Gryphony 4: Der Fluch der Drachenritter - Michael Peinkofer - E-Book

Gryphony 4: Der Fluch der Drachenritter E-Book

Michael Peinkofer

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Band 4 der fesselnden Tierfantasy-Reihe von Bestseller-Autor Michael Peinkofer! Agravain und sein Weibchen bekommen Nachwuchs! Doch der Drachenorden entführt das Ei und will den kleinen Greif darin mit einem Fluch belegen. Agravain und Melody begeben sich auf eine gefährliche Rettungsmission in den hohen Norden … Folge dieser einzigartigen und fesselnden Reihe: Band 1: Im Bann des Greifen Band 2: Der Bund der Drachen Band 3: Die Rückkehr der Greife Band 4: Der Fluch der Drachenritter

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 238

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Als Ravensburger E-Book erschienen 2016Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHOriginalausgabe© 2016 Michael Peinkofer und Ravensburger Verlag GmbHDie Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.

Umschlag- und Innenillustrationen: Helge VogtLektorat: Iris Praël

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47753-1www.ravensburger.de

Inhalt

Prolog

Stürmische Höhen

Im Schlaf

Guter Rat

Hinter Gittern

Auf der Suche

Der Besucher

Trauriges Wiedersehen

Vorbereitungen

Die Schattenrune

Der Wahrheitsjäger

Das Auge des Greifen

Abschied

Aufbruch ins Ungewisse

Das fliegende Auge

Nachtflug

Ein Geständnis

Die Säulen der Welt

An der Grenze

Die magische Pforte

Wie ein Dieb in der Nacht

Amfortas

Mit knapper Not

Der Amethyst

Der sprechende Schatten

Alte Feinde

Die Zeit wird knapp

Die Erde bebt!

Auf der Flucht

Der Greifentöter

Bratpfanne!

Tiefer Fall

Schockierende Wahrheit

In Geiselhaft

Böses Erwachen

Greifenzauber

Ein neues Leben

Wer einmal lügt …

Das Testament

Epilog

Autoren

Prolog

Es war ein dunkler Ort.

Licht verirrte sich nur selten hierher, und wenn doch, wurde es von der kalten Schwärze verschluckt. Die Zeit schien stillzustehen, erstarrt unter namenlosem Schrecken.

Es war ein Hort der Finsternis.

Mancher, der versucht hatte, ihn zu betreten, hatte darüber den Verstand verloren. Andere hatten sich in den Nebeln des Vergessens verirrt, die ihn umgaben.

Die Frau in der Dunkelheit hatte sich weder verirrt noch war sie dem Wahnsinn verfallen. Doch zum ersten Mal in ihrem schon Jahrhunderte währenden Leben wünschte sich Morgana le Faye an einen anderen Ort.

Ihr schwarzes Gewand rauschte, als sie sich niederließ. Reglos auf dem Boden kauernd, verschmolz sie mit der Finsternis, als wäre sie ein Teil davon. Und als sie die Augen schloss, spürte sie eisige Kälte und abgrundtiefe Bosheit.

„Ich bin hier, Gebieter“, sagte sie und ihre Stimme hallte von den Wänden des Gewölbes wider. „Eure ergebene Dienerin ist aus der Welt der Sterblichen zurückgekehrt.“

Schweigen war die Antwort – ein Schweigen, das nicht weniger bedrückend war als die Kälte und die Finsternis.

„Sprecht zu mir, Gebieter“, verlangte Morgana leise. „Eure Dienerin ist zu Euch gekommen, um …“

„… um mir zu gestehen, dass sie versagt hat?“

Woher die Stimme kam, konnte Morgana im Dunkeln nicht feststellen. Sie war überall und nirgends, so tief wie ein Abgrund und so böse wie dieser Ort selbst.

„Gebieter“, war alles, was Morgana hervorbringen konnte.

Es war sinnlos zu leugnen. Die Augen ihres dunklen Gebieters waren überall, deshalb wusste er auch ganz genau, was vor nicht allzu langer Zeit geschehen war auf jener kleinen Insel vor der Küste Schottlands, die den Namen Arran trug …

„Nun?“, fragte er.

Morgana wusste, dass der entscheidende Augenblick gekommen war. Wie oft hatten andere vor ihr auf dem Boden gelegen und um Gnade gefleht. Nun war sie an der Reihe. „Wir … haben eine Niederlage erlitten, mein Gebieter“, gestand sie mit leiser, aber fester Stimme.

„Berichte, Morgana“, tönte es aus der Finsternis.

„Unser Plan, aus Greif und Drache ein neues Wesen namens Chimäre zu züchten, ist gescheitert.“

„Aus welchem Grund?“

„Verrat“, erwiderte Morgana leise.

„Verrat?“, hallte die Stimme des Meisters hämisch aus dem Dunkel. „War es nicht vielmehr so, dass ein Menschenmädchen deine hochtrabenden Pläne vereitelt hat? Dieses und der Greif, der es zu seiner Reiterin auserkoren hat?“

„Das Mädchen ist unbedeutend“, beeilte sich die Zauberin zu versichern. „Ein alter Feind ist zurückgekehrt. Ihn allein trifft die Schuld an unserer Niederlage.“

„Warum sprichst du seinen Namen nicht aus? Fürchtest du dich davor?“

„Nein, mein Gebieter“, erwiderte Morgana. „Aber dieser alte Feind bedient sich vieler Namen. Einst nannte er sich Myrddin, wie Ihr wisst. In der Gegenwart treibt er als Cassander Clue bei den Menschen sein Unwesen. Doch die Vergangenheit kennt ihn unter seinem alten, wahren Namen …“

„Merlin“, kam es unheimlich aus der Dunkelheit.

„Er hat dem Greifen zur Flucht verholfen und unsere Pläne vereitelt“, sagte Morgana hasserfüllt. „Mich trifft keine Schuld, Gebieter. Dass es so kommen würde, konnte ich nicht vorhersehen.“

„Es wäre nicht geschehen, wenn Merlin nicht in die Welt der Menschen entkommen wäre“, grollte es bedrohlich zurück. „Und das, Morgana, war sehr wohl deine Schuld.“

Die Zauberin sah, wie sich vor ihr etwas regte. Etwas, was riesig groß war und noch schwärzer als die Dunkelheit …

„Ich werde es wiedergutmachen“, beteuerte sie hastig.

„Wie?“, kam es zurück. „Die Greife sind entkommen, und du und dein Sohn, ihr wurdet beide aus der Welt der Menschen verbannt. Der Drachenorden ist zerschlagen, deine Anhänger haben sich in alle Winde zerstreut. Was also willst du noch tun? Das Spiel ist aus, Morgana, und für dein Versagen wirst du die gerechte Strafe erhalten!“

„Nein, Gebieter! Bitte nicht“, flehte die Zauberin. „Es … gibt noch Hoffnung“, flüsterte sie.

„Hoffnung? Worauf?“ Ihr Meister schnaubte wütend. „Erneut besiegt und gedemütigt zu werden?“

„Nein, Gebieter … Es gibt eine List, die uns doch noch zum Sieg verhelfen könnte.“

Eine endlos scheinende Pause entstand.

Die Zeit schien stillzustehen.

„Also gut“, drang es schließlich großmütig aus dem Dunkel „Was ist das für eine List?“

Morgana spürte, wie sich etwas Riesiges über sie beugte. Der entsetzliche Geruch des Todes schlug ihr entgegen. „Aber eines muss dir klar sein, Morgana le Faye: Das ist deine letzte Chance …“

Stürmische Höhen

Der Weg, der von der Küstenstraße zum Merkland Point hinaufführte, war steinig und steil. Aber wer durchhielt und mit seinem Fahrrad bis zu den Klippen fuhr, der wurde mit einer grandiosen Aussicht belohnt. Nicht nur die Bucht von Brodick konnte man überblicken und das Meer, in dem sich Robben und manchmal auch Wale tummelten; an klaren Tagen konnte man auch hinüber zum Festland sehen.

Und genau so ein Tag war heute.

Die Sonne fand immer wieder Lücken im blaugrau gefleckten Himmel und schmolz den letzten Schnee, der noch vom Winter übrig war. Und hier und dort spitzten auch schon die ersten bunten Blumen aus dem braunen Gras. Melody Campbell stieg vom Fahrrad und atmete tief die frische Luft ein, die endlich nicht mehr nach Eis und Kälte roch, sondern den würzigen Duft des Frühlings herantrug.

„Tut das gut!“, rief sie und sah sich nach ihrem Begleiter um, der noch immer damit beschäftigt war, auf seinem Drahtesel den steilen Weg heraufzustrampeln.

„Ja“, stöhnte Roddy. Er saß tief über den Lenker gebeugt, und sein Oberkörper pendelte hin und her, während er in die Pedale trat. „Tut echt gut … so was von …“

Melody musste lachen.

Roddy war ihr bester Freund. Sie waren praktisch zusammen aufgewachsen, denn genau wie Melody kam auch Roddy aus Brodick, dem kleinen Hafenstädtchen auf der schottischen Insel Arran. Roddys Eltern hatten eine kleine Zoohandlung in der Stadt und Melody lebte zusammen mit ihrer Großmutter im Stone Inn. Das Stone Inn war eine kleine Pension, die südlich der Stadt auf einer Landzunge lag. Touristen, die auf die Insel kamen, konnten dort übernachten und durften Granny Fays Kochkünste genießen – jedenfalls im Sommer. Den Winter über war es auf der Insel eher ruhig, aber jetzt mit den ersten Sonnenstrahlen würden auch die Besucher vom Festland wiederkommen.

Endlich hatte auch Roddy den Aussichtspunkt erreicht. Keuchend stieg er vom Rad und strich sein dunkles Haar zurück, das wieder mal wirr in alle Richtungen stand. Sein Gesicht war feuerrot und die Brille von der Anstrengung beschlagen.

„Mussten wir … ausgerechnet … hier rauffahren?“, fragte er, während er sein Fahrrad abstellte. Dann lud er den Rucksack ab. „Hätten wir … den Apfelkuchen deiner Oma … nicht auch daheim … essen können?“

„Klar“, gab Melody zu und ließ sich an einem der Picknicktische nieder, die am Aussichtspunkt aufgestellt waren. Sie streifte sich ein Gummiband vom Handgelenk, band damit ihr langes rotes Haar zurück und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. „Aber hier schmeckt er noch besser.“

„Wenn du meinst.“ Roddy schleppte den Rucksack heran und begann, den Inhalt auszupacken: eine Thermoskanne mit Tee, dazu zwei Becher und Teller sowie den Kuchen, den Granny Fay ihnen eingepackt hatte. Der ganze Rucksack roch nach Äpfeln und Zimt, einfach herrlich …

„Sag bloß, du wärst jetzt lieber zu Hause, um an deiner Spielkonsole zu zocken“, meinte Melody.

„Na ja“, meinte Roddy und schob seine Brille zurecht. „Ich war gerade dabei, das nächste Level zu schaffen …“

„Mister MacDonald!“, sagte Melody mit gespielter Strenge. Hatte Roddy etwa vergessen, was heute für ein Tag war? Warum, glaubte er, hatte Granny Fay extra Apfelkuchen gebacken?

„Schon gut“, beschwichtigte er. „War doch bloß Spaß. Obwohl …“

„Spinner“, sagte sie und beide mussten lachen.

„Weißt du noch, vor einem Jahr?“, meinte Melody, während sie den Blick über die blaugraue See schweifen ließ, die im Sonnenlicht glitzerte. Eine steife Brise wehte landeinwärts und blies ihr eine Haarsträhne ins Gesicht, die sich aus dem Pferdschwanz gelöst hatte. Möwen ließen sich vom Aufwind tragen und kreischten.

„Klar weiß ich das noch“, erwiderte Roddy. „Hat sich allerhand geändert seit damals, was?“

„Kann man wohl sagen.“ Melody nickte.

Nicht nur allerhand – nahezu alles hatte sich in den vergangenen zwölf Monaten geändert.

Das Stone Inn hatte damals kurz vor der Pleite gestanden. Melody und ihre Großmutter waren kurz davor gewesen, die Insel zu verlassen. Und in der Schule hatte eine üble Zicke namens Ashley McLusky Melody nach allen Regeln der Kunst gemobbt. Eigentlich war alles ziemlich furchtbar gewesen …

Bis Agravain aufgetaucht war.

Melody würde nie den Tag vergessen, an dem der kleine Greif aus dem Ei geschlüpft war, das sie mit Roddy am alten Steinkreis gefunden hatte.1 Denn von da an hatte sich alles geändert. Der Greif war unglaublich schnell gewachsen und sie hatten ihm den Namen Agravain gegeben. Zusammen mit dem geheimnisvollen Wesen hatten sie ein fantastisches Abenteuer erlebt. Denn sie waren nicht die Einzigen gewesen, die von der Existenz des Greifen wussten, und schon bald hatten sich die finsteren Schergen des Drachenordens an ihre Fersen geheftet. In einer alten Burgruine auf dem Festland war es zum letzten Kampf gekommen.2 Und Melody und Roddy hatten feststellen müssen, dass die Welt der Sagen und Märchen wirklich existierte.

Der Drachenorden war besiegt und sowohl Agravain als auch die Greifin Gwynneth waren gerettet worden. Die Schurken Malcolm Gant und Buford McLusky, der Vater von Melodys Erzfeindin Ashley, waren hinter Gitter gewandert, und auf der Insel war wieder Ruhe eingekehrt.

Doch begonnen hatte alles genau vor einem Jahr, als der alte Antiquitätenhändler Mr Clue Melody einen geheimnisvollen Ring gegeben hatte. Der Ring war ein Geschenk gewesen. Zu ihrem zwölften Geburtstag. In den Schmuckstein war die Kralle eines Greifen eingraviert. Auch jetzt noch trug sie ihn am Zeigefinger ihrer rechten Hand.

„Schmeckt gut“, meinte Roddy, der sich schon das zweite Stück Apfelkuchen genehmigte. „In Sachen Kuchenbacken macht deiner Granny so leicht keiner was vor.“

„Das stimmt.“ Melody nickte und nahm sich ebenfalls ein kleines Stück. Dazu nippte sie an ihrem Tee.

Sollte Roddy es wirklich vergessen haben …?

Der Wind wurde stärker. Melody blickte nach oben und beobachtete einen Kormoran. In dem einen Moment hatte er seine dunklen Flügel noch weit ausgebreitet, im nächsten legte er sie an und schoss an der fast senkrecht abfallenden Klippe in die Tiefe, um auf seine Beute hinabzustoßen. Unwillkürlich fühlte sich Melody an Agravains Flugkünste erinnert. Voller Wehmut dachte sie daran, wie sie auf seinem Rücken durch die Lüfte geflogen war.

Die Erinnerung machte Melody traurig, denn Agravain und sein Weibchen Gwynneth hatten Arran verlassen, und das war auch besser so. Auf den Säulen der Welt waren sie nun wenigstens in Sicherheit. Doch leider bedeutete das, dass Melody die beiden nie wiedersehen würde.

„Was hast du?“, fragte Roddy.

„Nichts“, sagte Melody und nahm sich zusammen. „Ich musste nur gerade an unsere Freunde denken.“

„Kann ich verstehen. Ich denke auch oft an sie, weißt du. Und vielleicht“, fügte Roddy hinzu, während er in seinem Rucksack kramte, „wird dich das hier ein bisschen trösten. Alles Gute zum Geburtstag, Melly!“, verkündete er strahlend und hielt Melody ein kleines Päckchen hin.

„Du … hast es also doch nicht vergessen!“, stammelte sie.

„Natürlich nicht! Du bist meine allerbeste Freundin!“

Er grinste breit, und sie beugte sich vor und umarmte ihn vor Freude. Agravain und Gwynneth mochten nicht mehr hier sein, aber dafür hatte sie Roddy und Granny Fay und Mr Clue.

„Für mich?“, fragte sie, auf das Päckchen deutend. Es war in buntes Papier gewickelt. Die Schleife saß ein bisschen schief, aber man konnte sehen, dass Roddy sich alle Mühe gegeben hatte.

„Yep“, bestätigte er stolz. „Selbst gemacht.“

Aufgeregt nahm Melody das Geschenk entgegen und wollte es öffnen – als ein Windstoß sie traf. Er war so heftig, dass es Melody für einen Moment den Atem verschlug.

Und das war noch nicht alles.

Mit einem Schrei sprang Melody auf und rang nach Luft. Ihr Herz pochte wie wild, und sie zitterte am ganzen Körper. Dass sie das Päckchen fallen ließ, fiel ihr noch nicht einmal auf.

„Was ist?“, fragte Roddy, der sie entsetzt ansah. „Was hast du?“

„I-ich weiß nicht“, erwiderte sie stammelnd, während sie sich verwirrt umblickte. „Da … da war etwas …“

„Ja“, bestätigte Roddy. „Der Wind.“

„Das war nicht nur der Wind.“ Melody schüttelte den Kopf. „Da war noch etwas anderes … Ich habe es gefühlt … Etwas, was ich schon lange nicht mehr …“

„Was, Melly?“ Roddy sah jetzt ernsthaft besorgt aus. „Was hast du gefühlt?“

Melody runzelte die Stirn. Sie horchte tief in sich hinein. Das Gefühl war vertraut gewesen und doch irgendwie fremdartig, so als gehörte es nicht zu einem Menschen. Es war stark gewesen, unglaublich stark …

Und plötzlich wurde es ihr klar.

„Agravain“, flüsterte sie.

Im Schlaf

Ihr Picknick hatte nicht lang gedauert.

Der heftige Ostwind hatte dafür gesorgt, dass sich die Wolken verdichteten. Bald war dann auch kräftiger Regen niedergegangen, der Melody und Roddy vom Aussichtspunkt vertrieben hatte. Melody hatte das nichts ausgemacht – sie hätte ohnehin keine Ruhe mehr gefunden.

Den Abend verbrachte sie damit, Granny Fay beim Sortieren von Rechnungen zu helfen. Obwohl diese Arbeit Konzentration erforderte, war Melody nicht mit den Gedanken dabei. Mehrfach lochte sie Blätter auf der falschen Seite oder brachte die Buchstaben des Alphabets durcheinander.

„Was ist denn heute los mit dir, Kindchen?“, erkundigte sich Granny Fay und sah Melody über die Ränder ihrer Lesebrille hinweg an. „Nur damit das klar ist – ich bin die Ältere von uns beiden. Wenn einer von uns zerstreut sein darf, dann bin ich das.“

„Ich weiß.“ Melody nickte. „Bitte entschuldige.“

„Aber nicht doch – ich muss mich entschuldigen. Rechnungen für die Steuererklärung zusammenzusuchen ist schließlich keine angemessene Beschäftigung für einen Geburtstag!“

„Nein, das ist völlig in Ordnung“, versicherte Melody. „Ich helfe dir doch gerne, Granny. Nur …“

„… nicht gerade heute“, brachte ihre Großmutter den Satz zu Ende und nickte entschieden. „Das kann ich gut verstehen. Warum bist du nicht mit Roddy zusammen?“

„War ich doch schon heute Nachmittag“, erwiderte sie. „Außerdem wollte er unbedingt nach Hause an seine Spielkonsole und den zweiten Teil von Zombie Samba zocken.“

„Und was ist mit den anderen Kids aus der Schule?“

„Kids?“ Melody hob die Brauen.

„Sagt ihr jungen Leute das denn nicht so?“

„Eigentlich nicht.“

„Na ja, du weißt, was ich meine. Seit diese schreckliche Pute Ashley McLusky nicht mehr an eurer Schule ist, ist doch alles viel besser geworden, oder nicht?“

Melody nickte – das stimmte allerdings. Nachdem Ashleys Vater ins Gefängnis gekommen war, war das McLusky-Anwesen verkauft worden. Ashley und ihre Mutter waren zu Verwandten aufs Festland gezogen. Ashleys Clique, die Melody so zu schaffen gemacht hatte, hatte sich daraufhin aufgelöst. Und sogar Monique und Kimberley, die früher immer als Ashleys Klone durch die Gegend gelaufen waren, wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben.

„Nur weil sie mir nicht mehr das Leben zur Hölle machen, heißt das nicht, dass ich mit ihnen meinen Geburtstag feiern möchte“, erklärte Melody.

„Und Colin?“, fragte Granny Fay.

Melody spürte einen Stich im Herzen.

„Was soll mit ihm sein?“

„Wäre es anders, wenn er noch hier wäre?“

„Nein“, sagte Melody rasch und entschieden. Es stimmte schon, dass Colin Lefay, der junge Franzose, der im vergangenen Jahr neu in ihre Klasse gekommen war, ihr außerordentlich gut gefallen hatte. Sie hatte sich sogar ein bisschen in ihn verguckt. Was Granny Fay nicht wusste, war, dass Colin in Wahrheit zum Drachenorden gehört und Melody die ganze Zeit über nur etwas vorgemacht hatte. Wie sollte Granny Fay das auch ahnen? Sie wusste ja nichts von Greifen und Drachen und von der schrecklichen Bedrohung, die über der Menschheit geschwebt hatte.

„Und doch ist es schade, dass er so mir nichts, dir nichts verschwunden ist“, meinte Granny und seufzte versonnen. „Er war so ein gut aussehender junger …“

„Wenn ich es mir recht überlege, bin ich doch schon ziemlich müde“, meinte Melody. Sie gähnte und streckte sich demonstrativ. „Ich glaube, ich gehe heute lieber zeitig zu Bett, damit ich morgen in der Schule gut ausgeruht bin.“

„Gut ausgeruht in der Schule?“ Granny Fays Blick wechselte von amüsiert zu prüfend.

„Warum nicht?“, meinte Melody achselzuckend, während sie sich erhob. „Schließlich bin ich ein Jahr älter und vernünftiger geworden, oder etwa nicht?“

„Das … stimmt wohl“, meinte ihre Omi verblüfft.

Melody umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die rosige Wange. Dabei sog sie den Duft von Pfefferminz und Lavendel ein, der ihre Granny stets umgab und den sie so an ihr liebte. Dann wünschte sie ihrer Großmutter eine gute Nacht und ging nach oben in ihr Zimmer.

In ihrem Inneren herrschte Chaos.

Nicht wegen Colin – dass Morgana le Fayes Sohn sie getäuscht und verraten hatte, ärgerte sie zwar noch immer, aber es tat nicht mehr weh. Die seltsame Begebenheit vom Nachmittag hingegen wollte ihr nicht aus dem Kopf.

Es war, als hätte der stürmische Ostwind ihr eine Botschaft von Agravain zugetragen. Doch es war eine Nachricht, deren Bedeutung sie nicht verstand. Sie war so beunruhigt. Dass sie mit Agravain keinen Kontakt aufnehmen konnte, brachte sie fast um den Verstand.

Beim Zähneputzen blickte ihr im Spiegel ein blasses, sommersprossiges Gesicht ratlos entgegen. Und als sie sich schließlich im Bett unter die Decke wühlte, war das seltsame Gefühl noch immer da. Melody lauschte dem Wind, der heulend um das Stone Inn strich, und dem Regen, der gegen das Fenster prasselte, und schlief irgendwann ein.

Als sie die Augen wieder aufschlug, erlebte sie eine Überraschung. Denn sie lag weder in ihrem Bett noch war sie in ihrem Zimmer. Stattdessen stand sie in ihrem Schlafanzug aus kariertem Flanell inmitten eines Kreises hoch aufragender Steine, über dem sich ein glitzerndes Sternenzelt spannte.

Melody erkannte den Ort sofort wieder: Es war der Steinkreis, der sich unweit des Stone Inn am Waldrand befand – eine Hinterlassenschaft aus grauer Vorzeit. Schon die keltischen Druiden hatten hier ihre Rituale abgehalten. Und dies war auch der Ort, an dem Melody das Ei gefunden hatte, aus dem später Agravain geschlüpft war.

„Melody?“

Als sie die Stimme des Greifen in ihrem Kopf hörte, fuhr Melody unwillkürlich herum.

Da stand er. Der Anblick seiner majestätischen Gestalt verschlug ihr für einen Moment die Sprache. Agravain war nicht mehr gewachsen seit ihrer letzten Begegnung. Trotzdem wirkte er eindrucksvoller und Ehrfurcht gebietender als je zuvor. Die Schwingen hatte er eng an seinen Körper gelegt, das Haupt mit dem furchterregenden Schnabel war hoch erhoben. Aus seinen Augen jedoch sprachen Freundschaft und Zuneigung.

„Agravain!“

Melody konnte nicht anders, als die Arme um seinen Hals zu schlingen und sich an das weiche Gefieder zu schmiegen. Der Greif senkte den Kopf und gab ein leises, freundliches Gurren von sich.

„Hallo, Melly.“

„Wie … wie ist das möglich?“, fragte Melody. Sie löste sich von ihm, trat einen Schritt zurück und sah ihn staunend an. „Wie kannst du plötzlich hier sein?“, fügte sie hinzu. „Und wie komme ich überhaupt hierher? Bin ich etwa schlafgewandelt oder so was?“

„Keine Sorge“, versicherte er. „Du bist nicht wirklich hier. Ebenso wenig wie ich. Es ist …“

„… Greifenzauber“, sagte sie.

Agravain nickte. Melody war seine Reiterin und ihre Seelen waren miteinander verbunden. So wie jetzt waren sie einander allerdings noch nie begegnet – gewissermaßen im Schlaf …

„Verzeih, liebe Freundin, ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Hast du nicht“, versicherte sie lächelnd. „Ich bin froh, dich zu sehen.“

„Ich bin auch froh, dich zu sehen – und doch wünschte ich, es müsste nicht sein.“

„Wieso? Was ist?“ Melody fühlte Furcht in sich aufsteigen. Plötzlich dachte sie wieder an den zurückliegenden Nachmittag, an die unheilvolle Ahnung, die der Wind herangetragen hatte.

„Gwynneth“, sagte Agravain nur.

„Was ist mit ihr?“, fragte Melody erschrocken. „Geht es deiner Gefährtin nicht gut?“

„Ein neues Leben ist in ihr erwacht“, erwiderte der Greif.

„Sie …?“ Melody brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. „Ihr bekommt ein Baby?“

„Ein Ei“, verbesserte Agravain nickend.

„Natürlich, entschuldige. Aber das … das ist ja großartig!“, rief Melody und wollte den Freund abermals umarmen. Doch seltsamerweise schien sich Agravain keineswegs zu freuen.

„Das sind doch gute Nachrichten, oder?“, fragte sie verunsichert.

„Ja und nein“, gab der Greif zu, und in diesem Moment konnte sie ganz deutlich spüren, was er empfand. Es war dasselbe Gefühl, das sie auch schon am Nachmittag verspürt hatte, als der Windstoß sie getroffen hatte. Nur dass es diesmal noch sehr viel heftiger war.

Agravain hatte Angst!

„Was ist los?“, fragte Melody einfühlsam und streckte die Hand aus, um Agravain sanft zu streicheln.

„Irgendetwas stimmt nicht“, erwiderte der Greif ernst.

„Mit Gwynny und dem Baby?“, fragte Melody. „Ich meine, mit dem Ei“, verbesserte sie sich rasch. Das alles war ein bisschen verwirrend …

„Auch“, antwortete Agravain. „Aber das allein ist es nicht. Es droht Gefahr, Melody. Uns allen: Gwynneth und mir – und auch euch Menschen.“

„Wie kann das sein?“ Melody legte die Stirn in Falten.

„Ich weiß es nicht.“

„Aber du bist dir ganz sicher?“

„Allerdings, liebe Freundin“, erwiderte Agravain. Er senkte das Haupt und sah Melody durchdringend an.

„Verzeih“, sagte sie. „Das war eine blöde Frage. Natürlich bist du dir sicher, sonst wärst du ja nicht hier.“

„Ich bin nicht hier“, erinnerte sie Agravain.

„Du weißt, was ich meine.“ Melody lächelte schwach. „Aber wie kann etwas mit eurem Baby … Ei … nicht in Ordnung sein? Und warum sind wir alle davon bedroht?“

„Ich kann es dir nicht sagen, Melly. Aber ich spüre ganz deutlich die Gefahr. Wie damals …“

„Wie damals?“ Sie blickte ihn erschrocken an. „Du meinst … als der Drachenorden uns bedrohte?“

Agravain nickte traurig. „Ich weiß, das ergibt keinen Sinn, aber …“ Er verstummte plötzlich, als ein furchtbarer Schrei zu hören war, der Melody durch Mark und Bein ging.

„Was war das?“, fragte sie erschrocken.

„Das war Gwynneth“, entgegnete der Greif leise.

„So schlimm steht es um sie?“

Der Schrei wiederholte sich, voller Schmerz und panischer Angst.

„Ich muss gehen“, sagte Agravain. „Sie braucht mich.“

„Das verstehe ich“, versicherte Melody. „Ich …“

Sie konnte den Satz nicht mehr zu Ende bringen – denn im nächsten Moment erwachte sie.

Jetzt war sie nicht mehr in dem alten Steinkreis, sondern zu Hause in ihrem Zimmer und saß aufrecht im Bett. Mondlicht fiel durch das Fenster der Dachkammer und warf dunkle Schatten.

Melodys Herz klopfte wie verrückt, Schweißperlen standen ihr auf der Stirn wie nach einem schlimmen Albtraum. War das die Antwort? Hatte sie alles nur geträumt, weil dieser Windstoß am Vortag sie so beunruhigt hatte?

Nein, ein Traum fühlte sich anders an und roch auch nicht. Melody jedoch hatte noch immer den Duft des Waldes in der Nase und sie konnte noch immer Agravains seidenweiches Gefieder an ihrer Wange spüren. Auch Gwynneths Schmerzensschreie gellten ihr noch immer in den Ohren.

Es war mehr als ein Traum gewesen, nämlich eine Botschaft, die Agravain ihr zukommen ließ, ein Hilferuf – und es gab nur eine einzige Person, die helfen konnte.

Guter Rat

„Ein Hilferuf?“

Mr Clues graue Augen sahen Melody fragend an. Sein von weißem Haar umrahmtes Gesicht legte sich in Falten. Wie immer kam sie sich ganz klein vor, wenn der große, dürre Mann auf sie herabblickte. Statt seines schäbigen alten Hausmantels trug er heute einen nagelneuen aus dunkelgrünem Samt mit kariertem Futter: ein Geschenk von Granny Fay als Dankeschön für seine Hilfe im vergangenen Jahr.

Melody nickte. „Ich fürchte schon.“

„Seltsam.“ Mr Clue rieb sich das Kinn und schien angestrengt nachzudenken, während er auf und ab ging. Die uralten Dielen knarrten unter seinen Füßen. „Ich habe davon gehört, dass Greifen ihre Reiter auch über größere Entfernungen hinweg erreichen können – aber das ist wirklich erstaunlich. Agravain muss noch sehr viel stärker geworden sein seit eurer letzten Begegnung.“

„Ganz bestimmt“, versicherte Melody. „Und doch scheint ihm etwas große Angst zu machen.“

„Hm“, machte Mr Clue und ging weiter auf und ab, quer durch seinen mit echten und weniger echten Antiquitäten vollgestopften Laden. Von einer originalen Ritterrüstung über T-Shirts mit Inselmotiven bis hin zu einer Streitaxt, die angeblich dem schottischen Nationalhelden William Wallace gehört hatte, konnte man hier alles kaufen. Dazu gab es uralte Bücher, Scherben von Ausgrabungen, in Alkohol eingelegte Schlangen und noch unzählige andere Dinge, die dem Namen Clue’s Kuriositäten, der draußen über dem Eingang stand, alle Ehre machten. Wegen dieses Sammelsuriums dachten die Leute, dass Mr Clue ein ziemlich verschrobener alter Kauz sei. Manche behaupteten sogar, dass bei ihm ein paar Schrauben locker seien. Melody hatte schon früh herausgefunden, dass das nicht stimmte – die Wahrheit über Mr Clue allerdings hatte auch sie überrascht …

„Ich habe Agravain noch nie zuvor so furchtsam erlebt“, sagte sie leise. „Noch nicht einmal, als er sich dem Drachen zum Kampf stellte.“

„Das wundert mich nicht.“ Mr Clue blieb stehen und sandte ihr einen vielsagenden Blick. „Agravain wird Vater – und Eltern zu werden verändert alles. Auch du wirst das eines Tages merken, wenn du Kinder hast.“

„Ich? Kinder?“ Melody hätte beinahe laut gelacht. Der Gedanke war seltsam und fremd.

„Agravains Nachkomme wird der erste einer neuen Generation von Greifen sein. Der Beginn einer neuen Dynastie, nachdem diese wunderbaren Wesen schon so gut wie ausgestorben waren. Schon aus diesem Grund muss der kleine Greif wohlbehalten das Licht der Welt erblicken.“

„Kennen Sie sich denn aus mit Greifenbabys?“, fragte Melody. „Ich meine, waren Sie schon einmal dabei, als eins auf die Welt kam?“

„Ich wünschte, es wäre so.“ Mr Clue seufzte. „Ich fürchte, mit kleinen Greifen kennst du dich sehr viel besser aus als ich. Aber das ist nicht unser Problem. Es ist das Ei, über das ich mir den Kopf zerbreche. Irgendetwas scheint nicht damit zu stimmen, wenn es Gwynneth solche Schmerzen bereitet.“

„Was bedeutet das?“, fragte Melody besorgt. „Ist das Baby … ich meine, das Ei … irgendwie krank?“

„Es wäre möglich.“ Mr Clue nickte. „Um das zu beurteilen, müsste ich Gwynneth sehen – und das Ei.“

„Dann soll ich Agravain sagen, dass sie hierherkommen müssen?“, fragte Melody. Obwohl der Anlass ernst war, ertappte sie sich dabei, dass sie sich freute. Wie wunderbar es sein würde, die Greife wieder leibhaftig vor sich zu sehen!

Mr Clue nickte nachdenklich. „Mir ist klar, dass wir sie dadurch großer Gefahr aussetzen. Gwynneth ist geschwächt und die Reise ist lang. Zudem könnten sie unterwegs entdeckt werden – aber ich fürchte, es bleibt uns keine Wahl. Denn hier sind alle meine Bücher. Sie enthalten das geheime Wissen vergangener Zeiten – auch über Greife. Mit etwas Glück finden wir darin ein Mittel, um Gwynneth zu helfen.“

„Das wäre wunderbar.“ Melody atmete erleichtert auf. „Ich wusste, dass wir auf Sie zählen können, Mr Clue.“

„Freu dich nicht zu früh“, warnte der Alte. „Noch wissen wir nicht, womit wir es zu tun haben. Aber ich werde alles daransetzen, diesen wunderbaren Geschöpfen zu helfen.“

„Das weiß ich“, versicherte Melody. „Danke, Mr Clue.“

„Schon gut.“ Er warf einen Blick auf die alte Pendeluhr, die an der Wand stand und träge vor sich hin tickte. „Schon nach acht“, stellte er fest. „Solltest du nicht in der Schule sein?“

„Stimmt“, gestand Melody. „Aber die Greife sind wichtiger. Außerdem haben wir eh nur Biologie bei Mr Freefiddle. Der merkt es vermutlich nicht mal, wenn ich fehle. Und wenn doch, lässt sich Roddy sicher eine Entschuldigung für mich einfallen.“

„Der gute Mr MacDonald“, meinte Mr Clue schmunzelnd. „Hast du ihn ebenfalls eingeweiht?“

Melody nickte.

„Gut so.“ Mr. Clue nickte. „Er muss mir helfen. Und du auch, Melody.“

„Kein Problem“, versicherte sie. „Und wobei genau?“

„Kommt nach der Schule zu mir, dann werde ich es euch zeigen. Wir müssen meine Bibliothek durchforsten. Auch die kleinste Information über Greife könnte hilfreich sein.“

„Ihre Bibliothek?“, fragte Melody und deutete auf die Regale mit alten Folianten, die im hinteren Bereich des Ladens standen. „So viele Bücher sind das doch gar nicht, da sind wir im Handumdrehen durch.“