht mich Cathy, die Geschäftsführerin, bereits bei mir zu Hause, um die Bilder zu begutachten. Und damit wir etwas gesitteter miteinander reden können, nimmt sie gleich ihren Jungen mit, der zwei Jahre beim Vater in Amerika lebte und nun übersetzen hilft. Das Ergebnis der ganzen Aufregung: Ich werde im nächsten Winter eine eigene Ausstellung bei ihnen haben! Irgendwie ist das schon schräg, wie hier vieles plötzlich so mühelos gelingt und mir einfach in den Schoss fällt. Ob's am Ende doch stimmt mit dem Propheten im eigenen Land? Sie denkt bereits laut nach über Interviews in den Zeitungen, einen Auftritt im Fernsehen, will mich mit anderen Malern aus China bekannt machen, damit ich mein Chinesisch üben und diese Form der Kultur direkt erfahren kann. Auch für andere Dinge bietet sie mir Unterstützung und Hilfe an. Sie will mich sogar einführen in die Geheimnisse und verborgenen Schönheiten meiner Insel. Ich bin ein wenig überfahren von so viel Hilfsbereitschaft und habe tatsächlich auch noch keine Erfahrungen damit gemacht, ob ich auf solche Freundschaftsdienste am Ende wirklich vertrauen kann. Ich lasse mich aber auf jeden Fall darauf ein und stecke meine Nase in alles, was meiner Wege kommt!
Zum Beispiel: wieder eine Reise. Ich will die Insel näher kennenlernen, bevor es dafür zu heiss wird. Inzwischen geht es auch sprachlich einigermassen, so dass ich mich ruhig darauf einlassen kann. Mit Rucksack, Flipflops und erstaunlich unaufgeregt ziehe ich los. Mein Ziel ist die Südküste, von Ost nach West. Oben im Norden sei es gefährlich, meint Miao. Dort «streiten» sie. Zum Streiten habe ich noch zu wenig chinesisch gelernt. So wollte ich kürzlich mit einer Frau schimpfen, die einfach mein Spitalbett für sich genommen hat. Aus Mangel an Wörtern habe ich ihr wie ein kleines Mädchen mitgeteilt, dass sie eben keine Nette sei. Alle haben gelacht. Also, sicherheitshalber den Streitereien aus dem Weg.
Ich fahre mit dem Bus nach Wenchang und habe sofort Anschluss zur östlichsten Stelle der Insel. Dort angekommen, mitten im Nirgendwo, am Rand einer Ein-Ampel-Stadt, weiss der Taxichauffeur ein gutes Hotel. Es ist wirklich gut! Klein, sehr sauber, sehr schön gelegen, mit einem kleinen Privatstrand. Privat ist es hier sowieso, still und menschenleer, abgesehen von Fischern und Muschelsuchern. Doch die Entwicklung ist absehbar, und wie überall auf Hainan, rasant. In zwei, drei Jahren wird dieses verschlafene Nest wohl ein gut besuchtes Feriendomizil sein und das Problem mit dem Abfall drückend werden. Mit einem kleinen dreirädrigen Wagen, ähnlich wie ein Tuktuk, lasse ich mich zu einem Ort bringen, der noch vor zwei Jahren besonders schön gewesen sein soll mit seiner alten Bausubstanz. Nichts ist davon mehr da. Es wird renoviert und neu gebaut, was das Zeug hält. Überall entstehen auch Parks und Tempelanlagen mit vielen leuchtenden Farben und unsäglichen Skulpturen. Mao grüsst an vorderster Front, gleich dahinter Buddha auf der Lotosblüte. Am Ende ist die Fahrt mit dem Wägelchen das Schönste, was ich erlebe. Nachtessen gibt es in der Lobster-Farm neben meinem Hotel. Hier gebe es die weltweit besten Hummer, mit festem, würzigem Fleisch. Womit ich nicht gerechnet habe: Ich muss mein Tier selber auswählen und fühle mich dabei schon halb auf dem Weg zum selber Hand anlegen… Nachher kämpfe ich tapfer mit Stäbchen und Nussknacker mit den harten Schalen. Einmal genügt völlig!
Am nächsten Tag möchte ich gern auf einen berühmten Berg steigen, den Tongguling. Doch sie erlauben mir das nicht. Er sei gesperrt für Ausländer. Weil man von dort aus die Raketenbasis sieht? Wir lachen ein bisschen über die alte Spionin, die trotzdem da hoch möchte.
Weil ich allein reise, darf ich in meinem Hotel mit den Besitzern essen. Wie eine einzige Familie sitzen wir um den Tisch herum. Sehr schön für mich! Und erst noch gut fürs Chinesisch! Nach einigen Tagen in dieser Oase ist meine nächste Station Wenchang. Es ist inzwischen unerträglich heiss und beginnt dann auch heftig zu regnen, nachdem ich gerade noch den Konfuzius Tempel aus dem 11. Jh. und Hainans berühmte Kokosnussplantagen besucht habe. Der Tempel ist dort am Schönsten, wo noch nichts restauriert wurde, wo die Atmosphäre heil geblieben ist, nämlich im Innenhof unter den mächtigen Bäumen. Ich sitze lange und fühle mich ein bisschen wie in unseren europäischen alten Klosteranlagen. Daneben hat die Stadt nicht sehr viel zu bieten und ich merke, dass ich meine Reisen in Zukunft allein recherchieren muss. Die Chinesen scheinen eine andere Vorstellung von Sehenswürdigkeit zu haben. Sie geraten über jedes kunstvoll angelegte Plastikblumenbeet in Ekstase, jede Skulptur ist mindestens ein Selfie wert.
In einem Restaurant bestelle ich das berühmte Wenchang Chicken, und meine leisen Ahnungen bestätigen sich voll und ganz: Alles ist da auf meinem Teller gelandet, was wir eigentlich dort nicht haben wollen. Samt Krallen, Kopf und Kragen, sehr beliebte Leckerbissen, gibt das Huhn alles her. Es schwimmt fettreich und kaum gebrüht in der Sauce, wie immer in China unzeremoniell in Stücke zerhackt, mit einem Maximum an Knochensplittern, Sehnen, Knorpeln und anderen undefinierbaren Teilen. Wo ich beim Schwein manchmal um eine vergessene Borste herumessen muss, finde ich hier im bleichen «Gänsehautfleisch» das eine oder andere vergessene Federkielchen
Nach diesen kulinarischen Höhenflügen suche ich die nächste Stadt auf, habe aber Pech mit dem Wetter. Es regnet in Qionghai. Vielleicht liegt es daran, dass mir die Stadt nicht so gut gefällt?
Mit dem Zug weiter nach Lingshui. Die Fahrt führt sehr schön dem Meer entlang, und ich freue mich auf neue Entdeckungen. Hier leben vor allem Li, Ureinwohner der Insel. Sie wirken auf mich jedoch abweisend und verschlossen, ich finde keinen Zugang zu ihnen. Ganz anders die Menschen in einem kleinen schwimmenden Fischerdorf im Süden der Stadt. Dort sind chinesische Zigeuner zu Hause. Mit einem alten Fischer fahre ich im Boot eine halbe Stunde lang durch die engen Gassen, wo das Leben intim und begrenzt auf den schmalen Holzplanken stattfindet. Es sieht romantisch aus, ist aber wahrscheinlich anstrengend und mühevoll. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Wie lange noch?
Schon mein nächstes Ziel ernüchtert mich. Baoting, von allen gelobt und gerühmt, ist für mich eine Enttäuschung. Ausser Hotels gibt es hier nichts, dabei sind wir doch mitten im Gebiet der Li und Miao, der bedeutendsten Gruppen ethnischer Minderheiten auf Hainan. Es hat jedoch viele Touristen. Sie kommen wohl hierher wegen der Heisswasserquellen, und das ist dann auch das einzig tolle Erlebnis: Jedes Zimmer verfügt auf dem Balkon (!) über eine tiefe Badewanne. Ich geniesse sie gleich zweimal, beim Ankommen und am Abend, als es dunkelt. Draussen sitzen, den Vögeln zuhören, ein kühles Bier trinken, schön! Für den nächsten Tag habe ich eigentlich eine Wanderung zu einem Wasserfall geplant, doch der Manager des Hotels rät mir ab, weil es lange nicht genügend geregnet hat und der Fluss zu einem Rinnsal verkümmert sei. Stattdessen fahre ich zu einem AAAAA-Touristenhotspot, etwas, das ich normalerweise fürchte und umgehe.
Binglonggu heisst er, und am Ende ist es gut, dass ich hier gelandet bin. Es ist sehr touristisch, sogar einmal besucht vom Staatspräsidenten, der den Ureinwohnern väterlich die Hand schüttelte. Alles ist sauber und geordnet. Die Angestellten tragen traditionelle Kleidung aus schönen gewobenen Stoffen. Ich mache mich sogleich auf den Weg durch das chinesische Ballenberg und lerne viel über die alten Kulturen. Gleich am Eingang finden mehrmals am Tag Vorführungen statt, eine Art Oper, ein buntes, weltweit vernetztes Spektakel. So gibt es phantasievolle Tänze zu karibischen Klängen (der Breitengrad stimmt wenigstens! oder lautes Indianergeheul, «huga-aga», kein Witz! Fehlt nur noch der Winnetouschrei! Sie springen und heulen und zeigen Szenen aus ihrem Alltag: Reis schütteln, Feuer machen, mit Wasserbüffeln gehen, Körner stampfen. Ich schaue mir das alles aus der Ferne an und verliere mich gern zwischen den alten Häusern.
Da gibt es viel zu entdecken. Die Li, seit etwa 4-5’000 Jahren auf Hainan, lebten in Lehmhütten mit Schilfbedachung am Fluss. Sie waren vor allem Fischer und fingen ihre Beute mit Pfeil und Bogen. Berühmt sind sie auch für ihre geflochtenen Körbe, die wir zum Teil sogar bei uns in den Läden kaufen können. Lustig, wie sie Flöte spielen: Sie blasen durchs Nasenloch! Männer trugen Kleidung aus Baumrinde, von einem Baum, der giftig ist und dessen Saft als Pfeilgift verwendet wurde. Die antiseptische Wirkung hält lange an. Es gibt Kleider, die tausend Jahre alt und immer noch ohne Käferbefall sind. Frauen tragen sehr enge, körperbetonte Röcke und Jäckchen aus handgewebtem schwarzem Stoff mit einer reich verzierten, vielfarbigen Borte. Die alten Frauen klemmen sich den Webstuhl um den Rücken und zwischen die Zehen, dann ist alles Handarbeit, Faden für Faden. Sie weben traditionelle Muster für Hochzeiten, für andere Feste und den Alltag. Aber auch neue kreative Arbeiten entstehen. Für einen Schal brauchen sie zwischen einem und fünf Jahre, bis er fertig ist. Entsprechend hoch sind die Preise, 150 bis 1500 Franken. Wollen würde ich schon! Verzierungen tragen sie auch auf der Haut: archaisch anmutende, grossflächige geometrische Tätowierungen, an Händen, Armen, Beinen, Füssen und sogar im Gesicht.
Die Miao, eine etwas kleinere Ethnie, wohnten im Regenwald an den steilen Hängen in kleinen Holzgiebelhäusern. Auch sie waren Fischer, Schlangenbauern, Viehzüchter und wunderbare Silberschmiede. Die Frauen tragen den Schmuck an Festtagen üppig auf der Brust, eine Reihe von verzierten Halbmonden mit vielen hängenden Blumen, Vögeln, Fischen und Sternen. Man sieht das Kleid fast nicht mehr! Bei der Hochzeit tragen sie auch eine Art Kappe aus getriebenem Silber, über und über verziert mit wippenden Haarnadeln und Schmuck. Heute bin ich die einzige Ausländerin hier und erlange somit einen gewissen Berühmtheitsgrad. Sogar ein erleichtertes Seufzen, als ich endlich kühles Wasser kaufen kann, lässt die Leute jubeln: Wie gut ich doch Chinesisch spräche, hihi. So schnell und problemlos habe ich noch keine Sprache erworben!
Am Abend im Restaurant stehe ich dann wieder vor dem Problem der Essenswahl: das Braune oder das Graue? Auch ein Fasan wäre zu haben... Sie gackern unbeirrt vor sich hin und zeigen keine Stresssymptome, trotz der Enge des Käfigs. Dies ist mein letzter Abend. Morgen will ich heimkehren nach Haikou. Es wird jetzt zu heiss fürs Reisen.
Ich freue mich richtig auf mein Zuhause. So viele Eindrücke müssen zuerst verarbeitet werden. Und ich sollte ja auch noch ein wenig vorbereiten für die Schule. Ich habe nun ein neues Buch, ganz ohne Pinyin, nur mit chinesischen Schriftzeichen. (Für Insider: HSK 4) Und es klappt! Mit Kunstpausen und ellenlangem Nachdenken, aber es klappt! Es macht so viel Spass! Von euch zu hören macht auch viel Spass und ich spüre, wie wir verbunden sind, über die halbe Welt hinaus.
Herzliche Grüsse und bis bald!
Eure Anita
30.05.2019
Meine Lieben
Wie ist das schön, immer wieder von euch zu hören und mich so verbunden und verankert zu fühlen! Damit lässt sich die Fremde sehr gut ertragen. Gerade ist ein bisschen Alltag eingekehrt in meinem Leben, strukturiert durch die Chinesischstunden bei Miao und die Besuche im Spital. Das ist jedes Mal spannend. Ich glaube, ich erfahre nirgends so viel über die chinesische Seele und Lebensweise wie hier. Da bin ich mittendrin. Um dem Kampf ums Liegebett zu entgehen, bin ich - mit einem Dutzend anderer - immer sehr früh dort, damit ich ebenfalls losstürmen kann, wenn die Türen aufgehen. Ich sitze auf einer Bank und beobachte interessiert den täglichen Fitnessparcours der Leute um mich herum. Da wird geschüttelt, geschaukelt, gewippt, gestreckt, genickt, gebeugt, gedehnt, dass es eine helle Freude ist. Mit Ausdauer üben sie selbstvergessen ihre minimalistischen Bewegungen. Alles und jeder bewegt sich, es wird im Pyjama gelustwandelt, auf den Gängen gesprintet, Marathon spaziert zwischen den Streckbetten, links herum, rechts herum. Und wer nur sitzt, der schwatzt, isst Nudelsuppe oder ackert sich durch die Millionen von SMS im Handy. Da ist eine unglaubliche Energie, so früh am Morgen, kurz nach sieben. Ich bin schon halb erschlagen! Diese Art, unbeirrt den eigenen Weg zu gehen und nicht links und rechts zu schauen bei dem, was man tut, ist vielleicht auch eine Folge der vielen Menschen. Man MUSS sich einfach mit dem eigenen Tun beschäftigen und nicht mit dem Nachbarn, wenn man vorwärtskommen will. Vieles, was wir uns in der Schweiz nicht trauen würden, weil wir uns ausgestellt oder sogar blöd vorkommen, interessiert hier niemanden. Ich empfinde das als absolut befreiend. Wenn mir manchmal gesagt wird, dass sich aus diesem Grund auch niemand zuständig fühle, bei Schwierigkeiten zu helfen, mache ich andere Erfahrungen. Ich habe da vielleicht den Bonus der Ausländerin oder des Alters, denn mir gegenüber sind die Menschen wirklich hilfsbereit. Als ich mit meinem Roller kürzlich den Bremsweg verschätzte und im Gartentörchen landete, kamen sie gleich vielfach gesprungen und trösteten mich: «Mei guanxi, mei guanxi!», «没关系!» - macht nüt».
An einem Wochenende werde ich eingeladen zu einem Winetasting. Meine neue Freundin aus Hongkong besitzt ein tolles Geschäft mit ausländischen Spezialitäten und eigener Bäckerei. Zu den vielen hausgemachten Kleinigkeiten gibt es Weine aus aller Welt, vor allem aus Chile, denn mit diesem Land hätten sie ein gutes Handelsabkommen. Dazu schwere Franzosen und Italiener, und zuckersüsse Weissweine aus Australien. Die Chinesinnen lieben das! Ich halte mich lieber an die anderen, meine ersten, seit ich hier bin. Irgendwie ist das Klima nicht so verlockend, um Wein zu trinken... Schon lieber Tee, und den geniesse ich jetzt regelmässig jeden Montagvormittag mit Frank, meinem Nachbarn. Pünktlich um neun läutet er an der Türe. Dann «üben» wir: er englisch, ich chinesisch. So haben wir beide etwas davon. Und es ist zudem auch sehr angenehm, ihn hier zu haben. Er ist ein liebenswürdiger alter Herr, weit über achtzig, und erst noch sehr gebildet. Er spricht sogar einige Wörter französisch, denn bis zum fünften Lebensjahr war er mit seinen Eltern in Montpellier, in Frankreich. Ich bin immer ganz erfüllt und bereichert von unseren Treffen.
In meinem Park wohnen viele alte Menschen. Ich begegne oft Grosseltern mit ihren Enkeln. Sie übernehmen die Erziehung, weil beide Elternteile berufstätig sind. Immer wieder erlebe ich auch, dass alte Leute liebevoll und geduldig an der Hand genommen und geführt werden von Kindern oder Enkeln. Familie ist so wichtig! Da spüre ich dann eine tiefe Zuneigung und Verantwortung, ein Aufgehobensein beieinander. Sehr schön! Wie wünschte ich, dass sie sich das erhalten könnten! Die Entwicklung scheint eine andere, ähnlich, wie ich sie in unserem Land beobachte: Es gibt schrecklich viele schlecht erzogene Kinder, die keine Grenzen kennen und materiell unsäglich verwöhnt werden. Die Trotzphase der Dreijährigen hält hier dann ungeniert bis ins Schulalter an, und wenn sie junge Erwachsene sind, haben sie den Egotrip voll integriert. Viele wissen gar nicht, wie Arbeiten geht, denn alles wird entschuldigt, alles wird ihnen zugesteckt und auf dem Silbertablett präsentiert. Sehen sie deshalb so schlecht aus? Übermüdet, konsumsüchtig, anämisch und antriebslos, ausser bei halbseidenen Unternehmungen. Irgendwie eine leere Hülle. Wie schade! Zum Glück gibt es da doch auch noch die vielen Jugendlichen, die ein Ziel im Leben verfolgen und hart dafür arbeiten, oft bis zu zwölf Stunden am Tag. Auch in China wird die Schere zwischen den Reichen und den Besitzlosen immer grösser.