Gulligold - Serienmorde in Münster - Michael Wächter - E-Book
SONDERANGEBOT

Gulligold - Serienmorde in Münster E-Book

Michael Wächter

0,0
3,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tim Titus Tenfelde ist Psychotherapeut. Er weiß viel über die Seele. Er hilft den Opfern von Gewalttaten und Verbrechen und ihren Angehörigen. Eines Tages entdeckt er eine Notiz seines Patienten Haferkamp. Sie ist absolut beunruhigend. Alarmierend. Es geht um GOLD. Und um einen Mord. Ein Mensch in Münster veschwindet spurlos. Dann noch einer. Ist Haferkamp der Täter in diesen Mordfällen ohne Leiche? Eine hektische Spurensuche beginnt - in der Psyche des Patienten sowie im realen Leben. Die Kripo Münster sucht mit. Dann das LKA. Und sogar Interpol. Ein dramatisches Wettrennen beginnt. Quer durch Deutschland. Mit völlig unvorhersehbarem Ausgang. Kann das Morden im Norden gestoppt werden?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 339

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michael Wächter

Gulligold - Serienmorde in Münster

Ein Westfalen-Ostfriesland-Krimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Cover

Impressum

Die Figuren:

Teil 2

Teil 3

Teil 4

Teil 5

Anhang

Impressum neobooks

Cover

Michael Wächter

Gulligold

Serienmorde in Münster

Ein Westfalen-Ostfriesland-Krimi

Impressum

Impressum

Texte: © 2021 Copyright by Michael Wächter

Umschlag: © 2021 Copyright by Michael Wächter

Verantwortlich

für den Inhalt: Michael Wächter

Borsigweg 21a

48153 Münster

[email protected]

Druck der Printversion: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Die Figuren:

Teil 1

Die Figuren in diesem Roman:

ER ist in diesem Krimi der Mörder – doch seinen Namen erfahren wir erst später …

SIE ist Marlies Mühlmann, und sie hat ein Problem: Sie hat Pech und ist das Opfer. Sie weiß, wer der Mörder ist – doch sie kann es uns leider nicht mehr verraten …

ICH bin Titus Tim Tenfelde, Therapeut in Münster. Ich weiß daher viel über das Warum hinter solchen Gewalttaten – doch ich denke auch, ich weiß, wer es war.

Martin Heveling muss von Berufs wegen herausfinden, wer es war: Er ist der ermittelnde Kommissar, aber er weiß natürlich nicht sofort, wer es war oder warum.

Hans Haferkamp ist mein Patient und Physiklehrer. Er ist das Opfer eines Diebes: Ein „Wirtschaftsberater“ im Nadelstreifenanzug hat seine Alterssicherung ergaunert.

Weitere Rollen spielen:

Erich Ether, Chemiker am Landesuntersuchungsamt (Er untersucht von Amts wegen Brötchen, Schweine und andere Lebensmittelproben, und manchmal auch Moni Mongold, seine Kollegin),

Helga Hülk, meine Sekretärin (Sie dirigiert meine Praxis mit Büro-Kompetenz und Herzenswärme),

Dieter Determann, Haferkamps Chef (als Schulleiter Musterknabe und Liebling von Bezirksregierung – denkt er),

Hermann E. Petermann, ein „legal“ arbeitender „Wirtschaftsberater“ (oder Dieb im Nadelstreifenanzug?)

Meier-zu-Brokenhoff, Hevelings Chef, sowie Mike Rohsoft und weitere Kolleg/inn/en von der Kripo Münster, der KTU und von der Gerichtsmedizin)

und ein paar weitere Originale aus dem Münsterland und Ostfriesland.

Teil 1

Der Mörder kam, als die Anderen schon ans Gehen dachten. Er kam auch nicht heimlich, auf leisen Sohlen. Er kam, ganz offen sichtbar, per Fahrrad den Dortmund-Ems-Kanal lang. Er unterquerte die Umgehungsstraßen-Brücke über den Kanal, gegenüber vom großen Futtermittelbetrieb, dessen künstlerisch verzierte Getreide-Silos in den Abendhimmel Münsters ragten. Er fuhr zum Betriebseingang der Gießerei herüber, stellte sein Fahrrad an den Straßenrand, streifte den blauen Rucksack mit der Thermoskanne und zwei Plastiktüten ab und betrat, für alle gut sichtbar, die heiße Halle der Gießerei, um seinen Plan eiskalt zu beenden.

„Hey, Tom!“, rief er laut vernehmlich in die Halle und stempelte an der Stechuhr seine Karte ab.

Tom, der Gießer am Ofen, drehte sich um und hob die Hand im Thermo-Handschuh.

„Hey!“, rief er zurück. „Gut, dass du kommst! Wir müssen noch eine Ladung Gullideckel fertiggießen!“

Toms Ruf ging in diesem Moment fast im Lärm unter. Eine neue Brennstoffladung war in das Ofenfeuer gepackt worden und die Stichflamme schoss in diesem Moment aus der offenen Ofentür.

Tom, dem die Feuerhitze dank der Schutzkleidung kaum etwas ausmachte, drehte sich routiniert wieder um, versah cool die Tür des fast glühenden Schmelzofens mit einem kräftigen Stoß mit der großen Eisenzange, und diese fiel mit einem lauten Krachen zu.

Der Mörder ging in die Umkleidekabine hinüber, stellte seinen blauen Rucksack in den roten Spind Nummer 14 und streifte sich Feuerschutzanzug und Thermohandschuhe über.

„Den Guss übernehm’ ich schon!“, beruhigte er seinen Kollegen Tom, als er zum Schmelzofen hinübertrat.

„Geil!“, meinte Tom und reichte ihm die Eisenzange. „40 Stück – für’s Straßenbauamt Münster! Bist echt ‘ne hilfreiche Hilfskraft. Da kann ich ja jetzt Feierabend machen – meine Alte wartet sicher schon! Tschüß!“

„Herzliches Beileid!“, meinte sein Kollege schmunzelnd. Er klopfte Tom auf die Schulter, und schon war Tom im Umkleideraum, sich der Schutzklamotten entledigen. „Der heißeste Arbeitsplatz Münsters“, hatte die Tageszeitung einmal einen Bericht über die Gießerei am Kanal betitelt – und tatsächlich war es Tom bald kalt, als er in den noch rund 25 Grad warmen Sommerabend hinausging und die Gießerei Klebholz kurz darauf mit seinem Sportwagen hinter sich ließ. Seine Sabine wollte er tatsächlich nicht länger in Kinderhaus warten lassen.

Der Aushilfsschmelzer betrachtete Toms Werk durch das Sichtfenster von Ofen Eins. Die neue, automatische Sauerstoffzufuhr durch das Hinterhof-Rohr funktionierte bestens. Unter den Flammen, orange leuchtend, waberte das zähflüssige Gusseisen und wartete darauf, dass der Ofen angestochen wird. Er kontrollierte noch einmal die Bimsstein-Kanäle und Gussformen am Bodenofen, griff dann zum Stecheisen und stach die Ausgussöffnung an. Leicht spritzend ergoss sich die glühende Metallschmelze über die alten Abflusskanäle in die gereinigten Gullideckel-Gussformen. Über Nacht sollte sie abkühlen und Tom würde sie in der nächsten Schicht aus den Formen hebeln und mit dem Gabelstapler verladen – zur Gullideckellieferung frei Haus.

Dann sah er sich um. Tom und Luigi waren die Letzten, die noch am Ofen gewesen waren. Jetzt, eine halbe Stunde nach Feierabend, war die Gießerei bis auf die Spätschicht leer. Spätschicht, das waren heute Mark und er. Mark, sein Schichtpartner, war jedoch krankgemeldet, und er – wie das in einem Kleinbetrieb so läuft, musste seinen Job dann halt mitmachen. Keiner wusste, dass er am Zechabend zuvor seinem Kollegen Mark ein Mittelchen in das Bier gegeben hatte. Klar, dass Mark nun krank war – der Plan ging auf. Nun konnte er Marks Job mitmachen. In diesem Fall hieß das: Neben Ofen Nummer Eins auch Schmelzofen Zwei anstechen. Er war ungestört. Also schloss er die Ofenöffnung wieder. Dann ging er zum zweiten Schmelzofen hinüber. Dort kontrollierte er den nun beendeten Schmelzprozess durch das Sichtfenster. Anschließend sah er sich in der heißen Gießerei-Halle nochmals um. Er durchquerte sie und lief, als er sich vergewissert hatte, dass die Luft nun rein war, hastig zum Umkleideraum. Er öffnete seinen Spind, nahm eine Plastiktüte aus dem Rucksack, packte Rucksack und Plastiktüte mit links, schloss den Spind wieder mit rechts und eilte mit Plastiktüte und Rucksack zum zweiten Ofen.

Die Eisenzange half ihm, die Ofentür zu entriegeln. Laut quietschend krachte sie auf. Funken flogen. Die Stichflamme schoss die Ofenwand hoch. Seine Hand zitterte. Er bückte sich, griff die neben ihm liegenden Teile und wollte Rucksack und Plastiktüte in hohem Bogen in den Ofen werfen. Die Tüte jedoch entglitt ihm im Wurf aus den Fingern. Ihr Inhalt war noch nicht aufgetaut, und als seine durch die Nähe des Ofens erwärmte Hand die Tüte griff, rutschte sie an der kondensierten Luftfeuchtigkeit ab, während der Rucksack zischend in den Flammen verschwand.

„Verdammter Mist!“, fluchte er, als er die Tüte auf den Boden fallen sah. „So eine gequirlte Hundekacke!“, schob er erregt hinterher. Er fing sich, griff die Tüte und wollte sie erneut in den Ofen schleudern, da riss sie auf und der Kopf der Leiche rollte über den Boden. Er packte ihn an den Haaren und schwang ihn, einem perversen Basketballspiel gleich, in den offenen Schmelzofen – die Plastiktüte mit Hilfe einer Eisenstange hinterher.

Bloß keine Spuren hinterlassen!, schoss es ihm durch den Kopf. Eisenstange und Thermohandschuhe hatten Kontakt mit dem abgetrennten Kopf gehabt – auch sie mussten in den Ofen. Dann kontrollierte er den Hallenboden, dort wo der Kopf seines Opfers auf den Boden aufgeschlagen war. Er sah so genau hin, wie er in der Eile konnte. Haare, Schuppen oder Ähnliches sah er nicht – auch keine Blutstropfen. Gut, dass der noch tiefgekühlt war!, dachte er. Dann nahm er etwas Löschsand, verstreute ihn an der Stelle, wo der Kopf gelegen hatte, fegte ihn wieder auf und entsorgte auch ihn im Ofen. Mit einem Ruck schloss er die Ofentür, griff zum Stechrohr und entließ, nach einer Kontrolle der Ablaufbahnen und Gussformen, die Gusseisenschmelze aus dem Schmelzofen. Restlos hatte sie den noch tiefgekühlten Kopf in sich aufgenommen. Ein puffendes Zischen, als der Schädel im Ofen durch den Dampfdruck aufsiedender Hirnflüssigkeit platzte, eine Wolke von Wasserdampf, eine Stichflamme – und Kopf, Tüte, Stange und Thermohandschuhe waren Geschichte.

Ein großes Gefühl von Genugtuung und Entspannung durchströmte ihn, als er die Metallschmelze in die Gussformen fließen sah. Wie glühend heiße Lava floss sie durch die Formteile, legte sich in die Ritzen und füllte sie aus. Nun hatte er auch das letzte Leichenteil entsorgt – planmäßig und spurenlos wie alle anderen zuvor: Zerkleinert mit Hilfe entsprechender Werkzeuge in der Wanne daheim, verpackt in Plastiktüten und in der Tiefkühltruhe deponiert, Werkzeug und Wanne ausgewaschen mit Wasserstoffperoxid und danach monatelang jeweils die Werkzeug- und Leichenteile portionsweise in und nach der jeweiligen Spätschicht im Schmelzofen vernichtet.

Ein Triumphgefühl mischte sich in seinen Ozean aus entspannter Genugtuung, und ein stolzes Lächeln überzog sein Gesicht. Dich wird niemand wieder finden!, jubelte er innerlich. Perfekt entsorgt!

Er setzte sich die Mineralwasserflasche an den Hals, wie er es in vielen, heißen Schichten getan hatte. Er leerte die noch halbvolle Flasche in einem Zug, und es kam ihm dieses Mal vor, als sei es das köstlichste, kühlste, würzigste Mineralwasser, dass er je getrunken hatte. Dieses Miststück hatte ihm so viel weggenommen, sein Leben gleich zwei Mal zerstört – jetzt war es dafür endgültig komplett vernichtet worden, verglüht in der höllischen Hitze des Klebholz-Schmelzofens. Und das frisch geschmolzene Gusseisen ruhte in den Gussformen des Hallenbodens, erkaltend in der Form stadtüblicher Gullideckel der Gießerei. Alles war gut, alles wieder im Lot.

Tief befriedigt fuhr er die Heizleistung der beiden Öfen hinunter, beendete seine Schicht, legte eine Ersatz-Eisenstange für die nächste Frühschicht bereit und den verkohlten Rest eines Thermohandschuhs neben eine der Gussformen. Es würde für die Anderen aussehen, als habe er wieder einmal einen Thermohandschuh liegen lassen an der Gussform, den die Metallschmelze dann angesengt und fast verschluckt hat.

Er zog sich um, bestieg sein Fahrrad und verließ die Gießerei in Richtung Kanal. Genüsslich langsam fuhr er den Betriebsweg am Kanal entlang. Die Sonne verschwand hinter den Getreidesilos der Tierfuttermittel-Fabrik an der Umgehungsstraßenbrücke, und einige hundert Meter weiter schienen die Pflasterstein-Stapel der benachbarten Betonwerke sich vor dem dunklen, nur noch schwach orangenen Himmel Gute Nacht sagen zu wollen.

Er wollte es perfekt machen, das Verwischen der Spuren. Der Schmelzofen war sein Hilfsmittel, sein Freund gewesen, denn er hatte ihn jahrelang kennengelernt, seine Tücken und Macken, seine Vorzüge und Stärken. Und seinen Job würde er nun – nach einigen Wochen vorgetäuschter Krankheit – kündigen, kurz eine weitere, neue Wohnung beziehen (vielleicht waren ja doch noch Reste in der Wanne – ein Umzug konnte da nur vorteilhaft sein), und dann würde er seine Zelte in Münster endgültig abbrechen und ein neues Leben anfangen, mit einer neuen Beschäftigung, in einem neuen Umfeld. In Münster hielt ihn nichts mehr, nichts Verdächtiges konnte mehr auf ihn hinweisen.

„Garnichts?“, fragte er sich plötzlich erschrocken, als er, den Kanal entlangradelnd, am Feuerwehr-Ausbildungszentrum entlangkam. Da fiel ihm plötzlich siedend heiß sein Fahrrad ein, so, als hätte man ihm kochendes Wasser über die Schultern gegossen. Hatte die Tüte nicht, bevor er sie in den Rucksack gestopft hatte, kurz am Lenkrad gehangen? Konnte es daher nicht auch noch Leichenspuren am Lenker geben?

„Verdammter Mist!“, fluchte er erneut, und Gequirlte Hundekacke – die Leeze!, schoss ihm durchs Gehirn, zusammen mit dem Entschluss, sicherheitshalber auch das Fahrrad zu entsorgen. Er hielt an, packte das Rad an der Stange unter dem Sattel und wollte es in hohem Bogen in den Kanal werfen, als er in der Drehbewegung plötzlich mit einem älteren Herrn zusammenstieß, der mit einer oder auch seiner Frau dort spazieren ging.

„Hallo!“, protestierte der Mann, „passen sie doch gefälligst auf!“

Das Paar war stehen geblieben und sah ihn entrüstet an.

„Entschuldigung!“, sagte Elmar kleinlaut, „Ich habe sie übersehen!“

„Allerdings!“, entgegnete der wütende Spaziergänger im Weitergehen. „Unmöglich, sowas hier zu entsorgen.“

Genervt setzten die Beiden ihren Abendspaziergang fort.

Er holte einmal tief Luft, packte die Leeze, wie man in Münster die Fahrräder nennt, erneut und warf sie, wie vorgesehen, in den Kanal. Das Paar war schon ein paar Schritte weitergegangen. Die Frau hatte sich nocheinmal umgedreht, den Fahrradwurf bemerkt und dem Mann mitgeteilt. Kopfschüttelnd zog das Pärchen ab.

„Aggressionsstau oder Choleriker…“, stellte der Mann noch fest. Er bekam noch ein paar Gesprächsfetzen mit. Sie verrieten ihm: Der Typund seine Begleiterin waren psychologisch angehaucht. Intensiv über ihre„Hypothesen“ diskutierend, setzten sie ihren Abendspaziergang fort, ohne ihn weiter zu beachten.



„Da, Lilly, schau!“

Lilly blieb stehen. Sie waren an der Promenade, Höhe Ludgeriplatz. Die Morgensonne blendete sie und die schwere Eisenfeile drückte ihr in der Seitentasche.

Inga zeigte auf die andere Straßenseite.

„Was ist das?“

Inga lief quer über die Fahrbahn. Sie zeigte auf die Gegenstände, direkt an der Bordsteinkante. Lilly kam herüber. Sie beugte sich hinab. Neugierig beäugte sie, was da am Gullideckel an der Bordsteinkante war. Rechts im Rinnstein sah sie einen Schlüsselbund mit grauem Stofftierchen-Anhänger, wohl eine Robbe oder ein Seehund. Links lag eine Tageszeitung und darauf eine schwarze Geldbörse. Sie nahm die Gegenstände auf. In aller Ruhe sah sie in die fremde Geldbörse.

„Ey! Was machst du da?“, fragte Lilly. „Klauen?“

„Nee. Ich sehe nach, wem das gehört, du Nuss!“

Lilly Stresemann griff in die Geldbörse. Sie hoffte, in der Patte einen Perso oder eine Visitenkarte zu finden. So könnten sie den Eigentümer vielleicht direkt anrufen statt zum Fundbüro zu müssen.

Lilly trug Jeans. Sie war Journalistik-Studentin und Praktikantin bei der Bild-Zeitung. Die Blondine hoffte, dort übernommen zu werden, wenn sie ihr Studium schaffte.

Inga sah auf den Personalausweis. Sie studierte nebenbei mit Lilly, war jedoch im Hauptfach Metallurgie-Studentin. Sie hatte Lilly mit auf Tour genommen, denn sie sammelte Gusseisen-Proben von Gartenzäunen, Parkbänken, Sperrmüll- und Altmetall-Abfällen, und von den Beet-Begrenzungen an der Promenade. Deren Untersuchung gehörte zu ihrer Doktorarbeit bei Professor Haber.

„Da steht’s!“, rief Inga. „Bernd Berendsen heißt der. Mit Adresse, guck!“

Er sah gut aus, dieser Berendsen, fand Lilly. Sie beschloss, ihm die Geldbörse und das Portemonnaie noch am selben Abend vorbeizubringen. Lilly steckte alles ein. Sie wollte weiter.

„Moment!“

Inga hielt sie fest.

„Wir nehmen noch eine Probe!“, bestimmte sie.

„Okay“

Lilly wusste, was sie zu tun hatte. Sie reichte ihr die Feile. Inga beugte sich zum Gullideckel hinab, der am Fundort im Rinnstein saß. Sie legte ein Tütchen auf die Querrippen des Gullis, setzte die Feile an eine Gullideckel-Rippe und feilte von unten nach oben. Die Späne fielen auf ihr Tütchen. Sorgsam schloss sie das Tütchen, als sie genug Späne hatte, und steckte es ein. Zufrieden gingen die beiden weiter über die Promenade in Richtung der Synagoge.

Martin Heveling brauchte heute Morgen einen starken Kaffee. Einen Da-steht-der-Löffel-ja-von-alleine-Kaffee musste es sein. Das Kommissariat am Friesenring war jetzt, am frühen Morgen, fast noch menschenleer, und er wollte den Kaffee im Büro selbst aufsetzen, bevor die Anderen kamen.

Kommissar Martin Heveling fuhr den Mitsubishi auf den Parkplatz, ging durch die Pforte und nahm die vierzehn Stufen in den ersten Stock in einem Schwung, bevor er die Tür öffnete. „Der Aktenberg muss weg!“, hatte er sich vorgenommen, und dazu brauchte er, wie gesagt, seinen Da-steht-der-Löffel-ja-von-alleine-Spezialkaffee. Von Hand aufgegossen, nicht per Maschine.

Er öffnete die Amtsstubentür, warf die Lederjacke über die Bürostuhllehne und ging zum Büroschrank, auf dem, hüfthoch abgestellt, Wasserkocher, Kaffeedose und Filter mit Filterpapierpackung bereitstanden.

„Zwei Löffel!“, dachte er, als er den Wasserkocher füllte und anstellte. Die zwei Löffel Kaffeepulver jedoch konnte er nicht mehr in den Kaffeefilter geben, denn kurz darauf klingelte das Telefon.

„Heveling!“, meldete sich Martin.

„Büro Staatsanwalt Memming, Backendreher hier“, meldete sich die Dame von der Staatsanwaltschaft.

„Hallo Inge!“, sagte Martin.

„Martin, wir brauchen die Unterlagen im Fall Welterhoff!“

„Der Tote in der Hohen Waardt?“

„Ja, der Chef will sie einsehen!“

„Gestern fertiggestellt. Ich lasse sie euch rüberkommen!“, versprach Martin.

„Danke!“, schloss Inge, „Dir einen schönen Tag noch!“

„Dir auch!“, antwortete Martin, in Gedanken wieder an der Kaffeedose angekommen.

„Moin moin, Martin!“, schallte es ihm da von der Tür entgegen.

„Morgen, Ernst!“, sagte Martin.

„Martin, die neuen Ermittlungsakten. Abzuschließende Fälle vom Vorjahr! Der Chef will sie heute Nachmittag sehen. Und du sollst die KTU anrufen – gleich sofort!“

Martins Mundwinkel sanken vom Obergeschoss in das Erdgeschoss hinab. Die Kaffeepause konnte er vergessen. Der Arbeitstag hatte begonnen. Mit Betonung auf Tag – denn auch nachts konnte und musste er gelegentlich arbeiten.

„Vielen Dank!“, meinte Martin ironisch – doch Ernst war schon wieder auf dem Flur.

Martin schob den Aktenstapel an den Rand seines Schreibtisches und sah auf die obersten Ordner. „Vermisstenanzeige Mühlmann“, las er die anhaftende Notiz, „Angestellte, vermisst seit 19.3., Spuren erfolglos geprüft, Suche vorläufig einstellen!?? Meier-zu-Brokenhoff.“

„Okay, einstellen!“, dachte Martin, als schon wieder das Telefon klingelte.

„Martin, wo bleibst du? Wir hatten uns doch heute an der Gerichtsmedizin verabredet, mit Mike Rohssoft!“, erinnerte ihn Bob Davis, sein Kollege vom Kommissariat 12.

Oh, Mist, der IT-ler von der KTU!, fiel es Martin wieder ein.

Er holte Luft, um Bob zu antworten, da ging sein Handy.

„Oh Bob!“, meinte Martin. „Vergessen! Das ist nicht mein Tag heute!“

Und während er Bob zu erklären versuchte, dass die Meckmann-Unterlagen zur Staatsanwaltschaft müssen, die KTU auf ihn warte und Meier-zu-Brokenhoff auf einen Stapel Ermittlungsakten hoffe, da erfüllte ihn ein echt trauriges Gefühl in der Brust: Zu seinem Kaffee würde er wohl nun erst einmal nicht mehr kommen…



Das reiskorngroße Steinchen trudelte durch die eiskalten, dunklen Tiefen des unendlich weiten Weltraums. Es schwebte in der Umlaufbahn des ehemaligen Kometen 109P/Swift-Tuttle alle 133 Jahre einmal um die Sonne, wurde vom Mond umgelenkt und geriet kurze Zeit später plötzlich und mit einer rasenden Geschwindigkeit von 249000 Stundenkilometern in den Luftraum über dem Münsterland. Die Reibungswärme erhitzte es auf über 2000 Grad Celsius. Im Todeskampf in 80 km Höhe glühte das Geschoss für einen Sekundenbruchteil am Sternenhimmel im Sternbild Perseus auf, bevor seine Atome und Moleküle mit der Luft zu einem Plasma reagierten.

„Petra, schau!“, rief ich, „Eine Sternschnuppe!“. Ich wusste an diesem Abend noch nichts von den Vorgängen in der Schmelzerei am Kanal, und auch nichts von Hevelings neuem Vermisstenfall am Morgen danach. Ich erinnere mich aber: ich hatte an jenem Abend diese Sternschnuppe erblickt, als wir unseren Abendspaziergang am Kanal machten. Ich stieß meine Kollegin noch an und zeigte in die Richtung. Petra sah sich zur Seite um, doch da war sie schon verglüht. Die Baumwipfel am Horizont hinter den Silhouetten der Betonwerke verdeckten das Ende ihrer Schweifspur und der Abendhimmel war wieder vom gleichmäßigen Dunkel des sternenübersäten Firmamentes geprägt.

„Eine Sternschnuppe? Um diese Zeit?“, fragte Petra.

„Ja, es sind Perseïden – wir haben August!“, meinte ich.

„Aber sie fallen doch erst nach Mitternacht – bis in den nächsten Morgen hinein?“, meinte Petra skeptisch.

Ich sah sie an. Ich wollte ihr gerade antworten, da stießen wir am Kanalufer plötzlich auf eine Gestalt, die ein Fahrrad angehoben hatte und es in hohem Bogen durch die Luft schwang. Der Vorderreifen hätte mich fast am Kopf erwischt.

„Hallo!“, protestierte ich, „passen sie doch gefälligst auf!“

Wir waren stehen geblieben und ich sah ihn entrüstet an.

„Entschuldigung!“, sagte er kleinlaut, „Ich habe sie übersehen!“

„Allerdings!“, entgegnete ich im Weitergehen. „Unmöglich, sowas hier zu entsorgen.“

Genervt setzten wir unseren Abendspaziergang fort.

Als wir ein paar Schritte weitergegangen waren, drehte Petra sich noch einmal um.

„Du, er hat sein Fahrrad in den Kanal geworfen!“, meinte sie entsetzt.

„Was?“

„Ja, einfach weggeworfen – ins Wasser!“

„Ein Wutausbruch?“

Kopfschüttelnd zog Petra weiter, ich folgte ihr.

„Aggressionsstau oder Choleriker?“, fragte ich, und schon waren wir von einem astronomischen in ein psychologisches Fachgespräch gerutscht. Es machte einfach Spaß, mit Petra zu fachsimpeln.

Wir hatten unsere Runde abgebrochen, waren zurück Richtung Wolbecker Straße gelaufen – entlang an den Sportanlagen des TuS Saxonia und des gegenüberliegenden Rudervereins. Ich verabschiedete mich von Petra in Höhe des Alten Gasthauses Homanns. Sie bestieg ihr Auto, fuhr schnell davon, und auch ich war froh, bald wieder in meinem Bett zu sein. Schließlich war am nächsten Morgen viel zu tun: Ein Kommissar Heveling bat um Rückruf in Bezug auf mein früheres psychologisches Gutachten in einem Mordfall und Patient Hans Haferkamp hatte einen Therapietermin. Und Petra und ich hatten uns noch kurzzuschalten für eine Videokonferenz zur Vorbereitung einer Fortbildung für Kollegen, Thema: „Tatmotive in der Traumabewältigung von Gewaltopfern“. Vielleicht ließ sich dann ja auch kurz über den „Radweitwurf“ scherzen, dessen Opfer ich beinahe am Kanal geworden wäre?



Mark und Luigi hatten Schicht. Es war wenige Tage nach dem Vorfall mit dem Fahrrad am Kanal. Luigi war als Erster da. Er pulte sich in den Hitzeschutzanzug, schmiss den Ofen an und machte die erste Ladung zum Aufschmelzen fertig. Der Ofen war noch nicht heiß, doch schon jetzt kam der 110-Kilo-Mann ins Schwitzen. Einem unbedarften Zuschauer wäre es unklar gewesen, ob nun Luigi schwerer war – oder die Schmelzladung für Ofen Zwei.

Luigi machte sich daran, den Schmelzofen zu bestücken, da hörte er jemanden die Halle betreten und das Radio anschmeißen.

„Wieder gesund, Mark?“, ächzte Luigi, als Mark die Halle betrat.

„Jau, wieder gesund!“ entgegnete Mark ganz auf westfälische Art. Zwei, drei knappe Worte mussten genügen, denn alles ab vier Worten ist ein unnötig langer Roman. Immerhin hatte Mark hochdeutsch geredet, denn Luigi, der Italiener, konnte kein Plattdeutsch.

Luigi wandte sich also wieder der Schmelzladung zu, als Mark plötzlich ins Reden kam.

„Besichtigung“, teilte er ihm mit, „vom Chef genehmigt“.

„Mamma Mia!“

Luigi stöhnte. So etwas nervte ihn.

„Gleich um halb acht“, fügte Mark hinzu.

So gesprächig hatte Luigi ihn selten erlebt.

Mamma Mia! So schwätzt der doch eigentlich sogar nur dann, wenn Ostern auf Weihnachten fällt!, dachte er.

Der Physiklehrer und seine Klasse kamen, als die Belegschaft schon in die Frühstückspause gegangen war –bis auf Mark und Luigi.

Der Lehrer und seine Klasse kamen vom Halleneingang zu den Schmelzöfen herüber. Mark hantierte an Ofen Eins, Luigi knurrte und schmorte an Ofen Zwei. Wegen dieser blöden Betriebsbesichtigung sah er seine Frühstückspause in ernsthafte Gefahr kommen – in Gefahr dieses Typen, dessen Gesicht er wiedererkannte.

„Grüß Dich, Luigi!“, rief ihm der Lehrer zu. Dann drehte er sich um.

„Und jetzt lernen wir den Prozess des Schmelzens aus nächster Nähe kennen“, informierte der Lehrer seine Klasse.

„Kommt einmal rüber zu mir. Ich erkläre Euch jetzt, was der Schmelzer da macht.“, ergänzte er.

Marks Knurren war verstummt – es schien, als werde der Lehrer die Führung übernehmen (er kannte ihn schon vom Sehen her). Nur das Knurren seines leeren Magens verstummte nicht – Mark hoffte, der Lehrer werde die Führung, die er übernommen hatte, auch schnell wieder beenden. Marks Magen brauchte dringend eine Schinkenstulle mit Pumpernickel, dem westfälischen Schwarzbrot.

Der Lehrer kam schnell zur Sache. Die Schüler bestaunten Marks‘ Hitzeschutzanzug, die Hitze des Höllenofens dahinter und des Lehrers Schilderung vom „heißesten Arbeitsplatz von Münster“, wie es in den Westfälischen Nachrichten damals geheißen hatte. Die heißeste Braut Münsters wäre mir lieber!, hatte Mark nach dem Erblicken der Reporterschlagzeile damals gedacht, doch der Zeitungsbericht hatte nur zur Folge gehabt, dass mehrere Firmenbesichtigungen angefragt wurden. Sogar Anfragen nach Praktikumsplätzen hatte es gegeben, und daher kannte Mark den Lehrer schon. Aber er war sich unsicher.

Hat der Typ sich nicht neulich für so ein Kennenlern-Praktikum beworben oder eins mitgemacht?, fragte er sich. Oder kenn’ich den jetzt nur von diesen lästigen Betriebsbesichtigungen?

Sein knurrender Magen zeigte ihm, dass es nun echt wichtigere Dinge gab als das, was da vor ein paar Wochen im Betrieb gelaufen war.

Die großen Hallentore standen offen, doch in der Halle wehte kein laues Lüftchen. Luigi öffnete ein Probe-Ablassventil am Drehtrommelofen. Funkensprühend spritzte die Probe an Gusseisenschmelze in das Auffanggefäß. Einer der Schüler schrie vor Schreck oder Erstaunen auf.

Mit der Stange leitete Luigi die Probe weiter in die Gussvorrichtung.

Der Lehrer dozierte: „Ihr seht: Die Schmelzer arbeiten hier mit rund 1400 Grad heißem Eisen –im Winter ebenso im wie im Sommer. Klar: Es gibt viele heiße Arbeitsplätze, im Straßenbau unter der sengenden Sonne zum Beispiel, über der Hitze des heißen Asphalts. Aber für die Bauarbeiter dort im T-Shirt ist das, wenn ein Wind geht, schon etwas Anderes! Und daraus“ – der Lehrer zeigte auf die Eisenschmelze – machen die dann Graugussteile für die Maschinenbau-Industrie. T-Shirts sind natürlich absolut tabu hier. Die Männer müssen an den großen Drehtrommel-Ofen ran, in schwer entflammbarer Arbeitsschutzkleidung: Gießerstiefel, Handschuhe, Käppi, Schutzbrille. Sonst entflammt denen das T-Shirt und die Haare brennen!“

Beeindruckt hörte die Klasse zu.

Der Lehrer lachte: „Nachher sind die gut durch.“

Luigi hätte ihn umbringen können. Nicht für die Bemerkung, denn schwitzen war sein Job. Aber für das Gelaber – schließlich konnte er nicht in Pause gehen bevor der Typ seinen Vortrag beendet hatte.

Accidenti, quel tipo è fastidioso!Ob der nun Praktikum macht, hier, oder nun auch Betriebsbesichtigung – der nervt!, fluchte er, innerlich kochend wie Lava oder wie die Eisenschmelze in seinem Ofen.

„In diesem Drehtrommelofen hier“ – der Lehrer zeigte auf Luigi – „bringt ein Öl-Sauerstoff-Gemisch das Roheisen zum Schmelzen. Die Brennerflamme kommt auf 2500 Grad. Das flüssige Eisen, das gerade in einen großen Bottich und dann in die Formen aus Quarzsand geflossen ist, hat immerhin auch noch 1400 Grad Celsius.“

Ein Schüler schaute gelangweilt weg, sah neidisch Luigis Mineralwasserflasche.

„Schaut her!“, mahnte der Lehrer und zog ein Thermometer aus der Jackentasche.

„Ein normales Thermometer reicht zur Probemessung nicht mal aus: Es ist bei 50 Grad am Anschlag. „Die Temperatur geht aber hier schon bis an die 60 Grad und die Strahlungshitze kommt hinzu.

Luigi lief der Schweiß im Schutzanzug hinunter – und seine Wut kochte weiter hoch.

Silenzio, chiacchiere!, dachte er, Schweig, du Schwätzer!

„Das ist schwere körperliche Arbeit“, dozierte der Physiklehrer, „und rund zweieinhalb Tonnen Eisen können so täglich verarbeitet werden – zu Gullydeckeln oder Lagerschilden für Elektromotoren. Die müssen dann langsam abkühlen und strahlen dabei noch stundenlang Hitze ab. Die Gießer beginnen im Sommer um 5 Uhr morgens, damit sie in der Mittags um 14 Uhr fertig sind. Sie müssen viel trinken, mehrere Liter täglich, und hoffen auf ein Eis zur Frühstückspause – eine sehr willkommene Abkühlung.“

Luigi dachte daran, den Lehrervortrag mit einem neuen Spritzer glühender Eisenschmelze zu beenden, aber natürlich blieb er ruhig und kümmerte sich um den Ofen. Und er hatte Glück: Der Physiklehrer beendete seinen Vortrag plötzlich – wohl weil in der schwitzenden Berufsschulklasse Unruhe aufkam, als er das Wort „Eis“ in den Mund genommen hatte.

Nun war der Moment nicht mehr weit, an dem auch Luigi sein Frühstück in den Mund bekam. Gießerei Klebholz – hier kommt alles wieder ins Lot, dachte Luigi. Man muss nur abwarten, bis die Hitze verflogen ist.



Bernd „Bernie“ Berendsen, der gemütliche Ostfriese, öffnete die Tür zu dem kleinen Appartement, das er sich an der Josefskirche angemietet hatte. Er war müde. Er schob sich eine Pizza in den Ofen und sah aus dem Fenster. Im Südpark grillten einige Studentengruppen. Andere spielten Fuß- und Federball. Zwei Studentinnen schlenderten durch den Park, in Richtung auf seine Wohnung.

Berendsen war froh, dass sich der Tag dem Ende zuneigte. Es war später nachmittag. Feierabend. Er war gerade vom Aschendorff-Verlag zurück. Dort hatte er seinen Kollegen Rudi Rettich getroffen, der bei den Westfälischen Nachrichten arbeitete. Er selbst kam jedoch nicht aus Münster. Er kam aus Norden (der Stadt, und auch der Himmelsrichtung) und war Reporter der OZ, Ostfriesenzeitung Leer (sie war aber voll, nicht leer, und er schrieb die Berichte für Leer-Logabirum und Aurich). Berendsen kannte Rettich schon seit Jahren. Zwei, drei Mal pro Jahr trafen sie sich zum Austausch. In Münster hatte es zwei interessante Mordfälle gegeben, und für die OZ waren das sicher ein paar interessante Schlagzeilen. Er hatte genug Infos bekommen, und jetzt war er froh, wieder daheim zu sein.

Gerade als er nach der Pizza im Ofen sehen wollte klingelte es. Er sah durch den Türspion. Auch lecker!, dachte er vergnüglich. Hoffentlich keine Zeuginnen Jehovas!

Zwei junge Frauen standen in der Tür. Eine, blond und ganz in Jeans gekleidet, gefiel ihm sofort. Ihre rothaarige Begleiterin weniger.

„Guten Tag, Herr Berendsen!“, strahlte die Blonde.

„Moin!“, brummte Berendsen freudig erstaunt.

„Wie sind sie in ihre Wohnung gekommen? Wir haben da etwas für sie!“, strahlte sie weiter.

„Mit dem Ersatzschlüssel! Aber was zum Deibelschiet …“

Berendsen hielt inne. Seine Kinnlade klappte auf – wie die Laderampe einer norddeutschen Inselfähre.

Die Rothaarige hielt ihm sein Schlüsselbund entgegen, die Blondine sein Portemonnaie.

„Fundsachen. Für sie.“, lachte sie.

Berendsen freute sich über die Fundsachen. Er bat die Frauen herein. Als Finderlohn spendierte er ihnen an diesem Abend seine Pizza. Und eine Cola light. Und dann noch ein, zwei Rotweine, fast ebenso süß.

Es wuirde ein langer Abend. Bernd, Inga und Lilly wurden Freunde und sprachen noch lange über Journalismus- und das Reporter-Dasein. Bernd ließ sich von den beiden gerne noch etwas weiter ausfragen, nicht nur Berufliches. Und die Beiden waren sehr wissbegierig.

Der Mörder ging, als die Anderen kamen. Er ging auch nicht heimlich, auf leisen Sohlen. Er hatte einige Wochen krank gefeiert und dann gekündigt, von einer neuen Liebe erzählend und einem neuen Job. Er hatte seinen Spind geräumt, letzte persönliche Dinge wie Thermoskanne und Stullendose eingepackt und ein neues Fahrrad besorgt. Nun fuhr er damit von seiner Ex-Firma Klebholz aus den Dortmund-Ems-Kanal lang, ein letztes Mal. Er wollte die Umgehungsstraßen-Brücke über den Kanal unterqueren, doch dann nahm er aus einer Laune heraus die entgegengesetzte Richtung den Kanal lang, bog in ein Waldstück ein, über die Nieberdinger Straße am ehemaligen Kreiswehrersatzamt vorbei, hinter Getränke Lappe die Kanalseite wechselnd, und radelte zum Kreativ-Kai hinter den ehemaligen Osmo-Hallen. Irgendwo in der Nähe des Hot-Jazz-Club und des Beach-Clubs setzte er sich auf eine Steinbank am Ufer und ließ seine Gedanken schweifen.

Niemand würde ihn wiederfinden. Er hatte erzählt, er ziehe ins Sauerland, und seine neue Liebe heiße Martina Müller aus Lüdenscheid – doch er hatte ein Zimmer bei einer Ferienwohnung auf Langeoog angemietet. Er würde dort unterkommen, als Hafenarbeiter jobben und Gras über die Sache wachsen lassen, Gras über Münster, Gras über Marlies Mühlmann, dieses Miststück. So wie jetzt am Kreativ-Kai, so würde er in Zukunft an einem Kai beim Hafen auf Langeoog sitzen und seine Gedanken schweifen lassen. Er dachte daran, wie er in der Wohnung der Mühlmann ihr Handy in der Hand hatte, um es auf das „Tagebuch“ der Mühlmann zu legen, das er zuvor mühsam angefertigt hatte. Er war stolz auf sich: Auch auf dieser Fälschung hatte er keinen einzigen Fingerabdruck hinterlassen. Die Kripo würde nichts finden – nur eine falsche Spur.

Er saß noch dort, bis die Sonne unterging. Dann fuhr er heim, packte in der inzwischen leergeräumten Wohnung (auch sein Ex-Vermieter glaubte, er ziehe ins Sauerland) seine letzten Sachen ein und nahm am Folgetag einen Zug Richtung Nordsee, mit Anschluss an die Fähre Bensersiel – Langeoog.

Nach der Überfahrt saß er erst noch kurz am Strand, einige hundert Meter von der Anlegestelle entfernt. Er blickte auf das Meer hinaus. Es war Ebbe und das Watt war zu sehen – und das Festland bei Bensersiel im Süden. Er hatte sich aus Münster abgesetzt. Nichts gab es mehr, was ihn dort hielt. Der Job bei Klebholz war gekündigt, und die Mühlmann, dieses Miststück, war beseitigt. Sie hatte ihn so sehr verarscht. Er hatte sich an sie rangemacht, sich um sie bemüht, den Arsch aufgerissen. Und sie? Was hat sie gemacht? Schluss hatte sie mirt ihm gemacht, einfach so, und ihre ABD-Beteiligung an dem Fonds gekündigt, die er ihr günstig besorgt hatte, zum Jubiläum ihrer beider Beziehung.

Zwei Mal hatte sie sein Leben zerstört – einmal privat, indem sie beendet hatte, was er mit ihr angebahnt hatte, um ihr die ABD-Anlagebeteiligung anzudrehen, und finanziell, indem sie diese Beteiligung wieder gekündigt und sich dann auch noch rausgeklagt hatte. Provision und Reputation hatte es ihn gekostet – das musste ja dann einen Wink von ganz oben geben, sie zu eliminieren. Genau zweieinhalb Monate waren sie ein Paar gewesen, zehn Wochen, ind dann hatte sie einfach so Schluss gemacht und die ABD-Anlagebeteiligung gleich mitgekünsigt. Das hatte ihn nicht nur seine Provision gekostet. Es hatte ihn auch seinen Ruf als guter Verkäufer ruiniert und Petermann, sein Chef, war sauer geworden. „Sowas ist kein Verkaufserfolg, du Niete,“, hatte er getobt, „nur eine Seifenblase!“ Sogar gegen die Ablehnung Ihres Widerrufs hatte sie dann noch geklagt – gegen den ABD. Welch‘ eine Rufschädigung, welch eine Blamage! Gequirlte Hundekacke, dachte er, und ich musste Arsch vom Dienst das Problem wieder lösen und die Mühlmann zum Schweigen bringen!

Aber er wusste: Er hatte ganze Arbeit geleistet: Das Miststück vergiftet, ihre Wohnung gereinigt und Spuren beseitigt, die falsche Spur in Marlies‘ Wohnung gelegt, die Leiche nachts im Sack in den Wald geschafft, zerstückelt und portionsweise im Schmelzofen der Firma verheizt, wo er Praktikum und Minijob gemacht und gleich wieder gekündigt hatte. Alles in Butter! Petermann konnte zufrieden mit ihm sein. Sein Ruf war rehabilitiert, und der des ABD auch. Er war sicher auf Langeoog. Und über die Sache wuchs das Gras.



Sonntagmorgen. Kommissar Martin Heveling hatte frei. Er freute sich auf die Hochzeit, als er aufgestanden war. Er ging die Treppe ins Bad hinunter, öffnete die Tür zum Gäste-WC, zog seine Schlafanzughose hinunter und setzte sich. Aber so ganz sicher war er sich seiner Freude nicht, bemerkte er beim Blick in den Spiegel über dem Waschbecken gegenüber des WC-Sitzes.

Danach zog er sich an, machte der Familie das Frühstück, weckte die Kinder, zog sie an und setzte sie an den Frühstückstisch, während seine Frau sich wusch und anzog. Sie machte sich schick heute, besonders schick, denn ihr Jugendfreund Walter heiratete beim Schloss der westfälischen Wilhelmsuniversität Münster (Es soll umbenannt werden, da, so die Begründung, Kaiser Wilhelm ein imperialistischer Rassist war), am ehemaligen Hindenburgplatz (der schon in Schlossplatz umbenannt worden ist). Hevelings ganze Familie war danach ins Schlossgartencafé eingeladen.

„Das Rote oder das Blaue?“, fragte ihn Ina, das rote Kleid angezogen und das Blaue am Bügel in der Hand (Frauen fragen so etwas ihre Männer immer, wenn etwas Besonderes ansteht, zu dem sie sich fertigmachen möchten).

„Du, Schatzi, Du siehst in Beidem gut aus!“, entgegnete Hans, als er den Kindern nach dem Frühstück die Jacken überzog und sie ins Auto setzte.

„Nimm das Rote!“, fügte er schnell noch hinzu. Denn er hatte gesehen, dass sie es schon anhatte.

„Aber vielleicht wirkt das Blaue festlicher?“, erwiderte Ina. „Ich ziehe es noch mal über und wir vergleichen!“

„Okay“, stöhnte Martin, „ich muss eh noch mal kurz für Männer!“

Martin ging noch mal auf das WC, setzte sich und drückte. Ina zog sich noch mal um, oben im Schlafzimmer. Die Kinder warteten schon angeschnallt im Auto. Martin hatte seit einiger Zeit das Problem, dass er wie bei einer Verstopfung lange drücken musste – doch es kam nichts. Seit einigen Tagen kamen sogar einige Tröpfchen Blut. Doch Martin überging es. Und er drückte weiter.

„Martin, bist du soweit?“ Ina kam im Blauen die Treppe hinab, streifte ihre Jacke über und wollte zu den Kindern ins Auto.

„Ja, ich komme gleich!“, rief Martin – und drückte noch fester.

Ina ging hinaus, die Treppe durch den Vorgarten hinab und ins Auto. Sie warteten.

„Kommst Du?“, rief Ina durch die wieder geöffnete Wagentür hoch.

„Ja!“, rief Martin zurück, doch er hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er erhob sich, drehte sich so, dass er sich hinten sehen konnte im sich spiegelnden Deckel des WC-Rollen-Halters, und er erschrak. Er sah etwas Hautfarbenes, so groß wie eine Apfelsine, und es saß an seinem Darmausgang. Martin bekam Panik und war völlig verwirrt: Es sah fast aus wie bei seiner Ina, als sie damals ihr Kind gebar und das Köpfchen sich durch den Ausgang schob.

„Das gibt es doch nicht!“, dachte Martin verwirrt. „Was mach’ ich denn jetzt bloß?“.

Drücken half nicht, und Zeit war auch nicht mehr. Er schob es zurück, so gut es ging, nahm ein weiches Kissen mit, damit er breitbeinig und weich sitzen konnte (denn er musste ja Auto fahren!), und er ging ins Auto, ließ den Motor an und fuhr die Weseler Straße hinunter. Er kam nur bis zum Aasee, zum Parkplatz des Segelclubs an der Himmelreichallee.

„Ich hab ein Problem“, sagte er Ina und erzählte es ihr. „Kannst Du denn fahren?“, fragte sie besorgt. „Jaja“, sagte er, „ich krieg das schon hin!“ – denn Beifahrer sein wollte er nicht. Dort konnte er nicht breitbeinig sitzen. Kaum angekommen, hasteten sie durch den botanischen Garten. Es ging jedoch nicht sofort zur Orangerie, in der die Trauung stattfand (standesamtlich – denn Walters Braut war früher schon einmal verheiratet gewesen, und da sagt die katholische Kirche in solchen Fällen Nein zu einem Ja der Brautleute). Es ging erneut zu einer Toilette.

„Nichts geht!“, stellte Martin hilflos fest, zog sich wieder an und ging mit den Kindern vor die Tür.

Es war eine routinierte Trauzeremonie, die der Standesbeamte da abhielt. Hans stand mit den Jungen vor der Tür. Drinnen hatte die Zeremonie schon begonnen und es gab keine Sitzplätze mehr. Auch Ina stand nun in der Tür.

Sektempfang, Gang zum Schlossgartencafé, Hochzeitssuppe und westfälisches Festessen. Wieder ging Martin zur Toilette. Wieder erfolglos Als dann nach der Hochzeitssuppe der Hauptgang serviert wurde, konnte er nicht einmal mehr auf dem Polsterstuhl sitzen. Er sagte es Ina.

Ina handelte. Sie rief per Handy einen Darmarzt an. Sie machte einen Notfalltermin. Sie leitete den vorzeitigen Abschied von der Festtafel ein, packte die Kinder ins Auto und Martin fuhr auf einem weichen Kissen breitbeinig zur nächstgelegenen Arztpraxis. Ein Blick, ein Telefonat – und der Arzt teilte ihm mit, dass operiert werden müsse, sofort. Martinspürte das schon. Er war erleichtert. Im Clemenshospital, gleich am Kappenberger Damm gelegen, kam er in die Notaufnahme. Er konnte sich gerade noch ein Hemd anziehen. Für die OP.

„Ich kläre sie jetzt über die Risiken der OP auf. Sie müssten mir das bitte hier unterschreiben!“, sagte der Arzt.

„Ja, Herr Doktor“, stöhnte Martin brav. „Danke, dass sie mich jetzt davon befreien!“

Nach der Schnell-Belehrung schoben sie ihn in den Vorbereitungsraum.

„Und ich kläre sie jetzt über die Narkoserisiken auf!“, sagte der Anästhesist und legte los. „Und nach der OP werden sie noch Halsschmerzen vom Tubus haben, eventuell Stimmlosigkeit und Reizung der Stimmbänder“, endete er.

„Vom Intubieren?“, fragte Martin ängstlich zitternd. „Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“

„Doch“. Der Anästhesist zeigte ein breites Lächeln. „Die Rückenmarksbetäubung.“. Nun zählte er auch hier die Risiken auf. „… und im schlimmsten Fall könnten sie Querschnittsgelähmt sein“, endete er, „wenn das Rückenmark durch die Punktion getroffen wird.“

Martin dachte an seine Frau, die eine Rückenmarkpunktion zur Betäubung vor der Geburt hatte machen lassen. An die Routine, die eine Klinik mit vielen Dutzend Geburten und Hunderten von OPs pro Woche haben musste.

„Was würden sie an meiner Stelle machen?“, fragte er den Anästhesisten verwirrt.

„Ich würde in jedem Fall die Rückenmarkpunktion wählen“, sagte dieser. „Sie haben dann nicht die Hals- und Kehlkopfschmerzen nach der Operation, und auch insgesamt hält die Betäubung länger an Und die Schmerzen kommen nicht so schnell und heftig wieder.“

Martin wählte die Rückenmarkspritze. Er musste sich dazu noch mal hinsetzen musste. Der Anästhesist plauderte mit ihm weiter, als er ihn in den OP schob, und setzte die Unterhaltung auch noch fort, als ein grelles Licht anging und sein Unterleib mit Tüchern verdeckt wurde. Von dem, was die anderen Ärzte und Schwestern dann hinter den Tüchern machten, merkte Martin nichts mehr.



Zugegeben, ich weiß: Es ist ungewöhnlich, einen Kriminalroman mit einem Mordfall UND mit einer Stuhlgangs-Geschichte zu beginnen. Aber so war es damals: Genau so ungewöhnlich wie der Anfang mit HevelingsNot-OP ist ja auch das Verbrechen. Und der Mensch, von dem ich diese Geschichte erzähle.

Mein Name ist Titus Tim Tenfelde. Eigentlich bin ich auch nur ein ganz durchschnittlicher Psychotherapeut in einer durchschnittlichen, westfälischen Kleinstadt – der ehemaligen „Provinzialhauptstadt“ von Westfalen, nach der das schöne, grüne Münsterland benannt wurde.

Ich betreue Traumapatienten, Opfer von Gewalttaten und ihre Angehörigen. Und ich hätte neben dem Mordfall sicher auch nichts Welt bewegendes zu berichten gehabt, wäre da eben nicht dieser ganz ungewöhnliche Patient gewesen. Er hatte etwas an sich, was mich faszinierte, je mehr ich ihn kennenlernte. Und so wurde er immer mehr zu meinem ganz persönlichen „Fall“, zu meinem ganz eigenen „Problem“, dieser Patient, den ich unbedingt wieder glücklich und gesund „kriegen“ wollte. Denn je mehr ich ihn kennenlernte, umso mehr spürte ich: Er hatte etwas für ihn Schlimmes erlebt und Wut im Bauch. Aber es hatte ihn auch heruntergezogen, seelisch. Und er war mir selbst ähnlich, charakterlich – und umso drängender wurde daher auch die Frage: Wieso ist er depressiv geworden und ich nicht? Und konnte ich ihm helfen, seine krankhafte Traurigkeit abzulegen, ihn wieder gesund und glücklich zu machen? Konnte er sich vielleicht sogar irgendwann irgendwie selbst aus dem Sumpf ziehen – ein therapeutisch initiierter Baron-von-Münchhausen-Effekt?

Ich weiß daher noch genau, wie unsere erste Begegnung war. Er kam damals zu mir in die Praxis, als ich gerade über einem Tee saß (denn ich liebe Tees!). Ich legte die Gutachterberichte für die Krankenkassen und die Staatsanwaltschaft beiseite, stellte meine Tasse Earl-Grey-Tee beiseite und sah ihn an.

„Guten Tag, Herr Tenfelde“, sagte er mit fast schluchzender Stimme, „Ich komme mit meinem Leben nicht mehr klar. Sie müssen mir helfen, ich weiß nicht mehr weiter, alles läuft schief!“

Er war völlig aufgewühlt. Sein Kopf war hochrot angelaufen, er schwitzte und keuchte. Er weinte und wirkte wie ein hilfloses Kind, obwohl er ein gestandenes Mannsbild war.

Ich beruhigte ihn.

„Jetzt setzen sie sich erst mal!“, sagte ich langsam. „Möchten Sie einen Kaffee?“

„Lieber Tee“, entgegnete er zu meiner Überraschung, „mit Milch und Süßstoff. Herr Tenfelde, ich komme mit meinem Leben nicht mehr klar“, wiederholte er, als ich nach einem zweiten Teesieb suchte, „ich hab‘ zwei Menschen weh getan und ich weiß nicht mehr weiter!“