Hab acht auf meine Schritte - Mary Higgins Clark - E-Book

Hab acht auf meine Schritte E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Bei einem schrecklichen Unfall tötet die kleine Liza Barton aus Versehen ihre eigene Mutter. 24 Jahre später kehrt sie an den Ort des Geschehens zurück und erkennt langsam, dass hinter dem angeblichen Unfall von damals der perfide Plan eines Mörders steckte. Und plötzlich ist ihr eigenes Leben in Gefahr.

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Seitenzahl: 565

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Das Buch

Als Lizas Mutter von ihrem Ex-Mann tätlich angegriffen wird, eilt das zehnjährige Mädchen zitternd mit einem Revolver herbei, um ihr zu helfen. Doch im Tumult unterläuft ihr ein fürchterlicher Fehler: Sie erschießt ihre eigene Mutter und wird zur Waise.

24 Jahre später wird Liza, die sich jetzt Celia nennt, von ihrem Kindheitstrauma eingeholt. Als sie mit ihrem Mann in den Ort ihrer Kindheit zieht, beginnen sich bei ihr langsam Erinnerungslücken zu schließen und erschüttert stellt sie fest, dass der Tod der Mutter mehr als ein tragischer Unfall war. Aber die Zeit arbeitet gegen sie, denn offensichtlich kennt jemand aus dem Ort ihre wahre Identität, und setzt alles daran, ihr Panik einzuflößen – und sie endgültig aus dem Weg zu räumen.

Die Autorin

Mary Higgins Clark, geboren in New York, gilt als eine der erfolgreichsten und meistgelesenen Thrillerautorinnen der Welt. Ihre Bücher führen regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und haben allein in den USA eine Gesamtauflage von über 80 Millionen Exemplaren erzielt. Ihre große Stärke sind ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Viele ihrer Thriller wurden für das Fernsehen verfilmt. Die Autorin lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinWidmungPROLOG1 - Vierundzwanzig Jahre späterKapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Copyright

Annie Tryon Adams,dem heiteren Geist, der lieben Freundinin froher Erinnerung

Lizzie Borden mit dem Beile Hackt Mama in vierzig Teile. Das Ergebnis freut sie sehr, Bei Papa wird’s ein Teil mehr.

PROLOG

DIE ZEHN JAHRE ALTE Liza träumte gerade ihren Lieblingstraum: von jenem Tag, als sie, sechs Jahre alt, mit ihrem Daddy in Spring Lake am Strand gewesen war. Sie standen im Wasser, hielten sich an den Händen und sprangen zusammen hoch, wenn sich vor ihnen eine Welle brach. Dann aber rollte plötzlich eine viel größere Welle heran und türmte sich über ihren Köpfen auf, und Daddy umklammerte ihre Hand. »Halt dich fest, Liza«, brüllte er, und im nächsten Augenblick drückte die Welle sie unter Wasser und riss sie mit sich. Liza hatte entsetzliche Angst.

Sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl, als die Welle sie auf den Strand spülte und sie mit der Stirn auf den Sand prallte. Sie hatte Wasser geschluckt und hustete, ihre Augen brannten und sie weinte, aber dann nahm Daddy sie auf den Schoß. »Puh, war das eine Welle!«, sagte er und wischte ihr den Sand aus dem Gesicht. »Aber wir beide haben sie ausgetrickst, was, Liza?«

Das war der schönste Teil des Traums – als Daddy sie fest in seinen Armen hielt und sie sich geborgen fühlte.

Noch bevor es wieder Sommer wurde, war Daddy gestorben. Danach hatte sie sich nie mehr wirklich geborgen gefühlt. Und jetzt war sie ständig in Angst, weil Mom ihren Stiefvater Ted gezwungen hatte, aus dem Haus auszuziehen. Ted wollte die Scheidung nicht, und ständig bedrängte er Mom, ihn wieder zurückkommen zu lassen. Liza wusste, dass sie nicht die Einzige war, die Angst hatte; Mom hatte auch Angst.

Liza versuchte nicht hinzuhören. Sie wollte wieder in den Traum zurückkehren und in Daddys Armen sein, aber die Stimmen weckten sie immer wieder auf.

Jemand weinte und schrie. Hatte sie gehört, wie Mom Daddys Namen rief? Was hatte sie gesagt? Liza setzte sich auf und schlüpfte aus dem Bett.

Mom ließ immer die Tür zu Lizas Schlafzimmer einen Spalt offen, damit sie das Licht im Flur sehen konnte. Und bevor sie Ted geheiratet hatte, im letzten Jahr, hatte sie zu Liza gesagt, wenn sie aufwache und sich einsam fühle, könne sie jederzeit zu ihr ins Zimmer kommen und in ihrem Bett schlafen. Aber nachdem Ted eingezogen war, hatte sie nie wieder mit ihrer Mutter in einem Bett geschlafen.

Es war Teds Stimme, die sie jetzt hörte. Er brüllte Mom an, und Mom schrie: »Lass mich los!«

Liza wusste, dass Mom große Angst vor Ted hatte, und dass sie sogar Daddys Pistole in der Schublade ihres Nachttisches aufbewahrte, seit er ausgezogen war. Liza hastete den Flur hinunter, ihre Füße huschten geräuschlos über den weichen Teppichboden. Die Tür zu Moms Wohnzimmer stand offen, und sie sah, dass Ted Mom gegen die Wand gedrückt hatte und sie schüttelte. Liza rannte am Wohnzimmer vorbei und geradewegs in Moms Schlafzimmer. Sie hastete zum Nachttisch neben dem Bett und riss die Schublade auf. Zitternd nahm sie die Waffe in die Hand und rannte zurück zum Wohnzimmer.

In der Tür blieb sie stehen, richtete die Waffe auf Ted und schrie: »Lass meine Mutter los!«

Ted wirbelte herum, ohne Mom loszulassen. Seine Augen waren weit aufgerissen und voller Wut. An seinen Schläfen traten die Adern hervor. Liza sah, dass ihrer Mutter Tränen über die Wangen liefen.

»Bitte sehr!«, brüllte er. Und damit versetzte er Lizas Mutter einen heftigen Stoß in ihre Richtung. Als sie gegen Liza prallte, löste sich ein Schuss. Liza hörte einen komischen leisen Gurgellaut, und Mom brach auf dem Boden zusammen. Liza sah auf ihre Mutter hinab, dann auf Ted. Er wollte sich gerade auf sie stürzen, da hob sie die Pistole und drückte den Abzug. Sie drückte wieder und wieder, bis er stürzte und auf sie zuzukriechen begann, um ihr die Waffe zu entreißen. Als kein Schuss mehr kam, ließ sie die Waffe fallen, sank auf den Boden und umarmte ihre Mutter. Nichts war zu hören, und da wusste sie, dass ihre Mutter tot war.

An alles, was danach geschah, konnte sich Liza nur verschwommen erinnern. Sie wusste noch, dass Ted mit irgendwem am Telefon gesprochen hatte, dass die Polizei gekommen war und jemand ihre Arme vom Hals ihrer Mutter gelöst hatte.

Man hatte sie fortgebracht, ohne dass sie ihre Mutter je wieder gesehen hätte.

1

Vierundzwanzig Jahre später

ES IST UNFASSBAR, ABER ich stehe genau auf demselben Fleck, auf dem ich damals stand, als ich meine Mutter erschossen habe. Ich frage mich, ob ich dies wirklich erlebe, oder ob es nur zu einem Albtraum gehört. In der ersten Zeit nach dieser furchtbaren Nacht hatte ich andauernd Albträume. Einen großen Teil meiner Kindheit habe ich damit verbracht, Bilder von diesen Träumen für Dr. Moran zu malen, einen Psychologen in Kalifornien, wo ich nach dem Prozess gelebt habe. Dieses Zimmer kam in vielen dieser Zeichnungen vor.

Der Spiegel über dem offenen Kamin ist noch derselbe, den ein Vater ausgesucht hat, als er das Haus einrichten ließ. Er wurde in die Wand eingelassen und mit einem Rahmen versehen. Ich erblicke mein Spiegelbild darin. Mein Gesicht ist leichenblass. Meine Augen wirken nicht mehr dunkelblau, sondern schwarz, in ihnen scheinen sich alle schrecklichen Visionen zu spiegeln, die aus meiner Erinnerung auftauchen.

Die Augenfarbe habe ich von meinem Vater geerbt. Die Augen meiner Mutter waren heller, saphirblau, sie passten perfekt zu ihren goldblonden Haaren. Ich selbst wäre aschblond, wenn meine Haare noch ihre natürliche Farbe hätten. Ich lasse sie jedoch dunkler färben, seitdem ich vor sechzehn Jahren an die Ostküste zurückgekehrt bin, um die Hochschule für Design in Manhattan zu besuchen. Außerdem bin ich zehn Zentimeter größer als meine Mutter. Trotzdem, mit zunehmendem Alter werde ich ihr äußerlich in vielerlei Hinsicht immer ähnlicher, und ich bemühe mich, diese Ähnlichkeit so weit wie möglich zu kaschieren. Ich habe immer mit der Angst gelebt, jemand könnte zu mir sagen: »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor …« Damals war das Bild meiner Mutter durch alle Medien gegangen, und gelegentlich taucht es immer noch auf, wenn die Geschichte um ihren Tod wieder aufgewärmt wird. Wenn also jemand zu mir sagt, ich käme ihm bekannt vor, weiß ich, dass es ihr Bild ist, das er im Kopf hat. Ich dagegen, Celia Foster Nolan, ehemals Liza Barton, jenes Kind, das von der Boulevardpresse »Little Lizzie Borden« getauft wurde, würde wohl kaum als das pausbäckige Mädchen mit den goldenen Locken wiedererkannt werden, das damals von der Anklage des vorsätzlichen Mordes an seiner Mutter sowie des Mordversuchs an seinem Stiefvater freigesprochen – wenn auch nicht entlastet – worden war.

Mein zweiter Ehemann, Alex Nolan, und ich sind jetzt seit einem halben Jahr verheiratet. Wir wollten heute eigentlich mit meinem vierjährigen Sohn Jack zu einem Reitturnier in Peapack, einer vornehmen Ortschaft im Norden New Jerseys, aber auf einmal ist Alex Richtung Mendham gefahren, einer benachbarten Stadt. Erst dann hat er mir verraten, dass er eine wunderbare Überraschung zu meinem Geburtstag habe, und ist in die Straße eingebogen, die zu diesem Haus führt. Alex hat den Wagen geparkt, und wir sind eingetreten.

Jack zieht mich an der Hand, aber ich bleibe wie angewurzelt stehen. Er ist voller Tatendrang und möchte, wie die meisten Vierjährigen, alles erkunden. Ich lasse ihn los, und im Nu läuft er aus dem Zimmer und rennt den Flur entlang.

Alex steht hinter mir. Ohne ihn anzusehen, spüre ich seine Aufregung. Er glaubt, dass er ein wunderschönes Zuhause für uns gefunden hat, und seine Großzügigkeit geht so weit, dass er es allein auf meinen Namen überschrieben hat, es soll sein Geburtstagsgeschenk sein. »Ich kümmere mich um Jack, Schatz«, beruhigt er mich. »Sieh du dich in Ruhe um und mach dir schon mal Gedanken, wie du alles einrichten willst.«

Als er das Zimmer verlassen hat, höre ich ihn rufen: »Geh nicht die Treppe runter, Jack. Erst müssen wir Mommy das Haus zeigen.«

»Ihr Mann hat mir gesagt, dass Sie Innenarchitektin sind«, meldet sich jetzt Henry Paley, der Makler, zu Wort. »Dieses Haus ist immer in sehr gutem Zustand gehalten worden, aber natürlich hat jede Frau den Wunsch, ihrem Heim ihren eigenen Stempel aufzudrücken, umso mehr, wenn es ihr Beruf ist.«

Noch bringe ich es nicht über mich zu antworten und blicke ihn wortlos an. Ein eher schmächtiger Mann um die sechzig, mit ausgedünntem, grauem Haar, korrekt gekleidet in einem dunkelblauen Nadelstreifenanzug. Natürlich erwartet er, dass ich mich begeistert zeige über das wundervolle Geburtstagsgeschenk, das mir mein Mann gemacht hat.

»Wie Ihr Mann Ihnen vielleicht gesagt hat, war ich selbst nicht mit dem Verkauf befasst«, erklärt Paley. »Meine Chefin, Georgette Grove, war gerade dabei, Ihrem Mann verschiedene Objekte in der Umgebung zu zeigen, als er im Vorbeifahren das Schild ›Zu verkaufen‹ auf dem Rasen entdeckte. Offenbar hat er sich sofort in das Haus verliebt. Nun, es handelt sich ja auch um ein architektonisches Schmuckstück, und außerdem steht es auf vier Hektar Grund in bester Lage, in einer der gefragtesten Gemeinden.«

Ich weiß, dass es ein Schmuckstück ist. Mein Vater war der Architekt, nach dessen Plänen das baufällige Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert restauriert und in ein bezauberndes und geräumiges Wohnhaus verwandelt wurde. Mein Blick fällt an Paley vorbei auf den offenen Kamin. Mutter und Daddy haben die Einfassung in Frankreich gefunden, in einem Schloss, das abgerissen werden sollte. Daddy hat mir damals die Bedeutung der einzelnen Ornamente erklärt, all diese Putten und Pinienzapfen und Weintrauben …

Ted, er drückt Mutter gegen die Wand …

Mutter schluchzt …

Ich richte die Waffe auf ihn. Daddys Waffe …

Lass meine Mutter los …

Bitte sehr! …

Ted reißt Mutter herum und schleudert sie gegen mich …

Mutter schaut mich mit entsetzten Augen an …

Der Schuss löst sich …

Lizzie Borden mit dem Beile …

»Ist Ihnen nicht gut, Mrs. Nolan?«, fragt Henry Paley.

»Doch, doch, natürlich«, bringe ich mit Mühe heraus. Meine Zunge fühlt sich taub an, unfähig, die Worte zu bilden. Gedanken an Larry, meinen ersten Ehemann, schwirren mir durch den Kopf, der mich hoch und heilig hatte schwören lassen, keiner Menschenseele je die Wahrheit ber mich zu verraten, nicht einmal meinem zukünftigen Ehemann, falls ich noch einmal heiraten sollte. In diesem Augenblick nehme ich Larry übel, mir dieses Versprechen abgerungen zu haben. Er war so verständnisvoll, so einfühlsam gewesen, als ich ihm vor der Hochzeit die ganze Geschichte erzählt hatte, aber am Ende hat auch er mich enttäuscht. Er schämte sich meiner Vergangenheit, er befürchtete, dass sie eine Belastung für die Zukunft unseres Sohnes sein könnte. Diese Befürchtung hat dazu geführt, dass ich jetzt hier stehe.

Die Lüge hat bereits einen Keil zwischen Alex und mich getrieben. Wir spüren es beide. Er redet davon, bald Kinder haben zu wollen, und ich frage mich, was er davon halten würde, wenn er wüsste, dass Little Lizzie Borden ihre Mutter sein würde.

Es ist vierundzwanzig Jahre her, aber solche Erinnerungen verblassen kaum. Wird irgendwer in der Stadt mich wiedererkennen? Vermutlich nicht. Ich war zwar einverstanden, in diese Gegend zu ziehen, aber ich habe mich nicht einverstanden erklärt, in diese Stadt oder gar in dieses Haus zurückzukehren. Ich kann hier nicht wohnen. Ich kann es einfach nicht.

Um Paleys neugierigen Blicken zu entkommen, gehe ich auf den Kamin zu und tue so, als ob ich ihn genauer betrachtete.

»Wunderbare Arbeit, nicht wahr?«, bemerkt Paley. In seiner leicht fistelnden Stimme klingt die professionelle Begeisterung des Immobilienmaklers durch.

»Ja.«

»Das Schlafzimmer ist sehr geräumig, und es besitzt zwei getrennte, edel ausgestattete Badezimmer.« Er öffnet die Tür zum Schlafzimmer und schaut mich erwartungsvoll an. Widerwillig folge ich ihm.

Die Erinnerungen brechen über mich herein. Die Morgen an den Wochenenden in diesem Zimmer. Ich durfte zu Mutter und Daddy ins Bett schlüpfen. Daddy brachte Kaffee für Mutter und heiße Schokolade für mich ans Bett.

Ihr großes Bett mit dem plüschigen Kopfteil ist natürlich nicht mehr da. Die früher in pfirsichfarbenem Ton gehaltenen Wände sind jetzt dunkelgrün gestrichen. Als ich einen Blick aus dem Fenster werfe, sehe ich, dass der Fächerahorn, den Daddy vor langer Zeit gepflanzt hat, inzwischen zu einem üppigen und wunderschönen Baum herangewachsen ist.

Tränen steigen mir in die Augen. Ich möchte am liebsten davonrennen. Wenn es sein muss, werde ich mein Versprechen brechen und Alex die Wahrheit über mich erzählen. Ich bin nicht Celia Foster, geborene Kellogg, die Tochter von Kathleen und Martin Kellogg aus Santa Barbara in Kalifornien. Ich bin Liza Barton, geboren in dieser Stadt und als Kind von einem Richter widerstrebend freigesprochen von der Anklage des Mordes und versuchten Mordes.

»Mom, Mom!« Ich höre die Stimme meines Sohnes und seine Schritte, die auf dem teppichlosen Parkett hallen. Er stürmt ins Zimmer, ein Energiebündel, klein und kräftig und quicklebendig, und mein Herz macht einen Sprung. Nachts schleiche ich mich manchmal in sein Zimmer und lausche auf das Geräusch seiner gleichmäßigen Atemzüge. Er interessiert sich nicht für das, was vor langer Zeit geschehen ist. Es genügt ihm, wenn ich zur Stelle bin, wenn er nach mir ruft.

Er läuft auf mich zu, und ich beuge mich hinunter und fange ihn in meinen Armen auf. Jack hat die hellbraunen Haare und die hohe Stirn von Larry geerbt. Seine wunderschönen blauen Augen sind die meiner Mutter, obwohl Larry auch blaue Augen hatte. Ganz zum Schluss, kurz bevor er das Bewusstsein verlor, hatte Larry geflüstert, er wolle nicht, dass Jack mit den alten Geschichten über mich konfrontiert würde, wenn er auf die Schule käme. Noch heute schmecke ich die Bitterkeit, die mich überkam, als ich mir eingestehen musste, dass sein Vater sich für mich schämte.

Ted Cartwright beteuert, dass seine Frau ihn um Versöhnung gebeten hat …

Ein psychiatrisches Gutachten bestätigt, dass die zehnjährige Liza Barton seelisch reif genug war, um einen vorsätzlichen Mord zu begehen …

Hatte Larry das Recht, mir dieses Schweigen aufzuerlegen? In diesem Augenblick weiß ich es nicht mehr mit Gewissheit. Ich küsse Jack auf den Kopf.

»Ich finde es ganz, ganz toll hier«, erzählt er aufgeregt.

Alex betritt das Schlafzimmer. Er hat diese Überraschung für mich so sorgfältig vorbereitet. Als wir die Auffahrt erreichten, sah ich, dass sie mit Geburtstagsballons geschmückt worden war, die in der Augustbrise hin und her schwankten – alle mit meinem Namen und der Aufschrift »Happy Birthday« versehen. Aber die überbordende Freude, mit der er mir die Schlüssel und die Besitzurkunde für das Has überreicht hat, ist verschwunden. Er kennt mich zu gut. Er weiß, dass ich mich nicht freue. Er ist enttäuscht und verletzt, und das ist nur zu verständlich.

»Als ich den Leuten im Büro davon erzählt habe, haben einige Frauen eingewendet, egal wie schön das Haus sei, sie selbst würden doch lieber die Möglichkeit haben, bei der Auswahl ein Wörtchen mitzureden«, sagt er ernüchtert.

Und sie haben Recht, denke ich, während ich ihn ansehe, seine rötlich-braunen Haare und seine braunen Augen. Groß gewachsen und breitschultrig strahlt Alex eine Stärke aus, die ihn sehr attraktiv macht. Jack ist ganz verrückt nach ihm. Jetzt windet er sich aus meinen Armen und umklammert Alex’ Bein.

Mein Mann und mein Sohn.

Und mein Haus.

2

DIE IMMOBILIENAGENTUR GROVE befand sich an der East Main Street in Mendham, einer der attraktiveren Gemeinden New Jerseys. Georgett Grove parkte ihren Wagen vor dem Eingang und stieg aus. Es war ungewöhnlich kühl an diesem Augusttag, und die schweren Wolken sahen bedrohlich nach Regen aus. Ihr kurzärmeliges Leinenkostüm war für das Wetter nicht warm genug, und sie lief mit raschen Schritten bis zur Eingangstür.

Georgette war eine gut aussehende, gertenschlanke Frau, zweiundsechzig Jahre alt, mit kurzen, gewellten, stahlgrauen Haaren, braunen Augen und einem markanten Kinn. Im Moment kämpfte sie mit widerstreitenden Gefühlen. Sie war erleichtert, wie glatt der Vertragsabschluss bei dem Haus gelaufen war, dessen Verkauf sie soeben vermittelt hatte. Es ging um eines der kleineren Häuser in der Stadt, sein Preis erreichte gerade eben einen siebenstelligen Betrag, aber obwohl sie sich die Provision mit einem anderen Makler teilen musste, war der Scheck, den sie in der Tasche trug, für sie das reinste Manna. Er verschaffte ihr eine kleine Reserve für die kommenden Monate, bis sie den nächsten Abschluss an Land ziehen könnte.

Bis jetzt war es ein katastrophales Jahr gewesen, dessen einziger Lichtblick der Verkauf des Hauses an der Old Mill Lane an Alex Nolan war. Das hatte ihr ermöglicht, einige überfällige Rechnungen zu begleichen. Sie wäre an diesem Morgen sehr gern dabei gewesen, als Nolan seiner Frau das Haus zeigen wollte. Ich hoffe nur, dass sie Überraschungen mag, dachte Georgette zum hundertsten Mal. Sie machte sich Sorgen, weil seine Idee ganz schön riskant war. Sie hatte versucht, ihn vor dem Haus zu warnen, vor seiner Geschichte, aber Nolan schien das überhaupt nicht zu kümmern. Und er hatte das Haus allein auf seine Frau übertragen lassen. Daher befürchtete Georgette, dass die Nolans, falls es seiner Frau nicht gefiel, den Kaufvertrag für ungültig erklären lassen könnten.

In New Jersey schrieb das Gesetz vor, einen interessierten Käufer ausdrücklich darauf hinzuweisen, wenn es sich bei dem Haus um ein so genanntes stigmatisiertes Objekt handelte, wenn ihm also durch irgendwelche Umstände etwas anhaftete, was auf psychologischer Ebene Widerwillen oder Ängste auslösen könnte. Nachdem manche Leute nicht in einem Haus wohnen wollten, in dem ein Verbrechen verübt worden war oder in dem sich jemand umgebracht hatte, war der Makler gehalten, einen möglichen Käufer auf eine eventuell vorhandene derartige Geschichte aufmerksam zu machen. Laut Gesetz musste der Makler sogar darüber Auskunft geben, wenn es von einem Haus hieß, dass es darin spuke.

Ich habe ja versucht, Alex Nolan darauf hinzuweisen, dass es ein tragisches Ereignis in dem Haus an der Old Mill Lane gegeben hat, dachte Georgette, als sie die Tür zum Empfangsraum ihres Büros öffnete. Aber er hatte sie nicht ausreden lassen und gesagt, seine Familie habe früher ein zweihundert Jahre altes Haus auf Cape Cod gemietet, und ihr würden die Haare zu Berge stehen, wenn sie die Geschichten über einige Menschen, die dort gelebt hätten, hören würde. Aber das hier ist etwas anderes, dachte Georgette. Ich hätte ihm sagen müssen, dass die Leute hier das Haus Little Lizzie’s Place nennen.

Sie fragte sich, ob Nolan wegen der Überraschung nicht doch nervös geworden war. Im letzten Augenblick hatte er sie gebeten, persönlich anwesend zu sein, wenn sie das Haus besichtigen würden, aber Georgette hatte ihren anderen Termin nicht mehr verschieben können. Stattdessen hatte sie Henry Paley vorgeschickt, um die Nolans zu begrüßen und etwaige Fragen von Mrs. Nolan zu beantworten. Henry war von der Idee nicht besonders angetan gewesen. Am Ende hatte sie sich gezwungen gesehen, ihn in etwas schärferem Ton zu ermahnen, nicht nur dort anwesend zu sein, sondern es auch nicht zu versäumen, die vielen Vorzüge des Hauses und des Grundstücks gebührend hervorzuheben.

Auf Nolans Wunsch hin war die Auffahrt mit Ballons geschmückt worden, alle mit der Aufschrift »Happy Birthday, Celia«. Am Vordach über dem Eingang war eine Festdekoration aus Pappmaché angebracht worden, und außerdem hatte er darum gebeten, Champagner, eine Geburtstagstorte, Gläser, Geschirr, Silberbesteck und Geburtstagsservietten bereitzustellen.

Als Georgette auf das Fehlen jeglicher Möbel im Haus hingewiesen und sich erboten hatte, einen Klapptisch und Stühle mitzubringen, war Nolan beinahe ärgerlich geworden. Er war sofort in ein nahe gelegenes Möbelgeschäft gefahren und hatte einen teuren Verandatisch mit Stühlen bestellt und den Verkäufer instruiert, die Sachen im Esszimmer aufzustellen. »Wenn wir einziehen, werden wir sie auf die Terrasse stellen, und wenn sie Celia nicht gefallen, stiften wir sie einem Wohltätigkeitsverein«, hatte er dazu bemerkt.

Fünftausend Dollar für Terrassenmöbel, und er will sie mal eben verschenken, hatte Georgette im Stillen gedacht, aber ihr war klar, dass er es ernst gemeint hatte. Gestern Nachmittag hatte er angerufen und sie gebeten, dafür zu sorgen, dass im Hauptgeschoss in jedem Zimmer ein Dutzend Rosen stünden, auch im großen Schlafzimmer. »Rosen sind Celias Lieblingsblumen«, hatte er erklärt. »Als wir geheiratet haben, habe ich ihr versprochen, dass sie nie ohne Rosen sein würde.«

Er ist reich. Er sieht gut aus. Er ist charmant. Und er ist seiner Ehefrau treu ergeben, dachte Georgette, während sie den Empfangsraum betrat und sich automatisch umblickte, ob vielleicht Kunden warteten. Wenn ich so an die Ehen denke, die ich kenne, dann muss ich sagen, sie hat wirklich das große Los gezogen.

Aber wie wird sie reagieren, wenn sie erst die Geschichte dieses Hauses erfährt?

Georgette versuchte, den Gedanken zu verdrängen. Sie besaß ein angeborenes Talent zum Verkaufen, daher war sie schnell von den Anfängen als Sekretärin und Teilzeit-Immobilienmaklerin bis zu dem Punkt aufgestiegen, an dem sie ihre eigene Firma gegründet hatte. Auf ihren Empfangsraum war sie besonders stolz. Robin Carpenter, ihre Sekretärin und Rezeptionistin , saß an einem antiken Mahagonischreibtisch rechts vom Eingang. Auf der linken Seite befand sich eine in hellen Farbtönen gehaltene Sitzgruppe, bestehend aus einem Sofa und Sesseln, die um einen Couchtisch gruppiert waren.

Dort pflegten Georgette oder Henry Videokassetten mit Aufnahmen der angebotenen Objekte zu zeigen, während die Kunden an einer Tasse Kaffee nippten, oder auch, am frühen Abend, an einem Glas Wein. Die Aufnahmen waren mit großer Sorgfalt gemacht und zeigten sämtliche Details, sowohl des Innern als auch des Äußeren sowie der näheren Umgebung.

»Es kostet sehr viel Zeit, diese Videobänder herzustellen«, pflegte Georgette ihren Kunden zu erklären, »aber im Endeffekt spare ich sehr viel Zeit, weil ich auf diese Weise Ihre Vorlieben und Abneigungen herausfinde und eine sehr gute Vorstellung davon bekomme, wonach Sie suchen.«

Man muss sie dazu bringen, sich das Haus zu wünschen, bevor sie überhaupt einen Fuß hineingesetzt haben – das war Georgettes Verkaufsstrategie. Zwanzig Jahre lang hatte es funktioniert, aber in den letzten fünf Jahren war es schwieriger geworden, weil immer mehr große Immobilienagenturen in der Gegend eröffnet hatten, deren jung-dynamische Makler sich um jedes zum Verkauf anstehende Objekt rissen.

Außer Robin war niemand im Empfangsraum zu sehen. »Wie ist es gelaufen?«, fragte sie Georgette.

»Alles glatt, dem Himmel sei Dank. Ist Henry zurück?«

»Nein, ich nehme an, dass er immer noch Champagner mit den Nolans trinkt. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ein klasse Typ schenkt seiner Frau ein klasse Haus zu ihrem vierunddreißigsten Geburtstag. Ich bin genau im selben Alter. Unglaublich, was diese Frau für ein Glück hat. Wissen Sie zufällig, ob Alex Nolan noch einen Bruder hat?«, seufzte Robin. »Andrerseits – es ist wohl ziemlich unwahrscheinlich, dass es zwei solche Männer auf der Welt gibt«, fügte sie hinzu.

»Wollen wir hoffen, dass Celia Nolan immer noch glücklich und zufrieden ist, wenn sich die Überraschung gelegt hat und sie von der Geschichte dieses Hauses erfährt«, erwiderte Georgette nervös. »Sonst sitzen wir da und haben ein echtes Problem.«

Robin wusste genau, was sie meinte. Sie war klein, zierlich und sehr hübsch, mit einem herzförmigen Gesicht und einer Schwäche für kleinmädchenhafte Kleider, und auf den ersten Blick konnte man meinen, sie sei eine dieser typischen dämlichen Blondinen. Genau das hatte auch Georgette zunächst gedacht, als sie sich vor einem Jahr für den Job beworben hatte. Doch bereits nach den ersten fünf Minuten hatte sie nicht nur ihre Meinung geändert, sondern auch Robin vom Fleck weg eingestellt und ihr Gehalt etwas höher angesetzt als ursprünglich geplant. Mittlerweile stand Robin kurz davor, ihre eigene Lizenz zu erwerben, und Georgette freute sich auf die Aussicht, sie als Maklerin zu beschäftigen. Henry war einfach sein Geld nicht mehr wert.

»Sie haben wirklich versucht, den Mann über die Geschichte des Hauses aufzuklären. Das kann ich bezeugen, Georgette.«

»Wenigstens etwas«, sagte Georgette, die sich anschickte, den Flur hinunter zu ihrem Büro im hinteren Teil des Gebäudes zu gehen. Doch dann wandte sie sich abrupt um und baute sich vor der jüngeren Frau auf. »Ich habe nur ein einziges Mal versucht, mit Alex Nolan über den Hintergrund des Hauses zu sprechen, Robin«, sagte sie mit Nachdruck. »Und das war, als ich allein mit ihm im Auto saß und wir unterwegs waren, um uns das Murray-Haus an der Moselle Road anzusehen. Sie können also gar nicht mitbekommen haben, dass ich die Sache angesprochen habe.«

»Ich bin sicher, dass Sie es irgendwann erwähnt haben, als Alex Nolan hier war«, beharrte Robin.

»Ich habe es ihm gegenüber nur einmal erwähnt, und das war im Auto. Hier im Büro habe ich kein Wort darüber verloren. Robin, Sie tun weder mir noch sich selbst einen Gefallen, wenn Sie einen Kunden belügen«, sagte Georgette scharf. Bitte, merken Sie sich das.«

Die Eingangstür ging auf. Sie drehten sich beide um und erblickten Henry Paley, der den Empfangsraum betrat. »Und, wie ist es gelaufen?«, fragte Georgette mit einem kaum verhüllten ängstlichen Unterton.

»Ich würde sagen, Mrs. Nolan hat sich die größte Mühe gegeben, so zu tun, als ob sie über die Geburtstagsüberraschung ihres Mannes entzückt sei«, antwortete Paley. »Ich glaube, ihn hat sie überzeugen können. Mich allerdings nicht.«

»Warum nicht?«, erwiderte Robin prompt, bevor Georgette die Frage stellen konnte.

Henry Paleys gesamte Mimik war die eines Mannes, der einen Auftrag erledigt hatte, der in seinen Augen von vornherein zum Scheitern verurteilt war. »Das frage ich mich selbst«, sagte er. »Vielleicht war sie einfach nur überwältigt.« Er blickte zu Georgette. Offensichtlich war er bemüht, nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, er habe ihre Sache schlecht vertreten. »Georgette«, sagte er entschuldigend, »ich schwöre Ihnen, als ich Mrs. Nolan die Wohnräume gezeigt habe, musste ich andauernd an dieses Kind denken, das damals im Wohnzimmer auf seine Mutter und seinen Stiefvater geschossen hat. Ist das nicht merkwürdig?«

»Henry, wir haben dieses Haus in den letzten vierundzwanzig Jahren dreimal verkauft, und Sie waren bei mindestens zwei von diesen Verkäufen beteiligt. Noch nie habe ich von Ihnen etwas Derartiges gehört«, protestierte Georgette verärgert.

»Ich habe auch noch nie dieses komische Gefühl gehabt. Vielleicht kam es durch diese dämlichen Blumen, die ihr Mann bestellt hat. Als ob man in einer Aussegnungshalle wäre, genau derselbe Duft. Als ich heute im Wohnzimmer von Little Lizzie’s Place stand, hat es mich mit voller Wucht getroffen. Und ich habe das Gefühl, dass es Celia Nolan ähnlich ergangen ist.«

Zu spät bemerkte Henry, dass er den verbotenen Namen für das Haus an der Old Mill Lane gebraucht hatte. »Entschuldigung, Georgette«, murmelte er, als er an ihr vorbeiging.

»Sie haben allen Grund dazu«, entgegnete Georgette aufebracht. »Langsam kann ich mir vorstellen, was für einen Eindruck Sie Mrs. Nolan von dem Haus vermittelt haben.«

»Vielleicht sollten Sie doch noch auf mein Angebot von vorhin zurückkommen, wonach ich bezeugen kann, dass Sie Alex Nolan über alles aufgeklärt haben, Georgette«, schlug Robin vor. In ihrer Stimme lag ein Anflug von Sarkasmus.

3

»ABER CEIL, ES IST doch genau das, was wir vorhatten. Höchstens, dass alles ein bisschen schneller geht. Es passt doch gut, wenn Jack gleich in Mendham in den Kindergarten kommt. Und das letzte halbe Jahr in deiner Wohnung war schon ziemlich eng, und du wolltest auch nicht in meine Wohnung in der Innenstadt umziehen.«

Es war der Tag nach meinem Geburtstag, der Tag, der auf die große Überraschung folgte. Wir saßen beim Frühstück in meiner Wohnung. Vor sechs Jahren hatte ich den Auftrag bekommen, sie für Larry einzurichten, der dann mein erster Ehemann wurde. Jack hatte hastig ein Glas Saft und eine Schüssel Cornflakes verschlungen und war hoffentlich dabei, sich für die Tagesstätte anzuziehen.

Ich glaube, dass ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht hatte. Ich hatte wach im Bett gelegen, meine Schulter leicht an Alex geschmiegt, und hatte ins Dunkel gestarrt. Unablässig waren die Erinnerungen aufgetaucht, ohne Ende. Jetzt saß ich am Esstisch, in einen weiß-blauen Morgenmantel aus Leinen gehüllt, die Haare zu einem Knoten geschlungen, nippte an meinem Kaffee und versuchte, ruhig und gelassen zu wirken. Mir gegenüber, wie immer tadellos gekleidet in dunkelblauem Anzug, weißem Hemd und blau-rot gemusterter Krawatte, verschlang Alex seine Scheibe Toast und stürzte seinen Becher Kaffee hinunter, wie er es jeden Morgen tat.

Ich hatte gesagt, ich fände das Haus zwar sehr schön, aber ich wolle es erst völlig neu herrichten lassen, bevor wir dort einziehen könnten, doch dieser Vorschlag war bei Alex auf wenig Gegenliebe gestoßen. »Ceil, ich weiß, es war wahrscheinlich reiner Wahnsinn, das Haus zu kaufen, ohne dich zu fragen, aber es war genau die Art von Haus, die uns beiden vorgeschwebt hat. Mit der Gegend warst du einverstanden. Wir haben von Peapack oder Basking Ridge gesprochen, nd Mendham ist nur ein paar Minuten von beiden entfernt. Es ist eine vornehme Stadt, man ist relativ schnell in New York, und abgesehen davon, dass ich sowieso für die Firma nach New Jersey gehe, hat es den zusätzlichen Vorteil, dass ich die Möglichkeit habe, am frühen Morgen auszureiten. Der Central Park ist auf die Dauer einfach nicht das Wahre. Und ich möchte dir unbedingt das Reiten beibringen. Du hast gesagt, dass du gern Unterricht nehmen würdest.«

Ich musterte meinen Mann. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas zugleich Reumütiges und Bittendes. Er hatte Recht. Diese Wohnung war wirklich zu klein für uns drei. Alex hat auf vieles verzichtet, als wir geheiratet haben. In seiner weitläufigen Wohnung in SoHo hatte er ein großes Arbeitszimmer, in dem nicht nur Platz für seine aufwendige Anlage, sondern sogar für einen Flügel gewesen war. Jetzt war der Flügel eingelagert. Alex hat eine natürliche Begabung für Musik, das Klavierspielen war für ihn mehr als nur Zeitvertreib. Ich weiß, dass ihm dieses Vergnügen sehr abgeht. Er hat hart gearbeitet, um all das zu erreichen, was er heute hat. Obwohl er ein entfernter Cousin meines verstorbenen Mannes ist, der aus einer wohlhabenden Familie stammte, gehörte Alex immer zur »armen Verwandtschaft«. Ich weiß, wie stolz er darauf ist, sich dieses neue Haus leisten zu können.

»Du hast doch gesagt, dass du wieder als Innenarchitektin arbeiten willst«, erinnerte mich Alex. »Wenn wir uns erst ein bisschen eingelebt haben, werden sich dafür viele Möglichkeiten ergeben, gerade in einer Stadt wie Mendham. Hier gibt es Geld genug, und es werden viele große Häuser gebaut. Bitte, überleg es dir, Ceil. Lass es uns einfach versuchen, mir zuliebe. Du hast ein Angebot von deinen Nachbarn, die diese Wohnung zu einem profitablen Preis übernehmen würden. Das weißt du.«

Er ging um den Tisch und umarmte mich. »Bitte.«

Ich hatte nicht gehört, dass Jack eingetreten war. »Ich mag das Haus auch, Mom«, stimmte er mit ein. »Alex will mir ein Pony kaufen, wenn wir dort einziehen.«

Ich blickte auf meinen Mann und auf meinen Sohn. »Sieht so aus, als ob wir demnächst umziehen«, sagte ich und versuchte zu lächeln. Alex braucht dringend mehr Platz, dachte ich. Er ist begeistert von der Aussicht, in der Nähe des Reitclubs zu wohnen. Später werde ich immer noch ein anders Haus in einer der anderen Ortschaften finden können. Es wird nicht so schwierig sein, ihn dazu zu bringen, noch einmal umzuziehen. Schließlich hat er zugegeben, dass es ein Fehler gewesen war, das Haus ohne meine Einwilligung zu kaufen.

Knapp einen Monat später fuhren die Umzugslaster von der Fifth Avenue Nr. 895 los und bewegten sich auf den Lincoln Tunnel zu. Ihr Ziel war die Old Mill Lane Nr. 1, Mendham, New Jersey.

4

DIE AUGEN VOR NEUGIER aufgerissen, stand die vierundfünfzigjährige Marcella Williams an ihrem Wohnzimmerfenster und beobachtete, wie der große Umzugslaster langsam an ihrem Haus vorbeikroch. Vor zwanzig Minuten hatte sie Georgette Groves silberfarbenen BMW den Hügel heraufkommen sehen. Georgette war die Maklerin, die das Haus verkauft hatte. Marcella war sicher, dass der Mercedes, der kurze Zeit später auftauchte, ihren neuen Nachbarn gehörte. Sie hatte gehört, dass sie sofort einziehen wollten, weil ihr vierjähriger Sohn in den Kindergarten kommen sollte. Sie war gespannt, wie sie wohl sein würden.

Bis jetzt waren die Leute nie allzu lange in dem Haus geblieben, ging ihr durch den Kopf, und das war auch kein Wunder. Keiner hat es gern, wenn sein Haus allgemein unter dem Namen Little Lizzie’s Place bekannt ist. Jane Salzman ist die erste Käuferin gewesen, als es nach der furchtbaren Geschichte mit Liza Barton verkauft wurde. Jane hat es damals zu einem sagenhaft günstigen Preis bekommen. Sie hat immer behauptet, in dem Haus herrsche eine gruselige Stimmung, aber sie hat sich ja auch viel mit Parapsychologie beschäftigt, die von Marcella als blühender Unsinn betrachtet wurde. Aber keine Frage, die Tatsache, dass das Haus immer nur Little Lizzie’s Place genannt wurde, ging auf die Dauer allen Bewohnern auf die Nerven, und der Halloween-Streich im vergangenen Jahr hat auch den letzten Besitzern, Mark und Louise Harriman, den Rest gegeben. Louise ist richtig ausgerastet, als sie die Schrift auf ihrem Rasen und die lebensgroße Puppe mit der Pistole in der Hand unter ihrem Vordach entdeckt hat. Sie und Mark wollten sowieso im nächsten Jahr nach Florida umziehen, daher haben sie einfach den Termin vorgezogen. Im Februar sind sie ausgezogen, und seitdem steht das Haus leer.

Diese Gedanken führten Marcella zu der Frage, was wohl aus Liza Barton geworden war. Marcella hatte schon dort gewohnt, als sich die Tragödie ereignete, und sie konnte sich noch gut an die zehnjährige Liza mit ihren blonden Locken, dem runden Puppengesicht und ihrer ruhigen, frühreifen Art erinnern. Ganz sicher war sie ein kluges Kind, entsann sich Marcella, aber die Art, wie sie die Leute mit prüfendem Blick anschaute, auch die Erwachsenen, war schon ungewöhnlich. Eigentlich habe ich es ganz gern, wenn Kinder sich auch wie Kinder benehmen. Ich habe mir große Mühe gegeben, nach dem Tod von Will Barton besonders nett zu Audrey und Liza zu sein. Und ich habe mich gefreut, als Audrey und Ted Cartwright geheiratet haben. Ich sagte damals zu Liza, dass es doch aufregend für sie sein müsse, einen neuen Vater zu bekommen, und ich werde nie vergessen, wie mich die kleine Göre daraufhin anblickte und sagte: »Ich habe keinen neuen Vater bekommen. Meine Mutter hat einen neuen Ehemann, das ist alles.«

Das habe ich alles vor Gericht erzählt, erinnerte sich Marcella mit einiger Befriedigung. Und ich habe ihnen auch erzählt, dass ich dabei gewesen bin, als Ted den ganzen persönlichen Kram aus Will Bartons Arbeitszimmer in Kartons geräumt und in die Garage gestellt hat. Liza hat ihn angebrüllt und die ganze Zeit versucht, die Kartons in ihr Zimmer zu schleppen. Sie hat sich nicht die geringste Mühe gegeben, auf Ted zuzugehen. Sie hat es ihrer Mutter so schwer gemacht. Und es war klar, dass Audrey verrückt nach Ted war.

Zumindest am Anfang war sie verrückt nach ihm, dachte Marcella, sich in Gedanken korrigierend, während sie beobachtete, wie ein zweiter Laster den Hügel heraufgefahren kam. Wer weiß schon, was sich da alles abgespielt hat. Jedenfalls hat Audrey der Ehe nicht viel Zeit gelassen, sich zu entwickeln, und dieses richterliche Kontaktverbot, das sie gegen Ted erwirkt hat , war absolut unnötig. Ich habe Ted geglaubt, als er unter Eid ausgesagt hat, Audrey habe ihn an jenem Abend angerufen und gebeten, zu ihr zu kommen.

Ted ist immer so dankbar für meine Unterstützung gewesen, erinnerte sich Marcella. Meine Aussage hat ihm eine Menge genützt bei der Klage, die er gegen Liza eingereicht hat. Und ich finde, dass der arme Kerl ein Schmerzensgeld verdient gehabt hätte. Es ist ziemlich unangenehm, sich mit einem zerschmetterten Knie durchs Leben zu schlagen. Er hinkt immer noch. Es ist überhaupt ein Wunder, dass er an jenem Abend nicht getötet wurde.

Als Ted nach der Schießerei aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war er ein paar Städte weiter nach Bernardsville gezogen. Mittlerweile gehörte er zu den größeren Bauunternehmern in New Jersey, das Logo seiner Firma war häufig auf Schildern in neuen Einkaufszentren oder an den Landstraßen zu sehen. In jüngster Zeit hatte er sich darauf verlegt, auf die grassierende Fitnesswelle aufzuspringen und im ganzen Staat neue Studios zu eröffnen; außerdem baute er Anlagen mit Eigentumswohnungen in Madison.

Im Lauf der Jahre waren sich Marcella und er bei verschiedenen Gelegenheiten über den Weg gelaufen. Das letzte Mal war gerade erst einen Monat her. Ted hatte nie wieder geheiratet, aber er hatte eine ganze Reihe von Freundinnen verschlissen, und wie man hörte, war die letzte Beziehung erst vor kurzem auseinander gebrochen. Er hat immer behauptet, Audrey sei die Liebe seines Lebens gewesen und er sei nie über diesen Verlust hinweggekommen. Aber er sah noch verdammt gut aus, und er hatte beim letzten Mal sogar gemeint, sie könnten sich doch irgendwann treffen. Vielleicht interessiert es ihn, dass neue Leute in das Haus einziehen.

Marcella gestand sich ein, dass sie seit ihrer letzten zufälligen Begegnung mit Ted nach einem Vorwand gesucht hatte, um ihn anzurufen. Beim letzten Halloween, als irgendwelche Jugendliche mit weißer Farbe VORSICHT! LITTLE LIZZIE’S PLACE auf den Rasen geschmiert haben, wurde Ted von den Zeitungen gebeten, einen Kommentar dazu abzugeben.

Ich frage mich, ob diese Bengel auch dem neuen Eigentümer so einen Streich spielen werden. Jedenfalls ist sicher, dass sich die Zeitungen wieder an Ted wenden würden, falls es noch mal einen Unfug in dieser Art gäbe. Vielleicht sollte ich ihm Bescheid sagen, dass das Haus den Besitzer gewechselt hat.

Zufrieden, dass sie einen Vorwand gefunden hatte, Ted Cartwright anzurufen, ging Marcella zum Telefon. Sie durchquerte ihr großräumiges Wohnzimmer und lächelte kurz und zustimmend ihrem Ebenbild im Spiegel zu. Ihrem wohlgeformten Körper sah man das tägliche Pflichtprogramm an Fitnessübungen an. Ihre starre blonde Haarmähne rahmte ein weich gezeichnetes Gesicht, gestrafft von mehreren kürzlich durchgeführten Botox-Behandlungen. Sie war sich bewusst, dass der neue Lidstrich und die Wimperntusche ihre braunen Augen vorteilhaft betonten.

Von Victor Williams, dem Ehemann, von dem sie vor zehn Jahren geschieden wurde, stammte ein hämischer Ausspruch, der überall zitiert wurde, demzufolge Marcella mit offenen Augen und dem Telefonhörer am Ohr schlafe, weil sie Angst habe, sie könne verpassen, wenn wieder einmal jemand in den Schmutz gezogen werde.

Marcella rief die Auskunft an und erhielt die Nummer von Ted Cartwrights Büro. Nach den nervtötenden Anweisungen, für diese Funktion die Eins, für jene die Zwei und für eine weitere die Drei zu wählen, gelangte sie schließlich an seinen Anrufbeantworter. Er hat wirklich eine sympathische Stimme, dachte sie, während sie seinem aufgezeichneten Spruch lauschte.

Dann sagte sie mit deutlich kokettem Einschlag in der Stimme: »Ted, Marcella Williams am Apparat. Vielleicht interessiert es Sie ja zu erfahren, dass Ihr früheres Haus wieder den Besitzer gewechselt hat und dass die neuen Eigentümer heute einziehen. Gerade eben sind zwei Möbelwagen an meinem Haus vorbeigefahren.«

Das Geräusch einer Polizeisirene unterbrach sie. Nur wenige Augenblicke später sah sie, wie ein Streifenwagen an ihrem Fenster vorbeibrauste. Oh, da drüben scheint es bereits ein Problem zu geben, dachte sie mit einem wohligen Schaudern. »Ted, ich rufe später noch mal an«, sagte sie atemlos. »Die Polizei ist gerade zu Ihrem alten Haus unterwegs. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«

5

»ES TUT MIR ENTSETZLICH Leid, Mrs. Nolan«, stammelte Georgette. »Ich bin selbst gerade erst gekommen. Ich habe die Polizei benachrichtigt.«

Ich sah sie an. Sie zerrte einen Schlauch über den mit Steinplatten gepflasterten Weg, vermutlich in der Hoffnung, die Verunstaltung von Haus und Rasen ein wenig wegzuwaschen.

Das Haus lag etwa dreißig Meter von der Straße zurückgesetzt. Jemand hatte mit roter Farbe in dicken, reklametafelgroßen Buchstaben

VORSICHT! LITTLE LIZZIE’S PLACE

auf den Rasen geschrieben.

Die Holzverschalung und der Kalkstein an der Vorderfront des Hauses waren mit roter Farbe voll gekleckst. Ich sah, dass am Eingang ein Schädel mit gekreuzten Knochen in die Mahagonitür geschnitzt worden war. Außerdem hatte jemand eine Strohpuppe, die eine Spielzeugpistole in der Hand hielt, an die Tür gelehnt. Sie sollte wohl die kleine Liza darstellen.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Alex scharf.

»Wahrscheinlich irgendwelche Jugendliche. Es tut mir so Leid«, erklärte Georgette Grove nervös. »Ich werde eine Firma beauftragen, den Schaden sofort zbeheben, und ich werde meinen Gärtner benachrichtigen. Er wird noch heute kommen, das Gras entfernen und einen neuen Rasen anlegen. Es ist doch nicht zu fassen …«

Ihre Stimme erstarb, als sie uns anblickte. Es war ein heißer und schwüler Tag. Wir trugen beide Freizeitkleidung, Hosen und kurzärmelige Hemden. Mein Haar war zurückgebürstet und fiel mir offen auf die Schultern. Gott sei Dank trug ich eine dunkle Sonnenbrille. Ich stand neben dem Mercedes, meine Hand auf der Tür. Neben mir stand Alex, wütend und angespannt. Es war ihm anzusehen, dass er sich nicht mit dem Angebot zufrieden geben würde, die ganze Schweinerei aus der Welt zu schaffen. Er wollte wissen, warum das passiert war.

Ich kann dir sagen, worum es geht, Alex, dachte ich. Du musst dich zusammenreißen, sagte ich mir verzweifelt. Ich wusste, dass ich zu Boden sinken würde, wenn ich die Wagentür losließe. Die spätsommerliche Sonne schien gnadenlos und ließ die rote Farbe glitzern.

Blut. Das war keine Farbe. Es war das Blut meiner Mutter. Ich spürte, wie meine Arme, mein Hals, mein Gesicht von ihrem Blut klebten.

»Celia, geht’s dir nicht gut?« Alex hatte seine Hand auf meinen Arm gelegt. »Liebling, es tut mir so Leid. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie jemand auf die Idee kommen kann, so etwas zu tun.«

Jack war aus dem Auto geklettert. »Mommy, geht’s dir nicht gut? Du bist doch nicht krank, oder?«

Wie die Geschichte sich wiederholt. Jack, der sich nur vage an seinen richtigen Vater erinnern konnte, hatte instinktiv Angst, dass er mich auch verlieren könnte.

Ich riss mich zusammen und wandte mich ihm zu. Dann blickte ich zu Alex und sah die Sorge und Verzweiflung in seiner Miene. Eine furchtbare Möglichkeit fuhr mir durch den Kopf. Weiß er etwa Bescheid? Ist dies alles nur ein schrecklicher, grausamer Scherz? So schnell, wie der Gedanke gekommen war, scheuchte ich ihn wieder fort. Alex hatte nicht die geringste Ahnung, dass ich früher hier gelebt hatte. Der Makler, Henry Paley, hat mir doch erzählt, dass Alex auf dem Weg gewesen war, ein in der Nähe befindliches Haus zu besichtigen, als er das Schild »Zu verkaufen« an diesem Grundstück entdeckt hatte. Es war eines dieser schicksalhaften Ereignisse, die einfach passieren, ein schrecklicher Zufall. Aber, mein Gott, was soll ich nur tun?

»Nein, nein, es geht schon«, sagte ich zu Jack. Nur mit Mühe brachte ich die Worte über die Lippen, die sich taub und schwammig anfühlten.

Jack rannte auf den Rasen zu. »Ich kann das lesen«, krähte er stolz. »L-i-t-t-l-e L-i-z-z-i-e …«

»Schluss damit, Jack«, rief Alex laut. Er wandte sich an Georgette. »Gibt es hierfür eine Erklärung?«

»Ich habe versucht, diese Sache anzusprechen, als ich Ihnen das Haus zum ersten Mal gezeigt habe«, antwortete Georgette, »aber Sie wollten davon nichts wissen. Vor ast fünfundzwanzig Jahren fand hier eine Tragödie statt. Ein zehnjähriges Mädchen, Liza Barton, hat aus Versehen ihre Mutter erschossen und ihren Stiefvater angeschossen. Weil der Name so ähnlich klingt wie derjenige der berüchtigten Lizzie Borden, hat die Klatschpresse sie Little Lizzie Borden getauft. Seitdem hat es hier von Zeit zu Zeit kleinere Vorfälle gegeben, aber so etwas wie heute noch nie.«

Georgette schien den Tränen nahe zu sein. »Ich wünschte, ich hätte damals darauf bestanden, dass Sie mich anhören.«

Der erste Möbelwagen bog in die Einfahrt ein. Zwei Männer sprangen heraus und liefen nach hinten, um die Türen zu öffnen und mit dem Entladen zu beginnen.

»Alex, sag ihnen, sie sollen aufhören«, sagte ich fordernd, und dann hörte ich, wie meine Stimme beinahe zu einem Kreischen anschwoll. »Sag ihnen, sie sollen umkehren und sofort nach New York zurückfahren. Ich kann nicht in diesem Haus wohnen.« Zu spät bemerkte ich, dass Alex und die Maklerin mich mit schockierten Mienen anstarrten.

»Mrs. Nolan, ich bitte Sie, das ist doch nicht Ihr Ernst«, protestierte Georgette Grove. »Es tut mir furchtbar Leid, dass das passiert ist. Ich kann mich nicht genug dafür entschuldigen. Ich versichere Ihnen, dass es nur ein paar Bengel waren, die gemeint haben, sich diesen Scherz erlauben zu können. Aber denen wird schon noch das Lachen vergehen, wenn sie von der Polizei erwischt werden.«

»Liebling, du nimmst dir das viel zu sehr zu Herzen«, sagte Alex. »Das ist doch ein wunderschönes Haus. Es tut mir Leid, dass ich Georgette nicht habe ausreden lassen, als sie mir die Geschichte erzählen wollte, aber selbst wenn, ich hätte dieses Haus trotzdem für dich gekauft. Du darfst nicht zulassen, dass irgendwelche dummen Jungs dir die Freude daran verderben.« Er nahm mein Gesicht in seine Hände. »Sieh mich an. Ich verspreche dir, dass diese Schweinerei noch heute beseitigt wird. Und jetzt komm mit nach hinten. Ich möchte Jack die Überraschung zeigen, die ich für ihn vorbereitet habe.«

Einer der Möbelpacker bewegte sich auf das Haus zu, und Jack hüpfte hinter ihm her. »Nein, Jack, wir gehen außen rum zur Scheune«, rief Alex. »Komm schon, Ceil«, bat er. »Bitte.«

Ich wollte protestieren, aber dann sah ich die aufblitzenden Lichter eines Streifenwagens, der die Straße heraufkam.

Als sie meine Arme von der Leiche meiner Mutter weggezogen hatten, brachten sie mich zum Streifenwagen und ließen mich einsteigen. Ich hatte nur mein Nachthemd an, und jemand holte eine Decke und wickelte mich darin ein. Und dann kam der Krankenwagen, und sie trugen Ted auf einer Bahre hinaus.

»Komm, Liebling«, drängte Alex. »Jack soll seine Überraschung haben.«

»Ich werde mit der Polizei reden, Mrs. Nolan«, bot Georgette Grove an.

Der Gedanke, der Polizei begegnen zu müssen, erschien mir unerträglich, daher ging ich rasch hinter Alex her. Wir umrundeten das Haus, um auf das dahinter liegende, großzügige Gartengrundstück zu gelangen. Ich registrierte, dass die blauen Hortensien, die Mutter entlang der Seitenfront gepflanzt hatte, verschwunden waren, und dann sah ich zu meiner Verblüffung, dass in der Zeit seit meinem letzten Besuch ein Teil des Grundstücks mit einem Pferdezaun abgetrennt worden war.

Alex hatte Jack ein Pony versprochen. Sollte es schon da sein? Jack musste dasselbe gedacht haben, denn nun begann er über den Rasen auf die Scheune zuzurennen. Er zog die Tür auf, und ich hörte einen Freudenschrei. »Ein Pony, Mom«, rief er. »Alex hat mir ein Pony gekauft!«

Fünf Minuten später saß Jack mit leuchtenden Augen im Sattel, die Füße sicher in den Steigbügeln, Alex an seiner Seite, der das Pony im Kreis durch das Gehege führte. Ich stand am Zaun, sah ihnen zu und genoss den Anblick von Jack, der vor Begeisterung über das ganze Gesicht strahlte, und von Alex, der zufrieden lächelte. Mir kam der Gedanke, dass Jack auf sein Geschenk so reagierte, wie Alex es eigentlich auch von mir in Bezug auf das Haus erwartet hatte.

»Das ist auch ein Grund, weshalb ich gedacht habe, dass dieses Haus einfach perfekt ist, Schatz«, bemerkte Alex, als er an mir vorüberging. »Jack ist wirklich begabt. Aus ihm wird bestimmt noch mal ein toller Reiter. Und jetzt kann er jeden Tag reiten. Ist das nicht großartig, Jack?«

Hinter mir räusperte sich jemand. »Mrs. Nolan, mein Name ist Sergeant Earley. Tut mir Leid wegen dieses Vorfalls. Das ist wirklich keine Art, Sie in Mendham willkommen zu heißen.«

Ich hatte nicht bemerkt, dass sich der Polizeibeamte und Georgette Grove genähert hatten. Überrascht drehte ich mich um.

Der Mann musste so um die Fünfzig sein, seine Gesichtsfarbe verriet, dass er viel an der frischen Luft war, das rotblonde Haar war ausgedünnt. »Ich kann mir schon vorstellen, welche Bengel dahinter stecken«, sagte er grimmig. »Glauben Sie mir, deren Eltern werden für den Schaden am Haus und am Rasen geradestehen müssen.«

Earley, dachte ich. Ich kenne diesen Namen. Als ich letzte Woche meine persönlichen Papiere eingepackt habe, bin ich auf den geheimen Ordner gestoßen, in dem ich alles gesammelt habe, angefangen mit der Nacht, in der ich meine Mutter getötet habe. In einem Artikel wurde ein Polizist erwähnt, der Earley hieß.

»Mrs. Nolan, ich bin jetzt schon über dreißig Jahre in dieser Stadt im Dienst«, fuhr er fort. »Ich sage Ihnen, Sie werden auf der ganzen Welt so schnell keinen Ort finden, an dem es so friedlich zugeht.«

Alex, der den Beamten und Georgette Grove bemerkt hatte, ließ Jack allein auf dem Pony reiten und gesellte sich zu uns. Grove machte ihn mit Sergeant Earley bekannt.

»Sergeant, meine Frau und ich wollen bestimmt nicht unser neues Leben in dieser Stadt gleich mit einer Anzeige gegen ein paar Jugendliche aus der Nachbarschaft beginnen«, sagte Alex. »Aber ich hoffe doch, dass Sie diesen Rowdys, wenn Sie sie schnappen, deutlich zu verstehen geben, dass sie von Glück reden können, dass wir so großzügig sind. Ich habe meinerseits schon beschlossen, das Grundstück sofort einzäunen und Überwachungskameras aufstellen zu lassen. Dann wird sich so etwas nicht so schnell wiederholen.«

Earley, dachte ich. In Gedanken ging ich die Artikel in den Zeitungen durch, die Artikel über mich, die mich ganz krank gemacht hatten vor Kummer, als ich sie letzte Woche wieder durchgelesen hatte. Es gab ein Bild von einem Polizeibeamten, der mir auf dem Rücksitz eines Streifenwagens eine Decke umgelegt hatte. Officer Earley war sein Name gewesen. Später hatte er vor der Presse gesagt, er habe noch nie ein Kind gesehen, das so gefasst gewesen sei wie ich. »Überall klebte das Blut ihrer Mutter an ihr, aber als ich die Decke um sie legte, sagte ie einfach: ›Vielen Dank, Officer.‹ Als ob ich ihr gerade ein Eis spendiert hätte.«

Und jetzt stand derselbe Mann vor mir, und wahrscheinlich erwartete er auch jetzt wieder einen Dank für den Dienst, den er mir erwies.

»Mom, mein Pony ist so schön«, rief Jack. »Ich möchte es Lizzie nennen, so wie der Name auf dem Gras. Ist das nicht eine gute Idee?«

Lizzie!

Bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich, wie Georgette Grove entnervt murmelte: »O Gott, das war ja vorauszusehen. Jetzt muss auch noch diese alte Klatschbase hier auftauchen.«

Einen Augenblick später wurde ich mit Marcella Williams bekannt gemacht, die meine Hand ergriff und sagte: »Ich wohne seit achtundzwanzig Jahren im Haus nebenan und heiße Sie als meine neue Nachbarin willkommen. Ich freue mich sehr, Sie, Ihren Mann und Ihren kleinen Jungen kennen zu lernen.«

Marcella Williams. Sie wohnt immer noch hier! Sie hat gegen mich ausgesagt. Ich blickte von einem zum andern: Georgette Grove , die Maklerin, die Alex das Haus verkauft hatte; Sergeant Earley, der vor langer Zeit eine Decke um mich gelegt und anschließend gegenüber der Presse mehr oder weniger gesagt hatte, ich sei so eine Art gefühlloses Monster; Marcella Williams, die alle Aussagen Teds bestätigt und ihm damit vor Gericht zu jenem finanziellen Vergleich verholfen hatte, der mir fast nichts hinterließ.

»Mom, darf ich es Lizzie nennen?«, rief Jack.

Ich muss ihn beschützen, dachte ich. Zu viel würde über ihn hereinbrechen, sollte er erfahren, wer ich bin. Für einen Augenblick ging mir ein Traum durch den Kopf, den ich manchmal träume: Ich treibe ziellos im Ozean und versuche,

Die Originalausgabe NO PLACE LIKE HOME erschien bei Simon & Schuster, New York

6. Auflage

Vollständige deutsche Taschenbucherstausgabe 04/2007

Copyright © 2005 by Mary Higgins Clark

Copyright © 2005 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House

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eISBN 978-3-641-10077-3

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