Guru statt Jesus - Berndt Bleckmann - E-Book

Guru statt Jesus E-Book

Berndt Bleckmann

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Beschreibung

Ein außergewöhnlicher Lebensweg: Eine Nonne beginnt nach vielen Jahren in einem Benediktinerinnenkloster ein neues Leben in einem hinduistischen Ashram. Die Frau aus einer oberbayerischen Kleinstadt ist eine ernsthafte und emotionale Gottsucherin. Sie meditiert, erlebt mystische Ekstasen. In Indien begegnet sie Mutter Teresa, dient dem indischem Katholizismus und studiert brahmanische Lehren, bis sie in den Bannkreis eines Gurus gerät, den sie für Jesus hält. Berndt Bleckmann versucht, die Höhen und Tiefen, die Euphorien und Depressionen, die sie in ihrer Autobiografie schildert, psychologisch-naturwissenschaftlich zu verstehen. Insbesondere beschäftigt ihn die Frage, was Menschen dazu bringt, ihren Glauben, ihre Moral und ihre Selbständigkeit so weit aufzugeben, dass sie lieber für ihren Guru sterben würden, als an seinen Worten zu zweifeln. Um hinter das Geheimnis dieses Lebensweges zu kommen, geht der Autor einer Vielzahl von Fragen nach: Was trennt Christentum und Hinduismus? Was passiert neurophysiologisch bei Halluzinationen oder mystischen Ekstasen? Was geht bei den Massenzusammenkünften oder den Séancen einer Sekte vor sich? Ein Exkurs über Massenpsychologie rundet die Analyse ab.

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, April 2020

Autor: Berndt Bleckmann

Titelbild: Berndt Bleckmann unter Verwendung einer Fotografie

von Sasha Martynov (Pexels)

Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Lektorat: Dorothea von der Höh, www.lektorat-vonderhoeh.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3-9571-6321-9

ISBN E-Book: 978-3-9571-6302-8

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Berndt Bleckmann

Guru statt Jesus

Radha Soami Satsang Beas Endstation ekstatischer Gottsuche

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Impressum

Titel

Annas Jugend

Klosterjahre

Anna geht nach Indien

Besuch in der Heimat

Anna in Beas

Die lange Nacht des Abschieds

Zurück in Deutschland

Eine psychologische Nachlese

Zwei Brüder, ein Guru und eine halbe Milliarde Dollar

Exkurs in Massenpsychologie

Wien, Heldenplatz, 15. März 1938

Sudhir Kakar in Beas

Endnoten

ANNAS JUGEND

Anna war keine Schönheit, aber sie war auch nicht hässlich. Mit ihren dreizehneinhalb Jahren war sie gerade dabei, ihrer kindlichen Figur zu entwachsen. Und was sich jetzt formte und tat, war ihr neu. Überhaupt passierten in letzter Zeit Dinge, die sie nicht verstand. Ein wirres, aufregendes Getümmel war manchmal in ihrer Brust – war da doch ein gewisser Gymnasiast. Anna fuhr täglich mit dem Zug zur Schule in die nächste Kreisstadt. Sie verstand es so einzurichten, dass sie zufällig in die Nähe jenes Gymnasiasten kam, der ihr gefiel und sie doch extrem beunruhigte – bis jenes Wunder passierte, das ihr Leben veränderte.

Die Gemeinde, in der sie mit ihren Eltern lebte, war, aus der Ferne betrachtet, eine oberbayerische Idylle. Anna hatte sechs Geschwister und war die Älteste. Bei näherem Hinsehen war die Idylle aber getrübt, denn die Zeiten waren alles andere als beschaulich. Die althergebrachte christlich-bayerische Doppelherrschaft, oben im Himmel der liebe katholische Gott, herunt’n da Kini, war aus den Fugen geraten, weniger im Himmel als vielmehr auf Erden. Statt des Königs gab es nun einen Führer, gebürtig aus dem bis zu Napoleons Abgang bayerischen Innviertel. Wir schreiben das Frühjahr 1937. Die Anhänger der oberen Herrschaft waren etwas leiser geworden, dafür waren die Mitläufer der irdischen Herrschaft lauter geworden. Waren sie lauter, weil sie an den Führer glaubten, oder glaubten sie an den Führer, weil sie lauter sein wollten? Jedenfalls waren die Volksgenossen auch in Annas Heimatgemeinde an der Macht, sehr zum Missfallen ihrer Eltern, denn diese waren streng und ausschließlich Anhänger der himmlischen Macht, was wiederum den irdischen Machthabern missfiel. Ihr Vater war also vom „Führer“ nicht begeistert, was ihn aus heutiger Sicht ehren mag, damals aber die Familie veranlasste, den Wohnort zu wechseln.

„Im Jahre 1938 gelang es meinen Eltern, sich dem Würgegriff der Nazis in der Kleinstadt durch einen Umzug nach München, der Heimatstadt meiner Mutter, zu entziehen. In der anonymen Großstadt hofften sie, in Frieden leben und ihre Kinder im Sinne ihrer Religion erziehen zu können.“1

An dieser Stelle muss eingeräumt werden, dass „Anna“ ein Pseudonym ist. Anlass für diese Schrift, die ich hier verfasse, ist die 600-seitige Autobiografie der Münchnerin Shraddha Liertz, die den Titel trägt Abenteuer des Glaubens. Aber „Shraddha“ ist nicht ihr Vorname, sondern ein indischer Mädchenname, den sie in einem neo-hinduistischen Ashram bekam. Ihren wahren Vornamen verrät sie uns nicht. Als sie im Jahre 1999, im Auftrag einer Sekte, zu schreiben begann, war sie 76 Jahre alt. Sie arbeitete rund zehn Jahre an dem Buch und legte es im Jahre 2009 ihrem „geliebten Meister zu Füßen“. Das war der Guru einer Sekte, die sich Radha Soami Satsang Beas nennt. Die Sekte hat ihr spirituelles Zentrum im Nordwesten Indiens, im Teilstaat Punjab. Sie hat ein paar Millionen Mitglieder in Indien und behauptet, Niederlassungen in neunzig Ländern der Welt zu haben. Da Shraddha so gar nicht zu dem oberbayerischen Dirndl passt, das uns in der Autobiografie begegnet, habe ich mir die Freiheit genommen, sie „Anna“ zu nennen.

An einem Tag im Frühjahr 1937 hatte Anna eine Erleuchtung, ähnlich den Kindern in Lourdes oder Fatima, von denen sie damals sicher gehört hatte. Dieses Erlebnis brachte sie auf jenen Weg, den sie später ihr Abenteuer des Glaubens nennen wird. Was ihr widerfuhr, schildert sie zunächst in der dritten Person:

„Es war im Frühjahr 1937. Der Zug, mit dem das junge Mädchen von der Schule nach Hause fuhr, näherte sich bereits dem Bahnhof. Sie war auf die Plattform des Waggons hinausgetreten und wartete darauf, dass der Zug hielt. Sie dachte wohl an die Unterrichtsstunden des vergangenen Vormittags oder an die Hausaufgaben, die sie an diesem Nachmittag zu erledigen hatte. Vielleicht dachte sie auch an jenen netten Gymnasiasten, der jeden Tag mit demselben Zug zur Schule fuhr und für den sich ihr junges Herz erwärmt hatte. Jedenfalls dachte sie in diesem Augenblick nicht an Gott.

Plötzlich war dem jungen Mädchen, als fiel von oben herab ein unsichtbares Licht und überflutete sie. Völlig überwältigt von dem Geschehen, verharrte sie wie gebannt. Gleichzeitig ‚hörte‘ sie in ihrem Inneren eine deutlich wahrnehmbare Stimme, die zu ihr sagte: ‚Bewahre die Liebeskraft deines Herzens, denn du weißt nicht, ob Gott nicht eines Tages dein ungeteiltes Herz von dir verlangen wird.‘“2

Anna schreibt dann weiter:

„Mit diesem Erlebnis begann mein Abenteuer des Glaubens. Das Ganze hatte sich innerhalb von Sekunden abgespielt. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass es Gott war, der zu mir gesprochen hatte. Seine Stimme war fordernd und zugleich unendlich sanft und voller Liebe. Ich fühlte, dass es mir freistand, meine Zustimmung zu geben, aber ebenso war mir klar, dass ich mein Ja-Wort geben musste. Die Forderung war unausweichlich und ließ mir dennoch alle Entscheidungsfreiheit. Sie erfüllte mich mit tiefem Glück und einem großen inneren Frieden, und dieses Gefühl gab mir die Sicherheit, dass es Gottes Stimme war, die ich gehört hatte.

Ich war zu diesem Zeitpunkt dreizehneinhalb Jahre alt. Noch nie zuvor hatten mich solche Gedanken bewegt, und ich hatte keine Ahnung, welche Auswirkungen dieses Erlebnis auf mein Leben haben würde – doch ich gehorchte augenblicklich, das heißt, ich gab meine Verliebtheit sofort auf, ohne darüber nachzudenken, auf welche Weise Gott mein ungeteiltes Herz einmal einfordern könnte.“3

Anna glaubt an ein Wunder, und das ist in ihrem Alter nichts Verwunderliches. Es ist der Gott ihrer kindlich-jugendlichen Vorstellungswelt, vermutlich ein älterer Herr europäischen Zuschnitts, der Deutsch zu ihr spricht. Der Satz Bewahre die Liebeskraft deines Herzens, denn du weißt nicht, ob Gott nicht eines Tages dein ungeteiltes Herz von dir verlangen wird, ist nicht die Sprache eines Kindes, passt aber in das Repertoire von Heiligengeschichten und frommen Legenden, die in ihrem streng katholischen Elternhaus Erzählgut gewesen sein mögen. Dessen Sprach- und Denkmuster stammen noch aus den Zeiten der Wittelsbacher.

Was uns Anna rückschauend schildert, ohne es zu wissen oder wissen zu wollen, sind die Symptome einer Halluzination, wie sie für einen „petit mal“, einen kleinen epileptischen Anfall, nicht untypisch sind. Auslöser dafür können fehlende Balancen bei Stoffwechselvorgängen sein, die bei Pubertierenden nicht selten vorkommen. Anna wird von einem Licht überflutet, sie hört eine deutlich wahrnehmbare Stimme, sie fühlt sich von einem unbeschreiblichen Glücksgefühl überwältigt und ist zutiefst davon überzeugt, dass in diesem Augenblick alles wahr und einmalig ist. Diese Sekundenbruchteile hatten überwältigende Authentizität, ja, sie waren ihr von übernatürlicher Gewissheit. Und es war diese gefühlte Gewissheit, die ihr Leben veränderte.

Auch Fürst Myschkin in Dostojewskijs Roman Der Idiot empfindet die Übermacht solch eines Augenblicks:

„Er dachte unter anderem daran, dass es in seinem epileptischen Zustand fast unmittelbar vor einem Anfall (falls der Anfall im Wachen eintrat) eine Phase gegeben hatte, wo auf einmal mitten in der Traurigkeit und der seelischen Finsternis und der Niedergeschlagenheit sein Gehirn für Augenblicke gleichsam aufgeflammt war und all seine Lebenskräfte sich plötzlich mit außergewöhnlicher Energie gespannt hatten. Die Empfindung des Lebens und das Bewusstsein der eigenen Persönlichkeit verzehnfachten sich in diesen Augenblicken, die nur die Dauer eines Blitzes hatten. Verstand und Herz waren von einem ungewöhnlichen Licht durchleuchtet, all seine Aufregungen, all seine Zweifel, all seine Beunruhigungen mit einem Schlag besänftigt, in eine höhere Ruhe voll klarer, harmonischer Freude und Hoffnung, voll Verstand und Einsicht in die letzten Gründe der Dinge aufgelöst.“4

Dostojewskij, der hier Autobiografisches verarbeitet, beschreibt die Vorphase zu einem „grand mal“, einem großen epileptischen Anfall, der oft in dunkler Besinnungslosigkeit endet. Das Besondere eines „petit mal“ liegt darin, dass der Betroffene diesen Anfall als solchen nicht wahrnimmt. Möglicherweise tritt auch hier Besinnungslosigkeit ein, die aber so kurz ist, dass sie übersehen wird. Beiden Zuständen gemeinsam ist die überwältigende Intensität der Empfindung, wodurch das Erlebte als absolut wahr und echt erscheint. Auch der Maler van Gogh muss solche Erlebnisse gehabt haben. Bei ihm war es die Grelle und Leuchtkraft der Farben, die er in diesen Augenblicken sah und dann versuchte, in seinen Werken wiederzugeben, bei Dostojewskij war es die Tiefe und Überzeugungskraft der Gedanken, und bei Anna war es die vermeintliche Stimme Gottes, die sie überwältigte. Wie das Gehirn den „Blitz“ eines epileptischen Anfalls verarbeitet, wie es diese „Sekunde der Wahrheit“ interpretiert, entspricht den Lebensumständen und Veranlagungen des Betreffenden. Der Maler sieht die Farben leuchtender, der introvertierte Schriftsteller die Empfindungen und Gedanken und das gottesfürchtig erzogene Kind hört Gottes Worte.

Auch Anna schreibt: „Seine Stimme war fordernd und zugleich unendlich sanft und voller Liebe. Ich fühlte, dass es mir freistand, meine Zustimmung zu geben, aber ebenso war mir klar, dass ich mein Ja-Wort geben musste. Die Forderung war unausweichlich und ließ mir dennoch alle Entscheidungsfreiheit. Sie erfüllte mich mit tiefem Glück und einem großen inneren Frieden, und dieses Gefühl gab mir die Sicherheit, dass es Gottes Stimme war, die ich gehört hatte.“ Auch hier entsprechen die Gedanken offensichtlich ihren Lebensumständen. Sie wächst in einer streng katholischen Familie auf. Bei ihrer Geburt betet die Mutter, dass die erstgeborene Tochter ein echtes Kind Gottes werden möge. Im späteren Klostereintritt der Tochter wird die Mutter dann die Erfüllung dieses Wunsches sehen.

Damals, in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, war es in gutbürgerlichen Familien tabu, über Sexualität zu sprechen. Alles, was mit dem Geschlechtlichen zu tun hatte, war mit diffusen Angstgefühlen gekoppelt. Die Situation, bevor Anna „die Stimme Gottes“ hörte, könnte Folgende gewesen sein: Die Züge waren in dieser Zeit meist sehr voll und ganz besonders dann, wenn Schüler fuhren. Vielleicht suchte sie die Nähe des netten Gymnasiasten. Vielleicht wurde sie an ihn gedrückt. Sie könnte ein Begehren gespürt haben, das sie richtigerweise mit ihrer Sexualität in Verbindung brachte, was wiederum große Schuldgefühle in ihr ausgelöst haben mag. Sie wäre dann in einer schwer erträglichen psychischen Klemme gewesen. Einerseits spürte sie das Verlangen nach dem netten Gymnasiasten, andererseits wuchsen ihre Schuldgefühle mit der Stärke des Verlangens. Da tritt der liebe Gott als Rivale des Gymnasiasten auf den Plan. Der Satz, den sie halluziniert, gibt ihr die Möglichkeit, ihrem Dilemma zu entfliehen. In diesem Augenblick überträgt sie die Gefühle ihrer erotischen Zuneigung auf Gott. Das bringt ihr ungeheure Erleichterung und entlastet sie von ihren Schuldgefühlen. Ein großes Glücksgefühl stellt sich ein. Sie kann weiterhin starke Zuneigung empfinden, aber nun ist sie erlaubt, mehr noch: Gott zu lieben steht in der Werteskala ihrer religiösen Umgebung an höchster Stelle. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal ihre Schilderung: Seine (Gottes) Stimme war fordernd und zugleich sanft und voller Liebe, klar war, dass ich mein Ja-Wort geben musste. Ein Ja-Wort gibt man bekanntlich vor dem Traualtar. Weiter berichtet sie: Noch nie zuvor hatten mich solche Gedanken bewegt …

Welche Gedanken sie bewegt hatten, führt sie nicht weiter aus. Indirekt geht aber aus dem Folgenden hervor, dass es sich um den erotischen Gedanken, einem Mann zu gehören, handelte: … doch ich gehorchte (der Stimme) augenblicklich. Das heißt, ich gab meine Verliebtheit (in den netten Gymnasiasten, Anm. d. Autors) sofort auf, ohne darüber nachzudenken, auf welche Weise Gott mein ungeteiltes Herz einmal einfordern könnte. Wenn es sich um Verliebtheit handelte, dann ging es wohl nicht nur um ihr „Herz“, sondern auch um ihren Körper. Schuldgefühle entstanden nach dem damaligen katholischen Weltverständnis nur, wenn Sexualität mit im Spiel war. Gott tritt also an die Stelle des erotisch begehrten Gymnasiasten. Jetzt darf sie lieben und das aus ganzem Herzen. Und genau das tut sie.

Die Verschiebung oder Übertragung von Gefühlen von einer Person, der sie ursprünglich gelten, auf eine andere Person ist in der Psychopathologie und auch im Alltagsleben kein seltenes Phänomen. Am geläufigsten ist der Fall, dass eine Aggression, die eigentlich einer höher gestellten Person gilt, an einem Schwächeren abreagiert wird. Im entgegengesetzten Fall, wo es sich um ein Begehren handelt, werden Eigenschaften und Gefühle, die einem Wunschbild gelten, auf eine andere Person übertragen. Nichts anderes machen frisch Verliebte.

Bei Anna könnte also zweierlei zusammengekommen sein: die gedankliche Verarbeitung eines kleinen „Gewitters“ im Gehirn (petit mal) mit Blitz (Licht) und Donner (Stimme) und ihr schwelender Konflikt wegen ihrer erotischen Zuneigung zu dem Gymnasiasten und den damit verbundenen Schuldgefühlen. Mit dieser Interpretation der Geschehnisse soll nicht behauptet werden, dass es so war, sondern nur, dass es so gewesen sein könnte. Eine Ferndiagnose über ein Ereignis, das ein Menschenalter zurückliegt und im Gewand einer Autobiografie bekannt gemacht wird, kann nur hypothetischen Charakter haben. Andererseits werden mit dieser Hypothese spätere Ereignisse in Annas Leben plausibel, die andernfalls unverständlich blieben.

Den wichtigsten Vorfall ihres jungen Lebens erzählt sie ihren Eltern nicht, obwohl sie von einem innigen Verhältnis zu ihnen spricht. Schämt sie sich ihrer erotischen Beziehung zu Gott? Sie schreibt, ihre Eltern hätten sie nicht verstanden, wenn sie davon berichtet hätte. Es ist aber untypisch für eine 13-jährige, abzuwägen, was die Eltern verstehen und was nicht, wenn es sich um weltbewegende Dinge handelt. Und eben weltbewegend war ja das Erlebnis für die 13-jährige. Sie will wohl eher sagen, dass sie befürchtete, die Eltern würden ihr nicht glauben. Sie hat also nun ein unsagbares Geheimnis, das sie mit anderen nicht teilen kann.

Ein Halluzinationserlebnis, mit einer Aura von absoluter Echtheit und Wahrheit, kann einen Menschen für immer verändern. Es wird zum allgegenwärtigen, alles beherrschenden Mittelpunkt des Denkens und Fühlens. Das bekannteste Beispiel aus religiöser Literatur ist jener Saulus, der in Damaskus zum Paulus wurde.5 Erleuchtungserlebnisse waren im Altertum gang und gäbe. Archaische Kulte entwickelten Techniken, um Erleuchtungserlebnisse zu generieren, sei es durch ekstatische Tänze und Gesänge, sei es durch Rauschmittel oder Meditation.

Im Gespräch mit dem Buchautor Ulrich Schnabel erzählt der Münchner Neurobiologe Wolf Singer über die Eremitenmönche auf dem Berg Athos:

„Ich habe mal eine Zeit bei den Eremitenmönchen auf dem Berg Athos zugebracht. In der Fastenzeit vor Ostern haben sich die Mönche alle zwei Stunden aufwecken lassen und gemeinsam gesungen, was mit starker Hyperventilation (Brustatmung, Anm. d. Autors) einherging. Schließlich berichteten sie, dass sie in solchen Phasen ihre Gesichte haben, dass sie plötzlich ein großes Licht sehen, Stimmen hören und in Kontakt kommen mit der Welt der Gottheiten. Aus neurobiologischer Sicht ist das nicht sehr erstaunlich. Solche Halluzinationen sind das typische Ergebnis von Schlafentzug und Hyperventilation. Auch das Jesus-Syndrom kann dann auftreten. So nennen wir ein bestimmtes epileptisches Krankheitsbild. Dabei treten im sehr weit innen liegenden temporalen Bereich des Gehirns Epilepsien auf. Das führt nicht zu großen Anfällen, sie sind von außen kaum zu sehen, aber man bemerkt sie, wenn man die Hirnströme misst. Die Patienten berichten dabei häufig von einem wunderbaren Gefühl, das sich in ihnen ausbreite: Plötzlich stimme alles mit allem überein. Sie seien eins mit der Welt. Sie beschreiben dieses Gefühl so, wie Religionsstifter die Erleuchtung beschreiben. Der Hirnforscher aber weiß: Da krampft ein Stück Gehirn, das normalerweise als eine Art innerer Zensor fungiert. Es überprüft, ob Hirnzustände kohärent sind oder ob es Widersprüche gibt. Und wenn sich dieses Areal selbstständig macht, entsteht eben genau dieses versöhnliche Gefühl.“6

Der Biologe und Hirnforscher Gerhard Roth meint zu diesem Thema:

„Es ist also nicht unerklärlich, dass eine Beschädigung des rechten Temporallappens und der Amygdala oder zumindest ihrer kortikalen Eingänge aufgrund einer Verletzung, eines Schlaganfalls oder eines epileptischen Anfalls zu tief greifenden Persönlichkeitsänderungen führt, wie sie ein jüdischer Christenverfolger namens Saulus vor Damaskus erlebte, der dann zum Apostel Paulus wurde. Ähnliches könnte den Erweckungserlebnissen und Offenbarungserfahrungen von Propheten oder Religionsstiftern zugrunde liegen.

Insgesamt aber sind religiöse oder mystische Erfahrungen außerordentlich heterogen. Man kann sie in drei Gruppen einteilen. Bei der ersten geht es um Detailszenen mit einer Erscheinung Gottes (relativ selten), der Jungfrau Maria, von Engeln und Heiligen und mehr oder weniger konkreten Botschaften. Auch kommt es zu Einblicken in das Paradies bzw. das Jenseits, die Hölle oder die Zukunft und zu entsprechend angenehmen oder furchterregenden Ereignissen (man denke an Dantes ‚Göttliche Komödie‘). Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um Veränderungen der körperlichen Befindlichkeit, Loslösung vom eigenen Körper, um ein Eins-Werden mit dem Universum, was man in der Psychiatrie ozeanische Entgrenzung nennt. Die dritte Gruppe umfasst Zustände großen Glücks und Wohlbefindens, meist zusammen mit starken Licht- oder Musikempfindungen. Natürlich können Zustände aus allen drei Bereichen in Kombination auftreten.“7

Neuronale Instanzen sortieren die Flut der Sinneseindrücke in solche, die von außen kommen, und in solche, die von innen stammen. Bei einer Halluzination ist die Rückkoppelung, was zur Außenwelt und was zur Innenwelt gehört, gestört. Vorstellungen, die eine Konstruktion der eigenen Fantasie sind, werden nach außen projiziert und als real existierender Bestandteil der Außenwelt erlebt. Das Selbstgedachte tritt als ein Fremdes gegenüber. Wenn das Selbstgedachte eine Gottesvorstellung ist, dann hat das für einen gläubigen Menschen einen überwältigenden Aufforderungscharakter, was noch dadurch verstärkt wird, dass die halluzinierte Botschaft gleichzeitig außen und innen ist, womit sie erschreckend fremd und zugleich unendlich intim ist. So ließe sich auch Annas eigenartig-widersprüchliche Formulierung verstehen: „Ich fühlte, dass es mir freistand, meine Zustimmung zu geben, aber ebenso war mir klar, dass ich mein Ja-Wort geben musste. Die Forderung war unausweichlich und ließ mir dennoch alle Entscheidungsfreiheit.“ Sie versucht, mit ihrer Formulierung zwei verschiedene, sich widersprechende Signale in Einklang zu bringen. Ihre späteren Schilderungen weiterer Anfälle lassen vermuten, dass bei ihr nicht nur hormonale Stoffwechselvorgänge als Auslöser im Spiel waren. Jedenfalls aber hat sich Anna, als Folge dieses Erlebnisses im zarten Jugendalter, Gott versprochen. Und später, als die Frau in ihr erwacht, wird Jesus ihr Geliebter.

„In den Jahren, die unserem Umzug nach München folgten8, nahm mein spirituelles Leben eine neue Wendung – es konzentrierte sich auf die Verehrung von Jesus Christus. Mehr und mehr wurde er zum Mittelpunkt meines Lebens. Meine Suche und meine Gebete richteten sich in der Hauptsache an ihn und nicht mehr wie früher an Gott als solchen. … Ich wandte mich innerlich immer mehr Jesus Christus zu und entwickelte eine ganz persönliche Beziehung zu ihm. Es war mir ein großes Bedürfnis, täglich zur Messe zu gehen und mein Herz durch den Empfang der Kommunion mit Jesus zu vereinigen. Ich liebte es, auch während des Tages in eine Kirche einzutreten, um bei ihm zu verweilen, der, meinem Glauben entsprechend, dort in Gestalt der Hostie gegenwärtig war.“9

In einem Alter, in dem Mädchen Liebesromane lesen, liest sie die Autobiografie der heiligen Theresia von Lisieux. Diese Nonne, vom strengen Orden der Unbeschuhten Karmelitinnen, war eine von ekstatischen Heimsuchungen, Angstzuständen und Depressionen gequälte junge Frau, die im Alter von 24 Jahren an Tuberkulose starb. Das Buch nahm Anna so gefangen, dass sie es so oft las, bis sie es auswendig konnte. Nun will sie auch in ein Kloster eintreten. Die Eltern finden aber, dass sie noch zu jung sei. Während ihre Altersgenossinnen Orte aufsuchten, wo sie jungen Burschen begegneten, saß sie in Kirchen und blickte auf eine Abbildung des Gekreuzigten. Kirchen waren ihre Orte, wo sie ihren Geliebten suchte. So verbrachte sie Tage, Wochen und Jahre. Der Wunsch, sich mit ihrem Geliebten zu vereinigen, wurde so stark, dass sie im Alter von 18 Jahren vor einem Priester ein Keuschheitsgelübde ablegte.

„Doch ich wollte mit der Hingabe meines Lebens an Gott nicht bis zum Eintritt in ein Kloster warten und bat daher meinen Seelsorger, das private Gelübde eines zölibatären Lebens ablegen zu dürfen, da ich wusste, dass manche junge Menschen von dieser Möglichkeit Gebrauch machten, um die Liebeskraft ihres Herzens ungeteilt Gott und der Suche nach ihm zu weihen … Es wurde mir gestattet, das Gelübde des Zölibats abzulegen, und ich fühlte mich durch dieses Versprechen noch inniger an Jesus Christus gebunden. Ich war inzwischen 18 Jahre alt geworden, hatte meine Berufsausbildung abgeschlossen und arbeitete in einem Büro.“10

Ein Gelübde gilt einem Partner, in diesem Fall ihrem himmlischen Geliebten, wobei der Priester nur als Zeuge fungiert. Die Institution des Gelübde-Ablegens stammt aus alter, schriftloser Zeit, in der die mündliche Abmachung den modernen schriftlichen Vertrag ersetzte und alles Recht als von Gott kommend gedacht wurde, und das nicht im übertragenen Sinne, sondern als direkte Fügung seiner Macht. Daher wurden noch im Mittelalter dem Büttel (dem Schergen) magische Kräfte zugesprochen, wenn er sein rechts-pflegerisches Amt ausübte.

Wie es bei Annas Zeremonie im Einzelnen zuging, erfahren wir nicht. Ihr Wunsch, in ein Kloster einzutreten, erlischt nicht und es soll das strengstmögliche Kloster sein. Nach traditionell katholischer Auffassung ist Gott desto näher, je radikaler und kompromissloser die Anbetung währt.

Zu Beginn des Ostfeldzugs im Sommer 1941 wird ihr Vater im Alter von 52 Jahren zur Wehrmacht eingezogen. Er fällt am Ende des Jahres in Russland.

„Der Tod ihres Gatten und Vaters ihrer sieben Kinder – das jüngste war gerade vier Jahre alt – erschütterte meine Mutter so schwer, dass wir monatelang um ihr Leben bangten. Mein Vater hatte mir bei seinem letzten Besuch aufgetragen, ihn in seiner Abwesenheit zu vertreten; nun musste ich ihn in gewisser Hinsicht ersetzen.“11

So verschieben sich ihre Pläne, in ein Kloster einzutreten.

Als sie Anfang zwanzig ist, macht ein junger Mann ihr einen Heiratsantrag.

„Ich habe seinen Antrag jedoch mit dem Hinweis abgelehnt, dass Gott ihm zuvorgekommen sei. Der junge Mann war sehr enttäuscht und auf Christus eifersüchtig. … Christus war inzwischen zum Fundament meines Lebens geworden und die Liebe zu ihm erfüllte mein ganzes Herz. Manch anderer junger Mann sah ebenfalls in mir seine zukünftige Lebensgefährtin und hätte mich gern geheiratet. Doch für mich stand fest, dass mein Leben ausschließlich Christus gehören sollte und dass ich es ihm durch ein klösterliches Leben weihen wollte.“12

Gott löst sich irgendwie in Christus auf und Christus gewinnt immer mehr an erotischer Anziehungskraft – wozu sonst das zölibatäre Gelübde. „Durch das Gelübde der Keuschheit, dem frei gewählten Verzicht auf Sexualität um der Liebe Gottes willen, soll der Gottsucher sein Herz ungeteilt für den Herrn bewahren.“13

Es ist im 21. Jahrhundert nicht mehr so ohne Weiteres nachvollziehbar, was die Liebeskraft des Herzens mit der Sexualität zu tun hat? Bisweilen gehört es zur hohen Kunst der frommen Rede, einfache Sachverhalte so in Worte zu kleiden, dass ihre ursprüngliche Natur kaum mehr erkennbar ist. Und seit jeher hat jener gewisse Bereich zwischen den Schenkeln der weiblichen Menschheit die metaphorische Imaginationspotenz frommer Entsager in steile Höhen getrieben. Mit der Sprache, die sie vorfindet, übernimmt Anna auch die zugehörigen Denkmuster. Das Herz ist in dieser Sprache keine Pumpe, die den Blutkreislauf bewirkt, sondern das Organ der Liebeskraft, das in dialektischer Beziehung zur geschlechtlichen Liebe steht. Im Falle der mittelalterlichen Jesusminne wird das Herz auch eine Metapher für das Hymen. Das Herz darf nicht befleckt werden, das Herz darf seine Reinheit nicht verlieren und nur das Herz einer Jungfrau ist ein wahrhaft unbeflecktes Herz. Deshalb hat Anna den Wunsch, ein Keuschheitsgelübde abzulegen. In der gleichnishaften Rede vom unbefleckten Herzen ist zusammengeschmolzen, was in Jahrtausenden an magisch-mythischen Vorstellungen geschmiedet wurde. In archaischer Zeit ging es um die Reinheit beziehungsweise um die Abstinenz des Opferpriesters. Er musste sich eine gewisse Zeit vor der Opferhandlung des Geschlechtsverkehrs enthalten, sei es, weil man glaubte, durch den Samenerguss würden männliche Kräfte entweichen, die bei der Opferhandlung unverzichtbar waren, sei es, dass man glaubte, durch weibliche Berührung gingen auf den Priester Kräfte über, die der Opferhandlung abträglich wären.

Alles Verlangen will Erfüllung. Anna ist eine junge und gesunde Frau, aber das Objekt ihrer Liebe ist nicht greifbar – im Unterschied zu einem netten Gymnasiasten. Ihre Liebe bleibt ein brennendes Begehren nach einer Begegnung mit ihrem Geliebten. Und je erwachsener sie wird, desto mehr ist es Christus, dem sie begegnen will. Dieser Wunsch wird zur zentralen Sehnsucht ihres Lebens. Doch wo Erfüllung versagt bleibt, wird Verlangen rastlos.

Um der Büroarbeit zu entfliehen, lässt sie sich zur Sozialarbeiterin ausbilden. In dieser Zeit macht sie ein Praktikum in Fulda. Es war ihr seit Jahren eine liebe Gewohnheit, Jesusbilder zu sammeln und anzuschauen. In der Apsis der Fuldaer Kirche sieht sie ein Mosaikbild, das Christus darstellt:

„Ich fühlte mich – und das war eine ganz neue Erfahrung – von diesem Christusbild sehr angezogen und versenkte mich in seinen Anblick so sehr, dass es mir auch während des Tages immer vor Augen stand. Es war eine Art Bildmeditation, die in der Christenheit praktiziert wurde, seit es Darstellungen von Jesus Christus gibt.“14

Man wird hinzufügen dürfen, dass es diese Christusdarstellungen, als Angebot zu mystischer Versenkung, eben deshalb gibt, zumal die Mehrzahl der frühen Christenheit nicht des Lesens und Schreibens kundig und daher nur durch mündliche Erzählung und gemeinsame Versenkung in Bildliches und Figürliches dem Glauben verbunden werden konnte.

KLOSTERJAHRE

Weil Kirchen und Klöster als Niederlassungen Gottes auf Erden galten, meinte Anna, in der Abgeschiedenheit eines Klosters Gott eher begegnen zu können. Je strenger das Kloster, desto näher ist Gott – nach dieser Logik, die Weltabgewandtheit mit Gottgefälligkeit gleichsetzt, will sie in ein Karmelitinnenkloster eintreten. Sie bittet um ein Aufnahmegespräch, macht aber eine ernüchternde Erfahrung:

„Obwohl das Gespräch mit der Priorin des Klosters gut war, erschreckten mich das mit Eisenspitzen ‚verzierte‘ Gitter im Sprechzimmer und der Vorhang, der meine Gesprächspartnerin verbarg, so sehr, dass ich nach ein paar Stunden die Flucht ergriff und im Laufschritt den Berg hinuntereilte, um möglichst rasch Distanz zwischen mir und dem Kloster zu gewinnen.“15

Nach einigen Umwegen findet sie schließlich im Jahre 1949, im Alter von 26 Jahren, Aufnahme im Benediktinerinnenkloster Kellenried, genauer in der Benediktinerinnenabtei St. Erentraud im Ortsteil Kellenried, Gemeinde Berg, in der Nähe von Ravensburg im Allgäu. Der Abschied von ihrem bisherigen Leben fiel ihr nicht leicht, zumal sie ihrer Mutter eng verbunden war, hatten die beiden doch gemeinsam die schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre durchgestanden.

„So war ich an dem Tag, an dem sich mein lang gehegter Wunsch, Nonne zu werden, erfüllen sollte, nicht in Hochstimmung. Es war eher ein Sterbegefühl, das mich überkam. Darüber hinaus ergriff mich nun ein Gefühl der Unsicherheit darüber, was der neue Lebensabschnitt bereithielt. Da war es wieder, das ‚Abenteuer des Glaubens‘, das damals begonnen hatte, als ich Gottes Anspruch auf mein ungeteiltes Herz zustimmte.“16

Aber sie ist überzeugt, dass das Kloster der Platz ist, wo ihr Geliebter sie haben will:

„Er hatte mich ins Kloster geführt, um mich dort zu seinem Eigentum, zu seinem ‚verschlossenen Garten‘ zu machen, wie es im Hohelied heißt: Meine liebe Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten, eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born.“17

Anna war von früher Jugend an gewohnt, Verantwortung zu tragen und Entscheidungen zu treffen, besonders nach dem Tod ihres Vaters. Nun war absoluter Gehorsam gefordert und strengste Disziplin. Das fiel ihr merkbar nicht leicht, und deshalb musste sie sich ein ganzes Jahr als Aspirantin bewähren, bevor sie Novizin werden durfte. Der Tagesablauf im Kloster war in allen Einzelheiten festgelegt. Um 5 Uhr früh begannen der gemeinsame Psalmengesang und das Chorgebet. Täglich wurden mindestens fünf Stunden dem Gottesdienst gewidmet. Daneben gab es für die Novizinnen eine Einführung in das Ordensleben durch Unterweisungen der Novizenmeisterin. Eine Stunde am Tag war für das Studium theologischer Bücher angesetzt und abends gab es 20 Minuten Freizeit für das persönliche Gebet. Außer diesen spirituellen Obliegenheiten wurden vier Stunden täglich im Garten oder in der Landwirtschaft gearbeitet. Anna wurde der Obstgärtnerei zugeteilt und lernte die Pflege der Obstbäume und das Beschneiden der Bäume und Sträucher. Danach war sie als Blumengärtnerin zuständig für den Blumenschmuck in Kirche und Kloster. In späteren Jahren arbeitete sie im Stickatelier, wo Gewänder für liturgische Feiern hergestellt wurden. Am Ende des Noviziatjahres durfte sie das Ordensgelübde für drei Jahre ablegen. Und nach fünf Jahren, also im Jahre 1954, durfte sie mit anderen jungen Nonnen die „Jungfrauenweihe“ empfangen.

„Es war ein Tag großer Freude für mich, den ich so viele Jahre herbeigesehnt hatte. Die Zeremonie der Jungfrauenweihe ist wie eine Vermählungsfeier der Braut mit ihrem geliebten Herrn. Der Ritus legte uns bedeutungsvolle Worte in den Mund, die wir mit Inbrunst sagten: Er hat mir ein Siegel auf die Stirn geprägt, damit ich keinen anderen Liebhaber zulasse, und nach Empfang des Ringes sang ich: Mit seinem Ring hat sich mir mein Herr Jesus Christus vermählt und mich wie eine Braut gekrönt …. Zu Beginn der Zeremonie hatte uns der Bischof, dem Ritus der Jungfrauenweihe entsprechend, die Frage gestellt: Wollt ihr gesegnet und geweiht und unserem Herrn Jesus Christus, dem Sohn des Allerhöchsten, vermählt werden? Unsere Antwort war: Wir wollen.“18