Entdeckungsgeschichte(n) der Analytik und Forensik - Michael Wächter - E-Book

Entdeckungsgeschichte(n) der Analytik und Forensik E-Book

Michael Wächter

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Beschreibung

Diese kleine Entdeckungsgeschichte(n) der Analytischen Chemie und der Gerichtsmedizin erzählt, wie das Nachweisen und Untersuchen von Stoffen in unbekannten Proben entdeckt wurde - von ersten Eisennachweisen mit Galläpfelsaft über Arsen- und Bleibestimmungen in der Kriminaltechnik bis hin zum Analyselabor im Weltraum, der DNS-Untersuchung von Neandertaler-Zahnstein und dem Aufkommen hochkomplizierter Analysetechniken für Großlabors mit AAS-, GC- und NMR-Geräten oder Kernspintomographen. Es bietet spannende Erzählungen von Erfindern und Entdeckern, kompakt-informative Beschreibungen von Techniken und Methoden der Forscher und reich illustrierte, gut verständliche Erklärungen, (fast) ganz ohne abschreckende Formeln und Fachbegriffe. So wird der/dem Leser/in ein guter Einblick in und Überblick über die Analytische Chemie gegeben und hierin ein gutes Allgemeinwissen vermittelt - auch für Schule, Studium und Beruf. Stichworte aus dem Inhalt / den Buchkapiteln: Forensik - Nachweis von Mordgiften (Arsen, Alkohol, Thallium, Radium und Blei); Naturwissenschaften, Probierkünste und Kenntnisse in Altertum, Mittelalter und Neuzeit; Hüttenwesen, Naturphilosophie und Alchemie; Anfänge der analytischen Chemie (Boyle, Hoffmann, Richter, Dalton, von Liebig, Berzelius, Raoult usw.); Instrumentelle Anaslysemethoden und Labortechniken (Faraday, Helmholtz, Runge, Schönbein, Zwet / Gaschromatographie); Entdeckung und Entwicklung der elektrochemischen, optischen, chromatographischen und gekoppelten Analysemethoden (u.a.: Polarimetrie, Photometrie, Bunsens Spektralanalyse, Röntgenbeugung und -streuung, Spektroskopische Methoden, GC, MS, NMR, AAS ...); Röntgenmethoden, Elektrophorese, UV-, Infrarot- und Kernspinresonanz-Spektroskopie); Kalibrierung und Validierung - die Messgenauigkeit; Analyselabors im Weltraum; DNS-Untersuchung, Schadstoff-Spurensuche - und vieles mehr

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Seitenzahl: 361

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort und Einführung
1. Forensik (Einführendes Kapitel)
1.1. Gettler, Norris und der Nachweis von Giften
1.1.1 Fanny Creighton und das Todesurteil durch Gettler, ihren Retter
1.1.2 Das erste auf naturwissenschaftlichen Untersuchungen gestützte Urteil (1840)
1.1.3 Gettler, das Arsen und der Alkohol – der Mordfall Creighton (1923/20’er)
1.1.4 Verbleites Benzin und die Radium Girls (bis 1928)
1.1.5 Der Fall Travia und das Kohlenmonoxid im Leuchtgas (1926/27)
1.2. Forensik und Analytik
1.2.1 Forensische Kriminaltechnik und Gerichtsmedizin
1.2.2 Analytik, ein Beispiel: Der Arsennachweis (1836)
1.2.3 Naturwissenschaft, der Kontext der Analytischen Chemie
2. Analytik und Naturwissenschaften in Altertum und Mittelalter
2.1 Probierkunst und chemische Kenntnisse im Altertum
2.1.1 Plinius‘ Eisennachweis mit Galläpfelsaft
2.1.2 Probierkunst im Hüttenwesen
2.2 Alchimie und Probierkunst im Mittelalter
2.2.1 Alchimie, die Naturphilosophie der Griechen und Araber
2.2.2 Transmutation und Reaktion
2.2.3 Chemische Kenntnisse des Mittelalters
3 Probierkunst und Mineralogie in der Renaissance
3.1 Paracelsus: Iatrochemie statt Alchimie (um 1530)
3.2 Georgius Agricola: Bergmännische Probierkunst im Humanismus (1556)
3.3 Andreas Libavius: Der spiritus urinae zum Kupfer-Nachweis (1597)
3.4 William Gilbert: Die Kraft des Bernsteins (1581)
3.5 Johann Baptist von Helmont: Luftartiges Chaos (um 1648)
3.6 Otto Tachenius: Salze aus Alkali und Säure (1666)
3.6.1 Salze und Seifen
3.6.2 Pottasche und Gläser
4 Anfänge der Analytischen Chemie
4.1 Robert Boyle: die chemische Analyse (1659/61)
4.2 Friedrich Hoffmann: die Analyse von Salzen und Wasserproben (1703)
4.3 Ein Trennsystem für Qualitative anorganische Analysen (19. Jhdt.)
4.4 Quantitative Analysen – die Analytische Chemie wird quantitativ
4.4.1 Jeremias B. Richter: chemisch gleichwertige Massen (1792)
4.4.2 John Dalton: die Entdeckung der Stoffmenge (1808)
4.4.3 Daltons Atomtheorie (1808)
4.4.4 Mol und Metersystem, Stoffmenge und Gasgesetze
4.5 Von Liebig: Elementaranalyse (um 1831)
4.6 Berzelius und Klaproth: Chemische Formeln und Éprouvetten (1807/1818)
4.7 Volumetrie und Gravimetrie
4.8 Erste Methoden zur Aufklärung molekularer Strukturen
4.8.1 Dumas und Kekulé: Von der Verhältnisformel zur Molekülstruktur (1827)
4.8.2 Van’t Hoff – Stereochemie: Tetraeder um optisch aktive Atome (1874)
4.8.3 Victor Meyer: Wie die Dampfdichte Molare Massen verrät (1878)
4.8.4 Raoult: Molekulargewichtsbesatimmung mit Kryo- und Ebullioskopie (1884)
4.8.5 Strukturanalyse heute
5 Neue Analyse-Methoden: Instrumentelle Analytik
5.1 Die Entdeckungsgeschichte der elektrochemischen Methoden
5.1.1 Elektrizität als Basis der Elektroanalytik
a) Die Entdeckung von Elektrizität und Elektrochemie (18.Jh.)
b) Anfänge der Elektrotechnik als Motor der industriellen Revolution
5.1.2 Faraday: Elektrolyse und Elektrogravimetrie (1834)
5.1.3 Maxwell und Hertz: Elektrizität, Energie und Wellen (1864/1886)
a) Elektrizität und Energie
b) Potentiometrie
c) Maxwell: Elektromagnetische Wellen (1864)
d) Hertz: Radio- und Lichtfrequenzen (1886)
5.1.4 Stoney und van Helmholtz: Die „Atome“ der Elektrizität (1881)
5.1.5 Elektrochemische Analysemethoden im Überblick
5.2 Entdeckungsgeschichte der chromatographischen Methoden
5.2.1 Runge: Musterbilder für Freunde des Schönen (1855)
5.2.2 Schönbein: Trennwirkung durch Haarröhrchenanziehung des Papiers (1861)
5.2.3 Zwet: erste chromatographische Analysemethoden (1900/03)
5.2.4 Chromatographische Analysemethoden im Überblick
a) „Farbenschreiben“ als Trenn- und Analysemethode in Forensik und Chemie
b) GC, HPLC und Co. – die Chromatographen
c) Peaks und Retentionszeiten – die Auswertung der Chromatogramme
5.3 Entdeckungsgeschichte der optischen Methoden
5.3.1 Licht – Von Brillen, Wellen und Spektren
5.3.2 Refraktometrie, Polarimetrie, Photometrie
5.3.3 Bunsen und Kirchhoff: Die Spektralanalyse (1845-59)
5.3.4 Ramsay: das spektroskopisch gefundene Sonnenmetall im Erdgas (1895)
5.3.5 Zeemann: Sonnen-Magnetismus und Spektrallinien-Aufspaltung (1869)
5.3.6 Willstätter: Blattgrün verschluckt Licht (1908)
5.3.7 Bragg: Röntgenbeugung (1913)
5.3.8 J.J. Thomson: Massenspektrometrie (1897/1913)
5.3.9 Spektroskopische Methoden im Überblick
6. Analytische Entdeckungen und Erfindungen im 20. Jahrhundert
6.1 Röntgenmethoden
6.1.1 Röntgenstrahlung und Röntgenkristallografie
a) Rutherford: Röntgenstreuung beim Goldfolienversuch (1903)
b) von Laue: Röntgenbeugung und –diffraktometrie (1912)
c) Debye und Scherrer: Röntgen-Pulverdiagramme (1916/17)
6.1.2 Röntgenspektroskopische Verfahren
a) Röntgenemissionsspektroskopie (RES, XES)
b) Die Röntgenfluoreszenzanalyse (RFA)
6.2. UV-, VIS- und IR-Spektroskopie
6.2.1 UV/VIS-Spektroskopie
6.2.2 IR-Spektroskopie
a) Raman und Fellgett: Wärmerstrahlung analytisch nutzen (1928/49)
b) Das IR-Spektrometer
c) Mecke: Das Bandenspektrum des Iods und die Auswertung von IR-Spektren (1923)
6.3 NMR-Spektroskopie – die Analyse von Radioemissionen
6.3.1 Baade und Minkowski: Radioblicke in Molekülwolken (1937)
6.3.2 Rabi und Purcell: NMR – magnetische Wechselfelder und Kernspins (1936/46)
6.3.3 Die Auswertung von NMR-Spektren
6.3.4 Libby: Die C-14-Methode (1948/50)
6.4 Neue chromatographische Verfahren
6.5 Gekoppelte und weitere neuartige Analyseverfahren
6.5.1 ESR und Elektronenmikroskopie
6.5.2 Gekoppelte Analysemethoden
6.6 Zuverlässigkeit: Kalibrierung und Validierung
6.6.1 Validierung
6.6.2 Kalibrierung
7. Analytik im 21. Jahrhundert (Ausblick)
7.1. Ursuppen-Nebel vom Titan: Cassini – das ferngesteuerte Eiswelten-Analyselabor
7.1.1 Missionsverlauf I: Die Anreise (ab 1997)
7.1.2 Analysegeräte der Landesonde
7.1.3 Missionsverlauf II: Die Landung (2005)
7.1.4 Erste Ergebnisse: Ozeane auf Titan und Enceladus (2005-2016)
7.1.5 Neuste Analyseergebnisse: Außerirdische Organochemie im Titan-Aerosol (2017)
7.2. Plaque vom Neandertaler: Sequenzanalysen an Krankheitserregern
7.3 Erbanlagenpotenzial von Hausmäusen: Neu erfundene „Schrott-DNS“
7.4 Von Luft bis Muttermilch – Schadstoff-Spurensuche in Stoffkreisläufen
8. Anhang
8.1 Statistische Kenngrößen zur Methodenvalidierung (Tabelle)
8.2 Bildquellenverzeichnis
9 Inhalte und Stichworte
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Impressum

Vorwort und Einführung

Moderne Analyselabors nutzen heute teure, hochpräzise Geräte, mit denen Spurenstoffe noch in Konzentrationen von Tausendstel oder Zehntausendstel Promille nachgewiesen werden können. Hochdruck-Flüssigkeitschromatograph (HPLC), Infrarot-, Kernspin- und Atomabsorptionsspektroskop (IR, NMR, AAS) und Massenspektrometer (MS) sind nur einige dieser Hochleistungsgeräte heutiger Labortechnik. Sie ermöglichen Nachweise nahezu alle Spurenelemente und Schadstoffe in Luft-, Wasser-, Boden- und Materialproben, Entdecklungen von Edelmetallen oder Aminosäuren im Weltraum, medizinische Diagnosen und Therapien zahlreicher Erkrankungen oder auch gerichtsmedizinische Befunde von großer juristischer, kriminologischer oder politischer Bedeutung. Die Analytische Chemie ist ein kaum noch verzichtbarer Bestandteil der industrialisierten Gesellschaft geworden – von der Forschung, Produktion und Anwendung über den Umweltschutz bis hin zum Schutz von Verbrauchern und Gesamtbevölkerung.

Wie aber wurden diese Analysetechniken und –methoden eigentlich erfunden und entwickelt? Und wie haben Forscher und Analytiker die hier genutzten Phänomene der unbelebten Natur eigentlich entdeckt? Dieses Buch will die Entdeckungsgeschichte(n) der Analytischen Chemie nachzeichnen. Kekulé, der Entdecker der Struktur des Benzolmoleküls, hat sie 1890 einmal folgendermaßen beschrieben:

„Man hat gesagt: die Benzoltheorie sei wie ein Meteor am Himmel erschienen, sie sei absolut neu und unvermittelt gekommen. Meine Herren! So denkt der menschliche Geist nicht. Etwas absolut Neues ist noch niemals gedacht worden, sicher nicht in der Chemie.“ (nach: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft 23 (1890), 1265–1312, S. 1306).

Jedem, der aus der lehrreichen Entdeckungsgeschichte der Chemie etwas erkennen und lernen will, riet er:

„Mit Schnellzügen macht man keine Forschungsreisen und durch das Studium selbst der besten Lehrbücher wird man nicht zum Entdecker. - Wer sich zum Forscher ausbilden will, muss die Originalwerke der Reisenden studiren; so gründlich, dass er nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen, sondern die selbst da nicht zum Ausdruck gebrachten Gedanken zu errathen vermag. Er muss den Pfaden der Pfadfinder folgen; auf jede Fussspur, auf jeden geknickten Zweig, auf jedes gefallene Blatt muss er achten.“

Einige dieser interessanten Spuren, Zweige und Blätter werden in diesem Buch nacherzählt, unterhaltsam und mit fachdidaktisch aufbereiteten Erklärungen versehen, in der Hoffnung, dass der fachunkundige Leser einen spannenden und zugleich lehrreichen Einblick erhält – und der unter Umständen spezialisierte Fachmann einen informativen, fachdidaktisch fundieren Überblick über interessante, erkenntnisgeschichtliche Zusammenhänge der Analytik mit den Naturwissenschaften allgemein und der Zeitgeschichte der jeweiligen Entdeckungen und Erfindungen.

1. Forensik (Einführendes Kapitel)

1.1. Gettler, Norris und der Nachweis von Giften

1.1.1 Fanny Creighton und das Todesurteil durch Gettler, ihren Retter

Ada Applegate starb im Herbst 1935. Ihr Mann rief den Arzt. Er stellte den Todesschein aus. Er besagte, Ada habe verstopfte Arterien gehabt, denn sie wog 250 Pfund. Ihr Herz habe aufgegeben. Vier Tage später unterbrach die Polizei ihre Beerdigung. Die Leiche wurde beschlagnahmt. Es war Verdacht aufgekommen: Im Haus des Witwers wohnte nun eine andere Frau, Mary Frances Creighton. Und bei der Polizei war ein anonymes Paket vergilbter Zeitungsausschnitte eingetroffen, welche berichteten, dass Creighton vor zwölf Jahren schon zwei Mal wegen Mordes angeklagt gewesen sei – an ihrem 18jährigen Bruder Avery (wohl mit Arsen) und an ihrer Schwiegermutter (wiederum mit Arsen). Die Polizei schaltete einen Sachverständigen ein, den Chemiker Alexander Gettler. Er wies nach: Ada Applegates Leiche enthielt Arsen, das Drei- bis Vierfache der tödlichen Dosis.

Creighton wurde sofort verhört. Tagelang. Es ging um Gift im Eierlikör. Sie aber gab den Mord an ihrem Bruder und ihrer Schwiegermutter zu. Sie habe ihn 1923 wegen einer Lebensversicherung über 1000 Dollar ermordet. Zeugenaussagen des Sachverständigen Alexander Gettler hatten die Beweiskette damals jedoch entkräftet – seine Aussage rettete Creighton vor dem elektrischen Stuhl. Jetzt, nach dem damaligen Freispruch, konnte sie deshalb kein zweites Mal vor Gericht gestellt werden. Im Verhör unterstellte die Polizei Creighton ein Verhältnis mit Everett Applegate, dem Witwer. Dabei kam heraus, dass er ein Verhältnis gehabt hatte – mit Fannys 15jähriger Tochter. Fanny hatte gehofft, die Verantwortung für ihre Tochter an Everett Applegate loszuwerden, wenn er sie geheiratet hätte. „Mary“ und „Appy“ kamen schließlich trotz mehrerer Ungereimtheiten und dem Mangel an anderen Beweisen vor Gericht. Nach der Zeugenaussage Alexander O. Gettlers war Frances Creighton’s Todesstrafe absehbar. Zwei Mal schon hatte er sie vor dem elektrischen Stuhl gerettet. Jetzt aber konnte er ihr den Giftmord an Ada Applegate zweifelsfrei nachweisen. Das Gericht tagte am 19.1.1936. Mary gab nach 45 Minuten zu, dass sie wusste, dass Appy den Killercocktail zubereitet hatte. Und sie hatte ihn Ada gegeben.

Das Gericht fällte zwei Todesurteile. Die 38jährige Hausfrau Mary Frances Creighton und ihr 36jähriger Komplize Everett Appelgate wurden sieben Monate später, am 16.7.1936, hingerichtet – im New Yorker Sing-Sing-Gefängnis auf dem elektrischen Stuhl „Old Sparky“. Sein Spitzname „Old Sparky“ spielt auf die verwendete Hochspannung von rund 1900 Volt an (von engl. spark, „Funke“).

Wie hatte Gettler dieses Mal seine Beweise angetreten und das Gift identifiziert? Und wer war Gettler, dieser alles entscheidende Zeuge? Alexander O. Gettler (1883 – 1968) war Biochemiker einer neuen Behörde namens OCME, ein anerkannter Experte. Er trat als forensischer Sachverständiger vor Gericht auf. Er musste die Geschworenen erst einmal davon überzeugen, dass seine chemische Analysen zur Wahrheitsfindung beitragen konnten. Mit der Zeit hatte er sich den Ruf unter Strafverteidigern erworben, ein Fall sei nur dann gewinnbar, wenn Gettler nicht Zeuge der Gegenseite ist. Er hatte immer wieder neue Verfahren entwickelt, um in Leichenteilen Gifte nachzuweisen – und dass diese nicht erst nach dem Tod in die Körper der betreffenden Person gelangt waren. 1921 hatte er ein Analyseverfahren entdeckt, mit dem er nachweisen konnte, ob ein in Wasser getauchter Verstorbener zu diesem Zeitpunkt noch lebte oder nicht. Er verglich den Salzgehalt des Blutplasmas in den beiden Herzkammern: Bei Lebenden änderte das Wasser in der Lunge den Salzgehalt des Blutes, das in die linke Herzkammer strömte. Bei Toten jedoch blieb die Konzentration beim Untertauchen in beiden Herzkammern gleich, denn ihr Herz schlug nicht mehr. Analyseergebnisse wie z.B. von der Salzkonzentration im Blutplasma der Herzkammern oder vom Arsengehalt in Leichenteilen wurden zu entscheidenden Beweismitteln vor Gericht – für Freisprüche ebenso wie für Urteile zum Tod auf dem elektrischen Stuhl.

Interessant ist, wie es zur „Erfindung“ des elektrischen Stuhls kam. Sie ging auf den „Stromkrieg“ zwischen Edison und Westinghouse zurück: Thomas Alva Edison (1847 – 1931) und machte grundlegende Erfindungen und Entwicklungen in den Bereichen elektrisches Licht (elektrische Glühlampe 1879, erstes US-Kraftwerk 1882), Telekommunikation sowie Medien für Ton und Bild. Er entwickelte Schalter, Sicherungen, Kabel, Messgeräte, Verbrauchszählerund den Jumbo-Generator (27 t Gewicht, Leistung 100 kW, genug für 1200 Glühbirnen). Er verwendete Gleichstrom, der nur über kurze Strecken sinnvoll transportiert werden kann (bei längeren Leitungen ist der Energieverlust enorm) und über eine zweite Leitung wieder zurückfließen muss. George Westinghouse (1846 – 1914) war sein Konkurrent. Der Erfinder der Druckluftbremse, Ingenieur und Großindustrielle der Westinghouse Electric and Manufacturing Company nutzte Wechselstrom. Der in regelmäßigen Zeitabständen regelmäßig seine Fließrichtung ändernde Strom machte die elektrische Energieübertragung wirtschaftlicher – und Edison neidisch. Westinghouse hatte schließlich die Patente von Edisons Mitarbeiter Tesla gekauft, für einen Wechselstrom-Motor, der ohne Reibung läuft.

Abb. 1: “Fixierung” eines Mannes auf dem elektrischen Stuhl im New Yorker “Sing Sing”-Gefängnis in den frühen 1920’er Jahren

Edison begann einen schmutzigen Feldzug. Als gefeiertes Genie wollte er sich von einem Bremsenfabrikanten und serbischen Motorenbauer nichts bieten lassen. Zur Veranschaulichung der Gefährlichkeit von dessen Wechselstrom tötete er in öffentlichen Shows ab 1887 Hunde, Katzen, Kälber und schließlich sogar ein Pferd und einen Elefanten. Spannungen in Stromleitungen von über 300 Volt wollte er verbieten lassen – was das Ende für Westinghouse wäre. Dieser suchte das Gespräch. Edison lehnte ab. Januar 1889 erließ New York ein neues Gesetz: Todesurteile für Mörder sollten mit Strom vollstreckt werden. Edison empfahl den Wechselstrom als Strom der Henker, direkt aus Westinghouse-Generatoren. Perfide sein Vorschlag auch in der Wortwahl: die Exekution durch Stromschlag solle to westinghouse heißen. Westinghouse tobte: Edisons Methoden seien „unmännlicher, beleidigender und lügnerischer … als in jedem Wettkampf, den ich kenne“ (zitiert nach: C. Scheuermann, Duell der Erfinder, in: spiegel online vom 1.5.20081). 1890 fand die erste Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl statt. Zwei Mal musste der Henker den Hebel für den Wechselstrom umlegen. Erst dann zuckte der Verurteilte nicht mehr spastisch und erbrach keinen weißen Schaum mehr2.

Westinghouse gewann den „Stromkrieg“ übrigens trotzdem. Innerhalb von zwei Jahren baute er über 30 Kraftwerke und versorgte 1890 bereits 130 amerikanische Städte mit Wechselstrom.

1.1.2 Das erste auf naturwissenschaftlichen Untersuchungen gestützte Urteil (1840)

Wie weisen Analytiker und forensische Sachverständige wie Gettler nach, dass gewisse Proben Gifte enthalten? Das wohl erste Gerichtsurteil, das sich auf solche naturwissenschaftlichen Untersuchungen stützte, fiel ein halbes Jahrhundert zuvor, am 19.9.1840. In Tulle, Frankreich, stand die 24-jährige Marie Lafarge vor Gericht. Sie stand im Verdacht, ihren vier Jahre älteren Ehemann Charles vergiftet zu haben. Der hatte nach der Kontaktaufnahme über einen Heiratsvermittler um die noch 22jährige geworben. Er behauptete, er sei ein wohlhabender Fabrikbesitzer, doch nach ihrer Hochzeit im August 1839 landete Marie in einem heruntergekommenen Kloster. Charles hatte hohe Schulden. Sie beschwor ihn in einem Brief, sie solle ihn sofort wieder freizugeben – oder sie vergifte sich mit Arsenik. Dann legte sie falsche Spuren: liebevolle Briefe und begeisterte Berichte über ihr Leben an die Freundinnen in Paris, und das Einsetzen ihres Mannes als Erben. Dann ein Kuchen für Charles. Er bekam davon schwere Krämpfe, Erbrechen, Bettruhe – Anzeichen für eine Vergiftung. Charles schob es auf den möglicherweise verdorbenen Kuchen. Marie pflegte und verpflegte ihn. Binnen weniger Tage kamen dieselben Symptome wie zuvor, nur schlimmer. Er verstarb unter Qualen er am 14.1. Ein Hausmädchen hatte gesehen, wie Marie ein weißes Pulver in einen Stärkungstrunk für Charles gerührt hatte. Die von Marie hergerichteten Speisen aus den letzten Tagen von Charles’ Leben wurden sichergestellt. In einem gestohlenen Döschen fand sich das Arsenik-Pulver, und die Symptome passten. Zeugen bestätigten, sie habe das Arsenik besorgt – für Ratten. Einen Beweis für den Giftmord gab es nicht, doch da man bei Marie Jahre zuvor gestohlene Juwelen fand, bekam sie 24 Monate Haft wegen Diebstahls.

Die Ermittler hatten Zeit. Sie stießen auf einen Test, den britische Chemiker James Marsh vier Jahre zuvor entwickelt hatte, mit dem man Arsenik in Speisen und Getränken nachweisen konnte. Der Gutachter Mathieu Orfila nahm die Untersuchung der mangels Kühlmöglichkeiten inzwischen längst vergammelten Speisen vor. Der Test fiel positiv aus. Marie Lafarge bekam „lebenslänglich“. So verurteilte das Gericht sie zu knapp elf Jahre später wurde sie aus Gesundheitsgründen entlassen und starb wenige Monate später an Tuberkulose. Ihr Prozess schrieb Rechtsgeschichte – der Beginn der Rechtsmedizin: Erstmals hatte eine naturwissenschaftliche Untersuchung zu einem Gerichtsurteil geführt.

Damals gab es so gut wie keine oder nur sehr schlampige Spurensicherung – der erste Sherlock-Holmes-Roman „Eine Studie in Scharlachrot“ von Sir Arthur Conan Doyle zeigte 1887 den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Professionalität und der Hilflosigkeit der realen Polizei. Mordfälle wurden bisher so gut wie nie aufgeklärt. Nun aber wurden Tatorte immer öfter gesichert und Spuren gesammelt. Das deduktive Denken, bei dem man mit Hilfe von Beweisen logisch zwingende Schlussfolgerungen zieht, bekam langsam den Vorrang, noch vor Zeugenbefragungen.

In den USA gab es das Coronersystem noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Coroner waren Geschworene, keine Mediziner. Sie waren es auf Grund ihrer politischen Beziehungen statt auf Grund einer beruflichen Qualifikation. Oft genug wurden Schmiergelder gezahlt, z.B. um Selbstmorde oder gar Morde zu „Unfällen“ zu machen. 1915 kam heraus, dass das Coronersystem die Stadtverwaltung von New York City 172.000 Dollar jährlich kostete, während das Medical Examiners Office von Suffolk County, Boston, mit 32.500 Dollar jährlich auskam. Also sollte das Coronersystem abgeschafft werden.

So kam es zur Gründung des OCME, des Office of Chief Medical Examiner of the City of New York. Der Chefposten des OCME wurde gegen den Willen des neu gewählten New Yorker Bürgermeisters John Francis Hylan 1918 mit Charles Norris besetzt, einem der Mitbegründer der Forensik (Gerichtsmedizin). Gettler wurde einer seiner wichtigsten Mitarbeiter.

1.1.3 Gettler, das Arsen und der Alkohol – der Mordfall Creighton (1923/20’er)

Der Fall Fanny Creighton zeigt die hohe Bedeutung von Sachverständigen und Gutachten aus chemischen Analyselaboratorien. Schon 1923, als Fanny Creightons Bruder gestorben war, hatte man in dessen Leiche Arsen gefunden. In der Wohnung fand man ein arsenhaltiges Kosmetikprodukt namens Fowler's Solution. Fanny kam unter Mordanklage. Es gelang ihr, den Todesfall als Selbstmord aus Liebeskummer hinzustellen. Sie kam frei. Die Staatsanwaltschaft untersuchte derweil den einige Jahre zuvor eigetretenen Tod ihrer Schwiegereltern. Die Leiche wurde exhumiert und untersucht. Hierzu wandte man den damals in der analytischen Chemie üblichen Reinsch-Test an. Er war, wie Hugo Reinisch feststellte, wesentlich genauer als der Arsennachweis über die Marsh’sche Probe3: Die Probe wurde in Salzsäure gelöst, zum Test auf Quecksilber mit einem Stück Kupferblech versehen und einer Spektralanalyse unterzogen, um Antimon, Arsen, Bismut, Selen und Thallium nachweisen zu können. In der exhumierten Leiche fand sie das Vierfache der tödlichen Menge Arsen. Als Fanny vom Mord an ihrem Bruder freigesprochen wurde, folgte die nächste Anklage noch am gleichen Tag - wegen Mordes an ihrer Schwiegermutter.

Ihre Anwälte schalteten Alexander O. Gettler ein. Auch er kam über den Reinisch-Test zum gleichen Ergebnis. Dann aber stutzte er und variierte die Analysemethode. Etwas stimmte nicht. Weitere Versuche mit unterschiedlichen Temperaturen zeigten, dass es sich bei dem vermeintlichen Arsen in Wirklichkeit auch um Bismut handeln konnte. Die später Verstorbene hatte es mit einem Medikament zu sich genommen. Der Giftmord mit Arsen ließ sich so also nicht zweifelsfrei nachweisen. Gettler machte eine entsprechende Zeugenaussage und wurde so ihr Retter: in dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten. Fanny kam erneut frei.

Ebenfalls in den 1920’er Jahren entwickelte Gettler einen Schnelltest zur Bestimmung von Methanol in illegal gebrannten Spirituosen. Durch das landesweite Alkoholverbot in den USA 1920 bis 1933, die Prohibition, hatte es einen Boom an illegaler Schnapsbrennerei gegeben. Die Kriminalitätsrate stieg an, ins Besondere die Organisierte Kriminalität (Al Capone und Johnny Torrio schufen in Chicago eine eigene komplette Alkohol-Industrie und konnten dank des Alkoholverbotes Wucherpreise für Spirituosen verlangen). Und es gab immer mehr Tote in Folge des in diesen Spirituosen enthaltenen, giftigen Methanols. Gettler und sein Kollege Charles Norris kämpften gegen verunreinigten Alkohol. Methanolvergiftungen bewirken Kopfschmerzen, Schwächegefühl, Übelkeit, Erbrechen und eine durch Übersäuerung des Blutes einsetzende beschleunigte Atmung. Diese Azidose schädigt den Sehnerv, Netzhautödeme und eine Erblindung können folgen. Der Tod tritt durch Atemlähmung ein. Norris schätzte die im Verlauf der Prohibition erreichte Anzahl der Methanol-Opfer später auf etwa 10000 (Zu den Methanol-Opfern kamen noch die Todesfälle durch die immer stärkere Vergällung von Alkohol hinzu, der für medizinische und industrielle Zwecke eingesetzt wurde – auch er wurde getrunken und führte zu tödlichen Vergiftungen). Der Methanol-Schnelltest wurde zur Waffe im Kampf gegen den Methanol.

1.1.4 Verbleites Benzin und die Radium Girls (bis 1928)

GHS-Gefahrstoffkennzeichnung für TEL aus Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (CLP)

Gefahr

Abb. 2: Altes Zapfsäulenschild mit Werbung für Tetraethylblei. Der engl. Begriff tetraethyl lead (TEL) wurde zu ethyl verkürzt, um der Begriff lead (‚Blei‘) nicht auf der Zapfsäule auftauchen zu lassen. Darunter die heute vorgeschriebene Gefahrstoff-Kennzeichnung dieses Giftes

Anfang der 1920er Jahre, Norris und Gettler waren gerade für die OCME tätig geworden, betrieb die Standard Oil Company eine Raffinerie, in der ein Antiklopfmittel produziert und dem Benzin beigesetzt wurde. Es verbesserte das Benzin, indem es die unkontrollierten Selbstentzündungen (das „Klopfen“) in den Zylindern verhinderte (Erhöhung der „Oktanzahl“ ROZ, von Research Oktan Zahl). In Deutschland verwendete man zur Erzeugung klopffesten Superbenzins Motylpatronen mit Eisencarbonylen. In den USA setzte man Tetraethylblei TEL ein („verbleites Benzin“). Die Erstherstellung von TEL war 1854 gelungen, und Thomas Midgley Jr. (1889 – 1944) von General Motors hatte 1921 entdeckt, dass es als Antiklopfmittel wirkte. Die Arbeiter, die mit Midgley das TEL herstellten, begannen sich jedoch immer seltsamer zu verhalten (Ihr Produktionsgebäude bekam den Spitznamen The loony gas building, dt.: „Das verrückte Benzin-Gebäude“). TEL wurde durch die Haut aufgenommen und sammelte sich im Körper an. Die Standard Oil Company und General Motors gründeten 1924 die Ethyl Gasoline Corporation, um sich das Patent und das TEL-Herstellungsmonopol zu sichern, doch im Herbst 1924, wurden ihre Arbeiter ernsthaft krank. Es kam zu Kopfschmerzen, Müdigkeit, Abmagerung und Defekten der Blutbildung, des Nervensystems und der Muskulatur. 32 der 49 Arbeiter mussten ins Krankenhaus, fünf von ihnen starben dort. Das OCME wurde eingeschaltet. Gettler wies Bleivergiftungen nach. In den Körpern der Toten fanden sich sehr hohe Konzentrationen an Blei. Norris legte die Beweise vor. Arbeitsschutz durch Handschuhe kam auf. New York City, Philadelphia und New Jersey verboten dem Konzern das verbleite Benzin. Die Lobbyisten der Konzerne intervenierten. Midgley bekam 1924 aber auch eine Bleivergiftung, als er den Dampf seines Kraftstoffes inhaliert hatte, um seine Ungefährlichkeit zu demonstrieren. Er musste sie über ein Jahr lang auskurieren. Es hieß:

„Als die Negativschlagzeilen nicht mehr abrissen, reagierte Thomas Midgley mit einer drastischen PR-Maßnahme: Vor den Augen der Journalisten wusch sich der Chemiker am 30. Oktober 1924 die Hände mit dem giftigen TEL. Dann hielt er sich eine Flasche mit der Substanz unter die Nase und inhalierte 60 Sekunden lang. "Das könnte ich jeden Tag machen, ohne gesundheitliche Probleme zu bekommen", belog Midgley die Journalisten. Dabei hatte er sich gerade im Jahr zuvor eine gravierende Bleivergiftung zugezogen und eine sechswöchige Arbeitspause einlegen müssen.“ (zitiert nach: Katja Iken: Der Mann, der fast die Menschheit auslöschte (und sich am Ende selbst strangulierte). In: einestages / spiegel online v. 16.5.2014; über: http://www.spiegel.de/einestages/fckw-erfinder-thomas-midgley-schuld-am-ozonloch-a-968979.html).

Die Kampagne hatte dennoch Erfolg: Die US-Bundesregierung hob das Verbot 1926 wieder auf. Midgley triumphierte. Norris aber blieb hartnäckig. Wenn verbleites Benzin im Motor verbrennt, so wusste er, entstehen Blei und Blei(II)-oxid. Damit sie sich nicht im Motor ablagern, setzt man dem Kraftstoff in den Raffinerien die Stoffe 1,2-Dibromethan und 1,2-Dichlorethan zu. Nun bilden sich Bleibromid und –chlorid. Diese sind bei den Verbrennungstemperaturen flüchtig. Sie verlassen den Motor und gelangen über die Abgase direkt in die Umwelt. Aber auch 1,2-Dibrom- und 1,2-Dichlorethan sind giftig. 1934 wiesen Gettler und Norris nach, dass der Straßenstaub immer bleihaltiger geworden war: Seine Bleikonzentration war von 1924 bis 1934 um 50 % gestiegen. Besonders in der Nähe von Straßen und in den Städten wurde die Vegetation mit großen Mengen an Bleioxidstaub belastet. Doch auch in Europa kam das verbleite Benzin in Mode, ab Mitte der 1930er Jahre in Deutschland (Erst 1972 startete die EPA, die US-Umweltschutzbehörde Environmental Protection Agency, eine Kampagne gegen das TEL. Sie lief bis 1986, dann setzte sich bleifreies Benzin durch. Auch in Deutschland wurde es nach und nach an immer mehr Tankstellen angeboten. Es enthielt bleifreie Antiklopfmittel wie z. B. MTBE, Methyl-tertiär-Butylether. Die Umweltbelastung ging zurück. 1994 konnte eine Studie beweisen, dass die Konzentration von Blei im Blut der Bevölkerung von 1978 bis 1991 um 78% gesunken war).

Midgley erfand neben Tetraethylblei, dem Antiklopfmittel, auch ein Verfahren, um das Element Brom (Br2) aus Meerwasser zu gewinnen. Er benötigte das orangebraun dampfende Gift zur Produktion des Tetraethylbleis für die Verbrennungsmotoren. Eine weitere Entdeckung Midgleys waren die Chlorfluorkohlenwasserstoffe FCKW. Sie wurden unter der Bezeichnug „Freone“ als Kühlmittel in Kühlschränken und als Treibgase in Sprühdosen eingesetzt (für Dosierinhalatoren, Deodorants usw.). Auch hier zeigte er mit allen Mitteln, dass seine Erfindung harmlos sein sollte. 1830 atmete er bei einer Demonstration vor der American Chemical Society eine Lunge voll von dem gasförmigen FCKW Dichlordifluormethan ein (Formel: CF2Cl2) ein, um damit eine Kerze auszublasen. Der Versuch sollte zeigen, dass sein Gas sowohl nicht brennbar als auch unschädlich sei. Rund 160 Jahre später musste die Produktion dieser FCKWs weltweit verboten werden: Chemische Analysen hatten bewiesen, dass sie extrem langlebig sind, in die obere Atmosphäre aufsteigen und dort chemisch gespalten werden, was zum katalytischen Abbau der Ozonschicht führt. Der Historiker John Robert McNeill kam 2001 daher zu dem Schluss, dass Migdley „mehr Auswirkung auf die Atmosphäre hatte als jeder andere Organismus in der Erdgeschichte“4.

Abb. 3: Wecker mit selbstleuchtenden Punkten auf den Zeigern und an den Zahlen. Diese Punkte enthalten Spuren von Radium – radioaktiv.

Gettler, der Chemiker, der Midgleys Erfindungen oft kritisiert hatte, untersuchte 1928 einen Todesfall, bei dem es um einen weiteren gefährlichen Stoff ging. Harrison Stanford Martland, oberster Gerichtsmediziner von Essex County, hatte in der Atemluft einiger junger Fabrikarbeiterinnen das radioaktive Edelgas Radon nachgewiesen. Die „radium girls“ hatten in der 1917 gegründeten Fabrik der United States Radium Corporation in New Jersey Zifferblätter von Uhren mit radioaktiver Leuchtfarbe bemalt. Sie leckten die Pinsel an, um feinere Linien ziehen zu können. Einige bemalten ihre Fingernägel mit der leuchtenden Farbe. Schutzmaßnahmen gab es keine. Bald hatten sie zum Teil schwerste Gesundheitsschäden davongetragen. Einige von ihnen waren sogar gestorben, darunter Amelia Maggia. Gettler nahm die Knochen der vor fünf Jahren verstorbenen Frau und legte sie auf ein in einer undurchsichtigen Schutzhülle steckendes Fotopapier. Selbst jetzt noch war die Radiumkonzentration so hoch, dass die Strahlung aus ihren Knochen das Fotopapier belichten konnte. Es war kein Wunder, dass sie Radon ausgeatmet hatte: es entsteht beim Zerfall von Radium.

1.1.5 Der Fall Travia und das Kohlenmonoxid im Leuchtgas (1926/27)

Kohlenmonoxid ist ein tückisches Gift. Es ist farb- und geruchlos wie Luft, und wer es einatmet, der ist deshalb nicht vorgewarnt, wenn der Tod kommt. Analytisch kann es nachgewiesen werden, indem man Luft durch ein Prüfröhrchen saugt, das ein Iodoxid enthält, eine chemische Verbindung aus Iod (Symbol: I) und Sauerstoff (O), die die Bezeichunung Diiodpentoxid trägt (Formel: I2O5). Das Kohlenmonoxidgas (CO) reagiert mit dem Iodoxid zu Kohlendioxid (CO2) und farbigem Iod:

Kohlenmonoxid + Diiodpentoxid → Kohlendioxid + Iod

Zusätzlich gibt es moderne Gaswarngeräte, nichtdispersive Infrarotsensoren, die CO-Nachweise im Bereich von 0,02 bis 2 Promille der Atemluft ermöglichen (eine Konzentration-Zeit-Funktion ermöglicht es, Fehlalarme, etwa durch Zigarettenrauch, zu verhindern).

Alexander O. Gettler bekam beruflich mit diesem Gift zu tun, als im Dezember 1926 Francesco Travia bei dem Versuch verhaftet worden war, als er die Leiche von Anna Fredericksen zerstückeln und zu beseitigen. Alles war voll von kirschrotem Blut. Er behauptete, er habe mit ihr Whiskey getrunken, sei dann eingeschlafen und sie habe, als er wieder aufgewacht sei, tot neben ihm gelegen. Weil er dachte, er habe sie im Rausch getötet, habe er versucht, die Leiche zu beseitigen.

Norris und Gettler untersuchten den Fall. Travias Gasherd hatte Kohlenmonoxid freigesetzt und den Mann bewusstlos gemacht. Aber hatte er Anna vorher getötet? Kam das Gas erst danach in ihren Körper oder war sie an dem Gas verstorben, das Travia bewusstlos gemacht hatte? Konnte er Travia vor der Todesstrafe retten? Gettler legt drei Leichen in Kabinen mit CO-Gas aus. Er bewies, dass eine Kohlenmonoxid-Aufnahme durch den Körper zwar auch nach dem Tod auftreten konnte, nicht aber in solchen Mengen wie bei noch lebenden Personen. Und Leuchtgas tötete in New York damals immerhin mehr Menschen als die Tuberkulose (Norris hatte alleine im Jahr 1925 618 tödliche Unfälle durch unbeabsichtigte Kohlenmonoxid-Vergiftungen gezählt, 388 Selbstmorde und 3 Morde5. Travia wurde vom Vorwurf des Mordes freigesprochen und wegen illegaler Leichenbeseitigung verurteilt – Gettlers forensische Untersuchung rettete ihn vor der Hinrichtung.

1.1.6 Mordfall Gross: Thallium im Kakao (1936)

1936 hatte Gettler mit einem neuen Fall zu tun. Auch hier wurde er zum Retter. Wieder ging es um einen chemisch-analytischen Nachweis. Innerhalb von sechs Wochen waren die Frau des 49jährigen Buchhalters Frederick Gross und seine vier Kinder tot – der Mann selbst blieb gesund. Der Angestellte einer Import-Firma in Manhattan kam unter Mordanklage. Im Kakaopulver, so die Polizei, sei giftiges Thallium gefunden worden, und im Haushalt ein Rattengift, das Thalliumsulfat enthielt6. Hatte Gross seine Familie vergiftet? Er beteuerte seine Unschuld, immer und immer wieder. Der elektrische Stuhl drohte.

Gettler untersuchte die Proben. Wie die Kollegen setzte auch er das für Thallium sicherste Nachweisverfahren eingesetzt, die Spektralanalyse. Hierbei gibt man ein Salz in eine Flamme (oder die in Salzsäure gelöste Probe). Dann untersucht man deren Verfärbung. Hierzu nimmt man ein Spektroskop. Es zerlegt das Licht in eine Art Regenbogen. Das so erzeugte Spektrum zeigt die Verfärbungen eindeutig an, in Form so genannter Spektrallinien. Natriumsalze zum Beispiel färben Flammen gelborange, Strontiumsalze rot und Thalliumsalze grün. Die Proben von den Leichen der Kinder färbten sie grün.

Abb. 4: Karminrote, grüne und orangegelbe Flammfärbung durch Lithium-, Bor-, Kupfer- und Natriumsalze

Gettler setzte Vergleichsproben ein und überprüfte das Analyseverfahren. Je nach Salz, Flammtemperatur und Salzsäuregehalt erkannte er unterschiedliche Linien im Spektrum. Die für Thalliumsalze typische Spektrallinie lag bei 535,1 nm. Und hier erkannte Gettler der Fehler: Auch Kupfersalze färben Flammen grün, wenn Salzsäure hinzukommt. Doch ihre Spektrallinie liegt bei 510,6 nm (ohne Salzsäure bei 515,3 nm). Gettler konnte nachweisen, dass das angebliche Thallium im Kakao Kupfer war, das aus dem Konservendosen-Metall ausgetreten war. Seine Aussage rettete Gross vor dem Tod auf dem elektrischen Stuhl. Die Mutter, so stellte sich heraus, war depressiv und hatte das Essen der Kinder vergiftet – und sich selbst.

Abb. 5: Ein historisches Spektroskop – ein Gerät zur Untersuchung der Flammfärbung (Flamme des Bunsenbrenners links) über ein Prisma (Zerlegung des Lichtes in „Regenbogenfarben“ und „Spektrallinien“).

Charles Norris und Alexander Gettler erhielten weitere Auszeichnungen. Seit nunmehr 18 Jahren hatten sie am ersten Gerichtsmedizinischen Institut, dem OCME, die Grundlagen der modernen forensischen Toxikologie gelegt – die Ermittlung von Stoffen, die den Tod eines Menschen mittel- oder unmittelbar verursachen. Durch unzählige Obduktionen und die Aufklärung vieler Todesfälle hatten sie die Forensik zu einer hoch angesehenen wissenschaftlichen Disziplin gemacht, gesundheitliche Gefahren chemischer Substanzen aufgedeckt sowie mehrere Gesundheitsskandale

1.2. Forensik und Analytik

1.2.1 Forensische Kriminaltechnik und Gerichtsmedizin

Die forensischen Wissenschaften (Kriminalwissenschaften) zielen auf die Aufklärung und Bekämpfung von Verbrechen ab – ein Fachgebiet, das auf Grundlagen aus Informatik, Mathematik, Biologie, Chemie und Physik beruht. Es wird oft in Kriminalistik und Kriminologie unterteilt. Die Kriminalwissenschaften umfassen technische und naturwissenschaftliche Fächer und nutzt technische Hilfsmittel wie z.B. die kriminalistische Fotografie oder die Analytik im Labor

Die ersten europäischen, professionellen Ermittler, die es verstanden, Mörder mit wissenschaftlicher Sorgfalt zu entlarven, waren der Berliner Kriminalist Ernst Gennat (1880-1939) und der französische Forensik-Pionier Edmond Locard (1877-1966) – der „Buddha der Kriminalisten“ und der „Sherlock Holmes von Frankreich“, wie sie auch genannt wurden. Als 1910 in Lyon die Zahl von Gewaltverbrechen stark anstieg, überzeugte Locard die Lyoner Polizei vom Nutzen eines Labors zur Sammlung und Prüfung von Beweismaterial – ab 1912 das erste offizielle Polizei-Kriminalitätslabor der Welt zur wissenschaftlichen Grundlagenforschung in Toxikologie, Ballistik und Identifizierung. Schon im November 1910 hatte er seine erste Ermittlungsarbeit mit Hilfe eines Fingerabdrucks gelöst (nur zwölf Jahre nach der ersten Fingerabdruckidentifizierung überhaupt, der Daktyloskopie). Sein Grundsatz, dass kein Kontakt zwischen zwei Objekten möglich ist, ohne dass wechselseitige Spuren zurückbleiben, wurde zum wichtigsten Prinzip der Forensik (Locard’sche Regel). Gennat gründete 1926 die wohl erste Mordinspektion, was 1931 dazu führte, dass 108 von 114 Tötungsdelikten aufgeklärt werden konnten (94,7 %), während das Raubdezernat nur auf eine Quote von 52 % kam. Seine Inspektion vollbrachte so eine wissenschaftliche Leistung, die damals an Zauberei zu grenzen schien (aber eher auf enger Zusammenarbeit zwischen Analytikern, Statistikern, Technikern und Forensikern beruhte).

„Forensik“ ist ein Sammelbegriff. Auf dem Marktplatz (lat. forum) und anderen öffentlichen Orten fanden im alten Rom Gerichtsverfahren, Untersuchungen, Urteilsverkündungen und Strafvollzug statt. In den Bereich der Forensik fallen alle technische und wissenschaftliche Arbeitsgebiete, bei denen kriminelle Handlungen untersucht werden. Die Rechtsmedizin (auch: Forensische Medizin, Gerichtsmedizin) entwickelt, verwendet und beurteilt medizinische und naturwissenschaftliche Kenntnisse zur Rechtspflege und vermittelt ihre Erkenntnisse an die Ärzteschaft. Die Kriminaltechnik nutzt wissenschaftliche, auf Erfahrung basierende Erkenntnisse zur Auswertung kriminalistischer Spuren. Sie wird oft an eigenen Instituten angesiedelt, angegliedert an das BKA (Bundeskriminalamt) und die LKAs (Landeskriminalämter).

1.2.2 Analytik, ein Beispiel: Der Arsennachweis (1836)

Eine der Naturwissenschaften, die Erkenntnisse an die Rechtsmedizin und Kriminaltechnik liefern, ist die Analytische Chemie. Die Anaytik ist heute aus dem Leben nicht mehr wegzudenken – auch über die Kriminalwissenschaften hinaus. Arznei- und Lebensmittel, Kosmetika, Wasser-, Luft-, Boden-, Müll-, Urin- und Blutproben – fast alles wird untersucht und geprüft. Analytik ist allgegenwärtig: in Veterinär-Untersuchung- und Lebensmittelüberwachungsämtern, in kleinen Laboratorien zur Qualitätskontrolle industrieller Produkte, in Forschungs-U-Booten in der Tiefsee, in Messgeräten an Forschungsballons in der der höheren Erdatmosphäre und sogar in Raumsonden auf Mond, Planeten oder im Weltraum. Labors führen Prüfungen, Kalibrierungen und Messungen durch, Prozesss- und Qualitätskontrollen oder auch Grundlagenforschung. Zwei der größten Labors der Welt sind das Fermilab inb den USA und der LHC des CERN in Genf. Planung und Bau des LHC erforderten die Mitarbeit von über 10.000 Wissenschaftlern und Technikern an hunderten Universitätslehrstühlen und Forschungsinstituten aus über 100 Staaten. Die maßgebliche Laborkomponente, ein Ringbeschleuniger, ist hier 26,7 Kilometer lang. Protonen und Blei-Atomkerne werden hier auf nahezu Lichtgeschwindigkeit gebracht, um die bei der Kollision entstehenden Elementarteilchen analysieren zu können.

In der Chemie wird die chemische Untersuchung unbekannter Stoffproben als „Analytik“ bezeichnet (von griech. ἀναλύειν analyein‚ auflösen) – gleichgültig ob es dabei um Leichenteile, Bodenproben, Lebensmittelreste oder Mineralien geht (Erst wenn Analysen im Auftrag von Staatsanwälte, Gerichte und Polizeidienststellen erfolgen handelt es sich um forensischer Untersuchungen. Das Protokoll dieser Analysen wird, der Aufgabenstellung entsprechend, von den so genannten forensischen Sachverständigen zum Gerichtsgutachten ausformuliert). Die folgenden Kapitel erzählen die Entwicklungs- und Entdeckungsgeschichte der Analytischen Chemie, zumindest ihre spannendsten Episoden. Immer wieder wurden neue Methoden entdeckt, um unbekannte Substanzen zu identifizieren oder um ihre Zusammensetzung und Mengen zu bestimmen. Die unbekannte Probe wird dabei als „Analyt“ bezeichnet, der Untersuchungsvorgang als „Analyse“.

Abb. 6: Oben der Apparat für die Marsh’sche Probe, darunter die Marsh‘sche Probe im Labor: ein schwarzer Arsenspiegel bildet sich.

Eine qualitative Analyse soll klären, was für ein Stoff vorliegt, oder, wenn es sich um ein Gemisch handelt, welche Bestandteile (Komponenten) darin enthalten sind. Es geht um die Identifikation von Stoffen, z.B. um die Durchführung eines Nachweises, ggf. nach vorheriger Entfernung störender Stoffe oder Auftrennung von Gemischen. Eine quantitative Analyse zielt darauf ab, die Menge eines Stoffes bzw. Analyten zu bestimmen, die im Gemisch (der Probe) enthalten ist. Eine Strukturanalyse klärt den molekularen Aufbau einer Substanz auf (z.B. die Kristallstruktur oder die chemische Strukturformel).

Ein Beispiel aus der Analytik ist das oben erwähnte Arsen. Hier lauten die Fragen: Wie lässt sich nachweisen, ob es in einer Boden- oder Gewebeprobe enthalten ist (qualitativ)? Und in welcher Konzentration oder Menge (quantitativ)?

Der qualitative Arsen-Nachweis wurde im beginnenden 19. Jahrhundert entdeckt. James Marsh (1794 – 1846) war ein Schüler des berühmten Forschers Michael Faraday. Marsh entwickelte 1836 eine Methode, mit der er nachweisen konnte, ob Arsen in einer Materialmischung enthalten ist. Eine Probe des Materials wird dazu in einen Kolben mit konzentrierter Salzsäure und Zinkpulver gegeben. Dabei entsteht ein Gasgemisch. Dieses wird gegebenenfalls getrocknet, durch eine feine Öffnung geleitet und angezündet. Wenn man eine kalte Oberfläche in die Flamme hält, zum Beispiel eine Porzellanschale, dann scheint die Flamme dort zu rußen – auch wenn sie frei von Kohlenstoff ist. Der Grund liegt darin, dass das Gasgemisch bei arsen- und antimonhaltigen Proben die Gase Arsin oder Stibin enthält. Diese zerfallen an der Oberfläche, so dass dort ein Belag von Arsen oder Antimon entsteht (Genaugenommen ist an der Kontaktstelle zwischen Flamme und Porzellanschale zu wenig Sauerstoff vorhanden, um das Arsin komplett zu Arsenoxid zu verbrennen. Daher scheidet sich elementares Arsen ab). Eine nähere Untersuchung des Arsen- oder Antimon-„Spiegels“ mit Wasserstoffperoxid zeigt dann, ob es sich um Arsen handelt (hierin löslich als Arsenat) oder um Antimon.

Die Entdeckung der Marsh’schen Probe ermöglichte in der Forensik den Nachweis von Arsen in Leichen, insbesondere bei Arsen-Mordopfern (Bis dahin war Arsenik, Arsen(III)-oxid, ein beliebtes Mordgift – nach Marsh’s Entdeckung kamen Arsenmorde zunehmend seltener vor).

Der Chemiker James Marsh wurde 1832 von einem Gericht beauftragt, das einem gewissen John Bodle vorwarf, seinen Großvater mit arsenhaltigem Kaffee vergiftet zu haben. Marsh führte den damaligen Standardtest durch. Er mischte die Probe mit Schwefelsäure und Schwefelwasserstoff, und als Reaktionsprodukt entstand aus Schwefel und dem Arsen in der Probe das gelbe Arsentrisulfid. Aber als er 1833 als Gutachter auftrat, musste der Angeklagte von der Jury freigesprochen werden. Das gelbe Arsentrisulfid war als Beweismittel zum Zeitpunkt des Prozesses wieder zerfallen.Marsh entwickelte einen neuen Arsennachweis, die oben beschriebene Methode. Er berichtete 1836 davon im Edinburgh Philosophical Journal (Die Marsh’sche Probe wurde berühmt: R. Austin Freeman übernahm die Beschreibung 1923 in seinem Roman „The Cat's Eye“, Dorothy L. Sayers 1929 im Kriminalroman „Strong Poison“, Astrid Lindgren 1951 in „Kalle Blomquist lebt gefährlich“ und Friedrich Glauser im dritten Fall seines Wachtmeisers Studer „Der Chinese“).

Abb. 7: Links metallisch glänzendes graues Arsen (As), rechts seine Verbindung mit Schwefel (S), das Mineral Auripigment, Arsen(III)-sulfid (As2S3)

Arsen ist kein neuer Stoff. Schon im 3. Jahrtausend vor Christus kam der Mensch mit ihm in Kontakt, denn die Haare der im Gletschereis des Ötztals erhaltenen Mumie Alpenbewohners, volkstümlich „Ötzi“ genannt, ließen sich größere Mengen Arsen nachweisen. Er war in der Kupferverarbeitung tätig, und Kupfererze enthalten oft Beimengungen von Arsen. Arsen, chemisches Symbol As, ist ein Halbmetall, das in einer grauen, gelben, schwarzen und braunen Variante existiert. An Luft verbrennt das Pulver mit bläulicher Flammezu einem weißen Rauch. Das chemische Element Arsen (Symbol: As) bildet dabei mit Sauerstoff (Formel: O2) eine chemische Verbindung, das Arsenik (Arsen(III)-oxid, Formel: As2O3). Chemiker beschreiben diese Stoffumwandlung in einer Reaktionsgleichung:

Arsen + Sauerstoff → Arsen(III)-oxid,

in Formeln: 4 As + 3 O2 → 2 As2O3.

Arsen + Schwefel → Arsen(III)-sulfid,

in Formeln: 2 As + 3 S → As2S3.

Abb. 8: Links Wafer verschiedener Größe, rechts Tizians Gemälde Bacchus und Ariadne (1520–1523), in dem Auripigment als Malerfarbe eingesetzt wurde

Arsen wird für Gallium-Arsenid-Halbleiter verwendet, in Epitaxieschichten auf Wafern und für Hochfrequenzbauelemente wie Integrierte Schaltkreise (ICs) und Leuchtdioden (LEDs). Auripigment war die kräftigste gelbe Malerfarbe, bevor das Chromgelb entdeckt wurde. Und die Arsenverbindung Arsphenamin wurde Anfang des 20. Jahrhunderts als Medikament gegen die Syphilis eingesetzt („Salvarsan“, auch als: E606, Formel: C18H18As3N3O3). In der Analytik wird Arsen über die Marsh’sche Probe nachgewiesen. Einen weiteren Nachweis entwickelte der Bonner Chemiker Anton J. H. M. Bettendorf (1839 – 1902). Er ließ die Probe mit Salzsäure und Zinn(II)-chlorid reagieren. Wenn sie Arsen enthielt entstand ein graubrauner Niederschlag (Bettendorf’sche Probe: Arsenverbindungen reagieren mit den Zinn(II)-Ionen Sn2+ zu Zinn(IV)-Ionen Sn4+ und elementarem Arsenpulver.

Abb. 9: Links eine elektrisch beheizte Quarzzelle bei 1000 °C zur Bestimmung von Arsen, rechts ein Atomabsorptionsspektrometer (AAS)

Quantitativ wird das Arsen heutzutage labortechnisch mit Hilfe von Geräten nachgewiesen, die man Flammen-Atomabsorptonsspektrometer nennt (flame atomic absorption spectrometry, F-AAS, Flammentechnik). In einem solchen AAS-Gerät wird die Probe, in der man die Arsenverbindungen vermutet, in einer reduzierenden Luft-Acetylen-Flamme ionisiert. Die Arsen-Ionen in der Flamme verschlucken Licht einer bestimmten Wellenlänge (Atom-Absorption, bei 189,0 und 193,8 nm). Spektroskopisch lassen sich so Arsenmengen von bis zu nur 1 µg/mL Probe nachweisen, ins Besondere, wenn das Arsen in den gasförmige Arsenwasserstoff (Arsin, AsH3) überführt wird (Hydridtechnik). In der Quarzrohrtechnik wird das Arsin bei rund 1000 °C in einem elektrisch beheizten Quarzröhrchen zersetzt, um die Absorption anschließend bei o.g. Wellenlängen zu bestimmen. Die F-AAS-Methode ist so genau, dass die Nachweisgrenze sogar bei nur 0,01 µg/L liegt (Ein solcher Anteil von etwa 10 Millionstel, also 10 ppm, entspricht z.B. einem Anteil von nur 40 Menschen in der Großstadt-Bevölkerung von Berlin).

1.2.3 Naturwissenschaft, der Kontext der Analytischen Chemie

Analytische Chemie ist eine Naturwissenschaft. Also solche arbeitet sie auch mit bestimmten Methoden. Naturwissenschaftler beobachten, messen und untersuchen (analysieren) Zustände und Vorgänge in der belebten und unbelebten Natur. Sie versuchen Regelmäßigkeiten erkennen und die Wiederhol- und Überprüfbarkeit (Reproduzierbarkeit) ihrer Ergebnisse methodisch zu sichern. Die wissenschaftliche Erklärung von Naturerscheinungen soll helfen, die Natur nutzbar zu machen (nach J. Habermas in: Erkenntnis und Interesse. In: Ders. (Hg.): Technik und Wissenschaft als Ideologie, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1969, S. 146–168). Der Durchbruch gelang den Naturwissenschaften auf Grund dieser Arbeitsmethoden im 17. Jahrhundert, was im Zusammenhang mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert eine wissenschaftliche sowie die industrielle Revolution auslöste und die Gesellschaft stark veränderte.

Abb. 10: Prozess des Erkenntnisgewinns

Analytische Chemie beruht wie alle Naturwissenschaften auf erkenntnistheoretischen Voraussetzungen (Prämissen), auf Erfahrungen (Empirie) und überprüfbaren Experimenten. Mit Hilfe von Induktion und Deduktion werden Hypothesen (überprüfbare Vermutungen) als richtig oder falsch erwiesen (Verifikation, Falsifikation; wenn aus der Untersuchung eines Phänomens auf eine allgemeine Erkenntnis geschlossen wird, dann bezeichnet man das als Induktion; wenn eine logische Schlussfolgerung aus einer als wahr angenommenen Hypothese gezogen wird, so handelt es sich um eine Deduktion). Das Ergebnis, die durch überprüfbare Experimente bestätigte Hypothese, wird dann auf einfache Mechanismen oder Gesetze zurückgeführt und möglichst quantitativ, also mathematisch beschrieben. So entstehen naturwissenschaftliche Theorien –abstrakte, wissenschaftliche Modelle und Konzepte, die jeweils einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu erklären versuchen.

2. Analytik und Naturwissenschaften in Altertum und Mittelalter

2.1 Probierkunst und chemische Kenntnisse im Altertum

2.1.1 Plinius‘ Eisennachweis mit Galläpfelsaft

Abb. 11: Ein Gallapfel, wie er im Herbst an der Unterseite von Eichenblättern vorkommt, enthält abgelegte befruchtete Eier der der Eichengallwespe. Der Absud (ein wässrige Extrakt, das durch Kochen von z.B. Hölzern, Rinden, Insektenhüllen und Wurzeln gewonnen wird) enthält u.a. Gallusgerbsäure (Tannin) und Gallussäure (3,4,5-Trihydroxybenzoesäure, chem. Formel C7H6O5)

Das Untersuchen eines Fundes oder Materials und das Prüfen mit den Sinnen ist eine Fähigkeit, die die Natur den Tieren schon vor dem Erscheinen des Menschen mit auf den Weg gegeben hat. Systematisch wurde das Untersuchen durch das Hinzukommen des menschlichen Verstandes. Die vielleicht älteste physikalisch-analytischen Methode zur Untersuchung einer unbekannten Metallprobe war der Vergleich ihrer Dichte durch Untertauchen in Wasser: Das archimedische Prinzip half, echtes Gold und Falschgold zu unterscheiden7. Jedenfalls ist bekannt, dass es chemische Analysemethoden schon gab, noch bevor die Chemie zu einer Naturwissenschaft wurde, denn schon Plinius der Ältere (Gaius Plinius Secundus Maior, ca. 23 oder 24 bis 79 n.Chr., gestorben während des Ausbruches des Vesuvs) berichtete, man könne im Grünspan enthaltenes Eisensulfat nachweisen, indem man Galläpfelsaft zusetzt8