Haaland. Die Biografie - Lars Sivertsen - E-Book

Haaland. Die Biografie E-Book

Lars Sivertsen

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Beschreibung

Ein junger Norweger hat die Fußballwelt in Aufruhr versetzt. Erling Haaland, Wunderstürmer von Manchester City, scheint die Kunst des Toreschießens neu definiert zu haben. Er gilt als eines der größten Talente der Fußballgeschichte, mit gerade mal 23 Jahren wurde er zu Europas Fußballer des Jahres gewählt. Lars Sivertsen ist in der gleichen norwegischen Kleinstadt aufgewachsen wie Haaland, heute ist er angesehener Fußballjournalist in England. Er kennt das Umfeld des neuen Superstars, dessen Vater Alfie ebenfalls in Manchester spielte, bestens. In seinem ausführlich recherchierten und brillant geschriebenen Buch zeichnet er Haalands kometenhaften Aufstieg nach, erzählt von den Anfängen in Norwegen und dem frühen Wechsel nach Österreich zu Red Bull Salzburg. Ausführlich beschreibt er Haalands Zeit bei Borussia Dortmund, wo er als Publikumsliebling für Furore sorgte und endgültig den internationalen  Druchbruch schaffte – bevor er in die Premier League wechselte und seitdem bei Manchester City alle Rekorde bricht, u.a. mit dem Gewinn des Triples 2023.

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Seitenzahl: 451

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Inhalt

Prolog

Geschenke aus dem Eis

Die Bauern

Alfie

Der Junge

Das Projekt

Fortschritte

Tante

Molde

Wendepunkt

Reise ins Ungewisse

Salzburg

Durchstarten

In Norwegens Diensten

Die Entscheidung, Teil 1

Erfolge in der Bundesliga

Paris

Geisterspiele

Medienrummel

Goldjunge

Tore und Verletzungspech

Die Entscheidung, Teil II

Haaland bei Manchester City

Ruhm

Triple-Sieger

Epilog

Dank

Prolog

Das Stadion von Borussia Dortmund ist weltweit einzigartig. Über 80000 Menschen füllen an den Spieltagen regelmäßig die Tribünen, die auf den Zuschauer gewaltig und zugleich kompakt wirken. Das Stadiondach ist auf allen vier Seiten so geneigt, dass der Jubel und die Fangesänge reflektiert und somit noch akustisch verstärkt werden. Eine atemberaubende Geräuschkulisse. In vielen Fußballstadien will die Menge unterhalten werden, ins Dortmunder Stadion kommen die Fans, um selbst zur Unterhaltung beizutragen, indem sie Stimmung machen und für eine unnachahmliche Atmosphäre sorgen. Dortmunds legendäre Südtribüne – oder einfach nur „die Süd“ –, ist die größte Stehplatztribüne Europas mit Platz für rund 25000 Zuschauer – eines der großen Wunder der Fußballwelt. Die „Gelbe Wand“, wie sie auch genannt wird, sieht an Spieltagen weniger aus wie eine Menschenmenge als wie eine wogende Masse aus Schals, Fahnen, Armen und Leidenschaft. Und sie ist laut – sehr, sehr laut.

Man könnte es einem jungen Fußballer, der es nicht gewohnt ist, vor einer solchen Kulisse zu stehen, nicht verübeln, wenn er sich vor dieser Kulisse eingeschüchtert fühlte. Oder zumindest verunsichert. Der 19-jährige Erling Haaland lächelt jedoch, als die Kamera am Dienstag, dem 18. Februar 2020, kurz vor dem Anpfiff des Champions-League-Achtelfinals gegen Paris Saint-Germain an ihm und den anderen BVB-Spielern vorbeischwenkt. Es ist nicht das selbstsichere (anmaßende, arrogante) Lächeln eines Stars, der es genießt, im Rampenlicht zu stehen. Es ist ein jungenhaftes, unbefangenes Grinsen. Fast sieht es so aus, als versuche er ein Lachen zu unterdrücken. Alle Hoffnungen und Träume der BVB-Fans sind auf ihn gerichtet – doch Erling Haaland scheint sich rundum wohl zu fühlen und sich zu amüsieren.

Warum auch nicht? Schließlich gab es vieles, über das er sich freuen konnte. Anfang 2020, mit nur 19 Jahren, galt er als einer der vielversprechendsten Fußballer der Welt, und tatsächlich feierte er in dieser Saison seinen Durchbruch. Etwas mehr als ein Jahr zuvor, im Januar 2019, war er vom norwegischen Molde FK zu RB Salzburg gewechselt, zum ersten Mal in seinem Leben zu einem ausländischen Klub. Während seiner ersten sechs Monate bei den Österreichern waren seine Einsatzzeiten noch begrenzt, doch als der israelische Stürmer Munas Dabbur im Sommer nach Sevilla ging, bekam er seine Chance und zahlte das in ihn gesetzte Vertrauen mit elf Toren in seinen ersten sieben Ligaspielen zurück. Und bei seinem Champions-League-Debüt erzielte er gleich einen Hattrick. Ende September 2019 war klar, dass Haaland nicht lange in Österreich bleiben würde. Es gab Spekulationen. Einige hielten einen Wechsel von RB Salzburg zum deutschen Schwesterklub RB Leipzig für einen logischen Schritt. Auch Ole Gunnar Solskjær, Haalands ehemaliger Trainer beim Molde FK, der jetzt Manchester United trainierte, zeigte reges Interesse an seinem Ex-Schützling. Und aus der Serie A streckte Juventus Turin seine Fühler nach Haaland aus. Doch die Entscheidung fiel für Borussia Dortmund.

Dortmund und das gesamte Ruhrgebiet standen lange Zeit für Kohlebergbau und Stahlindustrie, waren geprägt von zahlreichen Brauereien und einer vielfältigen Fußballkultur. Nachdem Zechen, Bergwerke und Stahlwerke nach und nach stillgelegt, die örtlichen Brauereien von Großkonzernen aufgekauft worden waren, blieb am Ende der Fußball als identitätsstiftendes Element übrig. Uli Hesse, Sportjournalist und Buchautor, schrieb im September 2011 in der zweiten Ausgabe des britischen Fußballmagazins The Blizzard:

Orte, die als Fußballstadt bezeichnet werden, gibt es viele, aber auf wenige trifft diese Bezeichnung so gut zu wie auf Dortmund, denn fast jeder, der hier geboren wurde oder hier lebt, hängt mit Leib und Seele am BVB.

Die Fans von Borussia Dortmund haben auf die harte Tour lernen müssen, dass der Fußballverein, dem man die Treue hält, nicht zwangsläufig auch immer erfolgreich ist. In den 1990er-Jahren hatten sich der BVB in den Kopf gesetzt, dem damals schon sehr erfolgreichen FC Bayern München – der aber bei Weitem noch nicht so dominant war wie heute – die Stirn zu bieten. Man investierte viel Geld in Stars, in dem festen Willen, aus dem Klub ein erfolgreiches Spitzenteam zu machen. Kurzfristig ging der Plan sogar auf, in den Spielzeiten 1994/95 und 1995/96 wurde der BVB Deutscher Meister. In der Saison 1996/97 gewannen die Dortmunder zudem die Champions League, und 2002/02 holten sie erneut die Meisterschale. Allerdings hatte sich der Verein diesen Erfolg dadurch erkauft, dass er mehr Geld ausgab als er einnahm. Der Schuldenberg wurde immer größer. Als die Erfolge ausblieben und das Team es im Sommer 2003 nicht schaffte, sichfür die Champions League zu qualifizieren – die Mannschaft scheiterte in der dritten Qualifikationsrunde gegen Brügge –, fiel das Kartenhaus in sich zusammen. Der BVB stand kurz vor der Insolvenz – nur drei Jahre, nachdem er zum letzten Mal Meister geworden war. Es war klar, dass sich der Verein trotz aller Erfolge, seiner riesigen Anhängerschaft und seiner immensen Strahlkraft neu erfinden musste.

Seine Wiedergeburt feierte der BVB schließlich unter dem charismatischen Jürgen Klopp, dem es als begnadetem Motivator gelang, den Verein wie die Fans mitzureißen. Unter Klopp wurde die Mannschaft verjüngt, er holte Spieler ins Team, die über Ehrgeiz und Energie verfügten und seine Ideen von aggressivem Pressing umzusetzen, die Gegner wurden überrannt und an die Wand gespielt. „Die Dortmunder jagen in einer Tour mit Höchstgeschwindigkeit über das Feld, ganz gleich, ob sie hinter dem Ball her sind oder hinter dem Gegner, ob sie Räume schaffen oder ein Tor schießen, und sie gönnen sich dabei kaum mal eine Verschnaufpause“, schrieb Raphael Honigstein im April 2012 im Guardian. Unter Klopp schaffte es Borussia Dortmund zurück an die Spitze des deutschen Fußballs. 2011 und 2012 wurde der BVB erneut Deutscher Meister. 2013 hätte die Mannschaft sogar um ein Haar erneut die Champions League gewonnen, scheiterte im Finale im Londoner Wembley-Stadion jedoch knapp an Bayern München. Seither tummeln sich die Dortmunder immer im oberen Tabellendrittel und träumen wieder von der Meisterschaft, die 2023 in greifbarer Nähe war. In der Champions League konnten sie nicht mehr an die großen Erfolge anknüpfen und kamen seit ihrer Finalteilnahme 2013 nicht mehr über das Viertelfinale hinaus. Der Verein hat viel erreicht, seit er 2005 kurz vor der Insolvenz stand, und heute kann er durchaus beträchtliche Summen in die Hand nehmen, dennoch sind seine finanziellen Möglichkeiten immer noch weit geringer als die der Bayern oder anderer europäischer Topvereine. Der BVB hat sich darauf verlegt, die Stars von morgen unter Vertrag zu nehmen. Die Verjüngungskur war schließlich auch entscheidend für die letzten beiden Meistertitel gewesen, die der Verein unter Klopp geholt hat. Und genau an dieser Stelle kommt Erling Haaland ins Spiel. Dortmund hat sich einen Ruf als Feinschliffschmiede für kommende Superstars erworben, als Verein, in dem junge Spieler den Schritt vom Weltklassetalent zum Weltklassespieler machen können. Denn hier setzt man auf junge Spieler und macht sie zu zentralen Säulen der Mannschaft. Für Haaland war die Entscheidung für Dortmund der perfekte nächste Karriereschritt.

Paris Saint-Germain ist im Vergleich dazu eine völlig andere Art Fußballverein. Seit seiner Übernahme durch Katar 2011 wirft der Klub auf dem Transfermarkt fröhlich mit irrsinnigen Summen um sich und kauft Superstars wie andere Leute Panini-Sammelbilder. Die Kadernominierungen ähneln zuweilen eher einer illustren Gästeliste als einer Mannschaftsaufstellung. Auf nationaler Ebene ist das Team denn auch sehr erfolgreich, aber in der Champions League stößt es immer wieder an seine Grenzen – am Ende ist es doch weniger ist als die Summe seiner glanzvollen Teile. Paris mit seinen Vororten ist die vielleicht größte Brutstätte für junge Fußballtalente, aber dennoch zeigt PSG keinerlei Interesse an der Ausbildung junger Spieler. Warum auch? Das nächste Transferfenster öffnet sich bald.

Borussia Dortmunds Lokalrivale ist der – im Moment mal wieder in die Zweitklassigkeit abgerutschte – FC Schalke 04 aus Gelsenkirchen, sein direkter Konkurrent in der Bundesliga Bayern München. Der sozusagen moralische Widerpart jedoch heißt Paris Saint-Germain.

Wenn Dortmund in der Champions League auf Paris Saint-Germain trifft, geht es neben dem eigentlichen fußballerischen Geschehen auf dem Platz auch um grundsätzliche Fragen. Die Dortmunder müssen für sich immer wieder neu klären, ob sie mit ihrer Strategie, auf junge Topspieler zu setzen, mit europäischen Spitzenmannschaften konkurrieren können, die über hochkarätige Starensembles verfügen. Zudem dürfte es kaum einen Verein geben, der von den Werten des BVB weiter entfernt ist als PSG. Ob dies Erling Haaland durch den Kopf ging, als er an besagtem Dienstagabend im gleißenden Flutlicht des Signal Iduna Parks unter den lautstarken Fangesängen das Spielfeld betrat? Nein, wohl eher nicht.

Profifußballer sind geübt darin, die Geräuschkulisse bei einem Spiel auszublenden. Erling Haaland hat sogar ein ganz besonderes Talent dafür. „Er schert sich nicht darum“, sagt Erik Botheim, enger Freund und ehemaliger Mitspieler von Haaland in der Jugend im Gespräch mit der norwegischen Zeitung VG im Januar 2020. „Er ist auch mental ein Riese und hat meist einfach nur Spaß am Spielen. Es kümmert ihn nicht, was um ihn herum geschieht.“ Von all dem Lärm und Druck, die auf ihm lasten, lasse er sich nicht ablenken.

Haaland will sich immer und ständig verbessern. Um ein besserer Spieler zu werden, trainiert er Naheliegendes wie die allgemeine Physis oder die Schusstechnik ebenso wie Dinge abseits des Spielfelds. Etwas, auf das er in diesem Zusammenhang einen besonderen Fokus legt, ist die Meditation. „Ich halte das für eine wirklich gute Sache“, sagte er im Januar 2023 im Gespräch mit GQ. „Sich zu entspannen, zu versuchen, nicht zu viel zu denken. Denn Stress tut niemandem gut. Ich hasse es, gestresst zu sein, und versuche, mich nicht stressen zu lassen. Bei der Meditation hoffe ich, belastende Gedanken loslassen, hinter mir lassen zu können.“

Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass Haalands jedes Mal, wenn er den Verein wechselt, also einen Schritt auf der Karriereleiter noch oben macht, immer noch mehr Tore macht. Die meisten Menschen würden angesichts neuer Herausforderungen, die ihnen im Berufsleben begegnen, wohl eine gewisse Eingewöhnungszeit benötigen und anfangs vielleicht Fremdsein und Unbehagen empfinden. Doch wie sein Kumpel Botheim gesagt hat: Erling hat einfach nur Spaß am Spielen.

Von daher wirkt das breite Lächeln gar nicht aufgesetzt, das kurz vor dem Anstoß des Spiels gegen PSG auf dem Gesicht des 19-jährigen Haaland zu sehen war, während im Hintergrund die Champions-League-Hymne gespielt wurde. Es wirkt tatsächlich nicht so, als hätte er in diesem Moment groß über den Druck oder die Erwartungen der Fans oder die Bedeutung der Begegnung für den BVB nachgedacht. Ebenso wenig Kopfzerbrechen scheint ihm die Tatsache bereitet zu haben, dass er von der gesamten Fußballwelt an diesem Abend mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet wurde.

Haaland hatte einen bis dato kometenhaften Aufstieg hingelegt, dennoch gab es auch kritische Stimmen, die er auch mit noch so spektakulären Leistungen nicht überzeugen konnte. Er hatte in nur 21 Minuten vier Tore für Molde geschossen? Na ja, das war ja auch bloß in der norwegischen Liga. Er hatte in einem einzigen Spiel neun Treffer für die norwegische U20-Auswahl erzielt? Ja, schon, aber der Gegner war ja auch nur Honduras. Er hatte in 14 Spielen 16 Tore für RB Salzburg geschossen? Stimmt, aber wir reden ja hier bloß von Österreich. Er hatte bei seinem ersten Champions-League-Spiel einen Hattrick hingelegt? Na ja, da hieß der Gegner ja auch nur Genk. Und der Hattrick bei seinem Debüt für den BVB? Sicher, aber das war ja lediglich ein Spiel gegen Augsburg. Die bevorstehende Begegnung gegen Paris nun war ein echter Kracher, ein Champions-League-Achtelfinale, bei dem die gegnerische Mannschaft mit Superstars wie Kylian Mbappé und Neymar gespickt war. Aber das kümmerte Erling Haaland erst mal nicht, und er lächelte sein jungenhaftes Lächeln.

Von Beginn an war der BVB die bessere Mannschaft, doch in der ersten Halbzeit gelang es den Dortmundern nicht, den PSG-Keeper Keylor Navas zu überwinden. In der 26. Minute verhinderte der Pariser Torwart die Führung durch Jadon Sancho mit einer Glanzparade, und acht Minuten später traf Haaland mit einem strammen Linksschuss nur das Außennetz. Haaland war schnell unterwegs, und immer wieder ging Gefahr von ihm aus, aber das Zusammenspiel mit seinen Mannschaftskameraden war noch ausbaufähig. Man merkte, dass er noch nicht lange im Team war. Die Dortmunder spielten gut, aber mit Blick auf das Rückspiel in Paris wäre ein Unentschieden daheim ein zu mageres Ergebnis.

In der zweiten Hälfte machten die Dortmunder noch mehr Druck. Sie hatten mehr Ballbesitz, kamen aber nur zu wenigen nennenswerten Chancen, und die Franzosen blieben natürlich gefährlich bei Kontern. Insbesondere Mbappé sorgte mit seinem Tempo immer wieder für Gefahr. Doch auch Dortmunds Achraf Hakimi, der in Spanien geborene Marokkaner, eine Leihgabe von Real Madrid, war schnell. Zusammen mit dem erfahrenen Łukasz Piszczek im Rücken war der Außenverteidiger die vielversprechendste Offensivkraft beim BVB an diesem Abend. Und so war es dann auch Hakimi, dem schließlich ein Durchbruch gelang. Jadon Sancho erkannte eine Lücke in der PSG-Abwehr auf der rechten Seite und spielte Hakimi den Ball zu, der nach vorne stürmte und eine Flanke in den Strafraum schlug, die in Dortmunds linkem Außenverteidiger Raphaël Guerreiro einen Abnehmer fand. Dessen Schuss konnte von einem PSG-Verteidiger noch geblockt werden. Doch Haaland war zur Stelle – wie immer. Er schob den Ball aus kürzester Distanz ins Tor. Das Stadion tobte. Die PSG-Abwehr reklamierte Abseits. Meditations-Fan Haaland ließ sich kurz vor dem Fünfmeterraum im Lotussitz nieder und von seinen Mannschaftskameraden feiern.

PSG verfügt über außergewöhnliche Einzelspieler, allen voran Kylian Mbappé, der selten ein Spiel verstreichen lässt, ohne sein Genie aufblitzen zu lassen. In der 74. Minute kam er etwa 15 Meter hinter der Mittellinie in der gegnerischen Hälfte an den Ball. Die Dortmunder Abwehrspieler standen gut positioniert, die Situation schien ungefährlich. Aber wenn Mbappé den Ball hat, gibt es für die verteidigende Mannschaft keine ungefährlichen Situationen. Er ließ einen Dortmunder stehen, als wäre er Luft, wich einer schlecht getimten Grätsche eines Verteidigers aus und drang in den Dortmunder Strafraum ein. Dann spielte er den Ball überlegt flach in die Strafraummitte zu Neymar, der die BVB-Verteidiger abgeschüttelt hatte und mühelos zum 1:1 ins leere Tor einschieben konnte. Schlagartig hatte sich die Ausgangspositionfür Borussia Dortmund wieder verschlechtert. Die beiden teuersten Spieler der Welt hatten sich gegen das geballte Talent und den jugendlichen Überschwang der Dortmunder durchgesetzt. „Ein 350-Millionen-Pfund-Tor“ bemerkte ein Fernsehkommentator trocken.

Doch noch war das Spiel nicht vorbei. Nach vorne gepeitscht von der Gelben Wand passte Mats Hummels den Ball zu Giovanni Reyna. Das erst 17 Jahre alte Talent hatte eine ähnliche Entwicklung hinter sich wie Haaland: Auch er war kurz nach der Jahrtausendwende in Nordengland geboren worden; sein Vater Claudio hatte zu jener Zeit für den AFC Sunderland in der Premier League gespielt. Wie Haaland hoffte auch Reyna, sich bei Dortmund auf der großen Fußballbühne präsentieren und Erfahrungen sammeln zu können. In diesem Champions-League-Achtelfinale nahm Reyna im Mittelfeld Hummels Pass an, drehte sich und stürmte in den freien Raum, der vor ihm lag. Die PSG-Abwehr hatte nicht aufgepasst, und obwohl sich auch Jadon Sancho rechts auf den Weg gemacht hatte, hatte Reyna nur Haaland im Blick. Als er den Ball bekam, legte er ihn sich im Laufen kurz vor und drosch ihn mit seinem starken linken Fuß ins Tor.

Wenn im Signal Iduna Park ein spektakuläres Tor fällt, kann man das weniger sehen und hören als vielmehr spüren. Der Lärm, der in diesem Moment aufbrandet, und die Energie, die freigesetzt wird, gehen durch Mark und Bein und lassen den ganzen Körper erzittern. Dieses 2:1 brachte das Stadion ins Wanken, der Boden schien zu Beben. Haaland konnte es selbst kaum glauben. Er wandte sich ab vom Tor und wollte wieder in seine Lotus-Pose springen, doch er tat es mit zu viel Schwung, landete auf dem Rücken, und in Nullkommanichts begruben ihn seine Mannschaftskameraden unter sich. Diesmal lächelte er nicht, sondern schaute nur völlig entgeistert wie ein Teenager, der selbst kaum begreifen kann, was gerade geschehen ist.

„Beim zweiten Tor, war es Selbstvertrauen, war es Technik? Was war es?“, fragte der einstige Swindon-Stürmer und heutige TV-Reporter Jan Åge Fjørtoft Haaland nach dem Spiel auf Norwegisch. „Æg tenke bare å dryla te for å vær heilt ærlege, så drylte eg an i mål så det va fint det“, entgegnete Haaland. Diese Antwort ins Deutsche zu übertragen, stellt Übersetzer vor eine Herausforderung. Der Begriff dryla ist im norwegischen Sprachgebrauch nicht üblich, er kommt lediglich in einer Handvoll regionaler Dialekte vor – in den nordwestlichen Regionen des Landes, wo Haaland aufgewachsen ist. Normalerweise will man damit ausdrücken, dass etwas mit enormer Kraft geschlagen oder getreten wird – typischerweise ein Ball, aber auch eine unliebsame Person (nicht unbedingt ratsam ist, wenn man nicht strafrechtlich belangt werden möchte). Die vielleicht passendste, klanglich ansprechendste Übersetzung ist „dreschen“. Grob übersetzt also: „Um ehrlich zu sein, dachte ich, ich dresche einfach drauf, und dann drosch ich ihn ins Tor, und das war gut.“ Als hätten die Norweger nicht schon Freude genug daran gehabt, zu sehen, wie ihr Goldjunge die erfolgsverwöhnten Franzosen in die Knie zwang, begeisterte er sie zusätzlich dadurch, dass er seiner Herkunft und seinem Dialekt treu blieb. Haaland ist niemand, der auf die Idee käme, seine Ausdrucksweise zu ändern, nur weil ihm ein TV-Reporter ein Mikrofon hinhält. Auch nicht, wenn selbst seine Landsleute mit dem Begriff dryla nicht unbedingt etwas anfangen können. Aber sie können sich gerne eine Wiederholung des Tores anschauen, wenn sie diesbezüglich noch etwas hinzulernen möchten.

Das Rückspiel in Paris verlor der BVB, was das Ausscheiden aus der Champions League in dieser Saison bedeutete. Doch für einen Moment hatten die Dortmunder Fans die Genugtuung verspürt, wie der linke Hammer eines 19-Jährigen all die Katar-Millionen pulverisierte und der Bedeutungslosigkeit preisgab. Das war ein Gefühl, das man auskosten konnte, und ein Moment, der in Erinnerung blieb. Für Haaland bedeutete der Treffer gegen PSG den endgültigen Aufstieg an die Weltspitze. Jeder, der von dem Hype um ihn bislang nichts mitbekommen hatte oder nichts wissen wollte, horchte nun auf. Zugleich zeigte sein zweites Tor, welches die wesentlichen Eigenschaften des Fußballers Haaland sind: die Kraft, das Können, das Selbstvertrauen und nicht zuletzt die Fähigkeit, alles andere um sich herum auszublenden und den Ball im Netz zu versenken. Den Norwegern zeigte Haaland mit diesem Tor und dem Interview nach dem Spiel darüber hinaus noch etwas: Nämlich, dass er Fußball selbst auf der größten Bühne, gegen die berühmtesten Gegner im Grunde immer noch so spielt, wie er es als Kind in Bryne getan hat. Und wenn man ihm ein Mikrofon vor die Nase hält, spricht er auch noch wie jemand aus Bryne. Denn genau das ist er auch: Ein hünenhafter, unaufhaltsamer, unbezähmbarer Junge aus Bryne.

Geschenke aus dem Eis

Als sich die letzte Eiszeit vor rund 10000 Jahren ihrem Ende zuneigte, kam unter den abtauenden Gletschern an der heutigen Südwestküste Norwegens ein Stück Land zum Vorschein, das so gar nicht typisch für Norwegen ist. Reisende, die von Süden her den Flughafen Stavanger ansteuern, kommen kaum umhin, die plötzliche Veränderung in der Landschaft zu bemerken, sobald sie sich der Südküste nähern. Kurz hinter dem kleinen Fischereihafen Sirevåg geht die zerklüftete Küstenlinie in den Sandstrand bei Brusand über. Hier werden die rauen Felshügel Südnorwegens von einer langen, flachen Ebene abgelöst, die sich etwa 65 Kilometer weiter gen Norden, bis hinauf in die stärker besiedelten Gebiete rund um Stavanger erstreckt. Das ist Jæren, die größte Flachlandebene Norwegens. Die Landschaft unterscheidet sich grundlegend vom eisigen Norden des Landes und der gewaltigen Berg- und Fjordlandschaft der Westküste, die in Tourismusprospekten und Werbeanzeigen von Kreuzfahrtunternehmen so gerne gezeigt werden.

Mit gewaltigen Kräften haben sich die eiszeitlichen Gletscher hier in den Fels gefräst und ihn geglättet und mehr Sedimentablagerungen hinterlassen als irgendwo sonst im Land. Anders gesagt: Jæren ist ein flaches Stück Land mit einer tief reichenden, fruchtbaren Erdschicht und damit eine der ertragreichsten landwirtschaftlichen Anbauregionen Norwegens. Aufgrund seiner südlichen Lage ist die Vegetationsperiode in Jæren auch länger als im Rest des Landes. Doch es gibt einen Haken an der Sache, oder besser gesagt, mehrere. Zum einen waren in weiten Teilen des Gebiets Torfmoore vorherrschend. Da es in der Region nur wenige Bäume gab, war Torf lange Zeit eine wichtige Brennstoffquelle. Und Moore in landwirtschaftliche Nutzflächen umzuwandeln, war sehr mühsam. Zum anderen ist Jæren, das direkt an die Nordsee grenzt und über keinerlei größere Erhebungen verfügt, jeglichem Wetter schutzlos ausgesetzt. Zwar ist es hier allgemein milder als in anderen Regionen Norwegens, doch wehen hier kräftige Winde und der Regen peitscht nahezu horizontal über das Land. Zu guter Letzt, und das ist für die Bauern in Jæren der vermutlich größte Haken, sind da die Felsen.

Die Gletscher haben zwar eine außergewöhnlich starke Erdschicht zurückgelassen, aber auch Felsen, sehr viele Felsen … Mächtige Findlingen finden sich über die gesamte Ebene verstreut, und jeder Bauer, der das Land bewirtschaften wollte, musste es zunächst von Steinen und Felsen befreien – vor der Erfindung moderner Maschinen keine leichte Aufgabe. Und eine endlose zudem: jedes Jahr im Frühjahr tauchen erneut unzählige Steine aus dem Boden auf. Sie werden von ihm sozusagen an die Oberfläche gespült. Die Landschaft von Jæren ist also beides: Sie ermöglicht den Bauern einerseits ein gutes Einkommen, legt ihnen andererseits aber auch immer wieder Steine in den Weg, im wahrsten Sinne des Wortes, und fordert von den Menschen, die hier leben, Mumm und Ausdauer. Immer wieder Felsen und Steine aus dem Ackerboden zu graben, während ein kalter, schneidender Wind von der Nordsee übers Land bläst – nun ja, das prägt den Charakter.

Das Skilling-Magazin, die erste norwegische illustrierte Wochenzeitschrift, sah sich im Jahr 1887 in Jæren um und kam zu dem Schluss:

Der Jærbu [ein Einwohner Jærens] plagt sich mit einer Arbeit, die ziemlich aussichtslos erscheint. Aber die Ausdauer, die er an den Tag legt, die harte Arbeit, die er verrichtet, die Siege, die er im Kampf gegen die unwirtliche Natur erringt, stärken unseren Glauben daran, dass er ein Mann mit Zukunft ist. Der Jærbu hat eine schwere Aufgabe vor sich, aber er wird sie bewältigen.

Geprägt von der Landschaft, stellten die Jærbu Ausdauer und harte Arbeit immer über alles andere. Der Heimatkundler Ivar Langhelle bemerkt dazu:

Der typische Held war und ist für die Menschen in Jæren der erfahrene, tüchtige Bauer. Derjenige, der sein Land unverdrossen erschließt. Derjenige, der unter großen Mühen Schritt für Schritt etwas aufbaut und damit am Ende mehr erreicht als seine Mitmenschen.

Zugleich waren die Bauern aus Jæren auch immer sehr zukunftsorientiert und zeichneten sich durch großen Unternehmergeist aus. Langhelle zufolge

waren die Bauern aus Jæren offener dafür, sich mit neuen landwirtschaftlichen Methoden und Geräten vertraut zu machen, als Bauern aus anderen Gegenden, und … sie übernahmen Methoden, die sich als nützlich erwiesen, sehr schnell.

Das Aufkommen moderner Maschinen veränderte das Leben und die Landschaft in Jæren enorm: Wurden noch vor 200 Jahren nur ein bis zwei Prozent der Fläche in der Region als Ackerland genutzt, sind es heute in einigen Bezirken bis zu 80 Prozent.

Die Gründung des Orts Bryne, dem heutigen Verwaltungssitz der Kommune Time, ist fast einem Zufall zu verdanken. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde eine Eisenbahnverbindung zwischen Stavanger, der bedeutendsten Stadt der Region, und Egersund, einem wichtigen Fischerdorf etwa 80 Kilometer weiter südlich, gebaut. Am südlichen Ende eines Sees namens Frøylandsvatnet beschloss man, einen Bahnhof zu errichten. Nachdem die Eisenbahnverbindung 1878 fertiggestellt worden war, entstand rund um diesen Bahnhof allmählich ein Dorf. Nach und nach machten hier Werkstätten und kleinere Betriebe auf, die die ansässigen Landwirte versorgten. Auch eine Spinnerei und eine Molkerei kamen hinzu, schließlich eine Kirche und eine Schule. Dank des bereits erwähnten Unternehmergeists der Einheimischen wurde die Entwicklung des Ortes schnell weiter vorangetrieben. Trallfa, ein Unternehmen, das anfangs Rollwagen, Waggons und Schubkarren herstellte, produzierte in den 1960er- und 1970er-Jahren einige der ersten Industrieroboter weltweit und erlangte schließlich einen bedeutenden Weltmarktanteil auf diesem Gebiet. 1918 gründete die Familie Aarbakke einen Betrieb zur Herstellung von Hufeisen; zwei Generationen später fertigt das Unternehmen Aarbakke AS mit großem Erfolg Maschinen für die boomende norwegische Ölindustrie. Am Rande von Bryne war früher zudem das Unternehmen Brøyt ansässig, in den 1960er-Jahren Skandinaviens führender Baggerhersteller. 2001 wurde Bryne offiziell zur Stadt erklärt. Heute zählt sie etwa 12000 Einwohner. Damit rangiert Bryne, das wirtschaftliche Zentrum der Region Jæren, auf Platz 47 der größten Ansiedlungen Norwegens.

Für Kjell Olav Stangeland, ehemaliger Präsident des Fußballvereins von Bryne und langjähriger Redakteur der ortsansässigen Lokalzeitung, Verfasser mehrerer Bücher sowohl über die Stadt Bryne als auch über den örtlichen Fußballverei, steht außer Frage, dass die Menschen dieser Region von der Landschaft, in der sie leben, geprägt wurden.

Man muss die Armut und den Mangel berücksichtigen, mit denen alles begann. Die Menschen mussten sich von dem Wenigen, das sie hatten, hocharbeiten. Ein Bauer musste schwer arbeiten, um überhaupt genug zum Überleben zu haben. Charakteristisch für die Jærbu ist, dass sie penibel darauf achten, nicht mehr auszugeben, als sie haben, und dass sie hart arbeiten. Man weiß, dass man für sein Abendessen etwas tun muss. Und man sollte sich nie zu sehr in etwas hineinsteigern oder zu weit vorausgreifen. Wenn etwas heute sehr gut läuft, kann es morgen schon den Bach runtergehen.

Die Jærbu scheinen sich also durch ganz spezielle Eigenschaften auszuzeichnen. Doch wer genau zählt dazu? Geografisch betrachtet erstreckt sich die Ebene von Jæren bis hinauf in die nördlich gelegenen Stadtgebiete von Sandnes und Stavanger. Aber die Menschen, die in diesen Städten wohnen, sind kaum Jærbu. Die Jærbu betrachten sich traditionell als hartgesottene Landbewohner, die den Städtern aus Sandnes und Stavanger mit einigem Misstrauen begegnen. Für die Jærbu ist die Skjævelandsbrunå, eine Brücke, die etwa elf Kilometer nördlich von Bryne auf dem Weg nach Stavanger über den Figgjo führt, die Nordgrenze der Region. Menschen, die auf der Nordseite der Brücke leben, sind die Städter, denen man alles Schlechte nachsagt, vom städtischen Leben verweichlicht. „Es gibt hier ein Sprichwort, das besagt, dass man sich, wenn man Arbeiter braucht, Leute aus dem Bereich südlich der Skjævelandsbrunå holen soll, weil die wissen, wie man arbeitet“, sagt Stangeland.

Auch heute findet man noch Leute, die das denken, die felsenfest davon überzeugt sind, dass man sich die Arbeiter direkt vom Bauernhof holen sollte, weil die Bauern gelernt haben, dass man früh aufstehen und hart arbeiten muss, wenn man etwas erreichen will.

Die aus der Region stammende Band Silo & Saft geht in ihrem Song „Skjævelandsbrunå“ sogar noch einen Schritt weiter:

Dies ist die Geschichte einer kleinen Brücke,wenn du sie erreichst, musst du kehrtmachen,auf der anderen Seite wohnen nur Städter und Snobs.Sie behaupten in Jæren zu leben,aber Gott und jedermann weiß verdammt gut,ein Jærbu lebt südlich der Skjævelandsbrunå,Skjævelandsbrunå.Sie markiert eine Grenze zwischen Richtig und Falsch,ich glaube fest daran, dass ich auf der richtigen Seite lebe.

Dennoch müssen die Menschen, die so vernünftig waren, sich auf der richtigen Seite der Brücke niederzulassen, damit abfinden, dass die restlichen Norweger sie mit einer gewissen Skepsis betrachten. Die Jærbu mit ihrem stoischen Wesen und ihrer Wortkargheit gelten als mürrisch und verschlossen. Arne Garborg, ein norwegischer Schriftsteller, der in Jæren geboren wurde und sechsmal für den Literaturnobelpreis nominiert war, schrieb 1892 in seinem Roman Frieden, dass die Jærbu ein „schwieriges Volk sind, das sich grübelnd und unter Mühen durchs Leben gräbt“. Die Menschen aus der Region könnten dem entgegenhalten, dass Verschlossenheit und Zurückhaltung zwei völlig verschiedene Dinge sind. Warum sollte man zehn Worte machen, wenn zwei oder drei oder sogar eine bedeutungsvolle Pause ausreichen? „Zurückhaltung ist für die Menschen in Jæren typisch, sowohl was unseren Sprachgebrauch angeht als auch unseren Sinn für Humor“, sagt Stangeland. „Es gilt als unschicklich, die Dinge zu übertreiben. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als der Schwede Kent Karlsson in den 80er-Jahren Trainer unseres Fußballvereins war. Wenn Bryne 4:0 siegte, sagten die Leute: ›Oh, das war nicht schlecht.‹ ›Nicht schlecht? Wie bitte?‹, entgegnete er. Er fragte sich, was geschehen müsse, uns in Euphorie zu versetzen.“ Der Fußball ist allerdings etwas, das die Menschen in Jæren tatsächlich begeistert. Und im Laufe der Jahre war es vor allem auch er, der Bryne weltweit bekannt gemacht hat.

Die Bauern

In den 1880er-Jahren kam der Fußball auch nach Norwegen. Der erste norwegische Fußballverein, der Christiania Footballclub, wurde 1885 in Oslo gegründet. In Stavanger wurde 1899 der Viking Fotballklubb ins Leben gerufen, er gilt als der älteste Fußballverein in diesem Teil des Landes. Wann genau der Klub in Bryne das Licht der Welt erblickte, muss Spekulation bleiben. Als offizielles Gründungsdatum gilt der 10. April 1926, obwohl es keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt, die dies bestätigen. Das älteste Dokument in den Vereinsarchiven ist ein Schreiben des „Bryne gymastics- and sportsclub“ vom Oktober 1928, mit dem die Aufnahme in den regionalen Fußballverband beantragt wird. Diesem Wunsch wurde entsprochen, wobei der Klub aber nicht über ein Stadion verfügte und einige Probleme hatte, überhaupt ein einigermaßen ebenes Gelände zu finden, auf dem man trainieren konnte. Schließlich wurde ein Stück Land gepachtet, das an die Mühle und den durch den Ort verlaufenden Fluss grenzte.

In ihrem Buch Ups and Downs through 90 Years: The Story of Bryne FK, eine ebenso detailreiche wie erschöpfende Geschichte des Vereins, schildern die Autoren Reidar B. Thu und Kjell Olav Stangeland (beides ehemalige Präsidenten des Bryne Fotballklubben) unter anderem, was für eine Herausforderung die Gründung eines Fußballklubs in diesen frühen Tagen war. Das Gelände, das der Verein gepachtet hatte, musste zunächst eingeebnet, Heidekraut und Gestrüpp und – wie hätte es auch anders sein können – Steine mussten entfernt und weggeschafft werden. Der Platz befand sich zudem an einer Flussgabelung, was bedeutete, dass der Ball leicht im Wasser landete. Um zu verhindern, dass die Bälle flussabwärts getrieben wurden, stellte man Fischernetze auf. Im Zentrum eines Vorfalls aus der frühen Vereinsgeschichte, von dem Thu und Stangeland ebenfalls berichten, steht ein Schwede, der sich in Bryne niedergelassen hatte. Der Mann liebte die Entenjagd und eines frühen Abends, in der Dämmerung, verwechselte er einen robust geklärten Ball mit seiner gefiederten Beute. Er nahm sein Ziel ins Visier und holte das Leder mit beeindruckender Treffsicherheit vom Himmel. Da sich Fußbälle zu jener Zeit nicht so leicht ersetzen ließen, dürfte dieser Zwischenfall unter den Kickern vermutlich für lange Gesichter gesorgt haben. Gegen Ende der 1930er-Jahre erwarb der Verein ein neues Grundstück neben der Bahntrasse, knapp einen Kilometer südlich des Bahnhofs gelegen. Hier wurde im Laufe der Jahre das Stadion errichtet, in dem die Mannschaft heute noch spielt.

In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war Bryne eine bessere Dorfmannschaft. Wenngleich ein Vorfall aus dem Jahr 1935 auf einen – vorsichtig ausgedrückt – immer stärker entflammten Wettkampfgeist der Einheimischen hindeutet. Im Stavanger Aftenblad wird von einem unrühmlichen Zwischenfall berichtet, der sich während eines Spiels zwischen Bryne und der Mannschaft aus dem Nachbarort Nærbø zutrug:

Ein spannendes Spiel wurde gestern in Bryne erwartet. Es hatten sich viele Zuschauer eingefunden. Die Gastgeber hatten sogar eine Kapelle eingeladen, die für musikalische Untermalung sorgte. In der gegnerischen Hälfte wurde schon früh für Gefahr gesorgt, und Brynes Mittelstürmer nutzte eine aussichtsreiche Gelegenheit zum ersten Treffer des Spiels. Es ist verständlich, dass die Einheimischen darauf eine Art Kriegstanz aufführten, dass sich aber auch die Musiker nicht zurückhalten konnten, kann nur als skandalös bezeichnet werden. Sie griffen sich ihre Instrumente und spielten ein ganzes Stück oder einen Marsch so laut sie nur konnten. Die Spieler konnten inzwischen tun und lassen, was sie wollten, denn den Pfiff des Schiedsrichters konnte niemand mehr vernehmen. Von diesem Moment an lautete das Motto des Spiels, auf den Gegner einzutreten. Man kann nur von Glück reden, dass kein Krankenwagen gerufen werden musste. Das gestrige Spiel in Bryne ist der Sache des Fußballs nicht förderlich gewesen.

Nicht ganz ironiefrei verweisen Thu und Stangeland in ihrer Vereinsgeschichte darauf, dass die Verfasserangabe zu nämlichem Artikel schlicht „R“ lautete und dass sich dahinter womöglich Ragnvald Skjærpe verbarg, der Präsident des gegnerischen Teams. Ob die ominöse Verfasserangabe nicht vielleicht doch einer schamlosen List des Vereins aus Bryne geschuldet ist oder ob es sich hier tatsächlich um einen frühen Fall von Voreingenommenheit in der medialen Berichterstattung handelt, werden wir wohl nie erfahren.

Während des Zweiten Weltkriegs besetzten die Nazis Norwegen, der Vereinsfußball kam zum Erliegen. Dennoch geschah in diesen Jahren etwas für die Entwicklung des Fußballs in Bryne Bedeutendes: Die Brüder Lauritz B. Sirevaag und Odd Harald Sirevaag zogen mit ihren Familien nach Bryne. Die beiden waren begnadete Kicker und eine treibende Kraft für den Aufstieg Brynes zum führendem Fußballverein Jærens in den Nachkriegsjahren. Odd Harald „Buster“ Sirevaag war ein besonders torgefährlicher Spieler und ist mit 257 Treffern in 385 Spielen für Bryne der bis heute zweitbeste Torschütze der Vereinsgeschichte.

1962 schlug Bryne seinen Lokalrivalen Viking aus Stavanger im norwegischen Pokalwettbewerb. Noch nie zuvor hatte sich Bryne bei einem Wettbewerb gegen Viking behaupten können. Dazu hatte die Mannschaft auch nicht viele Gelegenheiten gehabt, denn Viking spielte seit seiner Gründung im Jahr 1937 in der ersten norwegischen Liga, während Bryne zu jener Zeit noch unterklassig war. 1964 schaffte der Verein den Aufstieg in die zweite Liga, und nachdem in den Folgejahren der weitere Aufstieg mehrmals knapp verfehlt wurde, gelang dem Klub 1974 schließlich der Sprung in die höchste Spielklasse im norwegischen Fußball. Bis auf drei Ausnahmen stammten alle Spieler, die dem Verein den Aufstieg gesichert hatten, aus Jæren.

„Ich denke, eine große Rolle dabei spielte der Umstand, dass wir nie akzeptiert haben, dass Viking besser ist als wir“, erinnert sich Stangeland. „Unsere Ressourcen erlaubten es uns eigentlich gar nicht, in der ersten Liga mitzuspielen, aber das war uns egal.“ Die Rivalität mit den Städtern aus Stavanger und deren Vorzeigeklub Viking war für Bryne stets die zentrale Motivation. Viking hatte immer eine bedeutende Rolle im norwegischen Fußball gespielt. Nach dem Gewinn der nationalen Meisterschaft 1958 – in der damals Hovedserien genannten Liga – und den Pokalsiegen 1953 und 1959 erlebte der Verein in den 1970er-Jahren sein goldenes Zeitalter: Zwischen 1972 und 1974 wurde er viermal in Folge norwegischer Meister, bevor er 1979 sogar das Double aus Meisterschaft und Pokalsieg feiern konnte. Bryne mag zwar Jærens inoffizielle Hauptstadt gewesen sein, rein demografisch betrachtet war es allerdings nur eine Kleinstadt mit gerade mal ein paar Tausend Einwohnern. Mit einem der größten norwegischen Fußballvereine konkurrieren zu wollen, war für Bryne ein im wahrsten Sinne des Wortes sportliches Ansinnen. „Die Entfernung zwischen Bryne und Stavanger ist genau richtig“, meint Stangeland. „Man erhält viele Impulse aus der Stadt, aber anders als die vielen Ortschaften rund um Stavanger mussten wir nicht fürchten, all unsere besten Spieler an den Großstadtklub zu verlieren. Ich glaube, das hat viel ausgemacht.“

Bryne schaffte es, sich von 1976 bis 1987 in der ersten Liga zu halten. Und bemerkenswerterweise wurde die Mannschaft 1980 und 1982 sogar Vizemeister. Dank der hohen Popularität, die der Fußball in der Gegend ohnehin schon genoss, wurde der Verein dadurch zu einem wichtigen gesellschaftlichen Fixpunkt, sowohl in Bryne als auch in den umliegenden Ortschaften. „In den 1980er-Jahren hatte Bryne gerade mal fünf- bis sechstausend Einwohner“, erinnert sich Stangeland, der von 1981 bis 1987 das Amt des Vereinspräsidenten bekleidete.

Wenn wir bei einem Heimspiel einmal weniger als 5000 Zuschauer hatten, galt das als schlecht besucht. Jemand meinte einmal, dass man bei einem Interesse ähnlichen Ausmaßes in Oslo dort ein mehrere Hunderttausend Zuschauer fassendes Stadion gebraucht hätte.

Jedem lag der Verein am Herzen, und dass ihre Mannschaft in der ersten Liga spielte, erfüllte eine Kleinstadt natürlich mit großem Stolz.

Auf dem Spielfeld war es Gabriel Høyland, der zeigte, wohin der Weg führte. Er stand 1972 als 17-Jähriger erstmals für Bryne auf dem Platz, und 1974 wurde er als erster Spieler aus Bryne in die norwegische Nationalmannschaft berufen. Im Verlauf seiner Karriere erhielt er immer wieder Angebote von größeren Vereinen, sowohl aus Norwegen als auch aus dem Ausland. Er lehnte sie allesamt ab und bestritt unglaubliche 596 Spiele für Bryne sowie 23 Länderspiele für Norwegen, bevor er seine Karriere 1986 beendete. Heute nennt ihn jeder nur noch „Mr. Bryne“. Høyland war ein gewandter Stürmer, dem es weder an Talent noch einem ausgeprägten Torjägerinstinkt fehlte – eine Art norwegischer Kevin Keegan, wenn Keegan das Fußballspielen und die Arbeit auf dem familieneigenen Bauernhof unter einen Hut gebracht hätte. Man verglich ihn auch mit dem legendären englischen Profi Glenn Hoddle, und tatsächlich gelang es ihm, mit diesem 1980 nach dem Spiel Norwegen gegen England in Wembley sein Trikot zu tauschen, auch wenn er bei diesem Match nicht eingewechselt worden war. „Man sagte immer, sein Stil sei meinem nicht unähnlich“, erzählte Høyland im Mai 2022 in einem Interview mit dem Telegraph.

Høyland ist übrigens ein leidenschaftlicher Fan des FC Burnley. Denn es ist nicht ungewöhnlich, dass norwegische Fußballfans neben ihrem Lieblingsteam aus der Heimat auch einen englischen Lieblingsverein haben, mit dem sie mitfiebern. Schon Jahrzehnte bevor sich die Premier League zu einem global vermarkteten Sport- und Medienphänomen entwickelte, wurden Spiele der damaligen First Division regelmäßig im norwegischen Fernsehen übertragen. Angefangen hatte das 1969, als es in Norwegen nach wie vor nur einen Fernsehsender gab. Seinerzeit wurden die englischen Partien um 16 Uhr norwegischer Zeit angepfiffen, und damit genau zu der Zeit, zu der die Menschen ins Wochenende starteten oder sich auf ein ausgelassenes Treiben am Samstagabend vorbereiteten. Belastbare Statistiken zu den tatsächlichen Zuschauerzahlen gibt es nicht, aber man schätzt, dass weit über eine Million Menschen diese Spiele regelmäßig verfolgten, was etwa einem Viertel der damaligen norwegischen Bevölkerung entspricht. Das führte dazu, dass viele Norweger eine enge Verbindung zum englischen Fußball entwickelten und sich einen eigenen Lieblingsverein herauspickten. Das galt für aufstrebende Fußballer ebenso wie für Otto Normalverbraucher. Kjetil Rekdal zum Beispiel, der in 83 Länderspielen für Norwegen auflief und bei den Weltmeisterschaften 1994 und 1998 auch als Torschütze glänzte, ist ein Anhänger von Leeds United. Und Brynes Vereinslegende Høyland ist eben bekennender Burnley-Fan: Irgendwann hatten die Clarets sein Interesse geweckt, und als Fan blieb er den „Weinroten“ immer treu. „In den 70er-Jahren brachte ich immer, wenn Burnley spielte, ein Radio mit zum Training oder zu den Spielen“, erzählte er 2003 im Interview mit Norwegens öffentlich-rechtlichem Rundfunksender NRK.

Britische Einflüsse auf die Mannschaft aus Bryne gab es während ihrer Glanzzeit allerdings nicht nur aufgrund der Begeisterung einiger Spieler für englische Fußballklubs. Von 1977 bis 1979 trainierte den Bryne FK der aus Stavanger stammende Kjell Schou-Andreassen, der zuvor mit Viking die Meisterschaft gewonnen hatte und auch bereits norwegischer Nationaltrainer gewesen war. Als Nachfolger für den hoch geschätzten Schou-Andreassen holte Bryne den Briten Brian Green nach Norwegen. Green, der zuvor bereits Rochdale und die australische Nationalmannschaft trainiert hatte, erfreute sich in Bryne großer Beliebtheit. In ihrer Vereinschronik erzählen Thu und Stangeland davon, wie „der joviale Brian Green zu einer geschätzten Persönlichkeit in der Stadt wurde, einer Stadt mit damals nicht mehr als 5000 Einwohnern. Er sprach mit jedem, und jeder sprach mit ihm.“ Die Leute luden ihn zum Essen ein, und Green nahm die Einladungen gern an, ganz gleich, ob er die Leute kannte oder nicht. „In den Geschäften bezauberte er das Personal mit seinen Versuchen, Norwegisch zu sprechen, was ihm gelegentlich Rabatte einbrachte und teils sogar dazu führte, dass er überhaupt nichts bezahlen musste.“ Schou-Andreassen war ein guter Trainer gewesen, aber der so unbekümmerte und umgängliche Green schien das Potenzial der Mannschaft noch besser zur Entfaltung zu bringen. Während des Trainings ging es lockerer zu, und die Mannschaftsbesprechungen fielen kürzer aus. 1980 und 1982 wurde das Team unter seiner Ägide dann norwegischer Vizemeister. Nach der Saison 1982 verließ Green den Verein. Bryne hielt sich noch bis zum Abstieg 1988 in der ersten Liga. Den Höhepunkt der Vereinsgeschichte markiert der Pokalsieg 1987. Tausende Bryne-Fans strömten zum Finale nach Oslo und gaben Grund zu der Annahme, dass tatsächlich die gesamte Stadt angereist sei. Ganz gleich, wo sich die Gästefans aus Bryne an diesem Wochenende in Oslo herumtrieben, überall stießen sie auf Freunde, Nachbarn und Kollegen. Das Spiel selbst ging in die Verlängerung und wurde schließlich durch ein Tor von Kolbjørn Ekker zu Brynes Gunsten entschieden. Es ist der einzige große Titel, den der Verein je geholt hat.

Wie die meisten Vereine – insbesondere die kleineren aus kleineren Ortschaften – sah sich auch Bryne immer wieder mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert. Es war ein ständiger Kampf, die nötigen Mittel aufzubringen, allerdings hat der Klub in dieser Hinsicht immer großen Einfallsreichtum bewiesen. „Bis ins Jahr 1970 hat sich der Verein in der Hauptsache über den Tanzsaal finanziert“, sagt Kjell Olav Stangeland lachend. Anfang der 1960er-Jahre errichteten freiwillige Helfer eine massive Holzterrasse in der Nähe des Stadions, damit der Verein dort Tanzveranstaltungen abhalten konnte. Um diese Fläche auch über die Sommermonate hinaus nutzen zu können, wurden kurz darauf noch vier Wände daneben hochgezogen und ein Dach daraufgesetzt. Planen, wie man die alte Halle nannte, wurde anschließend nicht nur als Tanzsaal, sondern auch als Trainingshalle genutzt.

In der ersten Hälfte der [1960er-Jahre] wurde samstags und sonntags im Planen getanzt. An Samstagen – man stelle sich das mal vor – vergnügten sich dort manchmal bis zu 2000 Personen. Im Saal selbst war gar nicht genug Platz für so viele Menschen. Wer damals legal Bier trinken wollte, musste in den Norden bis nach Sandnes fahren. In Bryne wurde kein Alkohol ausgeschenkt, bis 1977 das Hotel eröffnete. Die Leute trugen ihre Drinks daher heimlich in ihren Innentaschen mit sich herum. Währenddessen patrouillierten zwei bis vier Polizisten auf dem Gelände, die versuchten, die Leute zu erwischen und die Flaschen auszuschütten. Unweigerlich kam es auch zu Schlägereien. So war das damals. Die Einnahmen gingen alle an den Verein. Bei so vielen Leuten kam dabei gut was zusammen, auch wenn der Eintritt nur drei Kronen kostete.

Die Tanzveranstaltungen wurden irgendwann eingestellt, aber das Gebäude wurde weiterhin genutzt, bis es im Frühjahr 2001 abbrannte. Generationen von Kindern aus Bryne verbrachten etliche kalte Wintertage damit, auf den alten Holzbohlen, die mit den Jahren zunehmend krumm und schief geworden waren, Fußball zu spielen. Zu kurz geratene Pässe kamen irgendwo an, wo es niemand erwartet hatte, während der Wind durch die rissigen alten Wände pfiff. Die Halle wurde ein Opfer von Brandstiftung, doch der Täter konnte nie ermittelt werden. Ein paar Jahre später wurde an gleicher Stelle eine größere, modernere Halle errichtet. Zwei Jahrzehnte darauf strömten Journalisten und Reporter aus aller Welt in diese Sporthalle, um über die Kinder zu berichten, die dort trainierten. Für eines dieser Kinder interessierten sie sich ganz besonders.

1983 rief der Verein eine Marketingabteilung ins Leben, um den Klub besser zu vermarkten. Einer der Bewerber auf die neue geschaffene Stelle war ein gewisser Rune Hauge, der zu jener Zeit für den 1. FC Nürnberg arbeitete. Hauge stammte gebürtig aus Voss, einem Ort in der westlichen Gebirgsregion Norwegens. Er war nach Deutschland gegangen, um dort BWL zu studieren, und soll einem Artikel der norwegischen Zeitung VG zufolge mehrere Vorstandsmitglieder des 1. FC Nürnberg beim Bridge kennengelernt haben. Hauge war und ist in der Tat ein hervorragender Bridgespieler. Bei den Klubberen arbeitete er zunächst als Dolmetscher, wurde später dann zum Assistenztrainer befördert und war auch an einigen Transfergeschäften des Vereins beteiligt. Hauge wollte jedoch nach Norwegen zurückkehren, und so kam es, dass er der Marketingleiter des Bryne FK wurde. Unter ihm verdoppelten sich die nicht durch den Sport generierten Einnahmen des Klubs innerhalb eines Jahres.

„Er brachte Impulse und Ideen aus dem deutschen Fußball mit und war in vielerlei Hinsicht ziemlich wild“, erzählt damalige Vereinspräsident Stangeland. „Er hatte wenig Berührungsängste und viele Ideen.“ Zeitweise hatte der Verein während Hauges Zeit als Marketingchef die höchsten Sponsoringeinnahmen in der gesamten ersten Liga.

Das kleine Bryne hatte mehr Einnahmen durch Sponsoring als die Großstadtvereine. Wir waren ihnen dank Rune Hauge weit voraus. Es hieß, Brynes Ladenbesitzer würden Reißaus nehmen, sobald sie ihn die Straße entlangkommen sahen. Es fiel ihnen schwer, ihm etwas abzuschlagen.

Stangeland lacht: „Von ihnen kamen tatsächlich nur kleine Summen. Aber mit dem Trikotsponsoring nahmen wir mehrere Hunderttausend ein, und das zu einer Zeit, als andere Vereine mit Trikotsponsoring kaum Geld verdienten.“ Der Klub renovierte seine Haupttribüne und führte den ersten VIP-Bereich in Norwegen ein, einen überdachten Abschnitt, wo ortsansässige Sponsoren die Spiele der Mannschaft gut geschützt vor dem unbeständigen Jæren-Wetter verfolgen konnten. Zu den weiteren von Hauge erschlossenen Einnahmequellen gehörte ein Sponsoring-Deal mit einem ortsansässigen Landmaschinenhersteller, der in der Halbzeitpause Traktoren und andere landwirtschaftliche Geräte entlang der Stadionlaufbahn ausstellte. Das kam bei den Fans und besonders beim Stadionsprecher, der die komplizierten Gerätespezifikationen vorlesen musste, jedoch nicht besonders gut an. Später ging der Verein dazu über, in den Halbzeitpausen ein Unterhaltungsprogramm zu veranstalten, an dem regionale und teils auch landesweit bekannte Prominente teilnahmen. Einmal stand sogar ein berühmtes Rennpferd im Mittelpunkt der Halbzeitshow. Allerdings störte sich daran der örtliche Leichtathletikverein, der befürchtete, dass sich seine Sportler durch die auf der Laufbahn hinterlassenen Pferdeäpfel Infektionen einfangen könnten. Hauge bewies ein außergewöhnliches Talent dafür, Gelder für den Verein zu generieren. Letztendlich wurde Bryne für ihn zum Sprungbrett für eine noch weit einträglichere Karriere als Spielervermittler. Als solcher war er in den 1990er-Jahren in England ebenso erfolgreich wie berüchtigt. Später verlegte er sich auf den Handel mit Medienrechten. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass er auch in diesem Metier ein Vermögen verdiente. Doch alles begann in Bryne, und bei einem seiner ersten Transfergeschäfte mit einem englischen Klub ging es auch um einen Spieler aus Bryne.

Im Jahr 1991 hatte der Verein in seinen Reihen nicht weniger als sechs Nachwuchsspieler, die in ihren jeweiligen Altersgruppen als Nationalspieler für Norwegen aufliefen. Einer von ihnen war Geir Atle Undheim, der später fast 300 Spiele für Bryne bestritt und dem Verein kurz nach der Jahrtausendwende zum Wiederaufstieg in die erste Liga verhalf. Eines der anderen jungen Talente war Jan Ove Ottesen, der später zwar nicht als Fußballer reüssierte, dafür jedoch die Band Kaizers Orchestra gründete. Die New York Times bezeichnete den Sound dieser Formation 2013 als „eigenwillige Mischung aus skandinavischen und osteuropäischen Folk-Einflüssen, gefiltert durch kraftvolle Blues- und Metal-Klänge“. Sehr zur Verblüffung der restlichen norwegischen Musikindustrie mauserte sich Kaizers Orchestra zu einer der erfolgreichsten norwegischen Bands der frühen 2000er-Jahre. Von allen Erfolgsgeschichten aus der Region ist diese gewiss die ungewöhnlichste. Aber auch hier gibt es eine enge Verbindung zum Fußball, denn Jan Ove Ottesen kickte nicht nur selbst, er ist auch der Sohn von Rune Ottesen, der im Verlauf seiner Karriere insgesamt 17 Länderspiele für Norwegen bestritt und in den späten 1970er-Jahren das Team in Bryne verstärkte. Der vielversprechendste junge Spieler bei Bryne war Anfang der 1990er-Jahre allerdings keiner der bereits genannten, sondern ein schneller, zweikampfstarker Verteidiger mit strahlend blauen Augen und hellblondem Haar. Sein Name war Alf-Inge Håland.

Alfie

Mit nur 19 Jahren war Alf-Inge Håland – der seinen Namen später offiziell in Haaland abändern ließ – bereits Kapitän bei Bryne und einer der wichtigsten Spieler im Team. Vor ihm hatte schon sein Vater Astor, der später Rektor der örtlichen Sekundarschule wurde, für Bryne gespielt. Aber nicht nur die Kapitänsbinde trug er in so jungen Jahren, auch hatte er bereits eine Kolumne in der Lokalzeitung, in der er aus Spielersicht über der Entwicklung der Mannschaft berichtete. Oder auch über die Stagnation im Verein. Denn obschon man immer wieder vielversprechende junge Spieler hervorbrachte, dümpelte Bryne seit Jahren in der zweiten Liga herum. Dass ein Fußballer, der so viel Talent und Ehrgeiz mitbrachte wie Alfie Haaland, sich irgendwann woanders umschauen musste, war unausweichlich. Am 13. Oktober 1992 trat die norwegische U21-Auswahl in Peterborough gegen England an. Die Engländer hatten künftige Stars wie Ray Parlour, Steve McManaman und Lee Clark in ihren Reihen. Dennoch gewann Norwegen mit 2:1, das unter ihrem Kapitän Haaland ein brillantes Spiel machte; Haaland erzielt dabei selbst ein Tor. Nottingham Forest, damals noch unter Trainer Brian Clough, streckt daraufhin seine Fühler nach dem jungen Norweger aus, und noch im selben Monat wurde der Transfer vollzogen, eingefädelt im Übrigen von niemand anderem als Rune Hauge.

Weil es allerdings Schwierigkeiten mit der Beschaffung einer Arbeitserlaubnis für ihn gab, konnte Haaland seinen Wechsel zu Nottingham Forest erst ein Jahr später vollziehen. Und da sich die Fußballsaison in Norwegen aufgrund der Witterungsverhältnisse nur über die warme Jahreshälfte erstreckt – von Frühling bis Spätherbst – bedeutete dies, dass Haaland eine weitere Saison für Bryne spielte. Die Mannschaft verpasste den direkten Aufstieg in dieser Spielzeit nur um vier Punkte und scheiterte anschließend in der Relegation. Im Sommer 1993 führte Haaland als Kapitän die norwegische U21 erneut gegen England aufs Feld. Diesmal zählten unter anderem Andy Cole, Jamie Redknapp und Darren Anderton zu seinen Gegnern. Die Partie wurde in Stavanger ausgetragen und endete mit einem 1:1, wobei Andy Cole für England und Egil Østenstad für Norwegen traf. Østenstad, der später zum FC Southampton und den Blackburn Rovers wechselte, spielte damals noch für Viking und dürfte sich sehr gefreut haben, im eigenen Stadion ein Tor gegen die starken Engländer erzielt zu haben.

Als Alfie Haaland endlich zu Nottingham Forest kam, war der Verein aus der Premier League abgestiegen und Brian Clough hatte sich zur Ruhe gesetzt. Haaland gab sein Debüt für die Engländer bei einem Spiel gegen Leicester City am 6. Februar 1994, und er war nicht der einzige Norweger bei Forest: Im November war bereits der Mittelfeldspieler Lars Bohinen zu dem Klub gestoßen.

„Wir waren damals so etwas wie Pioniere“, erzählte Bohinen im Juni 2023 in einem Gespräch mit dem Guardian. „Wir haben keine große Welle gemacht, sondern uns immer professionell verhalten und gute Leistungen gebracht. Ich glaube, deshalb waren wir Norweger in England so erfolgreich.“ Haaland und Bohinen waren tatsächlich so etwas wie Vorreiter, denn im Laufe der 90er-Jahre kamen immer mehr norwegische Profis auf die Insel. In der Saison 1997/98 spielten insgesamt 23 Norweger in der Premier League. Die meisten waren wie Haaland von Rune Hauge vermittelt worden. Norwegische Spieler haben in den 1990er-Jahren perfekt zum englischen Fußball gepasst. „Wir konnten gut Fußball spielen, aber vor allem konnten wir uns schnell anpassen“, sagt Bohinen. Ihren Erfolg bei Nottingham Forest verdankten er und Alfie Haaland nicht zuletzt ihrer Mentalität. „Bei uns in Norwegen wurde harte Arbeit großgeschrieben. Ich glaube, das war der Hauptgrund für unseren Erfolg, denn die englischen Spieler hatten damals eine etwas laxere Einstellung.“ Nils Johan Semb, der in den 1990er-Jahren zunächst Assistenztrainer der norwegischen Nationalmannschaft und von 1998 bis 2003 deren Cheftrainer war, nannte in einem Interview mit der Aftenposten 2014 die beiden Gründe für die Beliebtheit norwegischer Profis in England: „Gute Einstellung. Geringe Kosten.“

Falls Einstellung und Einsatzbereitschaft tatsächlich die wichtigsten Eigenschaften waren, die norwegische Spieler in den 1990er-Jahren in der Premier League ausgezeichnet haben, dann ist Alfie Haaland das beste Beispiel für einen idealen Spieler. Haaland hatte als Innenverteidiger begonnen, spielte in der Nationalelf bei der WM 1994 jedoch auf der Rechtsverteidigerposition. Er stand beim Sieg gegen Mexiko wie gegen Italien (das Spiel verlor Norwegen) in der Startelf, sah in beiden Spielen Gelb. Beim Entscheidungsspiel gegen die (von Jack Charlton) trainierten Iren saß er auf der Bank. Nach seinem Wechsel in die Premier League wurde er zunächst als Verteidiger eingesetzt, glänzte bald aber im Mittelfeld, wo er sich mit Aggressivität und Zweikampfstärke einen Namen machte. Fußball wurde damals noch ganz anders gespielt und gepfiffen, und Haaland gehörte einer Generation an, die mit allem, was sie hatten, zu Werke gingen, ohne viel Fragen zu stellen oder zu jammern. Dank seiner Spielweise, seines unermüdlichen Einsatzes und seiner vorbildlichen Einstellung auf dem Platz wurde er zu einem Fanliebling. Im Sommer 1997 wechselte er zu Leeds United, wo er in seinen ersten beiden Spielzeiten an der Elland Road als Stammspieler gesetzt war. In seiner dritten Saison für den Klub saß öfter nur auf der Bank. Im Sommer 2000 holte ihn Joe Royle zu Manchester City, das gerade erst wieder in die Premier League aufgestiegen war. „Alfie ist ein fantastischer Fußballer und ein großartiger Sportler“, begründete Royle die Verpflichtung. Haaland stand in dieser Saison 35-mal in der Startelf und zeigte solide Leistungen, dennoch war City insgesamt zu schwach und stieg nach dem Ende der Spielzeit wieder in die zweite Liga ab. Das ist es jedoch nicht, was den meisten Leuten aus Haalands Zeit bei Manchester City in Erinnerung geblieben ist.

„Als Gegner war er ein absolutes Arschloch. Dauernd am Meckern und Diskutieren, hinterfotzig“, erzählte Roy Keane in seiner 2014 erschienenen Autobiografie The Second Half