Und hinter dir die Finsternis - Mary Higgins Clark - E-Book
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Und hinter dir die Finsternis E-Book

Mary Higgins Clark

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Beschreibung

Wem kannst du trauen?

Die junge Bibliothekarin Kay Lansing verliebt sich Hals über Kopf in den reichen, belesenen Peter Carrington. Zwar wird Carrington seit Jahren zweier Morde verdächtigt, aber Kay ist von seiner Unschuld überzeugt und hält zu ihm. Doch die Vergangenheit reißt das Paar in einen zerstörerischen Strudel.

Als Kind hat Kay Lansing in der Familienkapelle der Carringtons den Streit eines Paares belauscht, in dem es um eine Erpressung ging. In derselben Nacht verschwand eine junge Frau für immer spurlos. Aber erst 22 Jahre später, frisch verheiratet, wird Kay gezwungen, nach dem Hintergrund ihres Erlebnisses zu forschen – ihr eigener Mann Peter Carrington wird beschuldigt, für das Verschwinden der jungen Frau verantwortlich zu sein. Und noch ein anderer Verdacht hält sich hartnäckig: Peter könnte seine erste Ehefrau im eigenen Swimmingpool ertränkt haben. Als das Verfahren gegen ihn neu aufgenommen wird und er nach einer revidierten Zeugenaussage unter Mordanklage steht, stürzt Kay sich fieberhaft in die Suche nach der Wahrheit, die sie nicht nur in die Vergangenheit ihres Mannes, sondern auch in ihre eigene führt. Sie ahnt nicht, dass ihre Entdeckung sie in tödliche Gefahr bringen wird.

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Seitenzahl: 472

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Das Buch

Als Kind hat Kay Lansing in der Familienkapelle der Carringtons den Streit eines Paares belauscht, in dem es um Erpressung ging. In derselben Nacht verschwand eine junge Frau für immer spurlos. Erst 22 Jahre später, frisch verheiratet, wird Kay gezwungen, nach dem Hintergrund ihres Erlebnisses zu forschen: Ihr Mann Peter Carrington wird beschuldigt, für das Verschwinden der jungen Frau verantwortlich zu sein. Und noch ein anderer Verdacht hält sich hartnäckig: Peter könnte seine erste Ehefrau im eigenen Swimmingpool ertränkt haben. Als das Verfahren gegen ihn neu aufgenommen wird und er nach einer revidierten Zeugenaussage unter Mordanklage steht, stürzt sich Kay in eine fieberhafte Suche nach der Wahrheit.

»In diesem mitreißenden Thriller führt uns Mary Higgins Clark meisterhaft die Zerstörungskraft von Erinnerungen vor Augen.«

Publishers Weekly

»In ihren raffiniert konstruierten Psychothrillern legt Mary Higgins Clark immer neue Fährten – bis zum völlig überraschenden Ende.« Süddeutsche Zeitung

Die Autorin

Mary Higgins Clark, geboren in New York, lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey. Sie zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Ihre große Stärke sind ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Mit ihren Büchern führt Mary Higgins Clark regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Zuletzt bei Heyne erschienen: Warte, bis du schläfst.

Inhaltsverzeichnis

WidmungPROLOGKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Copyright

Für Marilyn,mein erstgeborenes Kind und meine geschätzte Freundin,in Liebe

PROLOG

MEIN VATER HAT ALS Landschaftsgärtner auf dem Landsitz der Carringtons gearbeitet. Mit zwanzig Hektar war es eines der letzten noch in Privatbesitz befindlichen Anwesen dieser Größenordnung in Englewood, New Jersey, einer noblen Ortschaft, über die George-Washington-Brücke drei Meilen westlich von Manhattan gelegen.

Vor zweiundzwanzig Jahren, als ich sechs Jahre alt war, fuhr mein Vater an einem Samstagnachmittag im August hinüber, obwohl er an diesem Tag frei hatte, um die erst kürzlich installierte Außenbeleuchtung zu kontrollieren. Für den Abend hatten die Carringtons zu einer Dinnerparty eingeladen, zu der sie zweihundert Gäste erwarteten. Weil er wegen seines Alkoholproblems bereits Schwierigkeiten mit seinen Arbeitgebern hatte, befürchtete Daddy, er könnte seinen Job verlieren, wenn die über den gesamten Garten verteilten Lampen nicht richtig funktionierten.

Weil er mit mir allein lebte, blieb ihm keine andere Wahl, als mich mitzunehmen. Er ließ mich auf einer Bank in der Nähe der Terrasse zurück und schärfte mir ein, mich nicht von der Stelle zu rühren, bis er zurückkäme. Dann fügte er hinzu: »Es könnte ein bisschen länger dauern. Falls du aufs Klo musst, dann geh zum Hintereingang um die Ecke. Gleich dahinter befindet sich die Toilette für die Bediensteten.«

Mehr brauchte er mir nicht zu sagen. Ich hatte zugehört, als mein Vater meiner Großmutter das Innere des vornehmen Herrenhauses beschrieben hatte, und sofort hatte ich mir mit überbordender Fantasie die Räumlichkeiten auszumalen versucht. Das Haus war im siebzehnten Jahrhundert in Wales errichtet worden. Es gab sogar eine verborgene Kapelle darin, in der ein Priester sowohl wohnen als auch in aller Heimlichkeit die Messe zelebrieren konnte, denn es war damals die Zeit, in der unter Oliver Cromwell der blutige Versuch unternommen wurde, auch noch die letzten Spuren des Katholizismus in England zu tilgen. Im Jahr 1848 ließ der erste Peter Carrington das Herrenhaus abtragen und Stein für Stein in Englewood wieder aufbauen.

Der Beschreibung meines Vaters hatte ich entnommen, dass eine schwere Eichentür zur Kapelle führte und dass sie sich im hintersten Teil des ersten Stockwerks befand.

Ich musste sie unbedingt sehen.

Nachdem mein Vater außer Sichtweite war, wartete ich noch fünf Minuten und rannte dann zum hinteren Eingang, den er mir gezeigt hatte. Gleich danach fand ich zu meiner Rechten das hintere Treppenhaus, und ich stieg lautlos die Stufen hinauf. Für den Fall, dass ich jemandem begegnen sollte, hatte ich mir die Entschuldigung zurechtgelegt, ich sei auf der Suche nach einer Toilette; was ja zum Teil der Wahrheit entsprach, wie ich mir einredete.

Im oberen Stockwerk angekommen, schlich ich auf Zehenspitzen und mit wachsender Beklommenheit einen Gang nach dem anderen entlang, da ich immer wieder auf eine unerwartete Biegung stieß. Doch dann sah ich sie: die schwere Eichentür, die mein Vater beschrieben hatte, und die in dem durchgehend modernisierten Inneren des Hauses so völlig aus dem Rahmen fiel.

Das Glück, bei meinem Abenteuer niemandem begegnet zu sein, flößte mir neuen Mut ein, und so hastete ich die letzten Schritte auf die Tür zu. Sie knarzte, als ich an dem Griff zog, doch dann ließ sie sich so weit öffnen, dass ich hineinschlüpfen konnte.

Drinnen fühlte ich mich in eine andere Zeit versetzt. Der Raum war viel kleiner, als ich erwartet hatte. Ich hatte sie mir ähnlich wie die Lady Chapel in der St. Patrick’s Cathedral vorgestellt, die meine Großmutter immer, wenn wir zu einem unserer seltenen Einkaufsbesuche in New York waren, aufzusuchen pflegte, um eine Kerze für meine Mutter anzuzünden. Und jedes Mal erzählte sie mir, wie wunderschön meine Mutter ausgesehen hatte, als sie und mein Vater dort getraut wurden.

Die Wände und der Boden dieser Kapelle waren aus Stein, die Luft fühlte sich klamm und feucht an.

Die religiöse Ausstattung des Raumes beschränkte sich auf eine Statue der heiligen Jungfrau Maria, von der die Farbe abblätterte, und eine vor ihr aufgestellte elektrische Votivkerze bildete die einzige Lichtquelle und hüllte den Raum in schwaches Dämmerlicht. Zwei Reihen Holzbänke standen vor einem kleinen hölzernen Tisch, der wohl als Altar gedient hatte.

Während ich all das betrachtete, hörte ich plötzlich das knarzende Geräusch der Tür. Jemand war im Begriff einzutreten. Mir blieb nur eins übrig: Ich hastete nach vorn, ließ mich zwischen den Kirchenbänken zu Boden fallen und vergrub in Vogel-Strauß-Taktik mein Gesicht in den Händen.

An den Stimmen erkannte ich, dass ein Mann und eine Frau die Kapelle betreten hatten. Ihr aufgebrachtes und zorniges Flüstern hallte von den nackten Wänden wider. Ihr Streit drehte sich um Geld, etwas, was mir wohlvertraut war. Meine Großmutter schimpfte oft mit meinem Vater und hielt ihm vor, wenn er weiter so trinke, würden er und ich bald kein Dach mehr über dem Kopf haben.

Die Frau verlangte Geld, und der Mann erwiderte, er habe ihr bereits genug gegeben. Daraufhin sagte sie: »Es ist das allerletzte Mal. Ich schwöre es dir«, worauf er antwortete: »Das behauptest du jedes Mal. Es ist immer das alte Lied.«

Ich bin sicher, dass meine Erinnerung an diese Worte korrekt ist. Seit ich alt genug war, um zu begreifen, dass ich, anders als meine Freunde im Kindergarten, keine Mutter hatte, hatte ich meine Großmutter angebettelt, mir alles von ihr zu erzählen, auch die kleinste Einzelheit, derer sie sich entsinnen konnte. Unter all dem, was sie mir erzählte, war auch die Erinnerung an einen Auftritt meiner Mutter in der Theateraufführung an der Highschool, bei der sie ein Lied mit dem Titel »Es ist immer das alte Lied« gesungen hatte. »Ach, Annie hat das damals so wunderbar gesungen. Sie hatte wirklich eine schöne Stimme. Alle haben lange geklatscht und ›Zugabe, Zugabe‹ gerufen. Sie musste es noch einmal singen.« Dann hatte mir meine Großmutter die Melodie vorgesummt.

Nach der Bemerkung des Mannes konnte ich nichts mehr von dem verstehen, was gesprochen wurde. Ich hörte nur, dass die Frau flüsterte: »Vergiss es nicht«, bevor sie die Kapelle verließ. Der Mann hatte sich nicht gerührt. Ich hörte ihn erregt schnaufen. Dann begann er ganz leise die Melodie des Liedes zu pfeifen, das meine Mutter in der Schulaufführung gesungen hatte. Heute glaube ich, dass er sich damit vielleicht selbst beruhigen wollte. Nach ein paar Takten brach er ab und verließ die Kapelle.

Ich wartete noch eine Weile, die mir wie eine Ewigkeit erschien, dann schlüpfte auch ich hinaus. Ich huschte die Treppe hinunter und rannte aus dem Haus. Natürlich habe ich meinem Vater nie erzählt, dass ich in der Kapelle gewesen war und was ich dort gehört habe. Doch die Erinnerung an dieses Ereignis ist nie verblasst, und ich bin mir heute noch über den Wortlaut dessen, was ich damals gehört habe, ganz sicher.

Wer diese Leute waren, weiß ich nicht. Jetzt, zweiundzwanzig Jahre danach, ist es wichtig, das herauszufinden. Fest steht nur, nach allem, was ich über jenen Abend erfahren habe, dass es eine Reihe von Übernachtungsgästen im Herrenhaus gab sowie fünf Haushaltshilfen und die örtliche Catering-Firma mit ihrer Mannschaft. Doch dieses Wissen könnte sich als nicht ausreichend erweisen, um meinen Mann zu retten; vorausgesetzt, er hat es überhaupt verdient, gerettet zu werden.

1

MEINE KINDHEIT STAND IM Zeichen der Entführung des Lindbergh-Babys.

Damit meine ich, dass ich in Englewood, New Jersey, geboren und aufgewachsen bin. Im Jahr 1932 wurde der Enkel von Englewoods bekanntestem Einwohner, Botschafter Dwight Morrow, gekidnappt. Außerdem traf es sich, dass der Vater des Babys der damals wohl berühmteste Mann auf der ganzen Welt war, Colonel Charles Lindbergh, der als Erster im Alleinflug den Atlantik überquert hatte, in seiner einmotorigen Maschine, der Spirit of St. Louis.

Meine Großmutter, die damals acht Jahre alt war, kann sich gut an die Schlagzeilen erinnern, an die Massen von Reportern, die sich vor Next Day Hill drängten, dem Anwesen der Morrows, und an die Verhaftung von Bruno Hauptmann und den nachfolgenden Prozess.

Viel Zeit ist seitdem vergangen, Erinnerungen sind verblasst. Heute ist das Herrenhaus der Carringtons das bekannteste Anwesen von Englewood, jenes schlossartige Gebäude aus Naturstein, in das ich mich als Kind heimlich eingeschlichen hatte.

All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich zum zweiten Mal in meinem Leben das Eingangstor zum Carrington’schen Anwesen passierte. Zweiundzwanzig Jahre, dachte ich und sah das neugierige sechsjährige Mädchen vor mir, das ich damals gewesen war. Vielleicht weil ich daran denken musste, dass mein Vater nur wenige Wochen später von den Carringtons entlassen worden war, fühlte ich mich mit einem Mal befangen und unbehaglich. Der freundliche Oktobermorgen war in einen windigen, feuchten Nachmittag umgeschlagen, und ich bereute, dass ich keine dickere Jacke angezogen hatte. Diejenige, die ich gewählt hatte, schien mir sowohl zu dünn als auch zu hell in der Farbe zu sein.

Automatisch parkte ich meinen Gebrauchtwagen seitlich von der imposanten Auffahrt, denn ich wollte vermeiden, dass er die Aufmerksamkeit auf sich zog. Über hunderttausend Meilen auf dem Tacho lassen einen Wagen ziemlich alt aussehen, selbst wenn er kürzlich erst gewaschen wurde und durch glückliche Fügung von Beulen verschont geblieben ist.

Ich hatte meine Haare zu einem Knoten zusammengebunden, doch der Wind zerzauste sie, als ich die Stufen zum Eingang hinaufschritt und klingelte. Ein Mann, den ich auf Mitte fünfzig schätzte, mit hohem Haaransatz, schmalen Lippen und herabgezogenen Mundwinkeln, öffnete mir. Er trug einen dunklen Anzug, und ich war mir nicht sicher, ob er ein Butler oder ein Sekretär war. Doch bevor ich etwas sagen konnte, teilte er mir, ohne sich vorzustellen, mit, dass Mr. Carrington mich erwarte, und bat mich einzutreten.

Die weite Eingangshalle erstrahlte in dem Licht, das durch bunte Bleiglasfenster fiel. Vor einer Wand ragte die Statue eines Ritters in voller Rüstung auf, daneben hing ein mittelalterlicher Wandteppich, auf dem eine Schlachtszene abgebildet war. Gern hätte ich den Teppich näher betrachtet, doch der Mann forderte mich auf, ihm zu folgen, und führte mich durch einen Flur zur Bibliothek.

»Miss Lansing ist eingetroffen«, sagte er. »Ich werde im Büro sein.« Aus dieser Bemerkung schloss ich, dass er vielleicht ein Assistent war.

Als ich klein war, habe ich oft Häuser und Räume gezeichnet, in denen ich gern wohnen würde. Am liebsten dachte ich mir ein Zimmer aus, in dem ich ganze Nachmittage sitzen und lesen würde. In diesem Zimmer gab es immer einen offenen Kamin und Bücherregale. Meistens stand dort auch ein gemütliches Sofa, und ich zeichnete mich, eingeigelt in die Sofaecke, mit einem Buch in der Hand. Ich möchte keinesfalls behaupten, dass diese Zeichnungen irgendeinen künstlerischen Wert für sich in Anspruch nehmen könnten. Ich zeichnete Strichmännchen, die Bücherregale waren schief, und der Teppich war eine bunt gekleckste Kopie nach dem Vorbild eines prächtigen Stücks, das ich einmal im Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts gesehen hatte. Ich war weit davon entfernt, ein genaues Abbild meiner Vorstellung auf dem Papier zustande zu bringen, doch ich wusste genau, was ich mir wünschte. Ich wünschte mir ein Zimmer, das ziemlich genau so aussah wie das, in dem ich jetzt stand.

Peter Carrington saß in einem breiten Ledersessel, die Füße auf einen gepolsterten Fußschemel hochgelegt. Die Lampe auf dem Tisch neben ihm beschien nicht nur das Buch, in dem er las, sondern warf auch ein Schlaglicht auf sein ansprechendes Profil.

Er trug eine Lesebrille, die auf seinem Nasenrücken hinunterrutschte, als er aufsah. Er nahm sie ab und legte sie auf den Tisch, dann schwang er die Füße von dem Schemel und erhob sich. Ich hatte ihn ein paar Mal flüchtig in der Stadt gesehen, und in den Zeitungen war sein Foto abgebildet gewesen, daher hatte ich eine gewisse Vorstellung von ihm. Doch jetzt im selben Raum vor ihm zu stehen, war etwas ganz anderes. Peter Carrington strahlte eine ruhige Autorität aus, auch als er lächelte und mir die Hand entgegenstreckte.

»Sie scheinen über sehr viel Überredungskunst zu verfügen, Kathryn Lansing. Ihr Brief zeugt davon.«

»Ich danke Ihnen, dass Sie mich empfangen, Mr. Carrington.«

Sein Händedruck war fest. Ich sah, dass er mich musterte, genauso wie ich ihn musterte. Er war größer, als ich vermutet hatte, und besaß den schmalen Körperbau eines Langstreckenläufers. Seine Augen waren eher grau als blau. Sein schmales, ebenmäßiges Gesicht wurde von dunkelbraunen Haaren umrahmt, die vielleicht eine Kleinigkeit zu lang waren, was ihm jedoch gut stand. Er trug eine dunkelbraune Strickjacke, durch deren Muster sich ein rostroter Faden zog. Wenn man mich aufgefordert hätte, allein aufgrund seiner äußeren Erscheinung seinen Beruf zu erraten, hätte ich auf College-Professor getippt.

Ich wusste, dass er zweiundvierzig Jahre alt war. Das bedeutete, dass er ungefähr zwanzig gewesen sein musste, als ich mich in dieses Haus eingeschlichen hatte. Ich fragte mich, ob er bei dieser Party anwesend gewesen war. Das war durchaus möglich – Ende August war er vielleicht noch nicht nach Princeton zurückgekehrt, wo er damals studierte. Oder falls die Vorlesungen doch bereits begonnen hatten, war er über das Wochenende nach Hause gekommen. Von Princeton waren es nur eineinhalb Stunden Fahrt.

Er lud mich ein, in einem der beiden Sessel neben dem offenen Kamin Platz zu nehmen. »Ich hatte mir kühle Witterung gewünscht, um einen Grund zu haben, Feuer zu machen«, sagte er. »Heute Nachmittag hat der Wettergott mitgespielt.«

Mehr denn je war ich mir bewusst, dass meine lindgrüne Jacke eher für einen August- als für einen Herbstnachmittag gepasst hätte. Ich spürte, dass sich eine Haarsträhne gelöst hatte und über meine Schulter fiel, und versuchte, sie wieder in den Haarknoten zu winden.

Ich besitze ein Master-Diplom in Bibliothekswissenschaft. Da ich so ein Büchernarr war, schien dieser Berufswunsch nahezuliegen. Seitdem ich vor fünf Jahren mein Studium abgeschlossen habe, arbeite ich in der öffentlichen Bücherei von Englewood, außerdem bin ich sehr aktiv im Rahmen des Alphabetisierungsprojekts unserer Gemeinde tätig.

Nun stand ich in dieser beeindruckenden Bibliothek und fühlte mich »wie ein armer Hausierer«, wie meine Großmutter gesagt hätte. Ich hatte mir vorgenommen, eine Benefizveranstaltung für das Alphabetisierungsprogramm auf die Beine zu stellen, und das Ganze sollte möglichst spektakulär sein. Die Leute wären sicherlich bereit, so hatte ich mir gedacht, dreihundert Dollar für einen Cocktailempfang zu zahlen, wenn er in diesem Haus stattfinden würde. Das Herrenhaus der Carringtons war zu einem Teil der Folklore von Englewood und den umliegenden Gemeinden geworden. Jeder kannte seine Geschichte, wusste, dass es Stein für Stein aus Wales importiert worden war. Ich war überzeugt, dass die Aussicht, das Innere zu Gesicht zu bekommen, ein entscheidender Anreiz für die potenziellen Teilnehmer sein würde und wir damit unser Ziel – eine ausverkaufte Veranstaltung  – erreichen könnten.

Normalerweise fühle ich mich recht wohl in meiner Haut, doch als ich in diesem Raum saß und spürte, wie diese grauen Augen mich prüfend taxierten, war mir beklommen und unbehaglich zumute. Plötzlich fühlte ich mich wieder wie die Tochter des Landschaftsgärtners, der zu viel trank.

Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich im Stillen, und lass diesen Quatsch mit der Ehrfurcht. Ich gab mir einen Ruck und begann meine wohleinstudierte Ansprache. »Mr. Carrington, wie ich Ihnen schon geschrieben habe, gibt es viele gute Gründe, weshalb Menschen bereit sind, einen Scheck auszustellen. Natürlich kann man von niemandem erwarten, dass er alles unterstützt, was ihm unter die Nase gehalten wird. Und es scheint so zu sein, dass heutzutage selbst bei wohlhabenden Leuten das Portemonnaie nicht mehr so locker sitzt. Deshalb ist es für unsere geplante Veranstaltung von entscheidender Bedeutung, dass wir etwas finden, womit wir die Menschen dazu bewegen können, für unseren Zweck zu spenden.«

An dieser Stelle trug ich die Bitte vor, er möge uns gestatten, die Cocktailparty in seinem Haus stattfinden zu lassen. Ich bemerkte, wie sich sein Gesichtsausdruck änderte und das Wörtchen »nein« sich auf seinen Lippen bildete.

Doch er blieb mir gegenüber freundlich. »Miss Lansing …«, begann er.

»Bitte nennen Sie mich Kay.«

»Ich dachte, Ihr Name sei Kathryn.«

»So steht es in meiner Geburtsurkunde, meiner Großmutter zuliebe.«

Er lachte. »Ich verstehe.« Dann setzte er zu einer höflichen Ablehnung an: »Kay, ich bin gerne bereit, Ihnen eine Spende zukommen zu lassen …«

Ich unterbrach ihn. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Doch wie ich Ihnen bereits geschrieben habe, es geht hier um mehr als nur um Geld. Wir brauchen freiwillige Helfer, um den Menschen das Lesen beizubringen, und der beste Weg, sie zu bekommen, ist, sie auf eine Veranstaltung zu locken und sie dort anzuwerben. Eine große Catering-Firma hat mir bereits einen Preisnachlass zugesichert, falls die Veranstaltung hier stattfindet. Das Ganze würde nur für zwei Stunden sein, und es würde so vielen Menschen unendlich viel bedeuten.«

»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen«, sagte Peter Carrington und erhob sich.

Das Gespräch war beendet. Ich dachte fieberhaft nach und entschied, es noch mit einem letzten Argument zu versuchen. Schließlich hatte ich nichts zu verlieren: »Mr. Carrington, ich habe sehr viel über Ihre Familie recherchiert. Viele Generationen lang war dies eines der gastfreundlichsten Häuser in Bergen County. Ihr Vater, Ihr Großvater und Ihr Urgroßvater haben Wohltätigkeitsveranstaltungen der Gemeinde unterstützt. Es wäre für Sie ein Leichtes, uns Ihrerseits zu helfen, und Sie könnten sehr viel Gutes damit bewirken.«

Ich hatte kein Recht, so furchtbar enttäuscht zu sein, doch ich konnte nicht anders. Er reagierte nicht auf meine letzten Worte, und ich verließ das Zimmer und ging zur Haustür, ohne darauf zu warten, dass er oder sein Assistent mich hinausbegleitete. Nur einmal blieb ich kurz stehen und warf einen Blick in den hinteren Teil des Hauses, weil ich an die Hintertreppe denken musste, die ich vor so vielen Jahren hinaufgeschlichen war. Dann trat ich hinaus mit dem Gedanken, das Herrenhaus zum zweiten und vermutlich letzten Mal betreten zu haben.

Zwei Tage später prangte Peter Carrington auf der Titelseite von Celeb, einer wöchentlich erscheinenden Klatschzeitschrift. Das Bild zeigte ihn zweiundzwanzig Jahre zuvor beim Verlassen der Polizeistation, nachdem er wegen des spurlosen Verschwindens der achtzehnjährigen Susan Althorp verhört worden war. Diese war zuletzt auf einer festlichen Dinnerparty im Herrenhaus der Carringtons gesehen worden. Die riesige Schlagzeile lautete: IST SUSAN ALTHORP NOCH AM LEBEN?, und unter dem Bild von Carrington stand: »Industrieller gilt immer noch als verdächtig im Fall des Verschwindens der jungen Susan Althorp, die in dieser Woche ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hätte.«

Das Magazin breitete noch einmal genüsslich die Details der Suche nach Susan aus, und da ihr Vater Botschafter gewesen war, wurde der Fall mit der Entführung des Lindbergh-Babys verglichen.

Der Artikel enthielt auch eine kurze Schilderung der Umstände, unter denen Peter Carringtons schwangere Frau Grace vor vier Jahren umgekommen war. Grace Carrington, die als starke Trinkerin bekannt war, hatte eine Geburtstagsfeier für Carringtons Stiefbruder Richard Walker gegeben. Als Carrington nach einem dreiundzwanzigstündigen Flug aus Australien zurückkehrte und ihren Zustand bemerkte, hatte er ihr das Glas aus der Hand gerissen, den Inhalt auf den Teppich geleert und sie zornig zur Rede gestellt: »Kannst du nicht wenigstens an das Kind denken, das du im Bauch trägst?« Darauf hatte er gesagt, er sei sehr müde, und war zu Bett gegangen. Am Morgen hatte die Haushälterin die tote Grace Carrington, noch mit dem Satinabendkleid bekleidet, auf dem Grund des Pools gefunden. Die Autopsie hatte ergeben, dass sie den gesetzlichen Alkoholgrenzwert um das Dreifache überschritten hatte. Der Artikel schloss mit den Sätzen: »Carrington gab an, er habe sich sofort schlafen gelegt und sei erst durch die Ankunft der Polizei geweckt geworden. Möglich, dass es so war. Wir führen dazu eine Meinungsumfrage durch. Besuchen Sie unsere Website und sagen Sie uns, was Sie davon halten.«

Eine Woche später erhielt ich in der Bücherei einen Anruf von einem gewissen Vincent Slater, der mir mitteilte, dass wir uns bei meiner Verabredung mit Peter Carrington begegnet seien.

»Mr. Carrington hat beschlossen, sein Haus für Ihre Benefizveranstaltung zur Verfügung zu stellen«, sagte er. »Er schlägt vor, dass Sie die weiteren Details für den Ablauf des Abends mit mir besprechen.«

2

VINCENT SLATER LEGTE DEN Telefonhörer auf und lehnte sich zurück, ohne das leise Quietschen seines Bürostuhls zu beachten, das ihn seit Längerem störte. Schon öfter hatte er sich vorgenommen, die Sache endlich beheben zu lassen. Sein Büro im Herrenhaus hatte er in einem der selten benutzten Wohnräume an der Rückseite eingerichtet. Er hatte das Zimmer nicht nur wegen seiner relativen Abgeschiedenheit, sondern auch wegen der Glastüren gewählt, die auf die Gartenterrasse hinausgingen und ihm als Privateingang dienen konnten, durch den er unbemerkt aus- und eingehen konnte.

Das Problem war, dass Peters Stiefmutter Elaine, die in einem eigenen Haus auf dem Grundstück wohnte, sich nichts dabei dachte, urplötzlich aufzutauchen und, ohne anzuklopfen, sein Büro zu betreten. Genau das hatte sie in diesem Moment wieder getan.

Sie hielt sich nicht lange mit einer Begrüßung auf. »Vincent, gut, dass ich Sie antreffe. Vielleicht fällt Ihnen etwas ein, wie man Peter davon abbringen könnte, diesen Benefizempfang hier abzuhalten? Eigentlich sollte man doch meinen, dass er nach dem Riesenwirbel, den diese Schmierfinken von Celeb mit ihrem Artikel über Susans Verschwinden und Graces Tod veranstaltet haben, klug genug sein würde, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken.« Vincent erhob sich, eine Höflichkeitsgeste, die er am liebsten unterlassen würde, wenn Elaine einfach bei ihm hereinplatzte. Doch auch jetzt musste er, obwohl ihn ihr Eindringen maßlos ärgerte, widerstrebend anerkennen, dass sie unerhört elegant aussah. Trotz ihrer sechsundsechzig Jahre war Elaine Walker Carrington mit ihrem aschblonden Haar, ihren saphirblauen Augen, ihren klaren Gesichtszügen und ihrer gertenschlanken Figur eine Erscheinung, die die Blicke auf sich zog. Graziös wie ein Fotomodell, das sie tatsächlich früher gewesen war, setzte sie sich in einen der antiken Sessel, die vor Vincents Schreibtisch standen.

Sie trug einen schwarzen Hosenanzug von Armani, wie Vincent vermutete, der wusste, dass sie diesen Modeschöpfer bevorzugte. Als Schmuck hatte sie mit Brillanten besetzte Ohrringe angelegt, eine dünne Perlenkette und den Ehering mit dem großen Brillanten, den sie immer noch trug, obwohl ihr Ehemann, Peters Vater, schon vor fast zwanzig Jahren gestorben war. Dass sie ihm so treu ergeben geblieben war, hatte, wie Vincent sehr wohl wusste, in erster Linie mit den Bestimmungen ihres Ehevertrages zu tun, der ihr ein lebenslanges Wohnrecht auf dem Anwesen einräumte, sofern sie nicht wieder heiratete, und ihr darüber hinaus eine jährliche Rente von einer Million Dollar zusicherte. Und natürlich gefiel es ihr, als Mrs. Carrington angeredet zu werden, mit allen sich daraus ergebenden Privilegien.

Das gibt ihr trotzdem nicht das Recht, hier hereinzuplatzen und so zu tun, als ob ich nicht sorgfältig das Für und Wider einer öffentlichen Veranstaltung in diesem Haus abgewogen hätte, dachte Vincent. »Elaine, Peter und ich haben die Sache eingehend besprochen«, begann er, ohne seine Irritation zu verbergen. »Natürlich ist diese ganze Medienaufmerksamkeit schädlich und bringt uns in Verlegenheit, doch genau deswegen ist Peter gezwungen, etwas zu unternehmen. Um damit dem Eindruck entgegenzuwirken, er habe etwas zu verbergen. Das ist genau die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, die wir unbedingt vermeiden müssen.«

»Glauben Sie wirklich, dass sich die Wahrnehmung der Öffentlichkeit ändert, wenn hier Fremde durch das Haus rennen?«, fragte Elaine mit sarkastischem Unterton.

»Elaine, ich schlage vor, Sie halten sich aus dieser Sache heraus«, gab Slater zurück. »Darf ich Sie daran erinnern, dass unser Familienunternehmen vor zwei Jahren an die Börse gegangen ist, was den Nachteil hat, dass man den Aktionären Rede und Antwort stehen muss. Auch wenn Peter bei Weitem den größten Anteil an den Aktien hält, bleibt die Tatsache bestehen, dass eine wachsende Zahl von Aktionären der Meinung ist, er sollte als Vorstandsvorsitzender zurücktreten. Wenn man nach wie vor in zwei ungeklärten Fällen, dem Verschwinden einer Frau und dem Tod einer weiteren, als Verdächtiger gehandelt wird, so ergibt das nicht gerade ein gutes Image für den Chef eines international tätigen Unternehmens. Peter spricht zwar nicht darüber, aber ich weiß, dass er sich große Sorgen macht. Deshalb ist es äußerst wichtig, dass man ihn von nun an als jemanden wahrnimmt, der sich für die Anliegen der Gemeinde einsetzt, und auch, selbst wenn ihm das eigentlich zuwider ist, dass seine vielen Aktivitäten im Bereich von wohltätigen Stiftungen in der Öffentlichkeit bekannt werden.«

»Ist das Ihr Ernst?« Elaine erhob sich. »Vincent, Sie sind ein Dummkopf. Das funktioniert nicht, das kann ich Ihnen gleich sagen. Sie sorgen lediglich dafür, dass Peter der Öffentlichkeit preisgegeben wird, aber Sie schützen ihn nicht damit. Bei gesellschaftlichen Anlässen macht Peter doch eine äußerst klägliche Figur. In geschäftlichen Dingen mag er ein Genie sein, doch Smalltalk ist nicht gerade seine Stärke, das müssen Sie zugeben. Wenn er nicht in seinem Büro sitzt, schließt er sich doch tausend Mal lieber mit einem Buch in seiner Bibliothek ein, als dass er sich bei irgendwelchen Cocktailpartys oder Dinners blicken lässt. Er ist wirklich der geborene Einzelgänger. Wann soll diese ganze Sache über die Bühne gehen?«

»Am Donnerstag, dem sechsten Dezember. Kay Lansing, die Frau, die das Ganze organisiert, braucht ungefähr sieben Wochen Vorlauf, um die Sache genügend in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.«

»Gibt es eine Begrenzung für die Zahl der Teilnehmer?«

»Zweihundertfünfzig.«

»Ich werde mir jedenfalls eine Eintrittskarte sichern. Für Richard auch. Ich muss jetzt in die Galerie. Dort findet gerade ein Empfang für einen seiner neuen Künstler statt.« Mit einer beiläufigen Geste verabschiedete sie sich, öffnete die Gartentür und ging hinaus.

Slater blickte ihr nach, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Und der ganze Empfang wird von ihr bezahlt, dachte er. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr hat sie ihren Sohn, diesen Versager, mit dem Geld der Carringtons ausgehalten. Er musste daran denken, dass es Grace immer zur Weißglut gebracht hatte, wenn Elaine das Haupthaus, wann immer es ihr gerade passte, betreten hatte. Wenigstens hatte Peter klugerweise zu verhindern gewusst, dass Elaine nach Graces Tod wieder hier einzog.

Es war nicht das erste Mal, dass Vincent Slater sich fragte, ob nicht mehr hinter der auffälligen Toleranz steckte, die Peter Carrington gegenüber seiner Stiefmutter an den Tag legte, als auf den ersten Blick zu erkennen war.

3

VINCENT SLATERS ANRUF erreichte mich bei der Arbeit in der Bücherei. Es war am späten Mittwochvormittag, und ich hatte mich schon fast damit abgefunden, unsere Benefizparty im Glenpointe Hotel in Teaneck abzuhalten, einer Nachbargemeinde von Englewood. Ich hatte dort bereits Veranstaltungen durchgeführt, die sehr zufriedenstellend verlaufen waren, aber dennoch enttäuschte mich Peter Carringtons Absage. So war ich natürlich hocherfreut, als mir Slater die große Neuigkeit mitteilte, und ich beschloss, meine Begeisterung sofort mit Maggie zu teilen, der Großmutter mütterlicherseits, die mich großgezogen hat und die immer noch in demselben bescheidenen Haus in Englewood lebt, in dem ich aufgewachsen bin.

Ich bin eine umgekehrte Pendlerin. Ich wohne in der West Seventy-ninth Street in Manhattan, in einer kleinen Wohnung im ersten Stock eines umgebauten Stadthauses. Die Räume sind wirklich winzig, doch es gibt einen offenen Kamin, hohe Zimmerdecken, ein Schlafzimmer, in das ein Bett und eine Kommode passen, und einen vom Wohnzimmer getrennten Küchenbereich. Die Möbel habe ich mir bei Garagenverkäufen in den besseren Vierteln von Englewood besorgt, und ich bin mit dem Ergebnis meiner Einrichtungsbemühungen sehr zufrieden. Außerdem liebe ich meine Arbeit in der Bücherei von Englewood, und das bedeutet natürlich auch, dass ich viel Gelegenheit habe, meine Großmutter Margaret O’Neil zu besuchen, die mein Vater und ich von jeher Maggie genannt haben.

Ihre Tochter, meine Mutter, starb, als ich gerade zwei Wochen alt war. Es passierte an einem Spätnachmittag. Sie lag gerade mit mir auf dem Bett und stillte mich, als eine Embolie auftrat und sie einen Herzinfarkt erlitt. Mein Vater rief kurze Zeit später an und war besorgt, als sie nicht ans Telefon ging. Er fuhr sofort nach Hause, fand jedoch nur noch ihren leblosen Körper auf dem Bett. Ihre Arme hielten mich immer noch umfangen. Ich war eingeschlafen, zufrieden an ihrer Brust saugend.

Mein Vater war Ingenieur, hatte aber, nachdem er ein Jahr bei einem Brückenbauunternehmen gearbeitet hatte, seinen Job an den Nagel gehängt und das Gärtnern, zuvor sein Steckenpferd, zu seinem Hauptberuf gemacht. Mit seinem Talent verstand er es, in den größeren Anwesen der Umgebung sein Können als Ingenieur auf andere Art unter Beweis zu stellen, indem er Gärten mit Felswänden, Wasserfällen und gewundenen Wegen schuf. Aus diesem Grund hatte ihn auch Peter Carringtons Stiefmutter Elaine engagiert, die, was den Garten betraf, den steifen Geschmack ihrer Vorgängerin verabscheute.

Daddy war acht Jahre älter als meine Mutter, die mit zweiunddreißig Jahren starb. Damals hatte er sich bereits einen soliden Ruf auf seinem Gebiet erworben. Alles hätte zum Besten stehen können, doch nach dem Tod meiner Mutter begann Daddy zu trinken. Das war der Grund, weshalb ich mehr und mehr Zeit bei meiner Großmutter verbrachte. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie sie auf ihn einredete: »Um Himmels willen, Jonathan, du musst dir von anderen helfen lassen. Was würde denn Annie sagen, wenn sie sehen könnte, wie du dich zugrunde richtest? Und denk doch an die arme Kathryn. Womit hat sie das verdient?«

Eines Tages, nachdem Elaine Carrington ihn entlassen hatte, kam er abends nicht zu meiner Großmutter, um mich abzuholen. Sein Wagen wurde am Ufer des Hudson River gefunden, etwa zwanzig Meilen nördlich von Englewood. Seine Brieftasche, sein Schlüsselbund und sein Scheckheft lagen auf dem Vordersitz. Kein Brief. Kein Abschiedsgruß. Nichts, was darauf hindeutete, dass ihm bewusst war, wie sehr ich ihn brauchte. Ich frage mich manchmal, ob er mir vielleicht die Schuld an Mutters Tod gab, ob er vielleicht die Vorstellung hatte, ich hätte ihr das Leben aus dem Leib gesaugt. Doch selbst wenn es so wäre, hat er mich das nie merken lassen. Ich habe ihn sehr innig geliebt, und er schien mich immer genauso geliebt zu haben. Ein Kind weiß so etwas. Seine Leiche ist nie gefunden worden.

Ich entsinne mich noch, wie wir zusammen das Abendessen zubereiteten, wenn er mich von Maggie abgeholt hatte. Oft sprach er von meiner Mutter. »Kathryn, du weißt ja, dass Maggie nicht gerade eine große Köchin ist«, sagte er einmal. »Deshalb hat deine Mutter sich aus purer Verzweiflung ein Kochbuch gekauft, um es sich selbst beizubringen. Wir haben früher oft zusammen neue Rezepte ausprobiert, und jetzt machen wir es genauso, du und ich.«

Ein andermal sagte er: »Weißt du, sie hätte alles dafür gegeben, um erleben zu können, wie du aufwächst. Schon Monate vor deiner Geburt hatte sie die Wiege neben unserem Bett aufgestellt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel dir entgangen ist, weil du sie nicht mehr erleben durftest.«

Nie werde ich ihm ganz verzeihen können, dass er nicht an all das gedacht hat, als er seinen Wagen am Steilufer hoch über dem Hudson parkte und auf den Rand der Klippen zuschritt.

Diese und andere Gedanken gingen mir durch den Kopf, als ich von der Bücherei zu Maggies Haus fuhr, um ihr die Neuigkeit zu erzählen. Auf ihrem kleinen Rasenstück steht ein wunderschöner roter Ahorn. Er verleiht dem ganzen Ort seine besondere Note. Mit Bedauern stellte ich fest, dass der Wind gerade die letzten Blätter von den Zweigen riss. Ohne sein Blätterdach wirkte das Haus irgendwie ungeschützt und fast ein bisschen unwirtlich. Es ist ein eingeschossiges Haus im Cape-Cod-Stil, mit einem nicht ausgebauten Dachboden, in dem Maggie den gesammelten Krempel aus ihren dreiundachtzig Lebensjahren aufbewahrt. Schachteln mit Fotos, die sie nie geschafft hat, in ein Album einzukleben, Schachteln mit Briefen und gesammelten Weihnachtskarten, die sie in ihrem Leben nie mehr durchsehen wird, die Möbel, die sie damals durch diejenigen aus dem Hause meiner Eltern ersetzte, von denen sie sich jedoch trotzdem nicht vollständig trennen konnte, Kleider, die sie seit zwanzig oder dreißig Jahren nicht getragen hat.

Im Erdgeschoss ist es nicht viel besser. Alles ist sauber, doch es genügt, dass Maggie ein Zimmer betritt, um sofort Unordnung zu schaffen. Ihr Pullover liegt auf einem Stuhl, die Zeitungsartikel, die sie noch lesen will, auf einem anderen. Neben ihrem bequemen Sessel stapeln sich die Bücher. Die Rollos, die sie jeden Morgen hochzieht, hängen immer schief. Die Hausschuhe, die sie überall sucht, finden sich eingeklemmt zwischen Sessel und Fußpolster. Es ist richtig gemütlich bei ihr.

Nach den strengen Maßstäben von Martha Stewart würde sie niemals als gute Hausfrau durchgehen, obwohl sie sehr viel von ihr hält. Um mich großzuziehen, gab sie ihre Anstellung als Lehrerin auf, doch immer noch erteilt sie jede Woche drei Kindern Nachhilfeunterricht. Und sie hat die Gabe, Lernen zu einer lustvollen Sache zu machen, wie ich am eigenen Leib erfahren habe.

Doch als ich sie begrüßte und ihr die Neuigkeit erzählte, blieb die erwartete Begeisterung aus. Sobald ich den Namen Carrington erwähnt hatte, gab sie sich ablehnend.

»Kay, du hast mir gar nicht erzählt, dass du sie bitten wolltest, die Veranstaltung in ihrem Haus abhalten zu dürfen.«

Maggie hat in den letzten Jahren ein paar Zentimeter an Körpergröße eingebüßt. Sie pflegt darüber scherzend zu sagen, dass sie allmählich verschwinde, doch als ich jetzt auf sie hinunterblickte, hatte sie plötzlich etwas geradezu Furchteinflößendes an sich. »Maggie, es ist doch eine tolle Idee«, versuchte ich einzuwenden. »Ich bin schon auf einigen solchen Festen gewesen, die in Privathäusern stattfanden, und sie waren immer ausverkauft. Und das Haus der Carringtons ist so bekannt, das muss die Leute einfach anlocken. Wir werden dreihundert Dollar für eine Eintrittskarte verlangen. Das würden wir an einem anderen Ort nie und nimmer bekommen.«

Doch dann begriff ich, dass Maggie besorgt war, zutiefst besorgt. »Maggie, Peter Carrington war wirklich äußerst zuvorkommend, als ich bei ihm war, um die Sache zu besprechen.«

»Du hast mir gar nicht erzählt, dass du bei ihm warst.«

Warum hatte ich ihr das nicht erzählt? Vielleicht, weil ich intuitiv ahnte, dass sie es nicht gutheißen würde, und nachdem er mir die Abfuhr erteilt hatte, sah ich keine Notwendigkeit mehr, darüber zu sprechen. Maggie war überzeugt davon, dass Peter Carrington für das Verschwinden von Susan Althorp verantwortlich war und dass er auch beim Tod seiner Frau die Hand im Spiel gehabt haben könnte. »Er muss ja seine Frau nicht unbedingt ins Becken gestoßen haben, Kay«, hatte sie mir erklärt, »doch vielleicht hat er gesehen, wie sie hineinfiel, und ich möchte wetten, dass er keinen Finger gerührt hat, um sie zu retten. Und was Susan betrifft: Er war derjenige, der sie nach Hause gefahren hat. Für mich ist sie danach heimlich aus dem Haus geschlichen, um sich mit ihm zu treffen, als ihre Eltern glaubten, sie sei zu Bett gegangen.«

Maggie war 1932, als das Lindbergh-Baby entführt wurde, acht Jahre alt, und sie hält sich in dieser Sache für die weltweit führende Expertin, genauso wie in der Sache des Verschwindens von Susan Althorp. Schon als ich noch ein kleines Mädchen war, hatte sie mit mir über die Lindbergh-Entführung gesprochen, hatte mich darauf hingewiesen, dass Ann Morrow Lindbergh, die Mutter des Kindes, in Englewood aufgewachsen war, keine Meile von unserem Haus entfernt, und dass Annes Vater, Dwight Morrow, Botschafter in Mexiko gewesen war. Susan Althorp war ebenfalls in Englewood aufgewachsen, und ihr Vater war Botschafter in Belgien gewesen. In den Augen von Mary waren die Parallelen offensichtlich – und erschreckend.

Die Lindbergh-Entführung war einer der sensationellsten Kriminalfälle des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Baby und das glamouröse Traumpaar und die vielen ungelösten Fragen. Wie hatte Bruno Hauptmann in Erfahrung bringen können, dass die Lindberghs an jenem Abend beschlossen hatten, in ihrem neuen Landhaus zu bleiben, weil sich das Kind erkältet hatte, statt wie ursprünglich beabsichtigt zum Anwesen der Morrows zurückzukehren? Wie konnte Hauptmann so genau wissen, wo er die Leiter aufstellen musste, um das offene Fenster des Zimmers zu erreichen, in dem das Baby lag? Maggie suchte immer nach irgendwelchen Gemeinsamkeiten in den beiden Fällen. »Die Leiche des Lindbergh-Babys ist durch Zufall entdeckt worden«, hatte sie mir einmal erklärt. »Das war natürlich schrecklich, doch wenigstens musste die Familie nicht den Rest ihres Lebens mit der Angst leben, dass das Kind womöglich irgendwo bei einem Fremden aufwächst, der es vielleicht auch noch schlecht behandelt. Wahrscheinlich wacht Susan Althorps Mutter jeden Morgen mit der quälenden Frage auf, ob dies der Tag sein wird, an dem das Telefon klingelt und ihre Tochter sich am anderen Ende meldet. Ich weiß genau, dass es mir so ergehen würde, wenn mein Kind spurlos verschwunden wäre. Wenn man ihre Leiche gefunden hätte, gäbe es wenigstens ein Grab, zu dem Mrs. Althorp gehen könnte.«

Maggie hatte schon seit Langem nicht mehr über den Althorp-Fall gesprochen, doch vielleicht hatte sie die Ausgabe von Celeb mit Peter Carrington auf dem Titel an einer Supermarktkasse entdeckt und sofort gekauft. Das würde auch erklären, weshalb sie so heftig auf die Nachricht reagiert hatte, dass ich bei ihm gewesen war.

Ich gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Maggie, ich hab Hunger. Lass uns irgendwo Nudeln essen gehen. Ich lad dich ein.«

Als ich sie eineinhalb Stunden später wieder vor ihrem Haus absetzte, zögerte sie kurz und sagte: »Kay, komm doch noch mal mit rein. Ich möchte zu dieser Veranstaltung. Ich schreibe dir einen Scheck für eine Eintrittskarte aus.«

»Aber Maggie, das ist doch Wahnsinn«, protestierte ich. »Das ist doch viel zu viel Geld für dich.«

»Ich möchte aber hingehen«, entgegnete sie. Ihre entschlossene Miene erstickte jeden weiteren Widerspruch im Keim.

Ein paar Minuten später fuhr ich über die George-Washington-Brücke zurück zu meiner Wohnung, ihren Scheck in meiner Geldbörse. Mir war klar, warum sie darauf bestanden hatte, an der Veranstaltung teilzunehmen. Maggie hatte sich zu meinem persönlichen Bodyguard ernannt für die Zeit, die ich unter dem Dach der Carringtons verbringen würde.

4

WÄHREND SIE AUF DIE Ankunft ihres Besuchers wartete, betrachtete Gladys Althorp das Bild ihrer verschwundenen Tochter. Es war auf der Terrasse des Carrington-Herrenhauses aufgenommen worden, an dem Abend, an dem sie spurlos verschwunden war. Sie trug ein Abendkleid aus weißem Chiffon, das ihre schlanke Figur betonte. Ihre langen blonden Haare, leicht zerzaust, fielen ihr auf die Schultern. Sie war sich nicht bewusst gewesen, dass die Kamera auf sie gerichtet war, und ihre Miene wirkte ernst, fast nachdenklich. Woran hatte sie wohl in diesem Augenblick gedacht, fragte sich Gladys einmal mehr, während ihre Finger die Konturen von Susans Mund nachzeichneten. Hatte sie vielleicht eine Vorahnung, dass ihr etwas zustoßen könnte?

Oder war ihr an diesem Abend schließlich aufgegangen, dass ihr Vater ein Verhältnis mit Elaine Carrington gehabt hatte?

Gladys seufzte, während sie sich mit einer Hand auf der Sessellehne abstützte und mühsam erhob. Brenda, die neue Haushälterin, hatte ihr das Abendessen auf einem Tablett serviert und war danach in ihre Wohnung über der Garage zurückgegangen. Leider stach Brenda nicht durch besondere Kochkünste hervor. Eigentlich habe ich auch gar keinen Hunger, dachte Gladys, als sie das Tablett in die Küche zurücktrug. Sie verspürte leichte Übelkeit beim Anblick des nicht angerührten Essens und kratzte es rasch in den Abfalleimer, ließ Wasser über das Geschirr laufen und stellte es in die Spülmaschine.

»Lassen Sie es doch einfach stehen, Mrs. Althorp«, würde Brenda am nächsten Morgen wieder protestieren. Und ich werde darauf antworten, dass es mich nicht mehr als eine Minute kostet, die Küche in Ordnung zu bringen, dachte Gladys. So könnte man auch umschreiben, was ich jetzt in Angriff genommen habe. Versuchen, die wichtigste Sache in meinem Leben in Ordnung zu bringen, bevor ich diese Welt verlasse.

Ein halbes Jahr. Die Ärzte waren sich einig gewesen, als sie ihr den Urteilsspruch verkündet hatten. Bislang hatte sie sich noch niemandem anvertraut.

Sie ging zurück ins Arbeitszimmer, dasjenige von den siebzehn Zimmern, die das Haus umfasste, in dem sie sich am liebsten aufhielt. Eigentlich wollte sie schon seit Langem in ein kleineres Haus umziehen, und sie wusste, dass Charles das tun würde, wenn sie einmal nicht mehr da sein würde. Doch sie wusste auch, warum sie es nicht getan hatte. Susans Zimmer befand sich in diesem Haus, und alles war noch genau so, wie sie es zurückgelassen hatte, als sie in jener Nacht noch einmal weggegangen war, nachdem sie zuvor an die Schlafzimmertür geklopft hatte, um Charles Bescheid zu geben, dass sie wieder zu Hause sei.

Am nächsten Morgen wollte ich sie ausschlafen lassen, erinnerte sich Gladys, während die Ereignisse jenes Tages, wie so oft, wieder an ihr vorüberzogen. Gegen Mittag habe ich schließlich nach ihr geschaut. Das Bett war unberührt. Die Handtücher in ihrem Bad hatte sie nicht benutzt. Sie musste schon bald, nachdem sie an die Schlafzimmertür geklopft hatte, das Haus wieder verlassen haben.

Bevor ich sterbe, will ich noch erfahren, was mit ihr geschehen ist, schwor sie sich einmal mehr. Vielleicht kann dieser Privatdetektiv etwas herausfinden. Nicholas Greco war sein Name. Sie hatte ihn im Fernsehen gesehen, als er über einzelne Fälle sprach, die er gelöst hatte. Er hatte als Kriminalbeamter der New Yorker Polizei seinen Abschied genommen und seine eigene Agentur aufgemacht. Bekannt geworden war er dadurch, dass er einige Kriminalfälle gelöst hatte, die als unlösbar gegolten hatten.

»Die Angehörigen der Opfer haben ein großes Bedürfnis nach Aufklärung der Verbrechen«, hatte er in einem Interview gesagt. »Bevor das nicht geschieht, finden sie keine Ruhe. Zum Glück werden täglich neue Mittel und Methoden erfunden, die es uns ermöglichen, einen neuen Blick auf ungelöste Kriminalfälle zu werfen.«

Aus zwei Gründen hatte sie ihn gebeten, am heutigen Tag um acht Uhr zu ihr zu kommen. Einmal, weil sie wusste, dass Charles nicht zu Hause sein würde, und zum anderen, weil sie Brenda während seines Besuchs nicht in der Nähe haben wollte. Vor zwei Wochen war Brenda ins Arbeitszimmer gekommen, als sie sich gerade eine Aufzeichnung eines Fernsehauftritts von Greco anschaute. »Mrs. Althorp, ich finde auch, dass die wahren Kriminalfälle, von denen er spricht, viel interessanter sind als diejenigen, die sich Leute ausdenken«, hatte Brenda gesagt. »Und wenn man sein Gesicht betrachtet, merkt man sofort, dass er sehr klug ist.«

Pünktlich um acht Uhr ertönte die Hausglocke. Gladys beeilte sich zu öffnen. Ihr erster Eindruck von Nicholas Greco war beruhigend und ermutigend. Von seinen Fernsehauftritten her kannte sie ihn als konservativ gekleideten Mann, Ende fünfzig, von durchschnittlicher Körpergröße, mit rotblonden Haaren und dunkelbraunen Augen. Doch als er jetzt leibhaftig vor ihr stand, gefiel ihr besonders sein fester Händedruck und die Tatsache, dass er ihr gerade in die Augen schaute. Alles an ihm wirkte vertrauenerweckend.

Sie fragte sich, was er wohl für einen ersten Eindruck von ihr hatte. Vermutlich sah er nur eine Frau von Mitte sechzig, viel zu dünn, der die tödliche Krankheit ins bleiche Gesicht geschrieben stand. »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Ich kann mir denken, dass Sie viele Anfragen von Leuten wie mir erhalten.«

»Ich habe selbst zwei Töchter«, antwortete Greco. »Wenn eine von ihnen spurlos verschwunden wäre, würde ich keine Ruhe haben, bis ich sie gefunden hätte.« Er machte eine Pause und fügte dann mit ruhiger Stimme hinzu: »Selbst wenn das, was ich herausbekäme, nicht das sein sollte, was ich mir erhofft hatte.«

»Ich glaube, dass Susan tot ist«, sagte Gladys Althorp. Ihre Stimme blieb gelassen, ihre Miene hatte sich jedoch auf einen Schlag verdüstert. »Aber ich bin sicher, dass sie niemals aus eigenem Antrieb verschwunden wäre. Etwas muss ihr zugestoßen sein, und ich bin überzeugt, dass Peter Carrington für ihren Tod verantwortlich ist. Ich muss die Wahrheit herausfinden, wie auch immer sie aussieht. Wären Sie bereit, mir zu helfen?«

»Ja.«

»Ich habe alle Unterlagen für Sie herausgesucht, die ich über Susans Verschwinden gesammelt habe. Sie liegen in meinem Arbeitszimmer.«

Nicholas Greco folgte Gladys Althorp über den breiten Flur und warf im Vorbeigehen einen kurzen Blick auf die an den Wänden hängenden Gemälde. Es muss einen Sammler in dieser Familie geben, dachte er. Ob diese Bilder wirklich Museumsqualität besitzen, kann ich zwar nicht beurteilen, aber in jedem Fall wirken sie ziemlich erlesen.

Alles, worauf sein Blick in diesem Haus fiel, strahlte Qualität und guten Geschmack aus. Der smaragdgrüne Läufer unter seinen Füßen war dick und weich. Die Stuckleisten an den reinweiß getönten Wänden verliehen den Gemälden einen zusätzlichen Rahmen. Der Teppich im Arbeitszimmer, in das Gladys Althorp ihn führte, war in einem sanft abgetönten rot-blauen Muster gehalten. Der Blauton des Stoffes, mit dem die Couch und die Sessel bezogen waren, passte genau zu dem Blau des Teppichs. Er bemerkte das Bild von Susan Althorp auf dem Schreibtisch. Seitlich dagegengelehnt stand eine exklusiv wirkende Einkaufstasche, prall gefüllt mit Papieren und Dokumenten.

Er ging zum Schreibtisch und nahm den Rahmen mit der Fotografie in die Hand. Seitdem er beschlossen hatte, den Fall zu übernehmen, hatte er einige Recherchen durchgeführt und dieses Bild im Internet gesehen. »Ist das die Kleidung, die Susan an dem Abend ihres Verschwindens trug?«, fragte er.

»Das ist das Kleid, in dem sie zum Dinner bei den Carringtons gegangen ist. Ich fühlte mich an jenem Abend nicht gut, und so verließen mein Mann und ich die Party frühzeitig. Peter versprach mir, sie nach Hause zu fahren.«

»Waren Sie noch wach, als sie nach Hause kam?«

»Ja, es war ungefähr eine Stunde später. Charles war in seinem Zimmer, und die Zwölf-Uhr-Nachrichten liefen. Ich hab gehört, wie sie ihn gerufen hat.«

»Ist das nicht ein bisschen früh für eine Achtzehnjährige, um nach Hause zu kommen?«

Greco entging nicht, wie Gladys Althorp leicht den Mund verzog. Offensichtlich verärgerte sie diese Frage.

»Charles war ein überbesorgter Vater. Er bestand darauf, dass Susan ihn aufweckte, egal um welche Uhrzeit sie nach Hause kam.«

Gladys Althorp war nur eine von vielen gramgebeugten Müttern, denen Nicholas Greco während seiner Berufslaufbahn begegnet war. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen, so schien ihm, hatte sie es immer geschafft, ihre Gefühle zu verbergen. Er spürte, dass es ein gewaltiger Schritt für sie gewesen sein musste, ihn zu engagieren.

Mit dem Blick des professionellen Ermittlers beobachtete er die extreme Blässe ihres Gesichts, die Hinfälligkeit, die aus ihrer gesamten Körperhaltung sprach. Er bekam den starken Verdacht, dass sie nicht mehr lange zu leben und sich vielleicht deswegen dazu durchgerungen hatte, Kontakt mit ihm aufzunehmen.

Als er eine halbe Stunde später das Haus verließ, trug Greco die Einkaufstasche unter dem Arm, darin sämtliche Unterlagen, die Gladys Althorp ihm über das Verschwinden ihrer Tochter geben konnte: die Artikel aus den Zeitungen, das Tagebuch, das sie während der laufenden Ermittlungen geführt hatte, und die kürzlich erschienene Ausgabe von Celeb, deren Titelblatt ein Bild Peter Carringtons zierte.

Bei seinen vorausgegangenen Recherchen hatte sich Greco die Adresse des Carrington-Anwesens notiert. Jetzt fasste er den spontanen Entschluss, einen kurzen Abstecher dorthin zu unternehmen. Obwohl er wusste, dass es nicht sehr weit entfernt sein konnte, war er dann doch überrascht, wie nah beieinander die Carringtons und die Althorps wohnten. Peter Carrington hatte wohl nicht mehr als fünf Minuten gebraucht, um Susan nach Hause zu fahren, falls er das tatsächlich getan hatte, und weitere fünf Minuten, um wieder zurückzufahren. Als Greco wieder auf dem Weg nach Manhattan war, merkte er, dass ihn dieser Fall bereits in den Bann gezogen hatte. Er hatte das Bedürfnis, sofort loszulegen. Ein klassischer Corpus-Delicti-Fall, dachte er, doch dann sah er im Geist das von Gram gezeichnete Gesicht von Gladys Althorp vor sich und schämte sich für seinen Enthusiasmus.

Ich werde diesen Fall aufklären, für sie, dachte er entschlossen. Er verspürte den vertrauten Energieschub, wie immer, wenn sein Gefühl ihm sagte, dass er an einem spannenden Fall dran war.

5

GLADYS ALTHORP WARTETE in ihrem Arbeitszimmer auf die Rückkehr ihres Mannes. Kurz nachdem die Elf-Uhr-Nachrichten begonnen hatten, hörte sie ihn die Haustür öffnen und wieder schließen. Sie schaltete den Fernseher aus und eilte den Flur hinunter. Er war schon auf halbem Weg in das obere Stockwerk.

»Charles, ich muss dir etwas sagen.«

Sein bereits gerötetes Gesicht verfärbte sich dunkelrot, und seine Stimme wurde immer lauter, als er erfuhr, dass sie Nicholas Greco angeheuert hatte. »Ohne mich zu fragen?«, herrschte er sie an. »Hast du nicht daran gedacht, dass unsere Söhne gezwungen sein werden, diese schreckliche Zeit noch einmal zu durchleben? Hast du nicht bedacht, dass jede neue Untersuchung wieder Horden von Klatschjournalisten auf den Plan rufen wird? Hat dir dieser ekelhafte Artikel in der letzten Woche noch nicht gereicht?«

»Ich habe das mit unseren Söhnen besprochen, und sie sind mit meiner Entscheidung einverstanden«, entgegnete Gladys ruhig. »Ich muss unbedingt die Wahrheit darüber erfahren, was mit Susan passiert ist. Machst du dir deshalb Sorgen, Charles?«

6

DIE ERSTE NOVEMBERWOCHE war noch mild, doch danach änderte sich das Wetter schlagartig. Es wurde kalt und feucht, die Art von Nieselwetter, bei dem man am liebsten gar nicht erst aufstehen oder aber sich mit der Zeitung und einer Tasse Kaffee wieder ins Bett verkriechen möchte, doch für beides hatte ich leider keine Zeit. Fast jeden Tag gehe ich frühmorgens in ein Fitnessstudio am Broadway trainieren, danach nehme ich eine Dusche, ziehe mich an und fahre zur Bücherei nach New Jersey. Die Besprechungen wegen der Benefizveranstaltung fanden nach den Arbeitsstunden statt.

Die Karten für das Ereignis fanden wie erwartet reißenden Absatz, was natürlich erfreulich war, doch andererseits hatte der Artikel, in dem das Verschwinden von Susan Althorp wiederaufgewärmt wurde, neues Interesse für den Fall geweckt. Als dann Nicholas Greco, der Privatdetektiv, in der bekannten Radioshow Imus in the Morning enthüllte, dass er von der Familie Althorp beauftragt worden sei, das Verschwinden ihrer Tochter zu untersuchen, witterten alle ein heiße Geschichte. Im Gefolge von Grecos Bemerkung beeilte sich Barbara Krause, die energische Staatsanwältin von Bergen County, vor der Presse zu erklären, dass sie es begrüßen würde, wenn eine Spur oder neue Beweismittel auftauchten, die zu einer Aufklärung des Falls führen könnten. Als man sie über Peter Carrington befragte, antwortete sie kryptisch: »Peter Carrington gehörte im Fall Susan Althorp von Anfang an zum engeren Kreis der Verdächtigen.«

Im Gefolge dieser Bemerkung wiederum erschienen in den Klatschspalten Berichte, wonach der Vorstand von Carrington Enterprises Peter Carrington dringend aufgefordert habe, von seinem Posten als Vorstandsvorsitzender zurückzutreten, obwohl er bei Weitem der größte Anteilseigner war. Den Berichten zufolge sollten die übrigen Vorstandsmitglieder der Meinung gewesen sein, dass es nicht angemessen sei für jemanden, der in zwei potenziellen Mordfällen zum Kreis der Verdächtigen gehöre, weiterhin an der Spitze eines weltweit operierenden Multimilliarden-Unternehmens zu stehen.

Fotos von Peter tauchten jetzt regelmäßig in den Wirtschaftsteilen der größeren Zeitungen auf, ebenso wie in den Boulevardblättern.

Daher war ich den ganzen November über in Sorge und erwartete täglich, dass mich Vincent Slater anrief, um mir mitzuteilen, dass der Cocktailempfang abgesagt werden müsse und er einen Scheck als Entschädigung für die entgangenen Einnahmen senden würde.

Doch der Anruf kam nicht. Einen Tag nach Thanksgiving fuhr ich mit einem Vertreter der von uns engagierten Catering-Firma zum Herrenhaus, um die Details der Veranstaltung zu besprechen. Slater empfing uns und verwies uns an das Ehepaar, das für den Haushalt im Herrenhaus zuständig war, Jane und Gary Barr. Sie mussten beide Anfang sechzig sein, und offensichtlich standen sie schon sehr lange bei den Carringtons in Diensten. Ich fragte mich, ob sie auch schon am Abend jenes unseligen Dinners im Herrenhaus gearbeitet hatten, doch ich getraute mich nicht, sie direkt danach zu fragen. Später erfuhr ich, dass sie bereits von Peters Vater angestellt worden waren, nachdem seine erste Frau, Peters Mutter, gestorben war, dass sie jedoch ihre Stelle aufgeben mussten, als Elaine Walker Carrington das Ruder übernahm. Als dann jedoch das Unglück mit Peters Frau Grace geschah,

Die Originalausgabe I HEARD THAT SONG BEFORE erschien bei Simon & Schuster Inc., New York

2. Auflage Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 01/09

Copyright © 2007 by Mary Higgins Clark

Copyright © 2007 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration und Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München unter Verwendung eines Fotos von © WireImageStock/masterfile Satz: Frantzis print & media GmbH, München

eISBN 978-3-641-10062-9

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