Entdeckungsgeschichte(n) der BIOwissenschaften und der Medizin - Michael Wächter - E-Book

Entdeckungsgeschichte(n) der BIOwissenschaften und der Medizin E-Book

Michael Wächter

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Beschreibung

Ein Sachbuch voller informativer, teils auch unterhaltsam-spannender Erzählung(en) der Lebens- und Entdeckungsgeschichte(n) wichtiger Biologen, Mediziner und anderer Naturforscher von der Antike bis heute, mit Beschreibung wichtiger naturwissenschaftlicher Entdeckungen und des historischen Umfeldes der Entdecker und Erklärungen einiger Zusammenhänge innerhalb der Naturwissenschaften sowie mit den anderen Naturwissenschaften. Es informiert z.T. auch über Grundbegriffe und -gesetze der Biologie und Medizin und Zusammenhänge zu Forschungsgebieten der anderen Naturwissenschaften. Es wendet sich an alle für Naturwissenschaften, Technik und Geschichte offenen Leser/innen, auch ohne akademische Bio- oder Medizinkenntnisse - vom Abiturienten über Studierende, Lehrende und andere Berufstätige bis hin zu Senioren/innen (Grundwissen aus der Sek. I oder II genügt). Wussten Sie z.B. schon, dass der Beruf "Feldscher" ein angesehener Handwerker war, der Wunden routinemäßig mit Glüheisen ausbrannte , dass das Wort Plombe daher kommt, dass früher bei so manchem Barbier Zahnlöcher wie beim Bleigießen mit geschmolzenem plombe (frz.: Blei) ausgefüllt wurden und dass man das Penicillin anfangs aus dem Urin der behandelten Personen zurückgewann, um es neu einsetzen zu können? Diese und weitere überraschende Fakten aus Biologie und Medizin finden Sie im folgenden Buch. Die zahlreiche Abbildungen dienen der Veranschaulichung der Entdeckungs- und Erforschungsgeschichte(n). Und die Fußnoten bieten den fachlich näher interessierten Leser/innen weiterführende Informationen und Erläuterungen von Zusammenhängen und Belege aus der wissenschaftlichen Literatur. INHALTE: Entstehung und Entdeckung des Lebens; Natur- und Heilkunde in Antike, Mittelalter und Neuzeit; Anfänge der Naturwissenschaften; Abstammung und Vererbung; Mikroben; Sterilität; Mutanten; Narkotika; Viren; Zellen; Ökologie; Gentechnik; Antibiotika; Gentechnik; Astrobiologie; Ursuppe und Urpizza; gerichtete Evolution u.a.

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Seitenzahl: 517

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Vorwort und Einführung

Als der Mensch aus der lebenden Natur hervorging, begann er sich zu fragen, was Leben ist und wie man ein gutes Leben führt. Er betrieb Philosophie. Er sammelte sein Wissen über das Leben und über das Zusammenleben mit anderen Lebewesen in der Natur und gab es weiter (Naturkunde) – auch das Wissen darüber, wie man Leben erhält und es vor Krankheiten und Tod schützt (Heilkunde, Medizin). Der Mensch begann, die Lebensformen um ihn herum zu nutzen (Landwirtschaft) und experimentell zu untersuchen (die Natur- und Biowissenschaften). Dabei stieß er auf eine unglaubliche Vielfalt von Lebensformen – viele Millionen Arten sind inzwischen bekannt (Die genaue Anzahl der Arten von Lebewesen kann nur geschätzt werden. Diese Schätzungen lagen um 1995 herum noch bei 1,72 Millionen Arten weltweit. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden sie auf Werte zwischen 3,6 und 112 Millionen angehoben, bis dass der Weltrat für Biodiversität IPBES für die UN 2019 veröffentlichte, dass rund acht Millionen davon bekannt sind – und dass gegenwärtig eine ganze Million davon ausstirbt, von mehreren Schmetterlings- und Bienenarten bis zum Orang-Utan).

 

Die Forscher, auch die auf dem Gebiet der Heilkunde und Medizin, trugen zu den Biowissenschaften bei (von griech. Βιός bios, Leben, engl. Life sciences). Sie untersuchten alles, was mit Lebewesen zu tun hat, auch ihre Strukturen, Prozesse und Umgebungen, sowie alle Vorgänge, an denen sie beteiligt sind – von den urtümlichsten Bakterien bis hin zu uns Menschen. Dieses Buch erzählt, wie die Wissenschaftler zu ihren Erkenntnissen über das Leben und seine Entstehung gekommen sind. Es beschreibt und erklärt die Zusammenhänge für Lernende und Lesende und berichtet von den unterschiedlichen Forschern, Entdeckern und Erfindern, die sich mit den „Lebewesen“ befasst haben – vom Urmensch, der mit Ackerbau und Viehzucht begann, bis hin zum Gentechniker, der im Labor neue Arten von Lebewesen hervorbringt.

 

Das Buch bringt hierzu interessante, oft auch überraschende und unterhaltsame Informationen: Wussten Sie z.B. schon, dass:

es früher Giftfresser auf Tapeten gab?

ein Rind von 500 kg in 24h 0,5 kg körpereigenes Protein produzieren kann – 500 kg Hefezellen jedoch mit ihrer milliardenfach größeren Oberfläche in der gleichen Zeit über 50000 kg Proteine aufbauen?

dass der Beruf „Feldscher“ ein angesehener Handwerker war, der Wunden routinemäßig mit Glüheisen ausbrannte (Kauterisieren)?

dass das Wort Plombe daher kommt, dass früher bei so manchem Barbier Zahnlöcher wie beim Bleigießen mit geschmolzenem

plombe

(frz.: Blei) ausgefüllt wurden?

dass es eine Laufkäferart mit stark ausgebildeten Gliedmaßen gibt, die deshalb

Agra schwarzeneggeri

heißt, und eine Hornmilbengattung

Darthvaderum

, deren Mundregion in den REM-Bildern an

Darth Vader

aus

Star Wars

erinnert (Und es sogar einen stachelhäutigen, fossilen Seeigel gibt,

Tetragramma donaldtrumpi

, benannt nach einem US-Präsidenten, ähnlich der neu entdeckten Mottenart

Neopalpa donaldtrumpi

, die mit gelbweißen Schuppen auf dem Kopf wohl an die Frisur dieses Politikers erinnert) ?

und dass man das Penicillin anfangs aus dem Urin der behandelten Personen zurückgewann, um es neu einsetzen zu können?

 

Diese und weitere überraschende Fakten finden Sie im folgenden Buch. Die zahlreiche Abbildungen dienen der Veranschaulichung der Entdeckungs- und Erforschungsgeschichte(n). Und die Fußnoten bieten den fachlich näher interessierten Leser/innen weiterführende Informationen und Erläuterungen von Zusammenhängen und Belege aus der wissenschaftlichen Literatur.

 

Der Autor wünscht viel Spaß beim Lesen und Lernen.

 

1 Entdeckung des „Lebens“ – Naturkunde und Biowissenschaften?

1.1 Der „Stammbaum des Menschen“

1.1.1 Haeckel: „Generelle Morphologie“ und die Systematik des Lebens (1866)

Abb. 1: Ernst Haeckel

Einer der berühmtesten, aber auch umstrittensten Forscher auf dem Gebiet der Biowissenschaften war Ernst Heinrich Philipp August Haeckel (1834-1919). Er war Zoologe, Mediziner, Philosoph und Freidenker zugleich, damals hochmodern und bis heute heiß umstritten. Er führte neue Begriffe wie „Ökologie“ und „Stamm“ ein. Politik war für ihn „angewandte Biologie“, denn hier wollte er die damals ganz neue Evolutionstheorie von Charles Darwin anwenden – in Form einer speziellen Abstammungslehre.Als Sohn eines Juristen ging der junge Haeckel auf das Domgymnasium in Merseburg. Hier stieß er auf Texte von Darwin, von Humboldt und Schleiden, die ihn so faszinierten, dass er Mediziner und Biologe werden wollte. Also studierte er. Zum Abschluss seines Medizinstudiums reiste er nach Italien. Von dort aus schrieb er seiner Verlobten Anna Sethe, er werde bei einem längeren Aufenthalt in Rom sicherlich noch zum Heiden – wegen all der religiösen Kunst, den vielen Prozessionen und dem Papsttum (in: Ernst Haeckel: Italienfahrt: Briefe an die Braut, K. F. Koehler, Leipzig 1921, S. 8). Ab 1859 widmete er sich der Erforschung der Radiolarien. Diese Radiolarien (von lat. Radiolus. kleiner Strahl) oder Strahlentierchen sind mikroskopisch kleine, einzellige Lebewesen mit einem Skelett aus Opal. Sie kommen als Plankton im Meer vor. Ihre kugeligen oder mützenförmigen Skelette sind nur 50 bis 500 µm groß. Sie nehmen ihre Nährstoffe aus dem Meerwasser auf und bilden manchmasl mit einer Gallerte zusammengehaltene Kolonien. Sie faszinierten ihn so, dass er 1861 seine Habilitation über die Strahlentierchen Rhizopoda radiata schrieb.

Abb. 2: Diskusquallen (Discomedusae) der Art Desmonema annasethe. Haeckel benannte diese Art selbst, nach seiner ersten Frau Anna Sethe. Quelle: Haeckel, Bildtafel Nr. 8 aus „Kunstformen der Natur“, 1899.

Er war unglaublich arbeitsam. Nach dem Tod seiner Frau AnnaSethe 1864 arbeitete er oft mehr als 18 Stunden am Tag, reiste 1866/1867 auf die Kanarischen Inseln und traf sich dort mit den Wissenschaftlern Charles Darwin, Thomas Huxley und Charles Lyell. Er verfasste fleißig meeresbiologische Forschungsarbeiten, über die Strahlentierchen (Radiolarien, 1862 und 1887), über Quallen (Medusen, 1879-1880), Kalkschwämme (1872) und Staatsquallen (1869 und 1888). Allein bei der Untersuchung der von der britischen Challenger-Experdition fand er in wochenlanger Mikroskopier-Arbeit über 3500 neue Radiolarien-Arten. Der Teil des Challenger-Reports, den er hierzu verfasste, füllte drei Buchbände mit 2750 Druckseiten und 140 detaillierten Bildtafeln. Vielen neu entdeckten Arten von Meeresbewohnern gab er hierin Namen, so z.B. der Diskusquallen-Art Desmonema annasethe. Haeckel benannte sie, weil er sie besonders schön fand, nach seiner ersten Frau Anna Sethe: Die Diskusqualle Desmonema annasethe.

Abb. 3: Ein Kragengeißeltierchen aus dem „Reich“ der Protisten. Diese winzigen „Urtierchen“ (Protisten) bewegen sich oft schwimmend mit Hilfe von Geißeln oder Wimpern oder schweben auch einfach nur im Wasser, teils auf dem Grund kriechend, teils an Steinen, Pflanzen und dergleichen festsitzend. Einige Protisten existieren auch ohne Luft, manche sogar als Parasiten in Tieren oder Menschen.

Haeckel war ein begnadeter Zeichner. Die aus seiner Hand stammenden Darstellungen und Bildtafeln zeigen das durch ihre Naturtreue und Plastizität. Schließlich nahm er die Gedanken Darwins auf, nach denen es eine Entstehung der Arten gibt. Haeckel verband verschiedene Teilgebiete der Biologie im Rahmen dieser Evolutionstheorie und verknüpfte biologische und weltanschauliche Aspekte. Sein Buch „Generelle Morphologie“ von 1866 wurde epochemachend. Jedes Kapitel begann mit einem Goethezitat und das Schlusskapitel stand unter dem Titel „Gott in der Natur“. Hier zeigte er seine Weltanschauung, den Monismus, den er als reinsten Monotheismus bezeichnete – eine philosophische Anschauung, nach der alle Vorgänge und Phänomene der Welt angeblich auf ein einziges Grundprinzip zurückgeführt werden können. In seiner „Generellen Morphologie“ definierte er den Begriff „Ökologie“. Hierin wies er auch den Protisten1 ein eigenes „Reich“ zu. Dann führte er abschließend noch den Gedanken der Abstammungslehre aus.

Diese Gedanken beschäftigten ihn immer mehr. Wenn die Natur, wie Darwin entdeckt hatte, immer wieder neue Arten hervorbringt, dann müsste das eine Entwicklung sein, ein Streben von niederen Lebensformen wie den Protisten bis hin zu den höchst entwickelten Arten. Schon Aristoteles hatte in der Antike die ihm damals bekannten Lebewesen in einer Stufenleiter angeordnet, nach dem Grad ihrer vermeintlichen Perfektion, vom von primitivsten bis zum höchst entwickelten Lebewesen (dem Menschen).

Zwei Jahre nach seiner „Generellen Morphologie“ schrieb Haeckel die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ (1868). Hier führte er diese Gedanken weiter aus und versuchte, seine in der „Generellen Morphologie“ entwickelten Gedanken auch für Laien verständlich zusammenzufassen. Später bemerkte er dabei große Mängel, doch die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ verkaufte sich bereits bestens. Sie wurde bis zur Veröffentlichung seiner nächsten Schrift „Welträthsel“ (1899) bereits neun Mal neu aufgelegt und in zwölf Sprachen übersetzt. Seine weiteren Schriften, die „Welträthsel“ und die „Lebenswunder“ (1904) gingen noch über den Rahmen der Deutung biologischer Tatsachen im Kontext der Evolutionstheorie von Darwin hinaus.

 

Abb. 4: Die „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ von Haeckel (Erstdruck 1868) Urheber/Foto: H.-P. Haack

Haeckel bewegte besonders eine Frage: Wo stammen wir Menschen her? Er spekulierte: Die meisten Anzeichen deuten wohl auf das südliche Asien hin, doch: „Vielleicht war aber auch das östliche Afrika der Ort, an welchem zuerst die Entstehung des Urmenschen aus den menschenähnlichen Affen erfolgte; vielleicht auch ein jetzt unter den Spiegel des indischen Oceans versunkener Kontinent, welcher sich im Süden des jetzigen Asiens einerseits östlich bis nach den Sunda-Inseln, andrerseits westlich bis nach Madagaskar und Afrika erstreckte“. Den von ihm vermuteten Urmenschen nannte er Homo prigenius oder Pithecanthropus primigenius2.

In seiner 730 Seiten langen Schrift „Anthropogenie“ erstellte Haeckel dann 1874 die Stammesgeschichte des Menschen vor, vom „Moner“, Urwurm und Schädelthier über den Urfisch und das Amnionthier (Gruppe aus Reptilien, Vögeln und Säugern) bis hin zum Ursäuger und den Affen. Den Schöpfungsglauben und die Auffassung von einer von den Hirnfunktionen unabhängigen Seele hielt Haeckel für widerlegt – die zeitgleich zu seinem Buch erschienene wissenschaftliche Schrift Darwins „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ ignorierte er, denn sie richtete sich methodisch völlig anders aus. Haeckels Anschauung war der „Entwicklungs-Monismus“, die volle Einordnung des Menschen in die sich immer höher entwickelnde Natur, ohne jeden Offenbarungs- und Wunderglauben – ein Atheismus bzw. ein Natur und Gott gleichsetzender Pantheismuis. Darwin hingegen hatte seit 1871 angenommen, dass sich der Mensch in Afrika entwickelt habe und sich die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen erst mit der Zeit entwickelten. Der Menschen war für Darwin eine einzige Art – die verschiedenen Rassen (Subspezies) seien keine unterschiedlichen Arten (vgl. dort in Kap.7: „Über die Rassen des Menschen“). Er verwendete die Begriffe „sexuelle Selektion“ (geschlechtliche Zuchtwahl) und „Evolution“. Seine Theorie von der Evolution (der Entwicklung durch die allmähliche Veränderung der vererbbaren Merkmale einer Population von Lebewesen), war nicht, wie bei Haeckel, mit einer Weltanschauung verknüpft. Sie blieb rein wissenschaftlich.

Haeckel hingegen engagierte sich zunehmend politisch. 1904 nahm er an einem Internationalen Freidenker-Kongress in Rom teil. Anlässlich eines gemeinsamen Frühstücks wurde er von den Teilnehmern begeistert zum „Gegenpapst“ ausgerufen und befestigte danach einen Lorbeerkranz am Denkmal Giordano Brunos. Die Folge war eine massive Kampagne mit Anfeindungen von kirchlicher Seite. Er wurde als „Affen-Professor“ verhöhnt, obgleich 46 bekannte Professoren eine Ehrenerklärung für ihn abgaben. 1906 veranlasste er die Gründung des Deutschen Monistenbundes. Er vertrat einen naturwissenschaftlich orientierten Fortschrittsgedanken und wurde einer der führenden Freidenker. Seine Ideen, Anschauungen und Utopien waren attraktiv, nicht nur für rechte und national gesinnte, sondern auch für bürgerlich-liberale und linke Kreise. So schrieb er:

„Die höhere Kultur, der wir erst jetzt entgegen zu gehen anfangen, wird voraussichtlich die Aufgabe stets im Auge behalten müssen, allen Menschen eine möglichst glückliche, d. h. zufriedene Existenz zu verschaffen. Die vervollkommnete Moral, frei von allem religiösen Dogma und auf die klare Erkenntnis der Naturgesetze gegründet, … führt uns zu der Einsicht, daß ein möglichst vollkommenes Staatswesen zugleich die möglichst große Summe von Glück für jedes Einzelwesen, das ihm angehört, schaffen muß. … Das Hauptinteresse des Staates wird nicht, wie jetzt, in der Ausbildung einer möglichst starken Militärmacht liegen, sondern in einer möglichst vollkommenen Jugenderziehung …. Die Vervollkommnung der Technik, aufgrund der Erfindungen in der Physik und Chemie, wird die Lebensbedürfnisse allgemein befriedigen; die künstliche Synthese vom Eiweiß wird reiche Nahrung für alle liefern. Eine vernünftige Reform der Eheverhältnisse wird das Familienleben glücklich gestalten.“ (in: Die Lebenswunder, 1904, Kap. 17, Abschnitt IV c, vollständig).

Egoismus verachtete er:

„Daher sind die Propheten des reinen Egoismus, Friedrich Hegel, Max Stirner usw. in biologischem Irrthum, wenn sie allein ihre ‚Herrenmoral‘ an Stelle der allgemeinen Menschenliebe setzen wollen und wenn sie das Mitleid als eine Schwäche des Charakters oder als einen moralischen Irrthum des Christenthums verspotten.“ (ebenda S. 131f).

 

1.1.2 Haeckel und Darwin, Sozialdarwinismus und Rassenhygiene

Haeckel sah Mitleid als eine edle Haltung. Doch es hatte für ihn seine Grenzen dort, als er über wissenschaftliche Methoden hinausgehend den Erbanlagen einen „Wert“ oder „Unwert“ zuerkennen wollte (Moralische Werte sind ein Begriff aus der Ethik und Philosopie – keine wissenschaftlichen Daten oder Messwerte). Haeckel spekulierte, im Sinne der „Höherentwicklung“ der Erbanlagen müsse eine Art Erbgesundheitslehre entworfen werden, um in der Politik den „Gen-Pool“ der Population zu „verbessern“, also den Anteil der bevölkerungs- und gesundheitspolitisch als positiv bewerteten Erbanlagen zu vergrößern (positive Eugenik) und den negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern (negative Eugenik). In „Die Lebenswunder“ rechtfertigte er 1904 eine „Eugenik“ (von griech. εὖ eũ‚ gut, und γένος génos‚ Geschlecht), wo die Spartaner eine Auswahl trafen, wer überleben durfte und wessen Erbanlagen nicht weitergegeben werden sollten:

Abb. 5: Kindertransport vom Waisenhaus Marysin in das Vernichtungslager Kulmhof, Ghetto Litzmannstadt, 1942

„Es kann daher auch die Tötung von neugeborenen verkrüppelten Kindern, wie sie z. B. die Spartaner behufs der Selection des Tüchtigsten übten, vernünftiger Weise gar nicht unter den Begriff des ‚Mordes‘ fallen, wie es noch in unseren modernen Gesetzbüchern geschieht. Vielmehr müssen wir dieselbe als eine zweckmäßige, sowohl für die Betheiligten wie für die Gesellschaft nützliche Maßregel billigen. … Hunderttausende von unheilbaren Kranken, namentlich Geisteskranke, Aussätzige, Krebskranke u.s.w. werden in unseren modernen Culturstaaten künstlich am Leben erhalten und ihre beständigen Qualen sorgfältig verlängert, ohne irgend einen Nutzen für sie selbst oder für die Gesammtheit.“ (ebd. S. 23 und 134)

Kein Mensch kann wertvoller sein als ein anderer Mensch (Art. 1 GG). Haeckels „Bewertung“ von Erbanlagen, seine Ideen von Selektionsgedanken und Menschenzüchtung bewirkten jedoch schließlich, so die Meinung vieler Historiker3, dass er einer der wichtigsten Wegbereiter der späteren Rassenhygiene und Eugenik in Deutschland wurde. Diese ging in die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus ein und gipfelte im Zweiten Weltkrieg im schrecklichen und zum Schluss sogar industriellen Völkermord, der Schoah (von hebr. הַשּׁוֹאָה ha'Schoah, die Katastrophe, das große Unglück/Unheil; dem nationalsozialistischen Völkermord (Holocaust, von altgriech. ὁλόκαυστος holókaustos, vollständig verbrannt) fielen etwa 5,6 bis 6,3 Millionen europäische Juden zum Opfer4, zudem Zigtausende Angehörige weiterer Minderheiten).

Haeckels politische Thesen gingen weiter. Er schrieb in „Ewigkeit“ (1915) über „die unheilbar an Geisteskrankheit, an Krebs oder Aussatz Leidenden, die selbst ihre Erlösung wünschen“, über „neugeborene Kinder mit Defekten“ und „Mißgeburten“: „Eine kleine Dosis Morphium oderCyankali würde nicht nur diese bedauernswerten Geschöpfe selbst, sondern auch ihre Angehörigen von der Last eines langjährigen, wertlosen und qualvollen Daseins befreien“ (S. 35). Fünf Jahre später wurden seine Ideen fortgeführt und die Programmschrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von Alfred Hoche und Karl Binding erschien (1920). Haeckel hatte über den angeblich geringeren „Lebenswert“ verschiedener Menschengruppen geschrieben (in Lebenswunder, 1904, S. 291–315), der Freiburger Arzt und Euthanasie-Befürworter Hoche sprach 1920 von „lebensunwertem Leben“ und „Ballastexistenzen“ – ein Propagandaausdruck, der in der Weltwirtschaftskrise mit den zunehmenden Kosten-Nutzen-Erwägungen zu rhetorisch-theoretischen Gnadentod-Diskussionen in der Weimarer Republik führte („Euthanasie“). Diese wurden dann im Nationalsozialismus in Form von Zwangssterilisation, Zwangsabtreibung und Krankenmord verwirklicht.

Haeckel selbst hatte versichert: „Ich selbst bin nichts weniger als Politiker. […] Ich werde daher weder in Zukunft eine Rolle spielen, noch habe ich früher jemals einen Versuch dazu gemacht.“ (Freie Wissenschaft und freie Lehre, 2. Aufl. 1908, S. 69). Doch im hohen Alter zeigte er im Ersten Weltkrieg einen polemischen, deutschnationalen Chauvinismus:

„Ein einziger feingebildeter deutscher Krieger […] hat einen höheren intellektuellen und moralischen Lebenswert als hunderte von den rohen Naturmenschen, welche England und Frankreich, Russland und Italien ihnen gegenüberstellen.“ (in: Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre. Berlin 1915, S. 36).

1917 wurde er politisch aktiv und gründete die Deutsche Vaterlandspartei. In der „Generellen Morphologie“ hatte er seine dem entsprechende Anschauung bereits formuliert: „Die Unterschiede zwischen den höchsten und den niedersten Menschen [sind] grösser, als diejenigen zwischen den niedersten Menschen und den höchsten Thieren.“ Das konnte er allerdings nicht genetisch-naturwissenschaftlich begründen, sondern nur von der sozialdarwinistischen Theorie her. Der Sozaldarwinismus hatte Teilaspekte von Darwins Lehre auf die menschliche Gesellschaft übertragen. Auch sie zeige, wie die Natur, im Kampf ums Dasein eine natürliche Selektion. Diese Auslese, so die Annahme, sei in sozialer, ökonomischer und auch moralischer Hinsicht maßgeblich für die menschliche Entwicklung. Das war eine Annahme, eine Hypothese, für die kein wissenschaftlicher Beweis vorlag. Auch Darwin meinte, es gebe gutes und schlechtes Erbmaterial und schlechte sollen ausgelöscht werden. In „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“ hatte er geschrieben:

„Bei Wilden werden die an Geist und Körper Schwachen bald beseitigt und die, welche leben bleiben, zeigen gewöhnlich einen Zustand kräftiger Gesundheit. Auf der andern Seite thun wir civilisierte Menschen alles nur Mögliche, um den Process dieser Beseitigung aufzuhalten. Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken; wir erlassen Armengesetze und unsere Aerzte strengen die grösste Geschicklichkeit an, das Leben eines Jeden bis zum letzten Moment noch zu erhalten. (…) Hierdurch geschieht es, dass auch die schwächeren Glieder der civilisirten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand, welcher der Zucht domesticirter Thiere seine Aufmerksamkeit gewidmet hat, wird daran zweifeln, dass dies für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich sein muss. Es ist überraschend, wie bald ein Mangel an Sorgfalt oder eine unrecht geleitete Sorgfalt zur Degeneration einer domesticirten Rasse führt; aber mit Ausnahme des den Menschen selbst betreffenden Falls ist wohl kaum ein Züchter so unwissend, dass er seine schlechtesten Thiere zur Nachzucht zuliesse. […] Die Hülfe, welche dem Hülflosen zu widmen wir uns getrieben fühlen, ist hauptsächlich das Resultat des Instincts der Sympathie, welcher ursprünglich als ein Theil der socialen Instincte erlangt, aber später in der oben bezeichneten Art und Weise zarter gemacht und weiter verbreitet wurde. Auch könnten wir unsere Sympathie, wenn sie durch den Verstand hart bedrängt würde, nicht hemmen, ohne den edelsten Theil unserer Natur herabzusetzen. (…) Wir müssen daher die ganz zweifellos schlechte Wirkung des Lebenbleibens und der Vermehrung der Schwachen ertragen; doch scheint wenigstens ein Hinderniss für die beständige Wirksamkeit dieses Moments zu existiren, in dem Umstände nämlich, dass die schwächeren und untergeordneteren Glieder der Gesellschaft nicht so häufig als die Gesunden heirathen; und dies Hemmnis könnte noch ganz ausserordentlich verstärkt werden, trotzdem man es mehr hoffen als erwarten kann, wenn die an Körper und Geist Schwachen sich des Heirathens enthielten.(Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Übers. v. J. Victor Carus, 3. Aufl. Bd. 1, 1875, S. 174.).

Haeckels Ideen waren also eine Fortsetzung von Darwin. Spencer machte dann Darwins Begriff der Entwicklung (Evolution) populär, und auch das berühmte „Survival oft he fittest“ kam von ihm, das Überleben des am Besten Angepassten.

Abb. 6: Bischofsweihe von Galens 1933 (links) und die Abschrift seiner Predigt vom 3.8.1941 in St. Lambert aus dem Archiv der damals illegal arbeitenden Pfadfindeergruppe der DPSG (Schreibmasdchinenschrift)

Die NS-Politik von Rassenhass, -hygiene und „Euthanasie“ blieb nicht unwidersprochen – nicht jeder passte sich hier an. Bekannt wurde z.B. im „Diritten Reich“ der Bischof von Münster Clemens August Kardinal Graf von Galen (1878-1946). Er trat öffentlich gegen die Tötung so genannten „lebensunwerten“ Lebens ein. Am 3.8.1941 predigte er in Münsters Stadtkirche St. Lamberti: dass Jesus über Jerusalem geweint hat, weil der Mensch seinen Willen gegen den Willen Gottes stelle und dass jetzt auch in der Provinz Westfalen aus Heil- und Pflegeanstalten Kranke abtransportiert werden und die Angehörigen nach kurzer Zeit die Mitteilung erhielten, der Kranke sei verstorben und die Leiche eingeäschert. Dabei äußerte er den „an Sicherheit grenzende[n] Verdacht, daß man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe sogenanntes ‚lebensunwertes Leben‘ vernichten“, doch jede mit Überlegung ausgeführte vorsätzliche Tötung sei Mord. Da es nach dem Strafgesetzbuch schon strafbar sei, wenn man von einem bevorstehenden Verbrechen wider das Leben wisse und es nicht der Behörde anzeige, habe er bei der Staatsanwaltschaft Münster und dem Polizeipräsidenten Strafanzeige gestellt. Wer meine, man dürfe unproduktives Leben töten, stelle den Menschen mit einer alten Maschine oder einem lahmen Pferd gleich:

„Nein, ich will den Vergleich nicht bis zu Ende führen –, so furchtbar seine Berechtigung ist und seine Leuchtkraft! Es handelt sich hier ja nicht um Maschinen, es handelt sich nicht um ein Pferd oder eine Kuh, … Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von den anderen als produktiv anerkannt werden?“ (aus o.g. Predigt)

Wenn man den Grundsatz aufstelle, dass man den unproduktiven Mitmenschen töten dürfe, so fuhr er fort, dann sei keiner seines Lebens mehr sicher, keiner könne Vertrauen zum Arzt haben, und allgemeines gegenseitiges Misstrauen werde bis in die Familien hinein getragen.

Mit diesen kritischen Predigten hatte von Galen sein Leben riskiert. Der NS-Gauleiter in Münster forderte in Berlin prompt dringend die Verhaftung des Bischofs. Der Stabsleiter bei Hitlers Stellvertreter Heß, erwog, von Galen dafür hängen zu lassen, doch Reichsminister Goebbels wollte keine katholischen Märtyrer während des Krieges. Er befürchtete Unruhen im Münsterland und verschob die Beseitigung von Galens auf die Zeit „nach dem Endsieg“5.

Von Galen, der im Volksmund den Beinamen „Löwe von Münster“ erhielt, wurde 1946 zum Kardinal erhoben und 2005 heiliggesprochen.

 

1.1.3 Arten von Lebewesen und deren Abstammung

Ein Lebewesen (Lebende Materie) unterscheidet sich von unbelebter Materie dadurch, dass es sich von der Umwelt abgrenzt, selbstreguliert Stoffwechsel betreibt (Verdauung, Atmung usw.), wächst und auf Umweltreize reagiert. Es vermehrt sich und gibt dabei Informationen an die Nachkommen weiter. Das Erbgut legt von Anfang an fest, zu welcher Art das neu heranwachsende Lebewesen gehört.

Die „(Bio-)Systematik“ (von griech. συστηματικός systēmatikós‚ geordnet) versucht, eine Ordnung in die Vielfalt von Millionen von Arten zu bringen. Sie benennt sie (Nomkenklatur), teilt sie ein (Taxonomie) und identifiziert Organismen (Bestimmung der Art). Sie versucht, die Stammesgeschichte zu rekonstruieren (Phylogenie) und die Vorgänge zu erforschen, die zu dieser Vielfalt führen. Neue Arten entstehen, andere sterben aus oder sind schon ausgestorben. Die Forschung versucht, die Verwandtschaft zwischen all diesen Arten zu klären und der Öffentlichkeit zu erklären – vom antiken Philosophen Aristoteles über Darwin und Haeckel bis hin zum neusten, offenen Web-Projekt Tree of Life Web ToL.

Abb. 7: Der „Stammbaum des Menschen“ nach Haeckel (1874)

Ursprünglich kannte man nur zwei „Reiche“ von Lebewesen, die Pflanzen und die Tiere. Dann wurden im 19. Jahrhundert die einzelligen Organismen entdeckt (Protisten) und 1866 von Ernst Haeckel als dritte Obergruppe (Reich) eingeführt. 1874 hatte er einen „Stammbaum des Menschen“ erstellt. Er begann „unten“ im Reich der „Protisten“ („Urtiechen“, nach Haeckel „Moneren und Amoeben“), zeigte die Bereiche der Pflanzen und Tiere und endete „oben“ bei der „am höchsten“ entwickelten Art, dem Menschen. Später wurde diese Systematik verfeinert: Man unterschied zwischen Pflanzen und Pilzen (lat. fungi), und Mitte des 20. Jahrhunderts zwischen einzelligen Organismen mit Zellkern, den Eukaryonten, und ohne Zellkern, den Prokaryonten (ab Robert Whittaker 1969). 1977 kam das von Carl Woese eingeführte, fünfte Reich an Lebewesen hinzu, die Archaeen, und 1998 wurde das Reich der Protisten (Einzeller) von Thomas Cavalier-Smith nochmals in „Stramenopile“ (Chromisten) und Protozoen („Urtierchen“) unterteilt. Woese u.a. führten dann 1990 an Stelle dieser sechs Reiche drei Domänen als höchste Kategorie ein, weil man durch Untersuchungen der Nukleinsäuren zu einer neuen Einteilung gekommen war. Denn nun galt es, den grundsätzlichen Unterschied zwischen „Archaebakterien“ (nun: Archaeen) und „Eubakterien“ (nun schlicht „Bakterien“ Bacteria) festzuhalten.

Schon Aristoteles hatte in der Antike die ihm bekannten Lebewesen in einer Stufenleiter angeordnet, vom von primitivsten Lebewesen „unten“ bis zum höchst entwickelten Lebewesen „oben“, dem Menschen. Dazu hatte er u.a. Wuchsformen (Kraut, Staude, Strauch, Baum) verglichen oder die Lebensweise (Nutz-, Wild-, Wassertier). Der Biologe Carl von Linné schuf dann im 18. Jahrhundert eine eigentliche Ordnung, die „hierarchische Taxonomie“. Sie gliederte sich in Reiche, Stämme, Abteilungen, Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und die hierin vorkommenden, einzelnen Arten von Lebewesen. Die Klasse z.B. ist also eine hierarchische Stufe einen Rang oberhalb der Ordnung (ordo) und unterhalb des Stammes (phylum; dieser Systematik nach gehört die Art Mensch, homo sapiens, zur Gattung Homo, Menschen, die zur Familie der Menschenaffen gehört. Diese Familie ist Bestandteil der Ordnung der Primaten aus der Klasse der Säugetiere, und die Klasse der Säugetiere gehört zum Unterstamm der Wirbeltiere im Stamm „Chordatiere“ aus dem Reich „Vielzellige Tiere“. Als dann die Ebvolutionstheorie aufkam, versuchten die Forscher ein Ordnungssystem zu entwerfen, das die Abstammungsverhältnisse (Phylogenetik) besser wiedergibt – bis hin zum Tree of Life Web ToL, in dem der Mensch nicht mehr an der Spitze steht, sondern am Rand des Kreises, von dessen Mittelpunkt (Ursprung) die Zweige des ehemaligen „Stammbaums“ nach außen wachsen.

Zunächst wurde dazu Linnès Systematik, so gut es ging, in den mikrobiologisch ermittelten „Stammbaum“ eingefügt.

Abb. 8: Der phylogenetische Stammbaum mit den drei Domänen nach Carl Woese u. a. Er fußt auf der mikrobiologischen Analyse der Ribonukleinsäuren im Erbgut (rRNA). Quelle: NASA Astrobiology institute.

Später, bevor das Projekt ToL den heute „gültigen“ Vollkreis einführte, wurde der Stammbaum dann zum Halbkreis ausgeweitet.

Abb. 9: Phylogenetischer Stammbaum des Lebens (von 2006)

 

Die genaue Beziehung zwischen den drei Domänen ist noch immer Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geblieben, denn es wurde auch in Frage gestellt, ob dieser Baum aufgrund des inzwischen entdeckten lateralen Gentransfers die beste Darstellung der genetischen Beziehungen aller Organismen sein kann (Es gibt genetische Hinweise, dass die Eukaryonten aus einer Vereinigung von einigen Bakterien und Archaeen entstanden sein könnten, wobei die einen zu Organellen wurden und die anderen zu richtigen Zellen). Somit gibt es auch hierarchische Darstellungen, die den Ursprung oben anzeigen und die einzelnen „Untergruppen“ der Bakterien, Archaen und Eukaryonten (Einzeller, Pflanzen, Tiere, Pilze) unten.

Abb. 10: Hierarchische Darstellung, mit dem Ursprung oben

Das Reich der Archaen ist noch am wenigsten erforscht; man kennt erst rund 220. Sie wurden noch bis etwa 1977 für Bakterien gehalten. Archaen scheinen trotzdem der Haupt-Anteil der globalen Ökosysteme zu sein und stellen rund 20% der Mikroben-Zellen in den Ozeanen6.Beim Menschen wurden sie im Darm, in der Mundflora, im Bauchnabel und in der Vagina nachgewiesen – im Darm vor allem die Gattung Methanobrevibacter. Diese Archaeen vertragen keinen Luftsauerstoff (obligat anaerob), fluoreszieren, produzieren Methangas und vertragen auch extreme Lebensbedingungen (extremophil). Sie haben keine Zellkerne.

Das Reich der Bakterien umfasst geschätzt bis zu einige Millionen von Arten. Allein auf und im Menschen leben einige hundert Arten. Allein im Mund des Menschen leben im Durchschnitt etwa 1010 Bakterien, und auf der menschlichen Haut befinden sich, bei ebenfalls durchschnittlicher Hygiene, etwa hundertmal so viele Bakterien, etwa eine Billion. 99 % aller im und am menschlichen Körper lebenden Mikroorganismen, nämlich mehr als 1014 mit mindestens 400 verschiedenen Arten, sind vorwiegend Bakterien, die Verdauungstrakt leben. Ein Mensch besteht aus etwa 10 Billionen (1013) Zellen, doch auf und in ihm befinden sich geschätzt zwei bis zehnmal so viele Bakterien 7. Auch das älteste bekannte Lebewesen ist ein Bakterium. Bacillus permians wurde im Jahr 2000 von einer Forschergruppe in Pennsylvania, USA, um Russel H. Vreeland entdeckt. Es stammte aus Bohrproben einer Höhle bei Carlsbad, New Mexico, die zur Erkundung einer möglichen Endlagerstätte für Atommüll gezogen worden waren. Es hat die Zeiten in einem größeren Salzkristall überlebt, in einer eingeschlossenen Salzlake in 609 m Tiefe (Bericht des Forscherteams in Nature v. 19.10.2000).

Das bekannteste Reich, das der Eukaryonten, umfasst etwa 270000 bis 320000 Pflanzenarten, ein bis zehn Millionen Tierarten und 70000 bis 1,5 Millionen Arten von Pilzen8.

 

1.1.4 Das Projekt open tree of life (2015)

Abb. 11: Der sternförmige Stammbaum mit allen bekannten Lebensformen der Erde des ToL-Projektes – hier die stark verkleinerte Form des fast poster-großen Originals. Der nach mikrobiologischen Untersuchungen erstellte Stammbaum umfasst rund 2300000 Arten (Stand 2016). Insgesamt werden 92 Bakterienstämme angegeben, 26 „Urbakterien“-Stämme (Archaaen) und auf dem Zweig unten rechts alle fünf „eukaryotischen“ Stämme. Eukaryonten sind Wesen aus Zellen mit Zellkernen. Hierzu gehören alle Tiere, Pflanzen, Pilze und z.B. Amöben-ähnliche Urtierchen (Amoebozoa). Nach: Laura A. Hug1, Brett J. Baker, Karthik Anantharaman u.a.

Ende der 1980er Jahre saß David Maddison mit dem Computerprogramm MacClade an einer philosophischen Doktorarbeit. Er wollte eine offene Datenbank schaffen, die die Verwandtschaft, den Stammbaum aller irdischen Lebensformen für alle Menschen zur Verfügung stellt – so wie sie die Molekularbiologen ermittelt hatten. Das Projekt startete offiziell am 5.1.1996 und wird von Hunderten von Wissenschaftlern unterstützt, aber auch von Biologielehrern und Laien. Es umfasst mittlerweile etliche Teile, auf mehreren Internetservern weltweit, und von 1996 bis 2001 haben über 300 Biologen rund um den Globus Webseiten mit dieser Datenbank verknüpft. Sie ist im Internet unter 9http://tolweb.org/tree/10 frei einsehbar. Dieses Tree of Life Web ToL stellt den neusten Stammbaum für alle bekannten Arten von Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroben dar, den es gibt, zusammengefügt aus über 7500 von 2000 bis 2012 veröffentlichten Studien über die Verwandtschaftsbeziehungen von Arten – vom Ursprung des Lebens an, vor etwa 3,5 Milliarden Jahren.

Nach Ansicht der Forscher kann das bessere Verständnis der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Arten hilfreich sein: bei der Entwicklung neuer Medikamente, bei der Steigerung landwirtschaftlicher Erträge und sogar bei der Erforschung der Herkunft und Verbreitung von Krankheiten wie Aids, Ebola und Grippe.

 

1.1.5 Das Artensterben – der Baum wird beschnitten

Die Artenvielfalt (Biodiversität) ist für die Lebensgemeinschaften von großer Bedeutung. Viele Arten sind ökologisch voneinander abhängig, unterstützen sich in einem Ökosystem gegenseitig (Nicht einmal eine Parasitenart überlebt, wenn sie ihre Wirte komplett ausrottet). Haeckel hatte den Begriff Ökologie als Lehre von den Wechselwirkungen der Organismenarten untereinander geprägt (von altgriech. οἶκος oikos‚ Haus, Haushalt, und λόγος logos‚ Lehre: „Lehre vom Haushalt“):

„Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle „Existenz-Bedingungen“ rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur; sowohl diese als jene sind, wie wir vorher gezeigt haben, von der grössten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen.“11.

Später wurde eine Aufteilung in die drei Bereiche Autökologie, Populationsökologieund und Synökologie vorgenbommen (Letzteres als Ökologie von Lebensgemeinschaften), und es kamen Spezialbereiche hinzu wie z.B. die Analyse der biologischen und ökologischen Vielfalt.

Abb. 12: Ein Massenaussterben – Diagramm zur Entwicklung des Artensterbens nach „World Scientists‘ Warning to Humanity: A Second Notice“, 2017

Noch Ende der 1960er Jahre war der Begriff Ökologie wenig bekannt.1962 erschien das Buch Silent Spring, „Stummer Frühling“ von Rachel Carson. Sie wies auf die Pestizidproblematik und Gefährdung der Vogelwelt hin: Die Insekten und die von ihnen lebenden Vogelarten sterben durch den massiven Einsatz der Insektizide weltweit aus. Das erwirkte ein Verbot von DDT und anderen biologisch nicht abbaubaren, sich anhäufenden Umweltgiften. In Europa wurden fast zeitgleich Forderungen nachj Gewässerschutz lauter. Hier hatten die Schwermetall- und Salzfrachten, die Eutrophierung und der Sauerstoffschwund zu einer drastischen Verarmung der Organismenvielfalt in Seen und Gewässern geführt, mit Algenblüten und Fischsterben. Das 1971 angelaufene Programm Man and the Biosphere schuf ein ökologisches Bewusstsein weit über den naturwissenschaftlichen Rahmen der Biologie hinaus und führte zu mittlerweile über 670 Biosphärenreservaten in rund 120 Staaten. Unter Ökologie und unter „ökologisch“ wurde aber ab jetzt zunehmend ein Ressourcen und Umwelt schonender, nachhaltiger Umgang mit der Natur verstanden. Der Club of Rome veröffentlichte 1972 die alarmierende Studie „Grenzen des Wachstums“ und 1980 den Bericht Global 2000 an den US-Präsidenten. Der WWF Deutschland stellte 2016 im Living Planet Report fest, dass „die Kurve der weltweiten, biologischen Vielfalt […] steil nach unten“ geht. Man habe mittlerweile über 14.000 Widtier-Populationen erfasst, und insgesamt sei ein Rückgang der Bestände um fast 60 % während der vergangenen 40 Jahre zu beklagen. Bei Süßwasserarten wie den Amphibien und Süßwasserfischen seien die Bestände in diesem Zeitraum weltweit im Schnitt um 81 % geschrumpft.

Abb. 13: Links zwei Moas, die von einem Haastadler angegriffen werden (1922), rechts das Skelett eines Moas (Dinornis)

Das durch den Menschen verursachte Massenaussterben in der Tier- und Pflanzenwelt begann vor rund 8000 Jahren. Bei der Besiedlung vieler Inseln rotteten die Menschen dortige Tierarten aus. Sie vermehrten sich nur langsam, zeigten mangels natürlicher Feinde keine Fluchtreflexe und waren eine leichte, nahr- und oft sogar schmackhafte Beute. Auf Neuseeland gab es z.B. den Moa (ausgestorben 1922), einen flugunfähigen Laufvogel. Er lebte in historischer Zeit mit neun Arten über beide Inseln Neuseelands. Auf Mauritius existierte die wohl bekannteste, vom Menschen ausgerottete Art, der Dodo.

Der in die englischen Redensart „Dead as a dodo“ eingegangene Vogel stand im im 16. und 17. Jahrhundert für Exotik und die Größe der Entdeckungen der niederländischen Seefahrt. Um 1690 starb er aus. 1865 wurde er populär durch seinen Auftritt im berühmten Kinderbuch Alice im Wunderland von Lewis Carrol. Er ernährte sich von vergorenen Früchten und nistete auf dem Boden. Aus Berichten weiß man, dass er ein blaugraues Gefieder hatte, kleine Flügel und einen etwa 23 Zentimeter langen, schwärzlichen, gebogenen Schnabel mit einem rötlichen Punkt. Er konnte nicht fliegen, legte gelbe Eier und ein Büschel gekräuselter Federn bildete den Schwanz. Dodos waren relativ groß und wogen über 20 kg. Auf Mauritius hatte er keine Fressfeinde. Eingeschleppte Ratten und verwilderte Haustiere (ins Besondere Schweine und Affen) zerstörten die Gelege der bodenbrütenden Vögel und fraßen die Eier. Er zeigte kein Flucht- oder Verteidigungsverhalten, war zutraulich und wurde so auch für Menschen zu einer leichten Beute – nicht wohlschmeckend, aber für lange Seefahrten als Frischfleisch geeignet (Neben dem Fleisch wurden auch die Eier in Massen zum Proviant der Seeleute, was auch der Galápagos-Riesenschildkröte zum Verhängnis wurde). Nicht einmal ein einziges Jahrhundert nach seiner Entdecklung war der Dodo ausgestorben.

Abb. 14: Links der Dodo (Raphus cucullatus) neben einem einhörnigen Schaf und einem Rotschwanz (als Zeichnung von Pieter van den Broeke 1617), mittig auf einer Münze von Mauritius von 1971 und rechts die Zeichnung „Alice und der Dodo“ aus „Alice im Wunderland“.

Ähnlich kam die ansässige Vogelwelt auch in Polynesien und auf Hawaii zum Verschwinden, beschleunigt ins Besondere im Zeitalter der Entdeckungen ab ca. 1500. Die Europäer besiedelten andere Kontinente, rotteten vermeintliche Schädlinge aus und schleppten Ratten, Füchse, Schweine und andere neue Bewohner (Neozoen) ein. Die alte, einheimische Fauna war ihnen oftmals wehrlos ausgeliefert.

Eine der in Europa durch Menschenhand ausgestorbene Art war der Auerochs (Bos primigenius). Zusätzlich zur exzessiven Bejagung vieler Tierarten kamen bald weitere Ausrottungs-Faktoren hinzu. Mit der industriellen Revolution kam es zur Vermichtung des Lebensraumes, durch Rudung und Entwaldung, Ackerbau und Verstädterung, und zur Verbreitung von Schadstoffen und modernen Umweltgiften. Der Worl Wildlife Fund WWF spricht in seinem Jahresbericht 2014 von einer z.T. dramatisch zunehmenden Verschlechterung der Überlebenschancen vieler Arten wie z.B. der Elefanten, Nashörner, Löwen und Walrosse. Ins Besondere die Menschenaffen wie Bonobos, Orang-Utans und Gorillas sind vom Aussterben bedroht. Sie verlieren ihre letzten Schutzgebiete zu Gunsten der Erdölförderung, von Ölpalmen-Plantagen oder durch Raubbau von Tropenholz und Brandrodung zur Anlage neuer Anbauflächen oder Viehweiden. 2014 befanden sich 94% aller Primaten-Arten auf der Roten Liste in einer der drei höchsten Gefährdungskategorien. Der Living Planet Report (Lebender-Planet-Report) stellte 2016 bei über 14.000 untersuchten Tierpopulationen einen weltweiten Rückgang der Tierbestände fest, um fast 60 % während der vergangenen 40 Jahre (auf: wwf.de, 27. Oktober 2016). Die Bestände der Tiere in Flüssen und Seen seien weltweit im Schnitt um 81 % zurückgegangen.Die WWF geht von einer Aussterberate von 3 bis 130 Arten pro Tag aus, das 100 bis 1.000fache des natürlichen Wertes. Eberhard Brandes, WWF Deutschland: „Der Mensch verursacht gerade das größte globale Artensterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier“. Das Stockholm Resilience Centre von 2009 urteilt sogar, dass der ermittelte Grenzwert für das verkraftbare Artensterben bereits um über 1.000 % überschritten ist und noch vor dem Klimawandel das größte ökologische Problem darstellt.

 

1.2 Leben erhalten – Heilkunde und Medizin

1.2.1 Lebenserwartung und Todesursachen

Die Frage „Wann sterben wir und warum?“ ist für jeden Menschen von Interesse, nicht nur für Biowissenschaftler. Eine vage Antwort kann im Hinblick auf die Art Mensch als Ganzes versucht werden und mit Hilfe der Satitstik auch im Hinblick auf die Lebenserwartung einzelner Personen.

Abb. 15: Links ein Satellitenbild, das die großflächige „Umwandlung“ von Regenwald (links) in eine Monokultur von Ölpalmen zeigt (Quelle: NASA). Rechts ein Artenzahl/Zeit-Diagramm für vier Kontinente: Immer wenn der Mensch den jeweiligen Kontinent oder die jeweilige Insel besiedelte (gestrichelte Linien von oben nach unten), nahm die Anzahl der Arten an größeren Säugetieren extrem ab.

Trotz des derzeitigen Massenausterbens der Arten scheint die Art Mensch vom gegenwärtigen Artensterben nicht betroffen zu sein. Sie ist offenbar der Verursacher des gegenwärtigen Artenterbens, und sie wächst. Die Biowissenschaften zeigen jedoch, dass artenärmere Lebensgemeinschaften und ins Besondere Monokulturen viel anfälliger sind für Klimaschwankungen und Schädlinge. Wenn die Lebensgrundlage für eine Lebensgemeinschaft schwindet (Wasser, Land, Luft, gesunde Nahrung), so wird natürlich die Überlebenschance aller Arten geringer, die diese Lebensgrundlage brauchen. Phänomene wie das gegenwärtige Insekten-, Vogel- und Waldsterben zeigen: Es geht also nicht nur um „andere“ Arten wie z.B. den Orang-Utan12, es geht auch um den Menschen als Art.

Abb. 16: Die Nahrung geht aus. Hier der dramatische Rückgang des Bestandes des nordatlantischen Kabeljaus (Dorsch) an der Küste von Neufundland – ein Resultat der Überfischung: 1992 lag der Bestand bei null Exemplaren.

Nicht nur die Vernichtung anderer Arten und ihres Lebensraumes z.B. durch Überjagung und Überfischung kann zu einer Gefahr werden, die Hungersnöte, Flüchtlingsströme und Kriege auslöst. Die Vernichtung tierischer und pflanzlicher Ressourcen löst schließlich eine Konkurrenz um Futter und Nährstoffe aus. Durch die „Umgestaltung“ ganzer Ökosysteme und neue Kontakte können sich auch neue, hochgefährliche Krankheitserreger verbreiten – aus anderen Lebensräumen oder durch plötzliche Mutationen. Die Art Mensch bleibt davon nicht verschont. Pest, Cholera, Ebola, Vogelgrippe, AIDS, neue multiresistenze Keime – immer wieder traten und treten Epidemien (Seuchen, beim Menschen) oder auch Epizootien (bei Tieren) auf, die den Bestand einer Art gefährdeten. Medizin und Veterinärmedizin versuchen zwar, dem entgegen zu treten, doch das Ende einer Art kann manchmal schneller kommen, als die (Veterinär)Medizin Gegenmittel finden kann.

Ein warnendes Beispiel ist die mittelamerikanischen Laubfroschart Ecnomiohyla rabborum – der Rabb’s Fringe-limbed Treefrog („Rabbs Fransenzehen-Laubfrosch“). Diese Froschart wurde erst 2005 in Panama entdeckt bzw. als eigenständige Art erkannt. Bei diesem neuen Kontakt zur Spezies Mensch wurden die Tiere jedoch durch eine Seuche befallen. Und schon elf Jahre später war die Froschart ausgestorben, durch eine Pilzseuche dezimiert. Der Chytridpilz Batrachochytrium dendrobatidis wurde als Ursache erkannt: Er siedelte auf der Haut afrikanischer Krallenfrösche (die gegen ihn immun sind) und wurde ab 1980 mit diesen für veraltete Schwangerschaftstest eingesetzten Krallen- und Apothekerfröschen13 nahezu weltweit verbreitet. Amphibien in anderen Gebieten aber besaßen keine Immunität gegen ihren Pilz – weltweite Epidemien unter ihnen war die Folge, ins Besondere in Mittel- und Südamerika sowie Australien.

Abb. 17: „Toughie“, das letzte Exemplar der mittelamerikanischen Laubfroschart Ecnomiohyla rabborum. Diese Art wurde erst 2005 entdeckt. Im September 2016 starb sie aus, weil sie Pilzart Batrachochytrium dendrobatidis infizierte und ausrottete.

Abb. 18:Rasterelektronenmikro-skopische Aufnahme der eingefrorenen, intakten Zoospore des Töpfchenpilzes Batrachochytrium dendrobatidis (Quelle: Alex Hyatt, CSIRO/AAHL).

Der krankheitsauslösende Pilz wurde schon 1993 in sterbenden und toten Fröschen in Queensland entdeckt. Die epidemiologische Forschung zeigte, dass er sich seit 1978 in Australien verbreitet hatte und zu einem sder schlimmsten „Froschkiller“ auf dem Kontinent wurde. Bei oder kurz nach der Entdeckung der mittelamerikanischen Laubfroschart Ecnomiohyla rabborum muss er auch mit dieser Art in Kontakt bekommen sein – z.B. in Form mikroskopisch kleiner Sporen. Sporen sind ein- oder wenigzellige Entwicklungsstadien von Lebewesen, die der Ausbreitung, Überdauerung oder ungeschlechjtlichen Vermehrung dienen. Bakterien, Pilze, Algem Protozoen, Moose und Farne bilden Sporen in großer Zahl, um sich auszubreiten. Wenn die Sporenbildung durch lebensfeindliche Umweltzustände ausgelöst wird, dienen Sporen zum Überdauern dieser Widrigkeiten. Oft stellen sie ihren Stoffwechsel komplett ein, benötigen weder Wasser noch Luft noch Nährstoffe und können unwirtliche Bedingungen überleben (Bakterien-Endosporen überdauern mehrere hundert, vielleicht sogar tausend Jahre lebend und könnmen der harten Strahlung im All trotzen). Bakterien und Pilze bilden nicht nur Sporen, sie können durch mutagene Chemikalien, Strahlen oder andere Einflüsse auch urplötzlich neue, gefährliche Mutanten bilden.

Abb. 19: Rasterelektroenmikroskopische Aufnahme von Pestbakterien Quelle: Rocky Mountain Laboratories, NIAID, NIH

Die Menschheit kam schon oft in eine solche Gefahr. Aus der Geschichte bekannt sind die verheerenden Pestwellen (Justinianische Pest 541-770, der „Schwarze Tod“ 1347-1351, indochinesische Pestpandemie 1890 u.a.). Manchmal rotteten diese Pandemien ein Drittel der Bevölkerung aus. Das für den Menschen relativ ungefährlichen Bakterium Yersinia pseudotuberculosis mutierte zum Bakterium Yersinia pestis. Ursprünglich war die Pest (lat. Pestis, Seuche) also eine nur unter Nagetieren wie Ratten, Murmeltieren und Eichhörnchen verbreitete Infektionskrankheit. Doch von dort aus wurde der Erreger auf Rattenflöhe übertragen (Gattung Xenopsylla cheopis). Alexande Èmile Jean Yersin hatte den Erreger 1894 entdeckt. 1980 entdeckten Dan Cavanaugh und James Williams, dass der Erreger seine krankmachenden Fähigkeiten (Pathogenität, Virulenz) bei der Übertragung vom Floh (Körpertemperatur um 24 °C) auf die Ratte (38,5 °C) und den Menschen (37°C) um fast das 50-Fache steigern konnte. Nur 3 Stunden nach Eingang in einen Körper von 37 °C ist sein Schutzmechanismus gegen Leukozyten und kurz danach gegen die Monozyten ausgebildet. Bei moderaten Temperaturen überlebt Yersinia pestis an den Mundwerkzeugen der Flöhe rund 3 Stunden – in Ratten und Menschen jedoch kann er sich explosionsartig vermehren. Die Pesterkrankung ist dann für den Menschen ebenso tödlich für Ratten. Manchmal bilden sich Pusteln aus (Bubonen- oder Beulenpoest), oder der Patient stirbt schnell und ohne besondere äußere Symptome mit einer hohen Bakterienkonzentration im Blut (z.B. bei der „sekundären Lungenpest“, bei der die Pestbakterien die Lunge angreifen, die gefährlichste Form mit raschesten Verlauf; es kommt zu hohem Fieber und blutigem Auswurf). Die Bakterien geben ihr toxisches Sekret in den Blutkreislauf ab, Nieren- und Lebergewebe versagen und ein tosxischer Schock führt zum Tod. Bei der europäischen Pest-Pandemie 1346-1353 starben 25 Millionen Menschen – ein Drittel der damaligen Bevölkerung.

Im letzten Jahrhundert kam eine ähnliche Bedrohung auf die Art Mensch zu. Um 1908 herum, wie man inzwischen weiß, wurde in Kamerun ein Schimpansen-Virus auf einen Menschen übertragen. Es tauchte dann 1930 in Zentralafrika auf, um 1966 herum nach Haiti gelangte und von dort aus drei Jahre später über die USA über den gesamten Globus: „Dank molekularer Stammbaumanalysen und epidemiologischer Recherchen weiß man heute, dass die verschiedenen Aids-Erreger von Viren afrikanischer Menschenaffen abstammen. HIV-1-M, weltweit am meisten verbreitet, ist Nachkomme eines Schimpansen-Virus, das um 1908 in Kamerun auf den Menschen übertragen wurde14. Die Verbreitung von HIV entwickelte sich Anfang der 1980er Jahre zu einer Pandemie. Nach Schätzungen der Organisation UNAIDS forderte sie bisher etwa 39 Millionen Leben gefordert hat. Ende 2014 waren weltweit geschätzt 36,9 Millionen Menschen mit HIV infiziert.

Abb. 20: Entwicklung der Weltbevölkerung (und ihrer Wiederkäuer-Nutztierpopulationen) 1960-2017 (nach „World Scientists’ Warning to Humanity: A Second Notice“ 2017)

Weitere Gefahren für den Fortbestand der Art Mensch neben Seuchen sind Kriege, Hungersnöte, der Klimawandel und die Überbevölkerung. Auch sie hat mittlerweile ein gefährliches Ausmaß erreicht. Die Weltbevölkerung steigt „explosionsartig“ an (exponentiell): Vor 500 Jahren betrug sie 425 bis 540 Millionen, wobei im Laufe des 16. Jahrhunderts die amerikanische Bevölkerung durch die von Europäern eingeschleppten Seuchen von etwa 50 Millionen auf nur noch 5 Millionen abnahm. Dann stieg das weltweite Wachstum im 18. Jahrhundert dauerhaft über 0,5 % im Jahr, Mitte des 20. Jahrhunderts für einige Jahrzehnte sogar über 2 %. Um 1800 wurde eine Milliarde erreicht, um 1950 die zweite Milliarde. Am 11.7.1987 erreichte die Weltbevölkerung nach UN-Berechnungen die fünfte Milliarde. Schon am 12.10.1999 wurde der sechsmilliardste Mensch auf der Erde geboren, und am 31.10.2011 war es der Siebenmilliardste15. Es wird befürchtet, dass dadurch eine Überbevölkerung eingetreten ist, ins Besondere in weniger entwickelten Staaten in Afrika und Asien sei die Bevölkerungsdichte zu hoch. Hunger, Armut, Mangelerscheinungen, ökologische Probleme, die schnelle Ausbreitung von Epidemien und wirtschaftliche Stagnation seien die Folgen. Das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung wwerde, so die UN, durch das Bevölkerungswachstum verhindert. 2017 stellten die UN fest, dass der für 2030 angestrebte, flächendeckende Zugang zu sauberen Kochmöglichkeiten mit Strom untergraben wird: Noch immer kochten mehr als drei Milliarden Menschen mit schädlichen Brennstoffen wie Holz oder Dung. Und auch in stärker urbanisierten Schwellen- und Industrieländern besteht die Gefahr gefährlicher Luftverschmutzung (Nach WHO-Angaben starben 2012 ca. acht Millionen Menschen vorzeitig durch Folgen von Luftverschmutzung16).

Und die individuelle Lebenserwartung? Die Jäger und Sammler in der Urzeit wurden etwa 30 Jahre alt. Die ersten Ackerbauern und Viehzüchter im Neolithikum hatten eine Lebenserwartung von nur noch 20 Jahren – die Kinder starben früh und es gab mehr Infektionskrankheiten, auch durch den engeren Kontakt untereinander und mit den Haustieren. Vor 1800 wurden die Menschen im Schnitt 40 Jahre alt, wobei über 50% das Erwachsenenalter nicht erreichten. Dann stiegen die Chancen rasant, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts betrug die Lebenserwartung der Europäer und Amerikaner schon bei 70 bis 80 Jahren.

Die gegenwärtige, statistische Lebenserwartung in Deutschland, Frankreich und Spanien im Schnitt um 80 Jahre – in Norwegen und Australien sogar über 82 Jahre (a), aber in Ländern wie Afghanistan, Somalia, Nigeria und Mosambique unter 50. Der Rekord in der Lebenserwartung lag 2007 in Andorra mit 83,5 a, das Minimum in Swaziland mit 34,1 a. 2015 lag es in Monaco (89,25 a) und das Minimum im Tschad (49,81a; Weltweit im Durchschnitt: 71,4 a. 2001 gab es weltweit insgesamt 56 Millionen Todesfälle, rund 20% davon betrafen Kinder unter 5 Jahren.

Todesursache*

Männer

Frauen

Kreislauferkrankungen

38,5 %

47,8 %

Krebserkrankungen (1)

29,0 %

22,6 %

Atemwegs-erkrankungen (2)

7,7 %

6,4 %

Erkrankungen der Verdauungsorgane

5,4 %

4,8 %

Unfälle

4,9 %

2,6 %

Weitere

14,6 %

15,8 %

* Zahlen für Deutschland und gerundet, auf Basis der Zahlen im Wikipedia-Artikel zur Lebenserwartung, eingesehen am 14.5.2018; (1) zumeist an Lunge, Darm, Prostata, Brust; (2) zumeist Asthma, chronische Bronchitis, Lungenemphysem / COPD („Raucherhusten“)

Abgesehen vom Geburts- und Wohnort, von Lebensstil und Risikobereitschaft: Was kann statistisch gesehen unsere Überlebenschancen als Einzelpersonen noch erhöhen? In Deutschland betrug sie bei den in dauerhafter Partnerschaft lebenden Männern 1993 im Schnitt 71,1 Jahre, bei den Frauen 82,2 Jahre. Bei den mit über 60 Jahren Alter verwitweten Männern lag sie bei 67,8 Jahren, bei den verwitweten Frauen bei 77,1 Jahren. Bei geschiedenen Männern jedoch betrug sie nur 59,8 Jahre, und 75 bei den Frauen. Familie steigert die Lebenserwartung offensichtlich – und Geld auch: Menschen mit höherem Einkommen leb(t)en rund 10 Jahre länger als Arme.

Todesursache in Deutschland

Tote*

Jahr

Tabakmissbrauch

130000*

 

Chronisch ischämische Herzkrankheit

77369

2007

Alkoholmissbrauch

>73000

2012

Akuter Myokardinfarkt

56779

2007

Herzinsuffizienz

49995

2007

Bösartige Neubildungen der Bronchien und Lunge

41495

2007

Suizid

>11000

2015

Verkehrsunfälle

3377

2014

Passivrauchen

3300

 

Vergiftungen

2944

1995

Drogenmissbrauch

1000

2011

Badeunfälle

606

2006

Ertrinken

488

2015

Stromunfälle

50-120

 

* weltweit 5,4 Mio. / Zahlen gerundet, auf Basis der Zahlen im Wikipedia-Artikel zur Lebenserwartung, eingesehen am 14.5.2018

Und die Todesursachen? Weltweit sterben täglich rund 150000 Menschen, davon etwa 2/3 an Alterserkrankungen (in D: 90%). Die häufigsten Todesursachen in Deutschland waren 2006 Atemwegserkrankungen 3,9 Mio., AIDS 3 Mio., Durchfallerkrankungen (Cholera, Typhus, Ruhr) 2,1 Mio., Tuberkulose 1,6 Mio., Malaria 1 Mio., Verkehrstote weltweit 1,2 Mio./a – in Deutschland: 3377 Tote (2014, bei 2,4 Mio. Unfällen).

Die bedeutsamsten Faktoren, die die individuelle, statistische Lebenserwartung verkürzen können, sind Rauchen, Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Diabetes und Bewegungsmangel. In vorindustrieller Zeit und in vielen Entwicklungsländern sind es hingegen eher genetische Faktoren, unzureichende Ernährung, unsauberes Trinkwasser, mangelnde Hygiene, Stress und eine mangelnde ärztliche Versorgung, die die Lebenserwartung begrenzen17.

 

1.2.2 Schamanismus und Medizinmänner

Seit jeher versuchen Menschen, Erkrankte zu heilen und so die Lebenserwartung zu erhöhen. Oft wurden dazu bestimmte Zeremonien verübt und übernatürliche Mächte angerufen (Schamanen, Medizinmänner), oft auch Heilkräuter und –mittel eingesetzt oder Operationen versucht.

Ursprünglich waren Schamanen spirituelle Spezialisten sibirischer Kulturvölker18. Im weiteren Sinne verstand man darunter dann allgemein Vermittler zur Geisterwelt, die magische Fähigkeiten besaßen und kultische oder medizinische Handlungen zum Wohl der Gemeinschaft einsetzten – manchmal auch Rituale unter Drogengebrauch. Der „Medizinmann“ war ursprünglich der Begleiter und Berater nordamerikanischer Indianer für den Umgang mit deren Medizin, der Kraft aus dem Kontakt mit geistigen und natürlichen Wesen, aber auch Heilkundiger aus anderen traditionellen Kulturen oder auch Medizinfrauen amerikanischer oder australischer Stämme wurden als „Medizinmänner“ bzw. Schamane bezeichnet, ebenso wie Geisterbeschwörer, Zauberer, Heiler, Wahrsager“ aus Afrika oder Melanesien. Der Übergang zwischen Schamane, Medizinmann und Priester in den Naturreligionen war und ist fließend19.

Abb. 21: Schamane aus Alaska bei einer Heilungszeremonie

Quelle: U.S. National Archives and Records Administration

Eine zentrale Aufgabe der meisten Schamanen ist die des höchstrangigen Heilers. Schwere, langwierige oder geistige Krankheiten beruhen je nach kultureller Anschauung auf Schadenszauberei, Seelenraub, Besessenheit durch Geister, Tabuverletzung oder Vernachlässigung der Ahnen. Das zu beheben war Aufgabe des heilkundigen Schamanen.

 

1.2.3 Heilkunde und Medizin

Abb. 22: Gebohrte Trepanationslöcher in einem menschlichen Schädel (Monte Albán Museum)

Unter Heilkunde versteht man die menschlichen Kenntnisse und Fähigkeiten über die Entstehung, Heilung und Verhinderung von Krankheiten, z.B. auch bei Heilpraktikern, in der Volksheilkundem, Alternativmedizin und Psychotherapie. Die Heilung soll die Herstellung oder Wiederherstellung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit aus einer Krankheit oder einem Leiden bewirken, z.B. durch ein Genesen (das Überwinden einer Versehrtheit oder Verletzung). „Heilung“ im Sinne von Heil meint von der Wortbedeutung her ein Ganz-Werden, „genesen“ (von griech. neomai) ein Davongekommensein aus einer Gefahr (Im heutigen biopsychosozial-medizinischen Sinn gehören zur Heilung also sowohl körperlich-biologische als auch psychische und soziale Aspekte).

Im Unterschied zum Schamanismus, zu Medizinmännern und zur Heilkunde arbeitet die moderne Medizin mit (natur)wissenschaftlichen Methoden. Als Wissenschaft und Lehre von der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Verletzungen und Krankheiten bei Menschen und Tieren ging sie aus der Heilkunde hervor, als diese begann, Krankheit und Heilung mit Experimenten, Beobachtungen oder Befragungen zu untersuchen. Sie wurde so zu einer praxisorientierte Erfahrungswissenschaft.

Ihre Anfänge sind nicht ganz klar. Archäologen fanden Anzeichen von Verfahren, die ritueller Natur sein aber auch Heilungsversuche darstellen konnten. Neben Heil- und Zauberkräutern gab es anscheinend schon in der Urzeit Eingriffe, die chirurgisch-„medizinische“ Versuche gewesen sein können – oder auch kultische Handlungen.

In Marokko fand man 13000 bis 14000 Jahre alte Schädel, die angebohrt waren. Es handelte sich um Trepanation (von mittellat. trepanatio bzw. griech. Τρύπανον trypanon, Bohrer). Bei diese operativen Verfahren wurde eine knöchern oder auf andere Weise fest umschlossene Körperhöhle mechanisch geöffnet wird, z.B. durch Anbohren. Solche Schädelöffnungen gab es in der europäischen Mittelsteinzeit, Asien (z. B. bei Jericho, 8350 bis 6000 v.Chr. und in Anatolien) und ab der Jungsteinzeit auch in Ostasien. In Südamerika wurden Schädel erst ab 400 v. Chr. Geöffnet. Rund 3000 Trepanationen wurden auf medizinische oder kulturelle Zusammenhänge hin untersucht, und von mehr als 100 neolithischen Trepanationen aus Walterniernburg-Bernburger Kultur weiß man, dass die dort vorgenommenen Trepanationen – wie verheilte Wundrändern zerigen – in den meisten Fällen überlebt worden sind. Ägyptische Papyri aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. belegen, dass auch dort Schädel geöffnet wurden. Einige Schädelfunde bestätigen dies, z.B. im Gräberrund B in Mykene von einem etwa 1600 v. Chr. bestatteten Mann mit Trepanationsspuren einer gefunden. Auch der griechische Arzt Hippokrates (ca. 460–370 v.Chr.), Aulus Cornelius Celsus (Rom, um 25 v.Chr. bis ca. 50 n.Chr.) und der byzantinische Arzt Paulos von Aigina (etwa 625–690 n.Chr.)nahmen höchstwahrscheinlich Schädelöffnungen vor. Im christlichen Mittelalter wurden sie dann an lebenden Menschen verboten; es gab nur wenige geheime Kopfoperationen.

Abb. 23: Eine „Kraniotomie“: Die Behandlung einer Schädelwunde, aus Hans von Gersdorffs "Feldbuch der Wundarzney" (1517)

In der Antike bildeten sich unterschiedliche Heilkünste und medizinische Lehrsysteme aus – in China, Indien, und im Mittelmeerraum. Die traditionelle chinesische Medizin entstand aus einfachen Dämonen- und Ahnenheilkulten. Die praktische Medizin dort stammt aus der Zeit um 300 v.Chr., wobei das Werk Huángdì Nèijīng (chin. 黄帝内經) die Akupunktur begründete und der Alchemist Tao Hongjing (chin. 陶弘景, 456-536 n.Chr.) die Arzneimittelkunde (Pharmakologie). In der Neuzeit die ursprüngliche magische Dämonenlehre aufgegeben und die Techniken wurden standardisiert und perfektioniert. Die Ayurveda-Medizin in Indien entstand um 500 v. Chr. Ebenfalls aus den älteren, magisch-theistischen Glaubensinhalten. Sie fußte auf einer Gleichgewichtsphysiologie der Lebensenergien Luft, Galle und Schleim, einer Temperamentenlehre und auf Ernährung und Meditationsübungen bis hin zum Yoga. Ihre Lehrer waren Chakara, Vagbhata, Sushrata u.a.

Die Medizin der ägyptischen, griechischen und römischen Antike ging über in die moderne, westliche Medizin. Zu ihren Bereichen gehören neben der Humanmedizin (von lat. humanus), die Zahn- und Veterinärmedizin (Tierheilkunde, von lat. veterinae, Zugtiere) und, in einem weiteren Verständnis, auch die Phytomedizin, die Pflanzenkrankheiten und Schädlinge bekämpft. Diese morderne Medizin im weiteren Sinne ist die naturwissenschaftliche Lehre von gesunden und kranken Lebewesen. Seit etwa 1854 bedient sie sich der Grundlagen aus der Chemie, Biologie, Physik und Psychologie, z.B. wenn sie die Ursachen von Krebs und anderen Krankheiten erforscht20.

 

1.3 Natur, Leben und Naturkunde

1.3.1 Die Begriffe Natur und Leben

Die Medizin und die anderen Biowissenschaften gehören zu den Naturwissenschaften – wir sind ein Teil der Natur. Der Begriff „Natur“ kommt von lat. natura bzw. nasci, was „entstehen, geboren werden“ heißt und dem griechischen Wort φύσις, physis entspricht (vgl. „Physik“). Der Begriff „Natur“ bezeichnet das Sein im Ganzen, den Kosmos (das Universum), ins Besondere den Teil der Wirklichkeit, der nicht aus einem nichtnatürlichen Bereich stammt (wie das Göttliche, Geistige, Kulturelle, Künstliche oder Technische). Doch ganz so einfach ist es nicht: Natur“ (das, was also nicht vom Menschen geschaffen wurde) ist zwar ein Gegenstück zu „Kultur“, der Gesamtheit der Menschen geschaffenen Dinge, doch die Naturwissenschaften beschäftigen sich auch mit den vom Menschen geschaffenen (realen) Dingen.

Ein anderer Beschreibungsversuch geht davon aus, dass zwischen der biotischen, belebten Natur unterschieden wird und der unbelebten (abiotischen) Natur (z.B. Steine, Strahlung, Gase, Flüssigkeiten usw.). Der Begriff „belebt“ fußt auf den Begriffen „Leben“ und „Lebewesen“. Er hängt deshalb über das Naturwissenschaftliche hinaus mit philosophischen oder weltanschaulichen Anschauungsweisen zusammen.

In der Philosophie scheint es keine eindeutige, kurze Antwort zu geben, sondern viele unterschiedliche Ansätze, wie der folgende Abschnitt mit Zitaten belegt. Der antike, griechische Naturphilosoph Demokrit z.B. betonte, dass zum Leben mehr als das bloße Überleben gehört: „Ein Leben ohne Freude ist wie eine weite Reise ohne Gasthaus.“. Samuel Butler sah der Sinn des Lebens ähnlich: „Alle Lebewesen außer den Menschen wissen, dass der Hauptzweck des Lebens darin besteht, es zu genießen.“. Sigmund Freud stellte fest: „In dem Augenblick, in dem ein Mensch den Sinn und den Wert des Lebens bezweifelt, ist er krank.“. Insofern gehören Genuß und Leidenschaft offenbar wesentlich zum Leben dazu (Lucius Aennaeus Seneca: „Mit dem Leben ist es wie mit einem Theaterstück; es kommt nicht darauf an, wie lange es ist, sondern wie bunt.“; Peter Ustinov: „Sinn des Lebens: etwas, das keiner genau weiß. Jedenfalls hat es wenig Sinn, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein.“; Nicolas Chamfort: „Durch die Leidenschaften lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß.“). Anders sah es Mahatma Gandhi: „Das Geheimnis eines glücklichen Lebens liegt in der Entsagung.“ Ähnlich wies Dietrich Bonhoeffer darauf hin, dass es mehr gibt als nur das Ziel der Befriedigung Bedürfnissen: „Es gibt erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche.“. Auch Oscar Wilde fand, das Leben habe ein Geheimnis, das selten entdeckt wird: „Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt – die meisten Menschen existieren nur.“). Erich Kästner widersprach Gandhis asketischer Haltung: „Entweder man lebt, oder man ist konsequent.“ Kant benutzte zur Beschreibung des Lebens die Begriffe Willkür und Begehrungsvermögen; Bedürfnis, Wille und Bewegung waren für ihn Kennzeichen des Lebens. Schopenhauer sah den „Willen zum Leben“ selbst als Grundlage des Lebens, Nietzsche einen „Willen zur Macht: „Je mehr du gedacht, je mehr du getan hast, desto länger hast du gelebt.“(Immanuel Kant); „Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens“ (Friedrich Nietzsche). Charles Dickens hielt dem etwas entgegen: „Gibt es schließlich eine bessere Form mit dem Leben fertig zu werden, als mit Liebe und Humor?“

Wieder andere Denker(innen) sahen das Besondere des menschlichen, vdernunftbegabten Lebens ähnlich Kant im Bewusstsein, im kritischen Denken und Philosophieren selbst (René Descartes: „Ego cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich.“; Marie von Ebner-Eschenbach: „Nur der Denkende erlebt sein Leben, an Gedankenlosen zieht es vorbei.“). Es gilt also, über das Leben nachzudenken – die Ethik fordert aber auch, etwas zu tun. Marcus Aurelius formuliete einen Grundsatz des Lebens z.B. so: „Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird, zu leben.“ (und: „Unser Leben ist das Produkt unserer Gedanken.“). Ähnlich betonte Alexis Carrel die Wichtigkeit des Tuns: „Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben, sondern den Jahren mehr Leben zu geben.“

Abb. 24: Das Wimperntierchen Stylonychia putrina erfüllt die Kennzeichen eines Lebewesens. Außen erkennt man die Membran, mit der es sich gegen seine Umgebung abgrenzt und über die es Stoffe mit ihr austauscht. Sein Inneres ist geordnet, es enthält Organellen. Seine Wimpern dienen der Fortbewegung, die es in Reaktion auf äußere Reize zeigt.

Viele Religionen unterscheiden oft zwischen zwei Ebenen: dem irdisch-biologischen Leben, das auch naturwissenschaftlich beschrieben werden kann, und dem „Ewigen Leben“ oder „Nirwana“. Ein solches Sein, so ein „Leben nach dem Tod“, kann nicht mit wissenschaftlichen Methoden beschrieben werden, es beruht auf Glaubensvorstellungen. Lässt man diese jedoch beiseite, so bleibt die Feststellung: Lebende Materie unterscheidet sich von toter Materie (s.o., Kap. 1.1.3). Die Definition von „lebend(ig)“ und „Leben“ erfolgt in den Naturwissenschaften über die Aktivitäten, die für alle Lebewesen kennzeichnend sind: Sie grenzen sich von ihrer Umwelt ab, stehen aber mit ihr in Wechselwirkung, indem sie einen Energie- und Stoffwechsel betreiben (Metabolismus). Sie sind organisiert und zeigen eine Selbstregulation: Sie wachsen und entwickeln sich. Sie reagieren auf äußere Reize (auf chemische oder physikalische Änderungen in ihrer Umgebung) und sie vermehren sich (Fortpflanzung, Reproduktion), wobei sie Informationen (Erbgut) an ihre Nachkommen übermitteln (Vererbung).

Aber es gibt aber auch nicht lebende Systeme, die viele dieser Eigenschaften zeigen, z.B. das Feuer. Es hat einen Stoffwechsel (Umwandlung komplexer chemischer Verbindungen in Kohlenstoff und Kohlendioxid), es bewegt sich und es kann sich vermehren, indem es auf andere brennbare Stoffe überspringt.

1943 hielt der Physiker Erwin Schrödinger Vorlesungsreihe zum Thema „Was ist Leben?“. Er beschrieb, dass alle Lebewesen wohlgeordnete Muster von Molekülen erzeugen. Dazu benötigen sie Energie. Diese erhalten sie, indem sie eine größere Unordnung in ihrer Umgebung erzeugen (Entropie, Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik). Die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela versuchten es 1974 über die Systemtheorie: Lebende Organismen sind Netzwerke von Prozessen, die in abgegrenzten Einheiten aktiv und in der Lage sind, sich selbst zu erhalten und mehr von sich selbst zu produzieren21. Eine Expertengruppe um den Chemiker Gerald Joyce hat für die US-Raumfahrtbehörde NASA Mitte der 1990er Jahre eine ganz neue Arbeitsdefinition versucht: „Leben ist ein sich selbst erhaltendes chemisches System, welches die Fähigkeit zur Darwinschen Evolution besitzt.“ (Joyce 1995).

Zusammenfassend lassen sich als Kennzeichen des Lebens festhalten:

1) Lebewesen grenzen sich von ihrer Umwelt ab.

2) Sie reagieren auf Reize aus ihrer Umwelt.

3) Sie betreiben Energie- und Stoffwechsel (Metabolismus), entwickeln sich und sind organisiert (Selbstregulation, Wachstum, Organe bzw. Organellen).

4) Sie vermehren sich (Reproduktion, Fortpflanzung).

5) Sie übermitteln ihre Merkmale (Erbgut, Gene) an ihre Nachkommen (Vererbung).

 

1.3.2 Naturgeschichte und Naturkunde, Naturphilosophie und -wissenschaft

Als Naturforscher oder Naturalist gilt jemand, der an der Naturgeschichte interessiert ist. Naturkunde oder –geschichte zu betreiben war im 18. und 19. Jahrhundert im Wesentlichen eine Laien-Beschäftigung, ein Hobby, kein Beruf. Naturgeschichte bezeichnete alle wissenschaftlichen Studien, im Gegensatz zur politischen oder kirchlichen Geschichte. Die vorwiegend beschreibende Naturgeschichte stand einer mehr erklärenden Naturphilosophie entgegen. Diese versucht, die Natur insgesamt zu erfassen, sie zu beschreiben, theoretisch zu erklären und zu deuten22. Wenn die Erforschung der Natur mit wissenschaftlichen Arbeitsmethoden vorgenommen wird, dann spricht man von Naturwissenschaft. Hier geht es um ein gesichertes, in den Begründungszusammenhang von Sätzen gestelltes Wissen. Dieses ist überprüfbar und folgt bestimmten wissenschaftlichen Kriterien. Das zusammenhängende System von Aussagen, Theorien und Verfahrensweisen wird immer wieder strengen Gelungsprüfungen unterzogen und beansprucht objektive, überpersönliche Gültigkeit23. Die Naturwissenschaften der Erforschung des Lebens und der Lebewesen sind die Biowissenschaften (Life Sciences24). Nach der obigen „NASA-Definition“ von Leben als „ein sich selbst erhaltendes chemisches System, welches die Fähigkeit zur Darwinschen Evolution besitzt“ ist die von Darwin, Haeckel u.a. vertretene Lehre von der Entwicklung und Abstammung der Arten der Lebewesen von zentraler Bedeutung.

 

1.4 Vielfalt und Entwicklung des Lebens

1.4.1 Die Vielfalt des Lebens – Natur in Zahlen

Die Biologen haben eine unvorstellbare Vielfalt an Arten von Lebewesen entdeckt – vom kleinsten Einzeller, der wie Nanoarchaeum equitans kleiner als 1 µm ist25 bis hin zum Riesenpilz der Hallimaschart Armillaria ostoyae (Dunkler Hallimasch), der im Jahr 2000 aufgrund eines zunächst rätselhaften Waldsterbens in Oregon, USA entdeckt wurde: Er fraß Bäume – das wohl größte Lebewesen der Erde. Sein Wurzelgeflecht (Myzel) erstreckt sich über rund neun km2 (900 Hektar). Das Alter dieses größten bekannten, lebenden Pilzes wird auf 2400 Jahre geschätzt, sein Gewicht auf ca. 600 Tonnen.

Wie lange leben Organismen? Das älteste Lebewesen der Erde ist Pando, eine Zitterpappel-Kolonie in Utah, USA. Es dürfte 80000 Jahre alt sein und ist mit einem Gesamtgewicht von etwa 6000 Tonnen wohl auch das schwerste bekannte Lebewesen (Ausbreitungsgebiet des Wurzelgeflechtes: 43,6 Hektar; der Riesenmammutbaum General Sherman Tree in Kalifornien wog dem gegenüber 1938 „nur“ ganze 1950 Tonnen – das vermutlich schwerste nicht-klonale Lebewesen). Bakterien werden maximal nur zehn bis zwanzig Minuten alt – Störe und Elefantenschildkröten bis 150 Jahre26