Gurlitts Schatz - Catherine Hickley - E-Book

Gurlitts Schatz E-Book

Catherine Hickley

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Beschreibung

Gurlitts "Schatz" ist eine Kunstsammlung, die ob ihrer Größe beeindruckt. Über 1200 Werke der bildenden Kunst, das stolze Erbe seines Vaters Hildebrand Gurlitt, lagerte Cornelius Gurlitt in seiner Münchner Privatwohnung, als dieses Who's who der Kunstgeschichte entdeckt wurde – ein weiterer Fund in Salzburg folgte. Reißerische Schlagzeilen über den "Jahrhundertfund" von Raubkunst überschlugen sich. Doch was hat es mit dieser Sammlung und ihrer Herkunft tatsächlich auf sich? Wer war Hildebrand Gurlitt und welche Rolle spielte er während des Nationalsozialismus? War er Täter, Profiteur, gar Retter von Kunstwerken? Mit "Gurlitts Schatz" liegt nun die bisher fundierteste Untersuchung des "Falles Gurlitt" vor, für die Catherine Hickley präzise Archivrecherche betrieben und rechtmäßige Erben der Bilder aufgespürt hat. In ihrem hochaktuellen und differenzierten Buch wird einmal mehr klar, dass es im Umgang mit diesem Teil unserer Geschichte nicht nur Schwarz und Weiß, sondern viele Grauzonen gibt. Aus dem Englischen von Karin Fleischanderl.

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Seitenzahl: 409

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Catherine Hickley

GURLITTS SCHATZ

Hitlers Kunsthändler und sein geheimes Erbe

Aus dem Englischen übersetzt von Karin Fleischanderl

Catherine Hickley

GURLITTS SCHATZ

Hitlers Kunsthändler und sein geheimes Erbe

Aus dem Englischen übersetzt von Karin Fleischanderl

Czernin Verlag, Wien

Produziert mit Unterstützung der Stadt Wien / MA7 Wissenschafts- und Forschungsförderung, des Zukunftsfonds der Republik Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus

Hickley, Catherine: Gurlitts Schatz Hitlers Kunsthändler und sein geheimes Erbe / Catherine Hickley Aus dem Englischen übersetzt von Karin Fleischanderl (Bibliothek des Raubes, Band XV) Wien: Czernin Verlag 2016 ISBN: 978-3-7076-0575-4

© 2016 Czernin Verlags GmbH, Wien Titel der Originalausgabe: The Munich Art Hoard: Hitler’s Dealer and his Secret Legacy © 2015 Catherine Hickley, erstmals veröffentlicht 2015 bei Thames & Hudson Ltd, Großbritannien

Umschlagabbildungen: oben: Privatbesitz (Max Liebermann, Zwei Reiter am Strand) unten: Bayerische Staatsbibliothek München / Bildarchiv (Hitler begutachtet 1938 »entartete Kunst« in Berlin) Umschlaggestaltung: sensomatic Produktion: www.nakadake.at ISBN E-Book: 978-3-7076-0575-4 ISBN Print: 978-3-7076-0574-7

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Vorwort

Zwei Reiter am Strand

Barbarische Kunst

Eine Insel der geistigen Freiheit

Geschäfte mit dem »Teufel«

Das Inferno überleben

Geheimnisse und Lügen

Ein dunkles Erbe

Der Verkauf von Raubkunst

Der Augsburger Staatsanwalt

Der Welt stockt der Atem

Späte Gerechtigkeit

Eine schwere Last für Bern

Nachwort

Stammtafel der Familie Gurlitt

Anmerkungen

Bibliographie

Danksagungen

Über die Autorin

Namensregister

Vorwort

Cornelius Gurlitt, ein gebrechlicher, weißhaariger alter Mann mit blasser Haut, wässrigen Augen und abwesendem Blick, saß in einer Ecke seiner Münchner Wohnung. Es war Februar 2012.

Beamte durchstöberten die Wohnung, in der er schon lange zurückgezogen lebte, drangen in seine Privatsphäre ein, packten seine kostbaren Besitztümer in Kisten und transportierten sie ab.

Sie blieben vier Tage. Das Gemälde Max Liebermanns, Zwei Reiter am Strand, wurde abgenommen, ein Chagall verschwand aus dem Schrank, ein Matisse wanderte aus der Schublade in eine Kiste.

Auch die vielen Zeichnungen und Drucke, seine Lieblingsblätter, die er in einem kleinen Koffer aufbewahrte, verschwanden. Er hatte viele Abende damit zugebracht, die Arbeiten von Pablo Picasso, Edgar Degas, Paul Cézanne, Auguste Rodin, Edvard Munch, Franz Marc und Otto Dix zu betrachten, das vergilbte Papier erinnerte ihn an eine aufregende Zeit der Kreativität und Inspiration, der Gefahr und Dekadenz.

Die Bilder waren mehr als Besitztümer. Er sprach mit ihnen. Sie waren ein Ersatz für Familie, Freunde, Geliebte. Gurlitt hatte nur seine Kunstwerke, in ihrer Gesellschaft wollte er seine letzten Jahre verbringen. Seine Eltern waren vor einem halben Jahrhundert gestorben. Seine Schwester, die einzige Person, die ihm noch nahestand, war schwer an Krebs erkrankt.

Jetzt waren auch die Bilder weg und er fühlte sich noch verwaister als nach dem Tod seiner Eltern. Er wünschte, seine Schwester könnte ihm helfen. Benita hätte die Fremden gewiss daran hindern können, das kostbare Vermächtnis ihres Vaters in Kisten zu packen und abzutransportieren.

Hätte man nicht bis nach seinem Tod warten können?

Er machte sich Vorwürfe. Sein Vater hatte die Bilder vor den Nationalsozialisten, den Bomben, der Feuersbrunst, der Roten Armee gerettet. Und ihm, Cornelius, war es nicht einmal gelungen, sie vor den Fremden zu verteidigen, die durch seine Wohnung trampelten. Sein Eigentum! Wie konnten sie nur? Was wollten sie von ihm? Er war kein Verbrecher. Man sagte zu ihm, die Kunstwerke seien von den Nationalsozialisten gestohlen worden. Was für ein Unsinn! Sie waren vor den Nationalsozialisten gerettet worden.

Er war entschlossen, seine Bilder zurückzubekommen, so viele wie möglich. Er würde sie nicht kampflos aufgeben.

––––

Der seltsame alte Mann äußerte sich nur einmal öffentlich, in einem Interview mit dem deutschen Magazin Der Spiegel. Er hatte bloß in Frieden und Ruhe mit seiner Kunst leben wollen. Doch das war ihm nicht vergönnt. Die ganze Welt wurde auf ihn und seine Sammlung aufmerksam, und eine Diskussion über ein ungesühntes Naziverbrechen brach los. Einige der Kunstwerke, die er jahrzehntelang in seiner Wohnung gehortet hatte, waren Juden gestohlen worden, die unter Adolf Hitler alles verloren hatten – ihren Lebensunterhalt, ihre Identität, ihr Zuhause, ihre Familie und manchmal sogar das Leben.

Die letzten Jahre von Cornelius Gurlitts zurückgezogenem Leben waren alles andere als friedlich. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen gegen ihn auf, Journalisten belagerten sein Haus, die Nachfahren der jüdischen Sammler, die vor mehr als siebzig Jahren verfolgt und enteignet worden waren, überschwemmten ihn mit Restitutionsansprüchen. Er wurde eine polarisierende Figur in einer komplexen juristischen Debatten, löste Staunen, Zorn und Mitleid aus und führte Deutschland wieder einmal vor Augen, dass es nach wie vor eine nationale Pflicht gab, sich mit der dunkelsten Zeit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Und vor allem wurde klar, dass es in privaten und öffentlichen Sammlungen auf der ganzen Welt noch immer Kunstwerke gab, die nicht ihren rechtmäßigen Besitzern rückerstattet worden waren – der Präsident des Jüdischen Weltkongresses bezeichnete sie als die »letzten Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkriegs«. Als sich abzeichnete, dass ihm ein deutsches Gericht die Bilder wahrscheinlich zurückgeben würde, wurde klar, dass man sich bei der Wiedergutmachung historischen Unrechts auf die Justiz nicht verlassen konnte.

Cornelius Gurlitt verließ kaum seine Wohnung, doch seine Wirkung war enorm.

In den letzten Wochen seines Lebens setzte er vom Krankenbett aus und unter beträchtlichem öffentlichem Druck einen Maßstab, an dem sich Museumsdirektoren, Kunsthändler und Privatsammler orientieren sollten. Er plädierte dafür, die Forderungen der Erben im Sinne der Washingtoner Erklärung zu erfüllen. Diese rechtlich nicht bindenden Grundsätze bezüglich NS-Raubkunst waren 1998 von vierundvierzig Regierungen verabschiedet worden. Leider werden sie von Museen und Politikern allzu oft ignoriert oder umgangen. Privatsammler sind überhaupt nicht an sie gebunden, Cornelius Gurlitt allerdings hielt sich an sie.

Für die enteigneten Familien setzte sich das Unrecht, dem sie einst zum Opfer fielen, in der Unfähigkeit fort, die Verbrechen der Nationalsozialisten zur Sprache zu bringen. Niemand kann die Millionen Menschen, die im Holocaust umkamen, wieder zum Leben erwecken. Raubkunst jedoch kann und sollte den Familien rückerstattet werden, denen sie gestohlen wurde.

Zwei Reiter am Strand

Max Liebermanns Zwei Reiter am Strand, 1901. Das Gemälde gehörte David Torens Großonkel David Friedmann. (Foto: Privatbesitz)

November 2013 Als der Augsburger Staatsanwalt Reinhard Nemetz seinen spektakulären Fund herzeigte, schaute Lothar Fremy, ein schwer aus der Fassung zu bringender norddeutscher Rechtsanwalt, der vor dreißig Jahren nach Berlin übersiedelt war, gerade fern. Er erblickte Cornelius Gurlitts Schatz: 1200 Gemälde, Zeichnungen, Lithographien und Drucke, darunter auch einige bisher unbekannte Werke, etwa eine Gouache von Marc Chagall und ein Selbstporträt von Otto Dix. Die Liste las sich wie ein Who’s who der Kunst: Pablo Picasso, Paul Cézanne, Edgar Degas, Henri Matisse, Franz Marc, Henri de Toulouse-Lautrec, Oskar Kokoschka, Gustave Courbet, Paul Klee, Ernst Ludwig Kirchner, Albrecht Dürer, Canaletto, Jean-Auguste-Dominique Ingres. Die Werke waren zwischen Marmeladegläsern, Saftkartons, Nudelpackungen und im letzten Jahrhundert abgelaufenen Konservendosen versteckt gewesen.

Gurlitts Wohnung war vermüllt, doch laut Meike Hoffmann, der Berliner Kunsthistorikerin, die den Fund inspizierte, waren die Kunstwerke korrekt aufbewahrt. Sie waren staubig, viele von ihnen ungerahmt, aber unbeschädigt. »Das ist ein unglaubliches Glücksgefühl«, so Hoffmann bei der Pressekonferenz in Augsburg, »wenn ich sehe, dass es diese Bilder noch gibt.«

Jedes einzelne Bild hatte eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte wechselnder Besitzer, die jedoch erst rekonstruiert werden musste. Die Stränge der Geschichte, die Teile der einzelnen Narrative, mussten mühsam aus Dutzenden Archiven ausgegraben werden: aus Inventurlisten, alten Katalogen, Geschäftskonten und persönlichen Briefen. Von einigen Kunstwerken wusste man, dass sie im Rahmen des Feldzugs Adolf Hitlers und Joseph Goebbels’ gegen sogenannte »entartete Kunst« in deutschen Museen beschlagnahmt worden waren. Andere, vielleicht hunderte, waren jüdischen Sammlern geraubt oder von Juden verkauft worden, die aufgrund der NS-Rassenpolitik ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen konnten.

Fremy sah, dass Hoffmann einige der lange verloren geglaubten Bilder auf eine Leinwand projizierte. Ein Gemälde von Max Liebermann in einem reich verzierten Rahmen, das in Gurlitts Wohnung gehangen hatte, tauchte auf. Auf einem Sandstrand irgendwo in Nordeuropa reiten zwei Männer entlang der Wasserlinie, der vordere lehnt sich zurück und wendet sich zu seinem Begleiter, als wolle er ihm über die Brandung hin etwas zurufen. Hinter ihnen befindet sich eine bewegte, raue See, der Himmel ist wolkenverhangen, stellenweise blitzt Blau auf.

Fremy war erstaunt. »Das kenne ich doch«, sagte er. »Danach haben wir jahrelang gesucht.«1

David Toren, Fremys Klient, hatte fünfundsiebzig Jahre lang nichts über den Verbleib des Gemäldes gewusst. Toren ist pensionierter Patentanwalt und lebt mit seiner Frau im dreiundzwanzigsten Stockwerk eines Wohnhauses auf der Madison Avenue in New York. Seine Wurzeln liegen jenseits des Atlantiks, in einem Land namens Schlesien, das einmal zu Deutschland gehört hatte und jetzt Teil Polens ist.2

––––

David Toren wurde am 30. April 1925 als Klaus-Günther Tarnowksi geboren und wuchs als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie im noblen Süden von Breslau, dem heutigen Wroclaw, auf. Während der industriellen Revolution hatte die Stadt einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und war zur fünftgrößten Stadt in Deutschland geworden. Trotzdem war Breslau Ende des 19. Jahrhunderts kulturelle Provinz. Die öffentlichen Kunstsammlungen waren spärlich ausgestattet, nicht zuletzt, weil es kein königliches Erbe gab, das man ausstellen hätte können. Das erst 1880 gegründete Nationalmuseum war auf Schenkungen und Leihgaben reicher Bürger angewiesen – bis Ende des 19. Jahrhunderts waren das zum Großteil Adelige, Industrielle und Gelehrte. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Sammler und Mäzene vorwiegend Juden.3

Zur Zeit von Torens Geburt befand sich in Breslau eine florierende jüdische Gemeinde mit ungefähr 23 das ist ein monet0 Mitgliedern, die drittgrößte in Deutschland nach Berlin und Frankfurt.4 Die Juden waren Kaufmänner, Geschäftsleute, Rechtsanwälte, Akademiker, Lokalpolitiker und Handwerker. Sie bereicherten das Kulturleben auf unglaubliche Weise, stellten in den Museen ihre beeindruckenden Sammlungen aus, machten großzügige Schenkungen moderner Kunst und schufen die Voraussetzungen für einen florierenden Kunsthandel.5 Die Juden spielten eine Schlüsselrolle in der Kunstszene der Stadt, als Publikum finanzierten sie den Opern-, Orchester- und Theaterbetrieb. Toren erinnert sich, er habe als Kind die Zauberflöte gesehen.

Trotz ihrer religiösen Traditionen waren die meisten Breslauer Juden, wie auch Torens Vater, Dr. Georg Martin Tarnowski, Deutschnationale, sie verehrten die deutsche Kultur und waren ins öffentliche Leben der Stadt eingebunden. Die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden waren zwar eingeschränkt, aber freundlich.6 Tarnowski senior hatte wie viele Breslauer Juden im Ersten Weltkrieg gedient. Er leitete den Ortsverband des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten. Versuche, ihn für den Zionismus zu gewinnen, scheiterten.

Gemeinsam mit seinem älteren Bruder, Hans Hermann Alfred Eberhard Tarnowski, wuchs Toren in einer luxuriösen Wohnung auf, an den Wänden hingen mehr als ein Dutzend Bilder des jüdischen Impressionisten Lesser Ury. Die Wohnung der Familie befand sich über einem Spirituosenladen an der Kaiser-Wilhelm-Straße – einem Boulevard, den Toren als »Breslauer Champs-Élysées« beschreibt. Adolf Hitler benannte sie später in SA-Straße um, zu Ehren der Sturmabteilung, der brutalen paramilitärischen Einheit der Nationalsozialisten.

Tarnowski senior, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, war nicht strenggläubig, die Familie besuchte die Neue Synagoge, nach der Berliner Synagoge die zweitgrößte und zweitschönste Synagoge in Deutschland. Es war eine Reformgemeinde. Als Torens Vater seine Mutter heiratete, brachte sie einen Sitz in der Mitte der zweiten Reihe mit in die Ehe, ein Statussymbol, auf das er sehr stolz war.

Toren besuchte gemeinsam mit einer Handvoll anderer jüdischer Schüler eine fortschrittliche private Grundschule namens Weinholdschule. Unter seinen Mitschülern war auch Anita Lasker, eine begabte junge Cellistin, Torens erste Liebe. Sie hielten heimlich unter dem Tisch Händchen und gingen ein Stück des Schulwegs miteinander.7 Anita Lasker-Wallfisch, wie sie später hieß, überlebte Auschwitz, weil sie ausgesucht worden war, im Frauenorchester des Lagers zu spielen. Nach dem Krieg ging sie nach Großbritannien und gründete mit anderen das English Chamber Orchestra.8 Sie erinnert sich an Toren als frechen kleinen Jungen mit blonden Locken und Stirnfransen.9

Eng befreundet war Toren auch mit seinem Klassenkameraden Bolko von Eichborn, einem kräftigen Kind aus einer adeligen deutschen Bankiersfamilie. Er schützte Toren vor Übergriffen, er duldete nicht, dass er bedroht wurde. Mit zehn trat Toren in die Fußstapfen seines Vaters und ging ins Zwingergymnasium, der besten höheren Schule in Breslau. Auch Eichborn besuchte diese Schule, sie blieben befreundet.

Torens Großonkel David Friedmann war ein reicher Zuckerfabrikant, er hatte in Breslau ein Wirtschaftsimperium aufgebaut. Gemeinsam mit Torens Großvater, Siegmund Friedmann, der starb, als Toren noch ein Kind war, war er Inhaber eines Ziegelwerks. Der sanftmütige Onkel David wurde in der Familie sehr bewundert, denn wie Toren sagt, »war er sehr reich und sehr nett«. Als Sechzigjähriger, als Toren noch ein kleiner Junge war, hatte Friedmann eine kleine Glatze, die er leicht puderte. Toren glaubte, sein Onkel, der ja Zuckerfabrikant war, puderte die Glatze mit Staubzucker. Er erinnert sich, dass er ihm 100 Reichsmark – damals viel Geld – für seine Bar Mitzwa am 7. Mai 1938 gab.

Friedmann hatte sein Vermögen als Landbesitzer gemacht. Er besaß vier Landgüter, die ungefähr eine Stunde von Breslau entfernt waren, und verpachtete das Land an Bauern, die Zuckerrüben anbauten. Zu seinen Besitztümern, ungefähr vier Hektar, gehörte auch das Gut Großburg, wo er eine Raffinerie und eine Destillerie betrieb und Pferde hielt. Auf einem Pony brachte der Stallmeister Toren das Reiten bei. In Michelwitz und Schweinbraten baute Friedmann Rüben an, das vierte Gut, Haltauf, wurde nicht landwirtschaftlich genutzt, hier befanden sich eine Jagdhütte und ein ausgedehnter Wald.

In Breslau wohnte Friedmann in einer luxuriösen, mit Porzellan, Perserteppichen, antiken Möbeln und Gemälden ausgestatteten Villa – auf der schattigen Ahornallee, jetzt Aleja Jaworawa, Nr. 27 – in einem Viertel im Süden der Stadt, wo viele wohlhabende Juden lebten. Nur ein paar Häuser entfernt befand sich das Haus Max Silberbergs, der eine großartige, weit über die Grenzen Breslaus hinaus bekannte Sammlung mit Gemälden von Cézanne, Monet, Manet, Renoir und Van Gogh besaß. In der Nähe wohnte auch Carl Sachs, ein Kurzwarenfabrikant, der wertvolle Drucke von Edvard Munch, Toulouse-Lautrec, Francisco Goya und Honoré Daumier sammelte. Er verlieh die Werke regelmäßig an Museen, sogar an weit entfernte in Berlin und Zürich. Ein weiterer Nachbar, der Textilfabrikant Leo Lewin, hatte seine Sammlung französischer Impressionisten mit modernen Werken von Munch und Picasso ergänzt. Max Liebermann, der bekannteste deutsche Impressionist, und der Künstler Max Slevogt waren regelmäßig bei Lewin zu Gast und porträtierten die Familie.10 1923 schrieb der Kunstkritiker Karl Scheffler: »Die ›Breslauer Sammlungen‹ sind der Stadt und unmittelbar dem Reich nicht wichtig, weil sie ein Besitz sind, der sich ziffernmäßig ausdrücken läßt, sondern weil sie geistige Spannungen erzeugen und dadurch Bewahrer dessen werden, woran uns heute mehr als an allem andern liegen muß.«11

Friedmanns Villa beherbergte Werke des jüdischen französischen Impressionisten Camille Pissarro und von Gustave Courbet, wie auch einen Schatz an holländischen, italienischen und deutschen Fayencen. Das Liebermann-Gemälde Zwei Reiter am Strand hing in einem dunklen Vorzimmer, das in den Wintergarten führte, es wurde erhellt von einer Lampe an der Wand. Die holländischen Strandszenen gehören zu Liebermanns bekanntesten Gemälden. Er war ein Berliner Jude und verbrachte viele Sommer in den Niederlanden, wo er sich vom zarten, veränderlichen Licht inspirieren ließ. 1900 schrieb er an einen Kunstkritiker, er sei in eine neue kreative Phase eingetreten. »In den drei Monaten, die ich jetzt in Holland war, habe ich mich wieder gehäutet, male Pferde und nackte Weiber (aber die nicht auf Pferden).«12 Friedmann hatte das Gemälde wahrscheinlich 1902 bei einer Ausstellung in der Galerie Lichtenberg in Breslau gekauft. Er verlieh es mehrmals, unter anderem 1905, anlässlich einer Ausstellung in Paul Cassirers Berliner Galerie, und 1927, anlässlich der Retrospektive zu Liebermanns achtzigstem Geburtstag.

Friedmann führte ein großes Haus und gab alle zwei Wochen einen Skatabend. Skat ist ein Kartenspiel für drei Personen, das damals in Schlesien sehr beliebt war. Der Komponist Richard Strauss war Stammgast, und Torens Vater war oft der Dritte am Tisch. Einer Anekdote zufolge spielte Strauss einmal bis spät am Abend, obwohl er eigentlich an der Oper hätte dirigieren sollen. Einer der Gäste stellte plötzlich fest, dass es kurz vor acht war, und wandte sich betroffen an ihn: »Herr Strauss, sollten Sie nicht schon in der Oper sein?« »Ohne mich können sie sowieso nicht anfangen«, hat der Komponist angeblich seelenruhig geantwortet.

Obwohl Breslau als liberal galt, konnte der NS-Fanatismus besonders früh und heftig Fuß fassen. Schon 1930, drei Jahre vor der Machtübernahme, strömten nicht weniger als 25 000 Menschen in die Jahrhundertehalle, um Hitler sprechen zu hören, und draußen drängten sich mindestens weitere 5000, um seine über Lautsprecher übertragene Rede zu hören.13 1933 erhielten die Nationalsozialisten in Breslau mehr Stimmen als in allen anderen deutschen Großstädten. Hohe städtische Beamte ergriffen als Erste im Land antijüdische Maßnahmen, der brutale Polizeipräsident, Edmund Heines, war Obergruppenführer der SA. 1933 organisierte er eine Razzia am Gericht, um jüdische Rechtsanwälte des Orts zu verweisen, und 1934 ließ er im Hof des Stadtschlosses Werke jüdischer Autoren verbrennen. 1933 wurden Juden aus den Gremien der Breslauer Museen und der befreundeten Vereine ausgeschlossen.

Im Jahr der Machtübernahme wurden Juden mit Berufsverbot belegt und ihre Geschäfte wurden boykottiert. Ab 1935 wurde ihr Vermögen konfisziert. Torens Kindermädchen musste den Haushalt verlassen. Aus Furcht vor Rassenschande durften nichtjüdische Frauen unter fünfundvierzig aufgrund der Nürnberger Gesetze nicht für Juden arbeiten.

Toren erinnert sich an den Hitlerbesuch 1936. Einige Minuten bevor er in einem offenen Mercedes über die SA-Straße fuhr, wurden die Bewohner aufgefordert, die Fenster zu schließen, Juden durften keinesfalls auf die Straße blicken. Toren gehorchte nicht und spähte hinaus. »Ich habe ihn gesehen«, sagt er.

Als Schulkind hatte Toren den Antisemitismus seiner Lehrer zu spüren bekommen, sie schlugen ihn unter jedem Vorwand. Einmal behauptete der Geschichtslehrer, die Schwester des britischen Außenministers Anthony Eden, eines Gegners der britischen Appeasement-Politik, sei mit Stalin verheiratet, und die beiden Männer planten, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Toren zeigte auf und erwiderte, er glaube nicht, dass Stalin und Eden verschwägert seien, daraufhin wurde er vom Lehrer geschlagen. Torens jüdischer Klassenkamerad Franz Loeser, der später ein marxistischer Philosophieprofessor in Ostberlin wurde, erinnert sich in seinen Memoiren, dass er und Toren ständig schikaniert wurden. »In der Schule, dem Zwingergymnasium, wurden Klaus und ich in das ›Klassenghetto‹ verbannt – in die hinterste Reihe, ganz in der Ecke«, so Loeser. Er erinnert sich, dass er und Toren von Mitschülern nach der Lateinstunde die Treppe hinuntergestoßen wurden, wobei sie rassistische Parolen brüllten und sie verdroschen, bis sie bluteten und ihre Kleider zerrissen waren.14 Toren kann sich an diesen speziellen antisemitischen Vorfall nicht erinnern: »Es gab so viele.«

Im Alter von dreizehn Jahren waren Toren viele Vergnügen seiner Klassenkameraden verwehrt. Vor Kinos und Eisdielen hingen Schilder: »Juden unerwünscht«. Deshalb fanden die Freizeitaktivitäten vor allem in jüdischen Vereinen statt, unter anderem im Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten, dem sein Vater vorstand. Der Verein bot für die Kinder der Mitglieder Kurse und Unterricht an, Toren schrieb sich bei Karate und Tischtennis ein.

Der Wendepunkt im Leben David Torens wie im Leben vieler anderer deutscher Juden kam am 9. November 1938, der sogenannten »Reichskristallnacht«. NS-Truppen wüteten in den Städten des Deutschen Reichs, zerstörten jüdische Geschäfte und Einrichtungen und griffen Juden auf den Straßen an.

An diesem Abend verließ Toren wie immer das Haus, um von 7 bis 9 Uhr die Karatestunde zu besuchen. Doch sein Lehrer, ein Koreaner, der an der Universität Breslau studierte und den schwarzen Gürtel besaß, schickte die Burschen auf schnellstem Weg nach Hause und befahl ihnen, Straßenecken zu meiden. Er warnte sie, die SA plane einen schrecklichen Angriff auf die jüdische Gemeinde. Er fragte, ob die Buben in einem Haus wohnten, in dem sich ein Geschäft befand. Toren antwortete, seine Familie wohne oberhalb eines Ladens, in dem Alkohol, Tabak und Süßigkeiten verkauft wurden.

Der Karatelehrer rief Torens Vater an, warnte ihn, dass das Geschäft zertrümmert werden würde, und gab ihm den Rat, zu einer alleinstehenden Verwandten zu gehen, in irgendeine Wohnung, wo kein Mann gemeldet war. Die Gestapo habe nämlich vor, am Morgen darauf alle männlichen Juden zwischen siebzehn und fünfundsiebzig Jahren zu verhaften. Tarnowski dankte ihm für den Rat, sagte jedoch, er hätte am Tag darauf eine wichtige Verabredung und müsse zu Hause bleiben. Er fragte, woher der Koreaner von den geheimen Plänen wusste. Dieser antwortete, er sei der SA beigetreten, um leichter Zugang zur Breslauer Gesellschaft zu finden, er würde gleich ein braunes Hemd anziehen und sich zu der Straßenecke begeben, die man ihm zugeteilt hatte, und eine Nacht lang plündern und Schrecken verbreiten.

Toren ging mit seinem Freund nach Hause, sie vermieden Straßenecken, wo sich schon kleine Gruppen von SA-Männern zusammengerottet hatten und über Stadtpläne beugten, um ihre jüdischen Ziele besser ausmachen zu können. Die Bemühungen der Jungen, nicht aufzufallen, gingen schief, und eine Schlägertruppe der SA lauerte ihnen auf. Die Braunhemden fragten sie, wohin sie gingen und warum sie keine Hitlerjugend-Uniform trügen. Toren gab die Adresse seines Onkels David an und sagte, sein Vater könne sich keine Uniform leisten. Die SA-Männer staunten. »Du wohnst hier und kannst dir keine Uniform leisten?« Aber sie ließen die Buben laufen.

In dem Durcheinander hatte Torens Freund ein paar Prospekte fallen lassen, die er beim Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten mitgenommen hatte. Einer der Schläger sah sie. »Sie lügen, es sind Juden, schnappen wir sie uns!« Die Buben liefen davon.

Torens Freund war ein guter Läufer, Toren jedoch nicht. Er hörte, dass ihm einer der Braunhemden keuchend folgte. Toren blieb stehen, drehte sich um und verpasste ihm einen Tritt in die Genitalien. »Du Schwein!«, kreischte der Mann und krümmte sich vor Schmerz. Toren entkam und lief nach Hause, unversehrt bis auf eine gebrochene Zehe.

Später am Abend lief Torens älterer Bruder mit ein paar Freunden zur Neuen Synagoge, um die Tora-Rollen zu retten. Es gelang ihm nicht. Das Gebäude war von SA-Männern umstellt und sie kamen nicht einmal in die Nähe der Synagoge. Um nicht verhaftet zu werden, verbrachten sie die Nacht im Haus einer Freundin.

Die »Reichskristallnacht« hatte in Breslau verheerende Schäden angerichtet. Die prächtige Neue Synagoge war niedergebrannt worden – nur die Außenwände wurden stehen gelassen, damit das Feuer nicht auf die nichtjüdischen Gebäude in der Umgebung übergriff. Zwei weitere Synagogen in Breslau wurden zerstört, die orthodoxe Storch-Synagoge wurde verwüstet, ein Gemeindezentrum und zehn jüdische Gasthäuser und mindestens fünfhundert jüdische Läden wurden geplündert und in Schutt und Asche gelegt.15

Toren beobachtete heimlich mit seinen Eltern vom Balkon aus, wie der Spirituosenladen geplündert und Flaschen gegen die Wand geschleudert oder ausgetrunken wurden. Er erinnert sich, dass das Haus noch Tage danach nach Alkohol stank. Sein Fahrrad war gestohlen worden.

Am nächsten Tag um ungefähr 7 Uhr wurde Torens Vater wie jeden Morgen von einem älteren Mann rasiert, als zwei Gestapobeamte kamen und ihn aufforderten, ihnen zu folgen. Tarnowski sagte, er habe um 11 Uhr eine wichtige Verabredung mit General Ewald von Kleist und könne Breslau nicht verlassen. Die Beamten ließen nicht locker und zwangen ihn mitzugehen – er war einer von den 2471 jüdischen Männern zwischen siebzehn und fünfundsiebzig Jahren, die an diesem Tag in Breslau verhaftet wurden und in das KZ Buchenwald in der Nähe von Weimar deportiert wurden.

Bei dem Treffen in David Friedmanns Villa sollte der Verkauf von einem von Friedmanns Gütern abgeschlossen werden. Tarnowski durfte zwar nicht mehr als Rechtsanwalt praktizieren, jedoch nach wie vor Juden bei Rechtsangelegenheiten beraten. Friedmann wusste, dass die Nationalsozialisten früher oder später sein ganzes Land beschlagnahmen würden. Er war mit Kleist bekannt und an ihn herangetreten, um ihm das Land zum Verkauf anzubieten, er wusste nämlich, dass er ein Jagdrevier mit einer Jagdhütte suchte. Toren hält Kleist – der später Hitlers Panzerdivision beim Polenfeldzug befehligte – nach wie vor für einen Ehrenmann, trotz der Umstände bot er für Friedmanns Gut Haltauf einen fairen Preis.

In einem Anfall von Panik rief Torens Mutter Maria den General im Hotel an und sagte ihm, ihr Mann sei nach Buchenwald verschleppt worden. Kleist ließ seine Beziehungen spielen, um Tarnowski zu befreien – aber nur für einen Tag. Tarnowski wurde von zwei SS-Männern in einem Mercedes vom Gestapo-Hauptquartier zu der Verabredung gefahren, damit er bei der Vertragsunterzeichnung dabei sein konnte.

Mit Unterwäsche und warmen Kleidern für seinen Vater stiegen Toren und seine Mutter in die Straßenbahn Nr. 12, um zur Villa seines Onkels zu fahren. Die Unterzeichnung fand im Wintergarten statt. Toren wartete im Vorzimmer, in dem das Liebermann-Gemälde Zwei Reiter am Strand hing. Bei dieser Gelegenheit sah er es zum letzten Mal.

Nach der Unterzeichnung ging Toren zum Spielen zu seinem Freund Bolko von Eichborn. Bolkos Mutter hatte das vorgeschlagen, um Toren von den schrecklichen Ereignissen des Tages abzulenken. Am Abend brachten die beiden SS-Männer seinen Vater nach Buchenwald, wo er drei Wochen lang blieb.

Die Bedingungen in Buchenwald waren schrecklich. Sadistische Wächter machten sich einen Spaß daraus, die in fünf improvisierten Holzbaracken untergebrachten Insassen zu demütigen und zu schlagen. Wasser war Mangelware, es gab dreißig Todesfälle pro Tag. Viele drehten durch und begingen Selbstmord, indem sie sich in den elektrischen Stacheldrahtzaun am Rande des Lagers stürzten.16

Tarnowski war zwar ein kräftiger Mann, kehrte aber abgemagert, mit schrecklichem Durchfall und kahlgeschoren zurück. Gleich nach seiner Rückkehr ging er zum Bett seines älteren Sohnes. Seine Haare waren ungeschoren. Tarnowski war froh, dass Hermann – zumindest fürs Erste – vor der Festnahme und dem Grauen in Buchenwald verschont geblieben war.

Jüdische Kinder durften keine öffentlichen Schulen mehr besuchen, und Toren wechselte an eine der beiden jüdischen Schulen. Sie befand sich in der Predigergasse, nicht weit von seinem Zuhause entfernt, und litt an Schülermangel, einerseits weil die Juden bereits auswanderten, andererseits weil sich jüdische Eltern keine Schulgebühren mehr leisten konnten.17 Doch der Bildungsstandard war hoch.

Zwei Tage nach der »Reichskristallnacht« kündigten die Nationalsozialisten an, sie würden eine Milliarde Reichsmark Judenbuße einheben, als Schadenersatz für die bei den Pogromen verursachten Schäden, die sie perfiderweise den Juden zur Last legten. Die Lebensbedingungen der Juden in ganz Deutschland wurden immer härter. Torens nicht-jüdische Freunde brachen den Kontakt zu ihm ab. Die Familie war gezwungen, Silber und Schmuck zu verkaufen – sein älterer Bruder war so klug und schickte seinen Schmuck versteckt in Nougatstücken an Freunde in England und Schweden, sie bewahrten ihn für ihn auf. Juden durften auch keine Haustiere mehr halten, schweren Herzens verabschiedete sich Toren von seinen beiden Wellensittichen Habakuk und Zefanja.

Bei seiner Entlassung aus Buchenwald war Tarnowski von der Gestapo gezwungen worden, ein Dokument zu unterzeichnen, in dem er sich verpflichtete, so bald wie möglich zu emigrieren. Doch die Möglichkeiten waren beschränkt. Toren erinnert sich, dass nur die Dominikanische Republik, Kuba und Schanghai Juden aufnahmen. Als Rechtsanwalt konnte Tarnowski nur in Deutschland arbeiten. Er wollte Deutschland nicht verlassen und sagte immer wieder: »Ich will nicht nach Schanghai gehen, um Schuhbänder zu verkaufen.«

Doch seine Eltern schmiedeten Pläne, um ihm und seinem Bruder die Flucht zu ermöglichen. Tarnowski meldete seinen jüngeren Sohn bei einem wohltätigen Projekt an, das im Rahmen eines von First Lady Eleanor Roosevelt unterstützten Gesetzesentwurfs beschlossen worden war und bei dem eine Anzahl unbegleiteter jüdischer Kinder aus Deutschland und Österreich in die USA hätten evakuiert werden sollen. Mithilfe dieses Programms wollte man zusätzliche Einreisen neben der offiziellen Quote ermöglichen. Es gab ja schon lange Listen mit ausreisewilligen deutschen und österreichischen Juden. Die Papiere aus den USA kamen und Torens Vater erhielt ein Visum für seinen Sohn, doch dann hörten sie nichts mehr von dem Programm.

Das amerikanische Außenministerium war nämlich gegen den Gesetzesentwurf, und Umfragen zufolge war auch ein Großteil der Amerikaner dagegen. Antisemitismus war damals nicht auf Deutschland beschränkt. Präsident Franklin Roosevelt, der mit seiner politisch aktiven Frau nicht immer einer Meinung war, entzog ihr seine Unterstützung und legte die Frage der jungen Einwanderer ad acta, das Programm wurde nie realisiert.18

Schließlich gelang es Torens Vater, ihn in einem Kindertransport nach Schweden unterzubringen, dem – wie sich herausstellen sollte – letzten vor dem Zweiten Weltkrieg. Ein Platz war frei geworden, weil ein anderes Kind bereits in die Dominikanische Republik emigriert war. Die schwedische Regierung hatte eingewilligt, dass jüdische Gruppen fünfhundert Kinder aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei retteten und sie in schwedischen Familien unterbrachten. Toren, mittlerweile vierzehn Jahre alt, reiste am 23. August 1939 ab, eine Woche vor Beginn des Polenfeldzugs. Er durfte einen kleinen Koffer mit Kleidung und ein Silberbesteck mitnehmen. Er erinnert sich, dass sich ungefähr fünfzehn Kinder am Berliner Bahnhof versammelten und sich tränenreich von ihren Eltern verabschiedeten, die sie wahrscheinlich nie wieder sehen würden.

In Sassnitz an der baltischen Küste bestieg Torens Gruppe eine Fähre nach Trelleborg. In Stockholm wurden die meisten Kinder von Pflegeeltern abgeholt, nicht jedoch Toren. Stattdessen wurde er bei einem Fußpfleger untergebracht, einem Junggesellen, der in der Stadt Norrköping wohnte. Der Mann stellte sich als Betrüger heraus, der Geld von seinen Eltern erpressen wollte. Doch damit waren Torens Abenteuer noch lange nicht vorbei.

Gleich darauf wurde er in einer Pension untergebracht, in einem Ort in einstündiger Entfernung von Norrköping. Er musste in der Garage in einem Stockbett schlafen, das er sich mit einem österreichischen Geschäftsmann teilte. Der Österreicher erzählte ihm, auch er sei von dem schwedischen Fußpfleger reingelegt worden. Eine Frau, die ebenfalls in der Pension abgestiegen war, gab ihm den Rat, so schnell wie möglich wegzugehen, und schlug ihm vor, sie nach Nordschweden zu begleiten. Nach einer langen Zugfahrt kam er in einem Dorf namens Undrom im abgelegenen malerischen Angermanland an, einem Landstrich mit Fjorden, Sümpfen und Wäldern. In Sicherheit, aber fehl am Platz, er musste mit viel jüngeren Kindern die Schule besuchen, um Schwedisch zu lernen, pflückte Blaubeeren und Preiselbeeren und fragte sich, wie er es schaffen sollte, zu studieren und sich ein eigenes Leben aufzubauen.

Schließlich fand man eine Unterkunft für ihn in einem Heim für jüdische Flüchtlinge in Uppsala. Es war ein sehr bescheidenes Leben, aber Toren gefiel es. Immer wenn man ihn fragte, welchen Beruf er ergreifen wollte, und man ihm vorschlug, eine Bäcker- oder Druckerlehre zu machen, sagte er: »Ich möchte zur Schule gehen.« Aber niemand war bereit, Schulgebühren zu bezahlen.

Von Breslau aus gelang es schließlich seinem Vater, eine entfernte Bekannte in einem vornehmen Vorort von Stockholm ausfindig zu machen, eine wohlhabende alte Dame namens Spitzer. Toren besuchte sie, und sie willigte ein, für seine Schulgebühren aufzukommen. »Sie war meine Rettung.« Sogar nach ihrem Tod wurden die Gebühren weiter von ihrem Nachlass bezahlt. Toren machte seine Abschlussprüfung und ging nach Stockholm, um Chemie zu studieren.

1948 war er einer von sieben Jungen, die in Schweden für die Hagana, einem Vorläufer der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte, rekrutiert wurden. Er fuhr nach Israel, doch bald nach seiner Ankunft wurde er wegen seines verminderten Sehvermögens aus der Armee entlassen. Er begann als Chemiker zu arbeiten, zuerst in einer Kosmetikfabrik, dann in einer Pharmafirma. Beide Jobs langweilten ihn und er bewarb sich in Tel Aviv um eine Stelle bei einem Patentanwalt.

In Israel traf er seine zukünftige Frau, eine amerikanische Sozialarbeiterin. Nach der Hochzeit ging das Paar ein Jahr lang nach London. Aber Toren gelang es nicht, in London Fuß zu fassen, in den Nachkriegsjahren durften nämlich nur britische Staatsbürger für Patentanwälte arbeiten. 1955 übersiedelten sie nach New York, wo Toren Recht studierte. Der Junge, der als mittelloser Flüchtling in Schweden darauf bestanden hatte, zur Schule zu gehen, wurde einer von Amerikas bekanntesten deutschsprachigen Patentanwälten. Er gewann Fälle für die Schweizer Käseunion, den Luftfahrtkonzern Messerschmitt-Bölkow-Blohm sowie für Arnold & Richter Cine Technik in München, einen Produzenten von Filmherstellungsgeräten.

Während seiner ersten Jahre in Schweden korrespondierten Toren und seine Eltern per Post. Die Briefe wurden zensiert, und die Tarnowskis wollten ihren Sohn nicht beunruhigen. Deshalb ist in den erhaltenen Briefen nur von »schönen Dingen« die Rede. Torens Bruder Hermann war eine Woche nach ihm mithilfe eines ähnlichen Kindertransports in die Niederlande und dann nach Großbritannien entkommen. Toren teilte seinen Eltern verschlüsselt mit, dass Hermann an der Leicester University Chemie studierte.

Zur Zeit von Torens Abreise hatte bereits die Hälfte der Breslauer Juden das Land verlassen. Die, die keine Visa und keine Ausreisepapiere bekamen, kamen fast alle um.19 Bis heute kann Toren sich nicht damit abfinden, dass sein Vater keinen Versuch machte auszureisen. Als Rechtsanwalt, der die deutsche Niederlassung eines schwedischen, von Ivar Kreuger gegründeten Zündwarenkonzerns vertrat, besaß Tarnowski gute Kontakte nach Schweden, er hatte anderen geholfen, sie hätten ihm eine Rettungsleine zuwerfen können. Sein Schwiegervater Siegmund Friedmann importierte Holz aus Venezuela und war venezolanischer Generalkonsul in Deutschland, auch er hätte seine Beziehungen zu venezolanischen Diplomaten spielen lassen können, um Visa zu bekommen.

Die Plünderung jüdischen Vermögens, die Toren miterlebt hatte – er hatte eine Reise mit seinem Vater unternommen, um Familienschmuck und -silber zu übergeben –, ging nach seiner Abreise ungehindert weiter. Das Schlesische Museum für bildende Künste befand sich seit 1934 in der Hand von Cornelius Müller-Hofstede, eines mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Kunsthistorikers. Müller-Hofstede nutzte die Not der Juden aus, um sein Museum auszubauen. Die Sammler, die sich in der Vergangenheit dem Schlesischen Museum für bildende Künste gegenüber so großzügig gezeigt hatten, wurden jetzt von ihm bestohlen. Ihre Großzügigkeit war mit einem Mal vergessen, wurde vertuscht und verleugnet.20

Der gierige Müller-Hofstede arbeitete mit Siegfried Asche zusammen, dem Direktor des Görlitzer Kunstmuseums. Die beiden begutachteten, stahlen, tauschten, verkauften und teilten sich die Beute. Nachdem Asche Carl Sachs’ Sammlung gesehen hatte, stellte er eine Wunschliste auf, doch Müller-Hofstede kam ihm zuvor. »Wir müssen uns nicht mehr auf nichtexistierende Budgets beschränken«, schrieb Asche triumphierend an seinen Kollegen. Um das Verbrechen zu beschönigen, erfanden Regierungsbeamte Steuerschulden und rechtfertigten die Beschlagnahme der Sammlungen als deren Bezahlung. Das Schlesische Museum für bildende Künste erlebte damals den größten Ausbau seiner Bestände in seiner fünfzigjährigen Geschichte, unter anderem wurden die Sammlungen der Familien Sachs und Silberberg übernommen.21

Die Beschlagnahme von Friedmanns Sammlung ist nicht in allen Details bekannt. Am 5. Dezember 1939 schrieb ein gewisser Oberregierungsrat Dr. Westram beim Regierungspräsidenten in Breslau einen Brief an Walther Funk, Hitlers Wirtschaftsminister, in dem er sich beschwerte, dass die Gesetze für die Beschlagnahme jüdischen Vermögens nicht ausreichten und ihm nicht genug Macht verliehen, um die Sammlungen von Breslauer Juden zu konfiszieren. Er versicherte dem Minister, er habe einige der Sammlungen vorsorglich inventarisiert und bräuchte Richtlinien, um zu verhindern, dass sie von emigrierenden Juden außer Landes gebracht würden.

Friedmanns Sammlungen seien zweimal inventarisiert worden, so Westram. Beim ersten Mal war ihr Wert auf 10 785 Reichsmark geschätzt worden, doch später hätten seine Mitarbeiter ihren Wert zehn- bis fünfzehnmal höher geschätzt. Allein das Liebermann-Gemälde Zwei Reiter am Strand könne im Ausland um 10 000 bis 15 000 Reichsmark verkauft werden. »Ich habe dem jüdischen Eigentümer verboten, irgendeins von den Kunstwerken zu verkaufen oder sonst darüber zu verfügen, bevor er von der behördlichen Seite eine Genehmigung dazu erhält.«22 Im September des Jahres darauf schickte Westram eine Kurzmitteilung an Bürgermeister und Verwaltungsbeamte, in der er die Konfiszierung jüdischer Kunstsammlung rechtfertigte und diese zu »Feindvermögen« erklärte.23

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, vor allem nach Kriegseintritt der USA, verschlechterte sich die Situation der Juden noch mehr. Im Juli 1941, als Reichsmarschall Hermann Göring die SS aufforderte, einen Plan für die Endlösung der Judenfrage vorzulegen, begann Breslau Juden in Konzentrationslager zu deportieren. Ein jüdisches Altenheim wurde geräumt, damit es als Militärspital genutzt werden konnte, die Insassen wurden in Lager gebracht. Im November dieses Jahres wurden tausend Breslauer Juden festgenommen und nach Kaunas in Litauen geschickt, dort mussten sie Gräber graben und sich ausziehen, dann wurden sie erschossen.24

David Friedmann wurde 1941 delogiert. Am 15. Februar 1942 starb er eines natürlichen Todes. Die Villa wurde versteigert und der Erlös dem Reich gutgeschrieben.25 Im Inventar des Schlesischen Museums für bildende Künste scheint auf, dass Zwei Reiter am Strand und ein zweites Gemälde von Liebermann, Korbflechter, im Juli 1942 übernommen wurden; man hatte sie bei einer Versteigerung in Breslau erstanden. Friedmann war zu diesem Zeitpunkt schon tot; seine Tochter Charlotte, Torens Cousine, war ins KZ Ravensbrück deportiert und von dort aus nach Auschwitz geschickt worden, wo sie im Oktober 1942 starb.26 Abgesehen von seinem Bruder und einer Tante, einer Kunsthistorikerin, die Theresienstadt überlebte und ihm später nach Schweden folgte, verlor Toren im Holocaust seine ganze Verwandtschaft.

Toren weiß wenig über das Grauen, das seine Eltern in ihren letzten Jahren in Breslau erlebten. Seine Mutter war als Zwangsarbeiterin in einer Fabrik beschäftigt, nach der Delogierung lebten seine Eltern in einer Unterkunft für Juden. Er fand Dokumente, denen zufolge sich die Vermieterin bei der Gestapo beschwerte, die unverschämten Tarnowskis hätten im letzten Monat – dem Monat ihres Todes – keine Miete bezahlt. Einen Tag vor ihrem Tod erhielt Toren eine Postkarte, auf der stand, sie würden in den Osten »umgesiedelt« – ein NS-Euphemismus, den er nicht deuten konnte.

Eine Freundin von Torens Bruder war Krankenschwester im jüdischen Krankenhaus von Breslau. Sie wurde am 5. März 1943 nach Auschwitz deportiert, mit demselben Zug wie Torens Eltern. Bei der Selektion im Lager wurde sie zum Arbeiten eingeteilt und überlebte. Sie sah die Tarnowskis ins Gas gehen, sie war die Letzte, die sie lebend sah.

Mehr als 1 400 Breslauer Juden wurden nach Auschwitz deportiert und 809 wurden vergast. Fast 3000 wurden nach Theresienstadt deportiert – nur 24 überlebten. In der Stadt Breslau gab es nach dem Krieg nur noch 160 Juden.27

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2003 besuchte Toren Wroclaw, um seine alten Lieblingsplätze aufzusuchen. Die Villa der Friedmanns war unversehrt, von einem Einheimischen erfuhr er, dass sich hier jetzt die Zentrale des polnischen Geheimdienstes befand. Er bekam etwas Geld als Wiedergutmachung für den Verlust der Familienvilla.

Doch die Gemälde der Kunstsammlung blieben verloren. Als Torens Anwalt Fremy im November 2013 das körnige Bild Zwei Reiter am Strand im Fernsehen sah – fünfundsiebzig Jahre nachdem Toren das Gemälde zum letzten Mal gesehen hatte –, wurde Toren klar, das zumindest ein Teil der Friedmannschen Sammlung unversehrt überlebt hatte. Es war sein Lieblingsgemälde in Onkel Davids Haus gewesen. »Ich mochte das Bild, weil ich Pferde mochte«, sagt er. Toren ist keiner, der schnell aufgibt. »Ich werde es zurückbekommen.«

Als Friedmanns Erbe erachtet Toren es als seine Pflicht, den verlorenen Kunstschatz seiner Familie zurückzubekommen, seinem Sohn Peter, seinem Enkel und seinen drei Nichten zuliebe. Sein Bruder hatte seinen Namen anglisiert und nannte sich nun Herman Peter Tarnesby, er war in England geblieben und arbeitete als Psychiater, seine Praxis befand sich in der Londoner Harley Street. 2014 starb er im Alter von dreiundneunzig Jahren.

Toren wird sein Lieblingsgemälde von Liebermann nie mehr sehen können. Er ist blind. Er leidet an einer Netzhautdegeneration, auch Retinitis pigmentosa genannt, allerdings konnte er bis vor kurzem lesen und schreiben und fand sich in New York zurecht. 2007 bekam er Gürtelrose. Mit der schrecklichen Nebenwirkung, dass er innerhalb von drei Tagen sein Augenlicht verlor.

An der Wand seines Wohnzimmers in der Madison Avenue hängt eine Kopie des Liebermann-Gemäldes von einem Künstler aus South Carolina namens Christian Thee. Er hat dafür gesorgt, dass Toren das Gemälde auf andere Weise genießen kann, er hat ein dreidimensionales Relief gestaltet, sodass Toren die Umrisse der Pferde und der Reiter mit der aufgewühlten See im Hintergrund ertasten kann.

Kaum war das Gemälde im Fernsehen aufgetaucht, stellten Fremy und Toren gemeinsam mit der Augsburger Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Rückgabe. Sie vermuteten, dass sich bei dem Münchner Kunstfund noch andere Werke aus Friedmanns wertvoller Sammlung befänden. Immerhin hatte man bei Gurlitt auch Werke von Courbet und Pissarro gefunden. Werke der beiden Künstler hatten auch in Friedmanns Villa gehangen. Aber wahrscheinlich würde man sie nicht eindeutig identifizieren können, Toren besaß nämlich keine Liste der Werke aus der Sammlung seines Großonkels.

Weil die deutsche Regierung so lang brauchte, um seinen Antrag auf Rückgabe zu bearbeiten, wurde er ungeduldig und erhob am 5. März 2014 beim Bundesgericht von Washington Klage gegen die Deutsche Bundesrepublik und den Freistaat Bayern. Für Toren, der auf die neunzig zuging, konnte es nicht schnell genug gehen. Aufgeschobene Gerechtigkeit wäre möglicherweise so viel wie zu Lebzeiten verweigerte Gerechtigkeit gewesen.

Im Werkverzeichnis Liebermanns, dem Verzeichnis der Werke mit Angaben zu den Besitzverhältnissen, scheint Friedmann als vorletzter Besitzer der Zwei Reiter am Strand auf. Der letzte bekannte Besitzer ist Hildebrand Gurlitt, Cornelius Gurlitts Vater, ein Kunsthändler, der für die Nationalsozialisten arbeitete.

Hildebrand Gurlitt hatte den Münchner Kunstschatz zusammengetragen. Um seine Herkunft zu klären, müssen wir seine Geschichte zurückverfolgen und noch weiter in die Vergangenheit zurückkehren, in eine andere Stadt im Osten Deutschlands, die einige der schönsten Kunstschätze Deutschlands beherbergte.

Barbarische Kunst

Hildebrand Gurlitt und Cornelia Gurlitt mit ihrem Vater Cornelius während des Ersten Weltkrieges. Nach Cornelias Tod, 1919, beschrieb Hildebrand seine um fünf Jahre ältere Schwester als »die Person, die ihm am nächsten stand«. (Foto: Archiv der Technischen Universität Dresden)

Die Kunst, die sein Leben bestimmen sollte, entdeckte Hildebrand Gurlitt 1912 in einem Lampengeschäft auf einer öden Dresdner Straße. Gemeinsam mit seiner Mutter besuchte er, damals ein ungefähr sechzehnjähriger Schuljunge, eine Ausstellung der jungen wilden Künstlergruppe Die Brücke: Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel.

Die Gemälde schockierten ihn. Er hatte zwar schon einige Werke von Vincent van Gogh und Edvard Munch gesehen, aber das war noch neuartiger und wilder. »Diese Kunst, diese barbarisch leidenschaftlich kraftvollen Farben, diese Grobheit in ärmsten Holzleisten gerahmt, wollten wie ein Schlag ins Gesicht der Bürger wirken und taten es auch«, schrieb er später. Seine Mutter war beeindruckt und kaufte einen außergewöhnlichen Holzschnitt.28

Kirchner, Schmidt-Rottluff, Heckel und Fritz Bleyl, die Pioniere des deutschen Expressionismus, hatten 1905 in einem leerstehenden Schuhladen die Gruppe Die Brücke gegründet; die drei Künstler waren damals Architekturstudenten an der Technischen Hochschule Dresden, deren Rektor Hildebrands Vater Cornelius Gurlitt war. Der Kunst und dem Bohemeleben zuliebe, wozu auch viel Nacktbaden mit weiblichen Modellen in den Seen rund um Dresden gehörte, vernachlässigten die drei ihr Studium. Ihre Akte waren sexuell aufgeladen, Holzfiguren von nackten Frauen standen als Möbel und Skulpturen in Kirchners Atelier, und auf Kacheln, Vorhängen und Wandteppichen waren kopulierende Paare zu sehen. In der prüden deutschen Vorkriegsgesellschaft provozierten sie nicht nur mit ihrer Kunst, sondern auch mit ihren freizügigen Manieren. Das revolutionäre Manifest, von Kirchner in Holz geschnitten, proklamierte: »Mit dem Glauben an die Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft in sich trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt.«

Cornelius Gurlitt senior, ein Experte auf dem Gebiet der Architektur, der Kunstgeschichte, der Denkmalpflege und des Städtebaus, war der Inbegriff der »wohlangesessenen älteren Kräfte«. Er hatte Kirchner, Heckel und Schmidt-Rottluff unterrichtet. Obwohl er nicht auf der Wellenlänge der Brücke-Mitglieder war und mit ihrer Kunst nichts anfangen konnte, musste er doch anerkennen, dass sie mehr als rebellische Studienabbrecher waren. Cornelius Gurlitt, damals über sechzig, prophezeite Hildebrand, dass die radikalen jungen Künstler mit ihren kühnen Farben, kantigen Figuren und ihrer sexuell aufgeladenen Vitalität in dessen Leben eine genauso große Rolle spielen würden, wie die Künstler des 19. Jahrhunderts – Hans Thoma, Max Liebermann und Arnold Böcklin – in seinem gespielt hatten.29 Er sollte recht behalten.

Hildebrand Gurlitt wuchs in einer eleganten weißen Villa an der Kaitzer Straße in Dresden auf. Dresden war damals das kulturelle Juwel in Deutschlands Krone, es galt als Florenz des Nordens. Gurlitt stammte aus einer sehr kunstsinnigen Familie. Sein Vater, der zu den Honoratioren der Stadt gehörte und Geheimer Hofrat des sächsischen Königs war, hatte seine glänzende Karriere zum Großteil der Erhaltung und Pflege der prächtigen Dresdener Barockbauten gewidmet. Noch heute heißt die Fortsetzung der Kaitzer Straße Cornelius-Gurlitt-Straße, was dem selbstbewussten Cornelius Gurlitt bestimmt gefallen hätte. Obwohl er auf Fremde manchmal einschüchternd wirkte30 und zum Teil altmodische Vorstellungen hatte, war er seinen drei Kindern ein guter und liebevoller Vater, ihre Freunde gingen in seinem gemütlichen, geschmackvollen Heim ein und aus.

Cornelius Gurlitts Mutter stammte von der Familie Lewald aus Königsberg ab, einer prominenten jüdischen Familie, ihre Schwester Fanny Lewald war eine bekannte Romanschriftstellerin, die für Frauenemanzipation kämpfte. Hildebrand Gurlitts Großvater Louis Gurlitt war Landschaftsmaler und sein Cousin Manfred Komponist. Einer seiner Onkel, Ludwig Gurlitt, unterrichtete Kunstgeschichte an der Universität München. Ein anderer, Fritz Gurlitt, betrieb in Berlin eine Galerie für zeitgenössische Kunst, die nach seinem Tod 1893 von seinem Sohn Wolfgang weitergeführt wurde. Als Hildebrand Gurlitt mit seiner Mutter 1912 die Brücke-Ausstellung besuchte, fand in der Galerie ebenfalls eine Ausstellung von Brücke-Künstlern statt. In den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts hatte Fritz Gurlitt als einer der ersten Kunsthändler französische Impressionisten ausgestellt, lange bevor sie in Paris für Aufruhr sorgten. Er vertrat auch Böcklin, Liebermann und Thoma, beliebte Künstler des 19. Jahrhunderts.

Nach dem Abitur inskribierte Hildebrand Gurlitt 1914 Kunstgeschichte an der Technischen Hochschule Dresden. Der Erste Weltkrieg zwang ihn, seine Pläne für vier Jahre auf Eis zu legen. Sowohl er als auch sein älterer Bruder Wilibald meldeten sich als Freiwillige. Ihr Vater, ein glühender Patriot, der 1870 im Deutsch-Französischen Krieg gekämpft hatte, erwartete das von ihnen. In Briefen und Postkarten an seinen Bruder beschrieb Hildebrand Gurlitt die Langeweile und den Schrecken in den Schützengräben an der Westfront. »Anstrengend sind mir die Stunden, die wir im Unterstand sitzen und auf die Granaten hören, die uns um die Köpfe respektive Deckung sausen«, schrieb er im Januar 1915. »Das absolut Wehrlose dieser Lage bringt einen manchmal zur Verzweiflung. Wir hoffen stets auf ein Weiterkommen, wenn wir auch in unserm Abschnitt noch keine Aussicht darauf haben.«31

Hildebrand Gurlitt, der über einen hellen Verstand und überschießende Energie verfügte, schien eher an Frustration als an Angst zu leiden. Er schrieb: »Ich wehre mich gegen die große, ansteckende Kriegskrankheit: Verblödung«, und erzählte seinem Bruder, wie er jede freie Minute dafür verwendete, zu lernen und zu lesen.

Er wurde mindestens zweimal verwundet, an der Somme und in der Champagne, wo er als Offizier in der MG-Abteilung diente. Viele von Gurlitts Freunden verloren auf den blutigen, schlammigen Schlachtfeldern an der Somme ihr Leben, Zehntausende fielen. Später sagte er, er hätte es »dem Zufall einer Zehntausendstel-Sekunde« zu verdanken, dass er nicht darunter war, sondern verwundet nach Hause geschickt wurde.32 An der Front in Frankreich schloss er eine lange anhaltende Freundschaft mit Arnold Friedrich Vieth von Golssenau, der später ein bekannter kommunistischer Schriftsteller wurde und sich nach der Hauptfigur seines Romans Krieg Ludwig Renn nannte. Renn beschrieb Hildebrand Gurlitt als »lebhaft und gesprächig«, er sagte, er stritte oft mit konservativen Kameraden und zitiere häufig aus einer Avantgarde-Zeitschrift namens Aktion, die er sich der Zensur zum Trotz an die Front schicken ließ. Gemeinsam blätterten sie es durch, Renn staunte über die Antikriegshaltung und die expressionistische Lyrik.33

Hildebrand Gurlitts Kriegskorrespondenz bezeugt, dass er eine enge und herzliche Beziehung zu seiner Familie hatte, vor allem zu Wilibald und seiner Schwester Cornelia, die sechs bzw. fünf Jahre älter waren. Die Nähe zu seiner Familie half ihm über die lange Trennung von seinem Zuhause hinweg. »Ich habe keinen größeren Wunsch, als mit meinen beiden Geschwistern zusammen zu sein«, schrieb er 1916 an Wilibald. Cornelia, eine Künstlerin, die in der Familie Eitl genannt wurde, hatte sich als Sanitätsschwester freiwillig an die Ostfront gemeldet. Auf Heimaturlaub, als Wilibald Kriegsgefangener in Frankreich war, beschrieb Hildebrand Gurlitt ein Geburtstagsfest zu Hause in Dresden. Hildebrand erhielt die Karte seines Bruders in einem Kranz, den Eitl gebunden hatte, unter brennenden Kerzen.34

Später war Gurlitts Dienst nicht mehr so nervenaufreibend, er arbeitete als Presseoffizier und entdeckte die – in seinen Worten – »geheimnisvollen polnisch, litauisch, jiddisch barocken Winter- und Nachtstädte Wilna und Kaunas, in denen wir Chagalls Bilder wiederzuerkennen glaubten«.35 Er befreundete sich mit dem Brücke-Maler Schmidt-Rottluff und dem jüdischen Schriftsteller Arnold Zweig, beide arbeiteten für die Wilnaer Zeitung, einer Zeitung für die deutschen Truppen an der Ostfront. Ludwig Renn erinnert sich, dass ihm Gurlitt begeistert Geschichten über seine Arbeit erzählte, vor allem über die subversiven Versuche des Redaktionsteams, Antikriegsartikel und -zeichnungen in das Blatt einzuschmuggeln. Einmal, als beide auf Heimaturlaub in Dresden waren, zeigte ihm Gurlitt eine satirische Zeichnung von Magnus Zeller, die sich über Kaiser Wilhelm II. und General Ludendorff lustig machte. Sie war kurz vor Redaktionsschluss entdeckt und in aller Eile verhindert worden.36

Eitl arbeitete eine kurze Eisenbahnfahrt entfernt, sie machte Nachtdienste und zeichnete am Tag. Die Wochenenden verbrachte Gurlitt mit seiner älteren Schwester und einer hübschen, lebhaften Krankenschwester namens Hedwig Schloesser. »Dort habe ich es sehr gut, sie und eine Schwester, Fr. Dr. Schloesser, verwöhnen mich mehr, als ich verdiene, man geht spazieren, fährt Kanu und liegt im Walde«, berichtete er Wilibald, der 1914 in der Marneschlacht verwundet und gefangen genommen worden war und erst im Sommer 1918 in der neutralen Schweiz entlassen wurde. Gurlitt blieb bis Januar 1919 in Kaunas, andere hatten längst abgerüstet. Möglicherweise hatte ihn Hedwig überredet zu bleiben – offenbar waren sie zusammengezogen. Gurlitt beschrieb den Sommer 1918 als den glücklichsten seines Lebens.

Das Deutschland, in das er zurückkehrte, war nicht mehr das, das er verlassen hatte. Die verstümmelten Kriegsversehrten, die Otto Dix, Max Beckmann und George Grosz als groteske Gestalten porträtierten, mussten betteln, um zu überleben. Nahrung und Kohle waren Mangelware, und die Menschen hungerten und froren. Auf den Straßen lieferten sich paramilitärische Gruppen Kämpfe und hegten Terrorpläne, um ihre Gegner umzubringen. Demonstrationen, Streiks und Krawalle waren in den Städten an der Tagesordnung. Doch die Revolution ging mit einer neuen Kreativität einher, denn sie fegte die verkrusteten Vorkriegsstrukturen hinweg. In der Verfassung der Weimarer Republik wurde 1919 erstmals die Freiheit der Kunst verankert. An die Stelle von Ordnung und Tradition traten einerseits Chaos und andererseits eine neuartige intellektuelle, künstlerische und sexuelle Freiheit, die eine leider nur kurzlebige Phase blühender Kreativität einleitete.