Gryphony 3: Die Rückkehr der Greife - Michael Peinkofer - E-Book

Gryphony 3: Die Rückkehr der Greife E-Book

Michael Peinkofer

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Beschreibung

Band 3 der fesselnden Tierfantasy-Reihe von Bestseller-Autor Michael Peinkofer! Der Drachenorden hat ein Greifen-Ei gefunden und will nun Drachen mit Greifen kreuzen, um eine unbesiegbare Kreatur namens Chimäre zu erschaffen. Das müssen Melody und Agravain um jeden Preis verhindern. Sie machen sich auf die Suche nach dem Orden, um das Greifenbaby zu befreien, und erhalten unverhofft Hilfe: Der tot geglaubte Mr Clue taucht wieder auf - und erweist sich als mächtiger Verbündeter ... Folge dieser einzigartigen und fesselnden Reihe: Band 1: Im Bann des Greifen Band 2: Der Bund der Drachen Band 3: Die Rückkehr der Greife Band 4: Der Fluch der Drachenritter

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2016Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHOriginalausgabe© 2016 by Michael Peinkofer und Ravensburger Verlag GmbHDie Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.Umschlag- und Innenillustrationen: Helge VogtLektorat: Iris PraëlAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47706-7www.ravensburger.de

Das Feuer war heiß. So schrecklich heiß, dass es in ihrem Nacken brannte und ihr der Geruch von Schwefel und von verbranntem Haar in die Nase stieg. Entsetzt schrie Melody auf. Sie duckte sich noch tiefer in den Nacken des Greifen, wo das Gefieder in das weiche Rückenfell überging, und klammerte sich mit aller Kraft fest.

„Schneller, Agravain!“, hörte sie sich selbst rufen. „Der Drache! Er ist uns auf den Fersen …!“

Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie die fürchterliche Gestalt mit den riesigen Fledermausflügeln und dem schlangenhaften Körper näher kam. Sie sah das schwarze Haupt mit den glühenden Augen und die Umrisse des Reiters, der im Nacken des Drachen saß und ihn lenkte.

Abrupt brach Agravain zur Seite aus und beschrieb eine enge Linkskurve. Der Drache kreischte und schlug wild mit den Flügeln, um Melody und Agravain auf den Fersen zu bleiben. Über das dunkle Meer, dessen Wellen unter ihnen wogten, hielt Agravain aufs Festland zu. Doch die Bestie ließ sich nicht abschütteln. Jetzt holte sie wieder rasselnd Luft …

„Agravain, schnell!“, rief Melody. „Er wird wieder Feuer spucken! Du musst etwas unternehmen!“

Panisch blickte sie sich um – und sah geradewegs in den weit aufgerissenen Rachen des Drachen. Einen Sekundenbruchteil später schoss ihnen glühendes Verderben entgegen.

Das Feuer war so heiß und blendend, dass Melody unwillkürlich die Arme vors Gesicht riss. Doch die Flammen hüllten sie ein, umgaben Agravain und sie mit gleißender Helligkeit. Plötzlich merkte Melody, wie sie an Höhe verloren und der dunklen, schäumenden See entgegentrudelten.

„Agravain!“, schrie sie aus Leibeskräften, während sie in die Tiefe stürzten, von Drachenfeuer umgeben. Jäh wurde ihr klar, dass dies das Ende war.

Die schwarze See flog heran, und Melody und Agravain tauchten kopfüber darin ein, vom donnernden Gebrüll des Drachen begleitet – das Melody aus dem Schlaf riss.

„Agravain! Nein!“

Mit einem Aufschrei fuhr sie hoch. Ihr Herz schlug in wilder Panik, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Verwirrt blickte sie sich um – nur um festzustellen, dass das gleißende Licht ein Blitz in der Nacht gewesen war und das grässliche Gebrüll tatsächlich nichts als Donner, der über der Bucht grollte.

Ein Gewitter ging über Arran nieder.

Um die Benommenheit loszuwerden, schüttelte Melody den Kopf. Erst ganz allmählich begriff sie, dass sie nicht ins Meer gestürzt war. Sie war nicht draußen vor der Küste von Lochranza, sondern daheim, im guten alten Stone Inn. Und es war auch kein Drache hinter ihr her.

Aber anders als andere Menschen, die aus einem Albtraum erwachten, konnte sich Melody nicht damit beruhigen, dass alles nur ein Trugbild gewesen war.

Denn all diese Dinge waren wirklich geschehen – erst vor wenigen Wochen.

Melody und Agravain waren wirklich draußen vor der Küste gewesen, auf einem Schiff des Drachenordens, mit dem Agravain hatte entführt werden sollen. Zwar hatte sie den Greifen aus der Hand der Bösewichter befreien können, doch auf der Flucht hatten sie es mit einem Drachen zu tun bekommen. Und in der Flammenhölle, die das Monster entfesselte, hätten Melody und ihr Greif beinahe einen grausigen Tod gefunden.

Noch immer sah Melody Agravain wie einen Stein vom Himmel stürzen, vom Feueratem der Bestie scheinbar tödlich getroffen. Noch immer konnte sie das Entsetzen spüren, das sie in diesem Augenblick ergriffen hatte. Erst später hatte sie erfahren, dass Agravain den Drachen getäuscht hatte und entkommen war. Seither hielt er sich versteckt. Ihr lieber Freund Mr Clue hatte bei Agravains Befreiung mitgeholfen und auf dem Schiff sein Leben gelassen. Im Kampf gegen Agravains Entführer war er ins Meer gestürzt und ertrunken – und Melody hatte alles mit angesehen. Kein Wunder, dass sie nun fast jede Nacht von Albträumen geplagt wurde.

Wieder donnerte es und der Regen prasselte heftig auf die Dachschindeln. Noch immer am ganzen Körper zitternd, stieg Melody aus dem Bett, um das Fenster zu schließen, das einen Spaltbreit offen stand. Hinter dem Fensterglas, an dem der Regen herablief, war es pechschwarz. Als ein Blitz die Nacht erhellte, glaubte Melody, draußen eine Gestalt zu erkennen.

Eine dunkle Gestalt im strömenden Regen.

Mit einem Aufschrei sprang Melody vom Fenster zurück. Ihr Puls wurde schneller.

Hatte sie sich getäuscht? Oder war dort unten tatsächlich jemand? Ein kahlköpfiger Mann in einem schwarzen Mantel, der geradewegs zu ihr heraufsah?

Schaudernd musste Melody an den Orden der Drachen denken, dessen Mitglieder kahl rasierte Köpfe hatten und schwarze Mäntel trugen. Zwar war die letzten Wochen über alles ruhig gewesen, denn der Drachenbund musste ja glauben, dass Agravain tot war. Doch vielleicht war das nur die Ruhe vor dem Sturm …

In die Nische neben dem Fenster geduckt, wartete Melody atemlos auf den nächsten Blitz. Wenige Sekunden später zuckte wieder ein gezacktes Band über den Himmel.

Melody atmete auf – sie hatte sich wohl geirrt. Da draußen war niemand. Der nahe Waldrand war zu sehen, aber es gab keine Spur von …

Moment mal!

Melody glaubte eine Bewegung zu erkennen. Ein dunkler Schatten, der auf die Pension zuhuschte. Wollte sich jemand heimlich Zutritt verschaffen?

Melody überlegte nicht lange. Schon war sie zur Zimmertür hinaus und schlich über die knarrenden Treppenstufen. Dass sie barfuß war und im Schlafanzug, kümmerte sie nicht die Bohne. Sie musste wissen, ob dort unten ein Eindringling war.

Im Haus war es vollkommen still.

Die Urlaubsgäste vom Festland lagen längst in ihren Betten und schliefen tief und fest.

Auf Zehenspitzen erreichte Melody das Erdgeschoss, wo der Empfang und der Frühstücksraum lagen. Seit der Renovierung zeigte sich das Stone Inn wieder von seiner besten Seite. Doch der flackernde Gewitterschein, der durch die hohen Fenster drang, ließ den Gastraum trotzdem unheimlich wirken. Der laute Donner und der Gedanke an einen Fremden, der ums Haus schlich, brachten Melody an den Rand einer Panik.

Ihr Blick ging zum Telefon auf dem Empfangstisch.

Sollte sie die Polizei rufen? Officer Gilmore war schließlich ein Freund der Familie. Aber was würde er sagen, wenn sie ihn mitten in der Nacht aus den Federn klingelte?

Lautlos schlich Melody über den nackten Steinboden zur Eingangstür und vergewisserte sich, dass sie abgeschlossen war. Sie lauschte, konnte jedoch nichts anderes hören als das Prasseln des Regens und das Gurgeln aus dem Abfluss.

Wieder blitzte es draußen, und halb erwartete sie, durch das Riffelglas der Tür menschliche Umrisse zu erblicken.

Aber da war niemand.

Sie eilte zum Fenster und spähte hinaus. Der Regen glitzerte unheimlich in der Dunkelheit. Aber draußen waren nur die Autos zu sehen, die sich auf dem Parkplatz reihten.

Kein nächtlicher Besucher.

Keine dunkle Gestalt.

Melody wollte aufatmen – als etwas ihre Schulter berührte.

„Aaah!“ Mit einem Aufschrei fuhr sie herum. Doch sie blickte nicht in das leichenblasse Gesicht eines Ordensagenten, sondern in die sanften, faltigen Züge von Granny Fay.

„Omi!“, entfuhr es Melody halb vorwurfsvoll, halb erleichtert. „Was tust du denn hier?“

„Dasselbe könnte ich dich fragen, Kindchen“, erwiderte Granny Fay, die eine Wolljacke über ihrem Nachtgewand trug und ein Netz über ihrem grauen Haar. Ihr Regenschirm war dagegen offenbar als Waffe gedacht. „Ich habe Schritte gehört und dachte, es wäre ein Einbrecher – dabei warst das nur du.“

„Entschuldige.“ Ein bisschen verlegen blickte Melody zu Boden. Für einen Moment war sie drauf und dran, Granny Fay von der unheimlichen Gestalt zu erzählen, entschied sich dann aber dagegen. Ihre Großmutter hatte auch so schon genug mitgemacht. Sie wollte sie nicht noch zusätzlich beunruhigen.

„Nun ja“, meinte Granny Fay, und ihre Züge wurden wieder mild und gütig, „eigentlich bin ich ja froh, dass es kein Einbrecher war. Sag, kannst du nicht schlafen, Kind? Oder warum treibst du dich sonst morgens um halb vier hier unten herum? Doch nicht, weil morgen die Schule wieder anfängt?“

„Nein“, versicherte Melody. Dass die Ferien zu Ende waren, hatte sie in der Aufregung völlig vergessen. „Ich hatte nur einen schlimmen Traum“, setzte sie hinzu. Das war immerhin die Wahrheit.

„Wirklich? Na ja, ist ja auch kein Wunder bei dem Sauwetter“, meinte Granny Fay. „Ich kann auch kein Auge zutun bei dem Krach. Weißt du was?“

„Ja?“

„Wir machen es wie früher“, schlug ihre Großmutter vor. „Wir kuscheln uns in mein Bett, erzählen uns gegenseitig Geschichten und warten darauf, dass wir einschlafen. Was hältst du davon?“

Melody zögerte einen Moment.

Einerseits hätte sie am liebsten sofort zugestimmt. Doch sie fand sich eigentlich schon zu groß, um sich im Bett ihrer Großmutter vor einem Gewitter zu verkriechen. Aber es war ja nicht das Gewitter, das ihr Angst machte …

„Okay“, sagte sie deshalb.

„Dann komm.“ Granny Fay legte den Arm um sie. So gingen sie nach oben, um gemeinsam der dunklen Nacht zu trotzen.

„Wow!“, stieß Roddy hervor, während sie auf ihren Fahrrädern die schmale, vor Regennässe glänzende Landstraße hinauffuhren. „Ganz schön gruselig, echt wahr.“

Melody betrachtete ihn von der Seite. Roddys Gesicht war feuerrot, das schwarze Strubbelhaar stand wie immer wirr zu allen Seiten ab. Die Brille war beschlagen, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn, obwohl es ein kühler Augustmorgen war.

„Nicht wahr?“, stimmte Melody zu. „Ich hab einen Riesenschreck bekommen, das kann ich dir sagen.“

„Und du bist dir sicher, dass da wirklich jemand auf dem Parkplatz war?“

„Nein“, gestand sie leise. Sie hatte Roddy von der letzten Nacht erzählt – nur, dass sie den letzten Teil in Granny Fays weichem Himmelbett verbracht hatte, hatte sie lieber für sich behalten. „Ehrlich gesagt glaube ich inzwischen sogar, dass ich mich getäuscht habe. Aber gruselig war’s trotzdem.“

„Du meinst, du hast dir das nur eingebildet?“

„Es war Nacht und es hat in Strömen geregnet“, meinte Melody, „da kann so was schon mal vorkommen. Ist ja auch kein Wunder nach allem, was passiert ist. Seither habe ich jede Nacht Albträume.“

„Tut mir leid, ehrlich.“ Roddy blickte sie mitfühlend an. „Auch das, was mit dem alten Mr Clue passiert ist. Er konnte mich zwar nie besonders gut leiden und war mir ehrlich gesagt auch immer ein bisschen unheimlich, aber …“

„Nun hör aber auf!“, fiel Melody ihm ins Wort. „Mr Clue hat schließlich geholfen, dich aus der Hand dieser Fieslinge zu befreien. Ohne ihn wärst du vermutlich gar nicht mehr hier.“

„Auch wieder wahr“, musste Roddy zugeben und hielt für einen Moment an. Sie hatten die Hügelkuppe erreicht – von hier aus ging es fast nur noch bergab, dem Städtchen Lamlash entgegen. Dort befand sich die Arran High School, die Melody und Roddy besuchten. „Es ist kaum zu glauben, dass die Ferien schon zu Ende sind, was?“

„Kann man wohl sagen.“ Melody hielt ebenfalls an. „Und wir haben noch nicht mal was zusammen unternommen.“

„Ja, schade“, stimmte Roddy zu. „Die Zeit war einfach zu kurz. Sie hat grade ausgereicht, um Zombie Samba einmal komplett durchzuspielen und mit Gigaforce anzufangen. Da geht’s um Aliens, die die Erde angreifen.“

„Klingt spannend.“ Sie lächelte säuerlich.

„Und was hast du in den Ferien gemacht?“

„Gearbeitet“, erwiderte Melody – und das entsprach voll und ganz der Wahrheit. Da das Stone Inn ausgebucht gewesen war, hatte es jede Menge zu tun gegeben: Neue Gäste mussten in Empfang genommen und alte verabschiedet werden. Es musste Frühstück zubereitet und für die anderen Mahlzeiten gekocht werden. Natürlich mussten auch jeden Tag die Zimmer gereinigt und die Betten neu gemacht werden werden. Und auf jedem Tisch im Speisezimmer musste täglich ein frischer Blumenstrauß stehen. Zwar hatte Granny Fay wie versprochen jemanden als Hilfe angestellt, aber bei der vielen Arbeit war von Melodys Ferien trotzdem nicht allzu viel übrig geblieben.

Früher hatten Roddy und sie wenigstens noch Ausflüge an den Strand oder in die nahen Wälder unternommen, waren mit Roddys Segelboot gefahren oder hatten die keltischen Steinkreise erkundet. Doch seit Roddy seine Spielkonsole hatte, war er für solche Abenteuer nicht mehr zu haben. Vielleicht wurden sie ja auch langsam zu alt dafür …

„Und von Agravain hast du die ganzen Ferien über nichts gehört?“, wollte Roddy wissen.

„Nein.“ Melody blickte betreten zu Boden. „Die Leute vom Drachenorden dürfen auf keinen Fall erfahren, dass Agravain noch am Leben ist. Deshalb hält er sich versteckt – um sich und uns zu schützen. Mr Clue sagte, dass der Orden die Welt in ein Zeitalter der Dunkelheit stürzen will. Und Agravain spielt wohl eine Schlüsselrolle in diesem Plan.“

„Klingt nicht gut“, meinte Roddy beklommen.

„Solange sie Agravain für tot halten, besteht keine Gefahr. Aber wehe, sie finden die Wahrheit heraus.“

„Von mir erfahren sie garantiert nichts“, versicherte Roddy. „Das verspreche ich dir.“

„Ich weiß.“ Sie lächelte. „Es ist nur so, dass ich Agravain schrecklich vermisse. Er ist wie ein Teil von mir, weißt du.“

„Kann ich gut verstehen.“ Roddy schnitt eine Grimasse. „Mein Handy ist auch ein Teil von mir. Nicht auszudenken, wenn ich es verlieren würde!“

„Spinner“, raunte Melody ihm zu – und fuhr kurzerhand weiter. „Wer zuerst an der Schule ist, hat gewonnen!“

„He!“, rief Roddy ihr protestierend hinterher, während er seinerseits aufsprang und nach Kräften in die Pedale trat. „Das war ein Frühstart, das gilt nicht …!“

Melody lachte nur. Dicht über den Lenker ihres Fahrrads gebeugt schoss sie die Straße hinab. Der Fahrtwind zerzauste ihr das rote Haar. Sie genoss es, sich für einige Augenblicke frei und unbeschwert zu fühlen, fast wie auf Agravains Rücken … Dann tauchten auch schon die Gebäude der Schule vor ihnen auf.

Die Arran High School bestand aus mehreren flachen Gebäuden, die sich um einen Innenhof scharten. Für die Fahrräder gab es einen vergitterten Verschlag vor dem Schulgelände, in dem sich ein Rad an das nächste drängte. Melody und Roddy stellten ihre Bikes dort ab, dann schlugen sie den Weg zum Schulhof ein – vorbei an einem bunten Plakat, das jemand an die Mauer geklebt hatte.

„Ach du Scheiße!“, entfuhr es Roddy. Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Das Festival! Das hatte ich ja völlig vergessen!“

„Du Glücklicher!“ Melody verdrehte die Augen. „In der Lobby des Stone Inn hängt auch so ein Ding, das mich jeden Tag daran erinnert: ‚Willkommen zum Arran Celtic Festival, dem großen Fest der Traditionen!‘“

„,Traditionen‘ ist gut“, frotzelte Roddy. „Das Ding war schon altmodisch, als die Fernseher noch Röhren hatten. Jedes Jahr ist es dasselbe Theater: Die Jungs sehen in ihren karierten Röcken total bescheuert aus, und die Mädchen kommen in ihren Kleidern wie Elfen daher. Und wenn dann erst die Dudelsäcke rausgeholt werden, dann gute Nacht.“

„Ja“, stimmte Melody zu. „Und dieses blöde Rumgehopse erst.“

„Das nennt man Tanzen“, meinte Roddy grinsend.

„Dafür hab ich nicht die richtigen Stelzen.“ Melody blickte an sich herab auf ihre Füße, die in abgetragenen Chucks steckten. Über dem Schulpullover der Arran High trug sie wie immer ein Hemd aus kariertem Flanell.

„Ich auch nicht“, versicherte Roddy. „Andere Leute aber schon …“

Melody war klar, wen er meinte – natürlich niemand anderes als Ashley McLusky, die ungekrönte Königin nicht nur ihrer Klasse, sondern der ganzen Schule.

Ashley war die Tochter von Buford McLusky, dem vermutlich reichsten Mann auf der Insel. Sie war blond und langbeinig und bei den Jungs ungeheuer beliebt. Natürlich konnte sie auch super tanzen und zog beim Festival stets alle Blicke auf sich. Damit war Ashley so ziemlich das genaue Gegenteil von Melody. Und sie ließ keine Gelegenheit aus, Melody das auch spüren zu lassen.

Jemand wie Ashley kam natürlich auch nicht wie andere Leute zur Schule. Ein Chauffeur in Anzug und Mütze brachte sie jeden Tag in einem Mercedes. Gerade war es wieder so weit: Der Straßenkreuzer fuhr vor, und der Fahrer stieg aus, um Ashley die Tür zu öffnen. In seiner Uniform sah er so aus, als käme er von einer Beerdigung. Und Ashley schaffte es, an jedem einzelnen Tag so zu tun, als ginge es nicht ins Klassenzimmer, sondern auf den Laufsteg.

Wie immer stiegen Kimberley und Monique, ihre beiden Freundinnen, nach ihr aus dem Wagen. Die beiden sahen aus, als hätten sie bei einem Ashley-McLusky-Doppelgängerinnen-Wettbewerb den ersten Preis gewonnen. Sie waren genauso blond und langbeinig wie sie. Allerdings wusste jeder an der Schule, dass Kimberley bei ihrer Haarfarbe ein wenig nachgeholfen hatte …

Eines schien sich auch im neuen Schuljahr nicht zu ändern: Ashley brauchte nur zu erscheinen, schon war sie von bewundernden Blicken umgeben. Für gewöhnlich ließ sie dann ein paar herablassende Bemerkungen fallen oder machte sich über jemanden wegen seiner Kleidung lustig. An diesem Morgen jedoch kam sie geradewegs auf Melody und Roddy zu.

„Herrje, Monsteralarm“, murmelte Roddy, als Ashley heranstolzierte, ihre teure Designertasche in der Armbeuge. Schon am frühen Morgen trug sie eine Sonnenbrille mit riesigen Gläsern, die die Hälfte ihres Gesichts bedeckte. Die andere Hälfte war sonnengebräunt.

„Wen haben wir denn da?“, rief sie so laut, dass gleich noch weitere Schüler stehen blieben. „Das Traumpaar der Arran High ist wieder unterwegs: Melody Campbell und Roddy MacDonald!“

Melody und Roddy taten so, als hätten sie nichts gehört – aber so schnell ließ sich eine Ashley McLusky nicht abwimmeln. Ein paar Wochen lang hatte sie darauf verzichten müssen, die beiden zu schikanieren. Nun schien sie alles nachholen zu wollen.

„Hattet ihr auch so einen schönen Urlaub wie ich?“, fragte sie so laut, dass alle es hören konnten. Dann trat sie Melody und Roddy in den Weg. „Mein Vater hat mir drei Wochen auf den Bahamas spendiert, mit allem Drum und Dran. Kimberley und Monique waren natürlich auch dabei. Wir hatten jede Menge Fun, kann ich euch sagen.“

Monique und Kimberley grinsten wie Honigkuchenpferde. Melody gab etwas von sich, was wie ein Grunzen klang. Früher hatte sie sich von Ashley einschüchtern lassen, sich insgeheim sogar vor ihr gefürchtet. Aber das war vorbei. Wer einem Drachen ins Auge geblickt hatte, dem flößte Ashley McLusky keine Angst mehr ein.

Aber sie nervte. Und wie.

„Halt die Klappe, Ashley“, knurrte Melody nur.

„Wie war das?“ Ashley hob die Brille an. Sie trug schwarzen Eyeliner, ihre Lippen leuchteten pink. „Haben wir uns da nicht ein bisschen im Ton vergriffen, Campbell?“

„Bestimmt nicht“, versicherte Melody mit freudlosem Grinsen. „Das war genau der richtige Ton für dich.“

„Och!“ Ashley schnappte empört nach Luft. „Da kommt man in bester Absicht vorbei und will ein bisschen plauschen, und dann das. Ich hab’s nur gut gemeint!“

„Ja, Ashley – gut für dich“, konterte Melody. „Wie immer.“

Ashley ließ die Sonnenbrille wieder auf die Nase sinken und legte den Kopf schief – so leicht war sie nicht einzuschüchtern. „Schau an, ist das deine Masche fürs neue Schuljahr, Campbell?“, fragte sie. Ihre schlecht gespielte Freundlichkeit war verschwunden. „Versuchst du jetzt, das harte Mädchen zu spielen? Dann nur zu. Es wird nichts daran ändern, dass keiner von den Jungs dich leiden kann, von dem Frettchen da“, sie deutete abfällig auf Roddy, „mal abgesehen. Du bist ganz allein, Campbell, und das wird auch immer so bleiben. Ich dagegen habe viele Freunde, bin reich und beliebt und …“

„Bonjour, Melody.“

Ashley verschluckte sich fast, als plötzlich Colin Lefay um die Ecke kam. Colin war Franzose. Erst kurz vor den Ferien waren seine Mutter und er nach Arran gezogen, trotzdem kannte ihn jeder an der Schule. Die Jungs mochten ihn, weil er ein dribbelstarker Fußballer war, die Mädchen bewunderten ihn für sein gutes Aussehen. Colin war groß, schlank, dunkelhaarig und hatte blaue Augen, die sanft waren und zugleich geheimnisvoll. Und obendrein war er ein netter Kerl.

„Bonjour, Monsieur“, kratzte Ashley ihre wenigen Brocken Französisch zusammen, um bei ihm Eindruck zu schinden. „Ist das nicht ein wunderbarer Morgen?“

„Wohl kaum, die Schule fängt schließlich wieder an“, erwiderte Colin lächelnd. „Außerdem habe ich nicht mit dir gesprochen“, fügte er hinzu und drehte sich zu Melody um, wofür diese ihn am liebsten umarmt hätte. „Hallo“, sagte er.

„Hi.“ Sie hob eine Hand zum Gruß.

„Hattest du schöne Ferien?“, wollte Colin wissen.

„Klar, super“, antwortete Melody.

Roddy verdrehte die Augen.

„Bei mir war es auch sehr schön“, berichtete Colin. „Wir waren in Frankreich, die letzten Sachen abholen. Wir sind erst gestern wieder zurückgekommen.“

„Wie schön.“ Melody trat von einem Fuß auf den anderen. Hör auf damit, wies sie sich selbst zurecht. Das sieht aus, als müsstest du aufs Klo …

„Es gibt so viel zu erzählen“, meinte Colin. „Wollen wir uns drüben in der Eisdiele treffen? Heute Nachmittag?“

„Echt jetzt?“ Melody hob die Brauen. Hatte der beliebteste Junge der Schule sie tatsächlich gerade gefragt, ob sie mit ihm Eis essen gehen wollte?

„Natürlich“, versicherte er in seinem niedlichen französischen Akzent. „Hast du Lust?“

„Na klar“, versicherte Melody ein wenig lauter, als es hätte sein müssen. Ashley sollte sie ruhig hören. „Ich bin dabei.“

„Cool“, meinte Colin und schenkte ihr ein wunderbares Lächeln. Dann war er auch schon wieder verschwunden.

Ashley stand nur da, den Mund vor Staunen offen. Von dem Tag an, da Colin an die Schule gekommen war, hatte sie versucht, ihn für sich einzunehmen und zu einem Teil ihrer Clique zu machen – und er hatte ihr die kalte Schulter gezeigt. Dass er sich nun ausgerechnet mit Melody traf, war für sie wie ein Schlag ins Gesicht.

„Ja, Ashley? War noch was?“, fragte Melody.

Ashley gab ein Geräusch von sich, das an eine Dampflokomotive erinnerte. „Frankreich wird krass überschätzt“, schnarrte sie dann und stampfte davon, Monique und Kimberley im Schlepptau.

„Wow“, staunte Roddy nur. „Der hast du’s aber gegeben.“

„Ja“, sagte Melody zufrieden.

Es mochte keine gute Nacht gewesen sein.

Aber vielleicht würde das neue Schuljahr dafür umso besser.

„Und? Was haben Sie zu berichten?“

Malcolm Gant zuckte zusammen, als er die Stimme hörte. Sogar durch das Telefon hörte sie sich so schneidend und bedrohlich an, dass er eine Gänsehaut bekam.

„Nichts“, erwiderte er in der uralten Geheimsprache des Drachenordens. Selbst wenn das Gespräch abgefangen oder abgehört wurde, würde niemand in der Lage sein, die Worte zu verstehen. „Es gibt keine besonderen Vorkommnisse hier auf der Insel. Abgesehen davon, dass ich mir vergangene Nacht im strömenden Regen einen Schnupfen geholt habe.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, nieste er.

„Sie sind wirklich zu bedauern“, schnarrte die Stimme ohne jedes Mitleid. „Aber ich will, dass Sie weiter auf der Insel bleiben.“

„Ist das denn wirklich nötig?“ Kaum hatte Gant die Frage ausgesprochen, bedauerte er sie auch schon. Schließlich wollte er die Großmeisterin nicht verärgern …

„Und ob das nötig ist!“, schnappte die Anführerin des Drachenordens zurück. „Oder muss ich Sie erst daran erinnern, dass Sie etwas gutzumachen haben, Gant? Schließlich ist es allein Ihre Schuld, dass die Operation in Lochranza1 ein völliger Fehlschlag war.“

„Nein“, versicherte Gant kleinlaut, „das müssen Sie nicht, Großmeisterin.“

„Ich will, dass Sie auf der Insel bleiben und das Mädchen weiter beobachten.“

Gant spürte, wie es in seiner Nase kitzelte. Nur mit Mühe konnte er einen weiteren Nieser unterdrücken. „Sind Sie sicher?“, näselte er. „Der Greif ist tot. Er kann uns nicht mehr gefährlich werden.“

„Aber Melody Campbell ist noch da – und sie hat noch den Ring. Wie Sie wissen, ist ein Greifenring nicht einfach irgendein Schmuckstück. Er stellt eine Verbindung her, eine magische Verbindung zwischen Mensch und Greif.“

Gant holte geräuschvoll Luft. „Sie meinen …“

„Ganz recht. Durch den Ring besteht die Gefahr, dass das Mädchen von unserem Vorhaben erfährt.“

„Ich verstehe.“ Gant nickte. „Was soll ich also tun? Ihr den Ring abnehmen?“

„Und sie damit erst recht misstrauisch machen? Das sähe Ihnen ähnlich!“ Die Großmeisterin lachte bitter. „Nein, es gibt nur eine Möglichkeit – wir müssen Melody Campbell weiter überwachen. Und zwar aus der Nähe.“

„Wie soll ich das machen?“

„Nicht Sie … Wir werden dafür sorgen, dass Melody von ganz allein zu uns kommt.“

„Soll das ein Witz sein? Das Mädchen hasst uns!“

„Noch“, räumte die Großmeisterin ein. „Aber das wird sich schon bald ändern.“

„Sie haben einen Plan?“, fragte Gant.

„Allerdings – und dafür ist es notwendig, dass Sie sich Verbündete suchen. Wir werden Melody Campbell alles nehmen, was ihr etwas bedeutet. Den Greifen hat sie bereits verloren. Als Nächstes wird sie ihren besten Freund, den jungen Mr MacDonald verlieren, der ihr so viel bedeutet. Und dann ihre Großmutter. Wenn keiner mehr übrig ist, wird sie unsere Hand dankbar ergreifen.“

„Ein guter Plan!“, gab Gant bewundernd zu.

„Nicht wahr?“ Die Großmeisterin lachte leise. „Wir haben lange auf diesen Augenblick gewartet. Dieses Mal wird uns niemand aufhalten.“

Melody war froh, als der Unterricht zu Ende war.

Der erste Tag nach den Ferien war ihr immer ein bisschen länger vorgekommen als andere Schultage – doch heute hatte der Unterricht kein Ende nehmen wollen. Sie konnte das erlösende Gongsignal kaum erwarten. Mr Walsh hatte ihnen, Schulanfang hin oder her, gleich einen Haufen Hausaufgaben aufgebrummt. Noch immer schwirrte Melody der Kopf von all den Zahlen und Formeln.

„Wollen wir die Hausaufgaben zusammen machen?“, fragte Roddy, während sie mit ihren Fahrrädern über die Landzunge zurück nach Brodick fuhren. „Ich könnte dir helfen, falls dir der Durchblick fehlt.“

„Der fehlt mir ganz sicher“, meinte Melody. „Trotzdem geht es heute nicht. Ich bin doch heute Nachmittag mit Colin in der Eisdiele verabredet.“

„Mais oui, das ’abe isch ganz vergessen“, erwiderte Roddy und ahmte dabei Colins französischen Akzent nach. „Du ’ast ja ein Rendezvous mit Monsieur.“

„Das ist kein Rendezvous“, verbesserte Melody ihn leicht genervt. „Wir sind bloß … Freunde.“

„Aber … aber wir sind doch Freunde!“, wandte Roddy ein bisschen hilflos ein.

„Klar, sind wir“, versicherte Melody lächelnd. „Aber darf man nicht mehr Freunde haben als einen?“

„Na ja, doch … schon“, gab Roddy widerstrebend zu. „Aber Colin ist so … so …“

„So was?“, wollte Melody wissen.

„So perfekt!“, ächzte Roddy. „Er ist gut in der Schule, nicht nur in Mathe, sondern auch in Englisch, obwohl er doch Franzose ist. Außerdem spielt er Fußball wie Ronaldo …“

„… und sieht auch noch genauso gut aus“, fügte Melody lächelnd hinzu.

„Genau das meine ich“, versicherte Roddy. „Der Typ ist so was von geschniegelt, dass er eigentlich gar nicht echt sein kann.“

„Was denn?“ Sie hielt an und nahm die Füße von den Pedalen, um sich am Boden abzustützen. „Bist du etwa neidisch auf ihn?“

„Quatsch.“ Roddy schüttelte das wirre Haar. Seine Brille war von der Anstrengung halb beschlagen. „Aber warum sollte ein Typ, der so perfekt ist …“

„… sich ausgerechnet mit mir abgeben? Ist es das, was du denkst?“ Melody zog die Nase kraus. „Na, vielen Dank auch.“ Sie fuhr wieder weiter.